Joseph von Lauff
Kärrekiek
Joseph von Lauff

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193 XIII Ein Seydlitz zu Esel

Die Wasser hatten sich längst verlaufen, vom Deichgrafen war die Durchbruchsstelle geschlossen worden, die liebe Sonne hatte die Wiesen rings um die Stadt mit einem leuchtenden Grün geschmückt, auf dem die Kühe in ungezählten Scharen weideten. Allerorten lagen die braunen und schwarzweißen Flecken im Grase und muhuten in die warme Luft hinein. Prozessionsweise folgte der braunglockige Nelkwurz unter Erlen- und Weidengestrüpp dem Lauf der kleinen Wässerchen, die das Wiesenland nach allen Richtungen durchschnitten, begleitet von Steinbrech und Orchis und den zarten Rispen der in Büscheln stehenden Simsen.

Vor dem Kesseltor drehten sich die Flügel der Höfkensschen Mühle im Wind. Wie ein schneeweißer Zuckerhut, der mit einer schieferfarbigen Kalotte versehen war, hob sie sich von dem tiefblauen Junihimmel ab. Langsam drehte und rekelte sie ihre mit schwerem Segelleinen bespannten Arme im weiten Kreise, wobei die mächtige Welle in ihren Pfannenlagern stöhnte und ächzte. Ein weißlicher Mulm wehte aus den bestäubten Fensterlöchern, und die weißgekalkten Wände flimmerten im Sonnenlicht. 194 Mohnkornfarbige Feldflüchter saßen in beschaulicher Betrachtung auf der Schieferhaube. Sie regten und rührten sich nicht. Eine träumerische, einschläfernde Mittagsruhe, die nur durch das Schlappen der Segel und das Ächzen der Welle unterbrochen wurde, lagerte sich um den Windmühlenhügel, auf dessen blumigem Abhang ein stattlicher Esel seine Weide gefunden hatte. Jetzt verdaute er. Seine Ohren waren angelegt, und die halbgeschlossenen Augen blinzelten müde und schläfrig ins Grüne.

Heute war Samstag.

Wir Jungens hatten frei. Der lateinische Heinrich, Jan Höfkens und ich lagen im Grase. Mit Jan waren wir wieder ein Herz und eine Seele. Alle Mißhelligkeiten der verflossenen Monate waren vergessen und abgetan. Das Kriegsbeil lag verscharrt, und die blauen Wölkchen der Friedenspfeife hatten sich schon seit geraumer Zeit wieder um unsere Nasenspitzen gekräuselt. Versöhnlich schwebte die Hand des großen Geistes zu unseren Häupten.

Wie hingemäht lagen wir alle drei auf dem Rücken am Mühlenhügel. Der Lateiner hatte das rechte Bein über das aufgestemmte linke geschlagen und zappelte mit jenem taktmäßig auf und nieder, eine Übung, die das Schweinfurtergrün der neuen Plüschpantoffeln und die Malvenfarbe der Baumwollstrümpfe überaus lustig gegen den tiefblauen Himmel kontrastieren ließ. In der Hand hielt er den abgeblühten Schaft eines Löwenzahns, von dem er die ausgereiften und feinen Gebilde des 195 Flugsamens hinwegblies. Fallschirmartig und sich um ihre eigene silberlichte Achse drehend, verteilten sie sich in der nächsten Umgebung. Sobald das letzte wehende Körnchen verstiebt war, rupfte er mechanisch einen frischen Schaft ab, um das artige Spiel in stoischer Ruhe wieder aufs neue zu beginnen. Jan Höfkens gähnte dazu, und zwar so kräftig und nachhaltig, daß hierbei seine Weisheitszähne sichtbar wurden. Ich stierte nach den Schwalben, die im fröhlichen Spiel durch die Luft schossen.

In der heißen Mittagsluft summelten honigbeladene Bienen, die Grillen zirpten, und melancholisch geigten die Heupferdchen zwischen Rispen und Dolden. Ein strenger Heugeruch stieg von den nahen Wiesen herauf. Zarte Perlmutterfalter häkelten sich an die duftigen Gräser, und hin und wieder schnurrte eine großäugige Libelle im tollen Zickzackfluge vorüber. In einer Luke des Mittelgeschosses zeigte sich der vierschrötige Oberkörper eines Müllerburschen. Er lag mit untergeschlagenen Armen auf der Fensterbrüstung, rückte zuweilen an seiner verstäubten Schirmmütze, die er schief auf dem rötlichen Semmelkopf trug, und spitzte die Ohren. Ein Mühlenidyll! – Und über das Ganze zitterte allbefruchtend und belebend die warme Junisonne.

Jan Höfkens hatte schon zu wiederholten Malen die kräftigen Kinnladen auseinandergerissen und den wolkenlosen Himmel angegähnt. Beim fünften Male aber brachte er sich in eine sitzende Stellung und meinte: »Ich wüßte etwas.«

196 »Was weißt Du, lieber Johannes?« fragte der Lateiner, blies die letzten Flugsamen über den Hügel und stellte Plüschpantoffel neben Plüschpantoffel.

»Der junge Heerohme wäre angekommen.«

»Wer sagt das?«

»Franz Dewers.«

»Dann besagt Franz Dewers die Unwahrheit,« versicherte mein Freund.

»Das wüßte ich nich.«

»Ich aber sage Dir, lieber Johannes, daß es nicht sein kann, denn das Sommersemester hat erst vor wenig Wochen seinen Anfang genommen, und Wilm Verhage wird nicht so leichtsinnig sein, seine Studien auf eine so unverantwortliche Art und Weise zu unterbrechen, vornehmlich jetzt, wo die große Vorprüfung, das Skrutinium, vor der Tür steht, das heilige Examen, nach dessen Absolvierung er befähigt sein dürfte, die höheren Weihen, die sogenannten ordines majores, würdig zu empfangen.«

»Is mich ganz egal,« versetzte Jan Höfkens. »Franz Dewers hätte ihn gesehen und der täte nich lügen.«

»Wo hat er ihn gesehen?« forschte der Lateiner weiter.

»Am Ravelin – Schlag zwölf Uhr. – Erst hätte er gemeint, er täte Barsche angeln oder Aalkörbe legen, denn er steckte im Ried bis an die Ohren – aber er konnte nich angeln, weil er keine Fischgerte bei sich hätte. Auch könnte er keine Aaleken fangen.«

»Was tat er dann am Ravelin?«

197 »Franz Dewers meinte, daß er immer auf das Haus von Grades Mesdag gekuckt hätte.«

»Und ich sage Dir, lieber Johannes, daß Franz Dewers geträumt hat.«

»Und mein Freund täte nich träumen,« patzte Jan auf, wobei er einen giftigen Blick auf seinen Meinungsgegner warf.

»Lieber Johannes . . .«

Schon wollte der Lateiner wieder seinen salbungsvollen Ton anschlagen; ich aber legte mich ins Mittel, redete den beiden gut zu und vermochte noch einmal, die bösen Wolken zu verscheuchen, die abermals in bedrohlicher Weise am Friedenshorizont aufsteigen wollten.

»Lieber Johannes – si tacuisses . . . brummte der Lateiner noch ganz leise in den Bart, warf sich alsdann ins Gras hin, schlug die Beine übereinander und spielte wie vorhin mit den Flugsamen eines abgerupften Löwenzahnstengels, die er mit großem Geschick über seine hellfarbigen Strümpfe und die grünen Plüschpantoffeln hinwegblies. Jan Höfkens folgte seinem Beispiel, während ich meine eigenen Gedanken hatte.

Mir ging mancherlei durch den Kopf. Die heimliche Anwesenheit des jungen Heerohme am Ravelin, sein scharfes Beobachten des Mesdagschen Hauses, überhaupt sein plötzliches und unerwartetes Auftauchen in der Vaterstadt – alle diese Dinge gaben zu denken, vorausgesetzt, daß unser gemeinsamer Freund mit der lustigen Schlapphose keine leeren Hirngespinste in die Welt gesetzt hatte. 198 Sine ira et studio – ich wurde von dem innigsten Wunsch beseelt, daß sich im Interesse des lieben Mädchens alles so verhalten möchte, wie es von Franz Dewers berichtet worden war, und knüpfte an das Gehörte schon meine Kombinationen für die Zukunft, obgleich ich mich nicht in der Lage befand, eine leichte Art von Eifersucht bei mir hinwegzuleugnen, ein Dualismus der Gefühle, der meine Seele stark bedrängte und auf die Probe stellte.

Noch schwelgte ich in dem süßen Geheimnis des ersten Kusses, den sie mir unter sonderbaren Umständen gegeben hatte. Es war ein schönes Gedenken, eine Erinnerung, deren ich mich nicht entäußert hätte für alle Roßschweife, Kleinodien und sonstigen Schätze des allmächtigen Paschas von Janina.

Seit diesem Kusse waren viele Wochen vergangen. Ich hatte Hannecke nach dieser seligen Stunde nur ein einziges Mal wiedergesehen, und das war kurz nachdem sich die Wasser verlaufen hatten, und ich ihr unsere Abenteuer zu Land und zu Nautilus haarklein erzählen mußte. Bei dieser Wiedergabe geschehener Tatsachen hüllte ich selbstverständlich das Intermezzo mit Heinrich Hübbers in ein mystisches Dunkel, aber ich schilderte ihr mit allen mir zu Gebote stehenden Farben der Erzählungskunst die Art und Weise, wie der Primizschuh geflogen kam, wie er auf dem lehmigen Wasser schwamm, wie er noch einige Kreise zog, sich dann auf die Seite neigte und mit traurigem Gurgeln von der unbarmherzigen und schadenfrohen Tiefe verschlungen wurde. Da lächelte das Mädchen 199 unter Tränen, und dieses Lächeln habe ich bis zum heutigen Tage in Erinnerung behalten. Ich konnte und wollte es nicht mehr vergessen. Bald nach dieser Zusammenkunft war Hannecke zu Verwandten über Land gegangen. Während dieser Zeit hatte ich ihre Lilien im Garten gepflegt, hatte sie allabendlich begossen und das Erdreich um die zartgrünen Schäfte gelockert. Erst gestern Abend war sie zu ihren Eltern zurückgekehrt – und ich lag nun hier im duftigen Grase zwischen Jan Höfkens und dem lateinischen Heinrich, sah die Bienen fliegen, hörte die Grillen zirpen und die Heupferdchen geigen und verfolgte mit meinen Blicken die zwitschernden Schwalben, die unterm stahlblauen Himmel ihre zierlichsten Flugkünste entfalteten. – Und nun war noch die geheimnisvolle Geschichte mit dem Heerohme gekommen! – Ein ganzer Schwarm von wirren Gedanken drängte sich in meine Seele. Ich wußte keinen Ausweg aus dieser Bedrängnis. – Da, wie ich so dalag und grübelte, tirilierte eine Lerche in den Himmel hinein. Heitere Bilder taten sich auf – und ich sah jetzt die Dinge mit anderen Augen an.

Jan Höfkens mochte wenigstens zum fünfzehnten Male gegähnt und der Lateiner die reifen Flugsamen der achten Kuhblume in die Landschaft hinausgeblasen haben, als der Mülleresel lebendiger und lebhafter wurde und das Geklapper der Mühle mit seiner lieblichen Stimme übertönte. Grauenhafte Dissonanzen y-ate er mit sichtlicher Befriedigung über die weite Niederung, so daß Halme und 200 Grasrispen vor diesem Konzert ordentlich zusammenschauerten.

Mit weiten Sprüngen kam der lange Dores, der die Donna Elvira so rührend auf den Brettern verkörpert hatte, auf uns zugefegt.

»Was täte es geben?« fragte Jan Höfkens.

»Sie waschen den steinernen Seydlitz auf dem Markt ab, und Ihr sollt kommen und zusehen,« berichtete Dores-Elvira.

»Hat Zeit,« meinte der Lateiner.

»Aber die Sache ist so pläsierlich. Fritz van Dornick spritzt ihm immer mit 'ner Feuerspritze unter die Nase, und der Polizeidiener Brill steht dabei und kommandiert die ganze Geschichte. Den langen Reitersäbel haben sie ihm schon abgebrochen.«

»Wem denn?« fragte der Lateiner.

»Dem Seydlitz.«

»Lieber Theodor,« versetzte der Salbungsvolle, »der Reitergeneral Friedrich Wilhelm von Seydlitz hat keinen Säbel, sondern einen Pallasch getragen. – Kennt Ihr überhaupt den General von Seydlitz?«

Fragend sah er sich im Kreise um.

»Ja,« erwiderte Jan Höfkens, »er täte unter dem alten Blücher kämpfen und hätte die Völkerschlacht bei Waterloo, oder so da herum, vor fünfundzwanzig Jahren gewonnen.«

»Lieber Johannes,« versetzte der Lateiner, »Deine Angaben beruhen auf Irrtum. Allein es ist ein 201 verzeihlicher Irrtum, denn nicht jedem Menschen ist das instinktive Gefühl für Geschichte mit auf den Lebenspfad gegeben worden. – Friedrich Wilhelm von Seydlitz war ein General unter Friedrich dem Großen und focht im Siebenjährigen Kriege in den Schlachten von Zorndorf und Roßbach.«

Der Lateiner holte Atem, dann fuhr er fort: »Der Siebenjährige Krieg war ein gewaltiger Krieg. Er dauerte von . . .«

»Is mich ganz egal,« entgegnete ihm der sommersprossige Jan, »mein Vater täte es mir anders erzählen, denn er hätte ihn noch gekannt, und er wüßte noch, wie er hier nur so zwischen die Windflügel durchgeritten wäre, und die Flügel hätten dabei gegangen so schnell wie 'ne Kaffeemühle – und das hätte mein Vater gesagt, und der täte es wissen.«

Der Lateiner war aufgesprungen und hatte sich in die Brust geworfen.

»Was hat der General von Seydlitz getan?«

»Er täte durch die gehenden Windflügel reiten – und das hätte mein Vater gesehen,« bestätigte Jan Höfkens noch einmal.

»Und das ist hier bei dieser Mühle geschehen?«

»Ja.«

Die Augen des Lateiners sprühten ein heiliges Feuer. Mit einem vielsagenden Blick umfaßte er die Gestalt des ruhig grasenden Esels und meinte: »Was General Seydlitz vor Jahren getan hat – das kann ich auch. Beatus ille, 202 der den nötigen Mut dazu hat. Ich habe ihn – 'ran mit dem Esel.«

Wir wollten über den Spartanermut und den Heldengeist des lateinischen Heinrich vor Erstaunen und Bewunderung in die Erde versinken, denn er schickte sich an, seiner Behauptung die Tat auf dem Fuße folgen zu lassen. Gravitätischen Schrittes stolzierte er auf den Esel zu, löste den Strick, mit dem er angebunden war, vom Pflock und führte ihn als Zügel durch das Maul des überraschten Tieres.

Mit einem Selbstbewußtsein und einer Schnelligkeit, die wir dem Lateiner nie in unserem Leben zugetraut hätten, schwang er sich rittlings auf das Kreuz des Langohrigen, der ebenso erstaunt wie wir in die schöne Gotteswelt hineinsah.

Ruhig drehte die Mühle ihre langen Flügel im Wind, die bei ihrem tiefsten Standpunkt fast den Boden berührten. Die Segel schlappten, und es wollte uns jetzt bedünken, als wenn eine unheimliche, warnende Musik aus den Windruten töne. Die Sache wurde für uns im höchsten Maße aufregend. Ein empfindlicher und dennoch süßschauerlicher Kitzel rieselte über unseren Rücken, wie wir also den Lateiner mit seiner erstaunlichen Willenskraft vor uns erblickten. Er wuchs titanenhaft in unseren Augen. Er war für uns eine Art von Leonidas, der in seinem ganzen Leben nichts weiter als die spartanische schwarze Suppe genossen hatte und schon zufrieden war, wenn er des Nachts seinen abgehärteten Körper auf dem 203 dürren Schilf des Eurotas ausruhen durfte. Eine hellstrahlende Aureole umgab ihn.

Kerzengerade saß er mit seinem kurzen Oberkörper und den langen Beinen zu Esel. Die Leporellohosen, die sich nach den Komödientagen wieder in der Rolle des Alltäglichen gefallen mußten, waren bis zu den Kniekehlen emporgerutscht, so daß die Strümpfe in ihrer ganzen Herrlichkeit sichtbar wurden. Die Füße baumelten im Grase. Der Ritt konnte losgehen.

Obgleich mir in Rücksicht auf die zu unternehmende Waghalsigkeit der Spruch in den Sinn kam: »Quos Deus perdere vult, prius dementat,« eine Sentenz, die der Lateiner bei jeder passenden Gelegenheit in Reserve hatte, so wurden dennoch alle Bedenken zu Boden geschlagen, als ich bemerkte, daß unser Freund immer siegesgewisser den ruhigen Umschwung der Windmühlenflügel beobachtete. Er kam mir auf seinem Esel vor wie Peter von Amiens. Auch dieser hatte in verklungenen Zeiten auf einem Grautier gesessen, nur mit der kleinen Abweichung, daß Peter mit Kutte, Kapuze, Sandalen und nackten Beinen ausstaffiert war, der Lateiner hingegen im vollen Schmuck der Plüschpantoffeln und der Leporellohose zu Esel saß. Auch predigte der Bettelmönch gegen die Zuchtlosigkeit der Welt und forderte die Troddel in der abendländischen Christenheit auf, ihr Leben unter dem Hieb der türkischen Krummsäbel zu lassen, während unser Held lediglich als ein zweiter Don Quixote von der Mancha und ein Seydlitz redivivus den Kampf mit der Windmühle aufzunehmen gedachte. Ferner trug Peter das rote Kreuz in der Hand, wohingegen der Lateiner sich mit einem festen Knüppel begnügte, um gegebenen Falles eine Allianz mit diesem gegen das halsstarrige Grauchen einzugehen. Auch schrie Peter mit Stentorstimme: »Deus lo vult! – Deus lo vult!,« während der lateinische Heinrich stumm wie ein Fisch war. Im übrigen stimmte der Vergleich.

Der Müllerbursche war aus seiner Luke verschwunden. Ruhig und gleichmäßig drehten sich die gewaltigen Flügel im Wind, und man hörte deutlich das Malmen und Schroten der Mahlsteine.

Wird er den Ritt wagen?!

Ja – er wagte ihn.

»Eins – zwei – drei . . .«

Die niedrigen Absätze spornierten, der Knüppel wurde erhoben und der Zügel gestrafft, und – mit heidi! – setzte der Esel durch die kreisenden Flügel. Der Ritt war gelungen.

Uns standen die Haare zu Berge. Anfangs waren wir außerstande, die richtigen Worte und Beifallslaute zu finden, dann aber brach ein Geheul los, das, wenn es noch Wunder wie in den testamentarischen Zeiten gegeben hätte, genügen mußte. keinen Stein der Mühle aufeinander zu lassen.

Der Lateiner kannte sich vor Selbstüberhebung in seinem Glücke nicht mehr.

»Doppelt hält besser!« schrie er von seinem Tier herunter. »Also noch mal!«

205 Er war überruhmsüchtig geworden. Er riß den Esel herum und spornierte von neuem. Allein, auch die Geduld des Langmütigsten hat ihre Grenze! Der Esel stieß ein verdächtiges »I–i–ih!« aus, wurde bockbeinig und gefiel sich in seinem Verharrungsvermögen.

»Quot capita, tot sensus!« schrie der Lateiner, »aber ich setze den meinigen durch,« und wieder fuhr das Schuhwerk in die Weichteile des gequälten Tieres. Dieses Mal mit dem Erfolg, daß der Esel in die Wirkungssphäre der Flügel sprang und hier wie angewurzelt stehen blieb – ein kritischer Moment allererster Ordnung.

Eine letzte, verzweifelte Kraftentfaltung! – Spornieren, Zügelreißen, Heben und Niederschmettern des Knüppels – alles umsonst! – Der verhängnisvolle Mühlenflügel sauste nieder und traf die Hinterbacke des Esels – dann ein einziger Aufschrei . . .

Roß und Reiter fuhren kopfüber und in einem rasenden Tempo den Hügel hinunter. Die Leporellohose meines Freundes platzte, das Hemd kam zum Vorschein, und der Esel streckte alle Viere gen Himmel. Gleichzeitig allgemeine Panik und Flucht. – Jan Höfkens und der lange Dores waren wie von der Bildfläche verschwunden. Als ich dem Lateiner zu Hilfe eilen wollte, riß dieser ebenfalls aus wie morsches Schafleder. Er war feldflüchtig geworden, und sein Hemd gerierte sich wie eine Parlamentärflagge im Felde.

Ich stand sprachlos – und wie ich so dastand und dem unrühmlichen Verhalten des Lateiners und der 206 anderen nachsah, kam das Verhängnis, die Nemesis, die rohe Gewalt in der Person des vierschrötigen Müllerburschen aus der Mühle gesprungen. Mich, den Unschuldigen, ergreifen und mit den rohen Fäusten windelweich durchbläuen, war das Werk einer kurzen Spanne Zeit. Dann ließ er mich laufen. Mit der Jacke voll Prügel gewann ich den Deich, der sich auf Pistolenschußweite jenseits der Mühle hinzog. Von hier aus übersah ich das Feld unserer verhängnisvollen Tätigkeit. Die Sonne neigte sich.

Die Heimchen zirpten im Grase, und eine Lerche stieg in den Himmel hinein.


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