Heinrich Laube
Reisenovellen - Band 4
Heinrich Laube

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Florentin.

Florentin war bei einem österreichischen Beamten auferzogen worden; das ist von Wichtigkeit. Die Beamtenwelt eines Staates hat allgemeine Bezüge zur Nationalität, aber auch sehr bestimmte Abweichungen von dieser. Der Erzieher Florentins sah sich nur mit einem Komplimente nach einem Kollegen um, mit einem tiefen Bückling nach einem Vorgesetzten, er erstarb in Demuth, wenn er in die Nähe einer bedeutenden Staatsfigur gerieth.

Die Atmosphäre theilt sich mit: Florentin, ein fein organisirter, empfänglicher Knabe, ward der höflichste und verbindlichste junge Mann, er schlug sich sogar mit dieser Höflichkeit und Verbindlichkeit durch die Studentenjahre auf einer norddeutschen 56 Universität, was ungefähr so viel sagen will, als der glückliche Rückzug Xenophons durch viele hundert Meilen feindlichen Landes.

Der Erzieher hatte ihn nämlich entlassen, und Florentin begann seine Carriere in Norddeutschland. In kurzer Zeit war er der allgemeine Liebling seines neues Aufenthaltsortes, Niemand entging seiner Aufmerksamkeit, Jedermann fand sich mit besonders zuvorkommendem Wohlwollen behandelt, Florentin war Mittelpunkt, Liebling, Musterbild. Auf das Günstigste unterstützte ihn sein Aeußeres hierbei; er war schlank, hoch und geschmeidig aufgeschossen, fein und zierlich geschweift in Taille und Schulter, und doch stark und kräftig genug dabei, um den vollkommen behaglichen Eindruck einer schönen Figur zu erwecken. Sein Gesicht war ausdrucksreich, das Auge voll Gutmüthigkeit, das braune Haar dicht und reich.

So lebte er eine Zeitlang in der angenehmsten Lage hin, die reichsten, gefälligsten Eindrücke kamen ihm von allen Seiten entgegen, denn das Befinden 57 in der Gesellschaft ist eben ein nach den Gesetzen der Schwere und Bewegung sich regelndes Verhältniß – sogar eine natürliche Anlage zu Zweifel und Schwermuth schien von ihm gewichen zu sein.

Woran lag es, daß dies Leben plötzlich in's Stocken gerieth, ganz und gar in's Stocken gerieth? Er behandelte die Menschen wie Schemata, wie Begriffe, nicht wie gesonderte Individuen, und das bemerkten sie nach und nach, seine Höflichkeit und Artigkeit hatte nur eine allgemeine Physiognomie, das genügt aber den Leuten nicht, jeder Einzelne will der einzelne, eigene Erzeuger solchen Entgegenkommens seyn, er will ausgezeichnet werden, nicht aber eine gewöhnliche Nummer in der allgemeinen Bildungsziffer sein. Florentin war gegen Herrn Schmidt eben so artig wie gegen Herrn Schulz, und gegen Herrn Schulz ebenso wie gegen Herrn Huffmann, er fragte die Frau Kriegsräthin mit demselben verbindlichen Lächeln nach der Krankheit des Mopses, wie er sich bei der Frau Regierungsräthin nach dem Papagei erkundigte, er tanzte mit Rendantens Malchen eben so oft wie 58 mit Hofrath's Thusneldchen, es konnte sich Niemand über ihn beschweren, und darum wurde er zuerst Vielen gleichgültig. Es blieb ihm gegenüber nichts zu hoffen, nichts zu fürchten übrig, und dieser Zustand ist der Tod alles Interesses, das heißt hier: alles Interessantseins.

Diese Wahrnehmung ging indessen eine Zeitlang an ihm vorüber, weil sein Herz von einem ungewöhnlichen Wohlwollen für eine Dame bewegt wurde. Sie war die einzige Tochter hochgestellter Eltern, und besaß Alles, um ein Gemüth wie Florentin's zur lebhaften Theilnahme anzuregen: sie war schlank und hoch gewachsen, das Antlitz war von fein begrenzter griechischer Form, alle ihre Bewegungen waren leicht, klein, in lockendes Maaß, in reizende Grenze gedrängt. Sie gab wenig aus in Wort oder Blick, aber das Ganze war in den Duft einer decenten, einschmeichelnden Weiblichkeit gehüllt, Alles an ihr schien geschaffen zu sein für die Gewohnheiten und Neigungen Florentin's; er war entzückt von Aurelien.

59 Aber hierbei trat ihm sein ganzer Mensch störend in den Weg; es war gegen seine Innerlichkeit, einem Wesen ausschließend zu huldigen, es verletzte ihn, irgend Jemand zu vernachlässigen. Auch das in Liebe bewegte Herz glaubte er seinen Forderungen an Bildung unterwerfen zu müssen.

So gestattete er seiner zärtlichen Theilnahme keine bestimmte Färbung, und Aurelie gewöhnte sich daran, nicht mehr als einen theilnehmenden Freund in ihm zu erblicken.

Die Stellung ihrer Eltern in der Gesellschaft war ihm auch ein zurückdrängendes Hemmniß, sie waren höher situirt, als er es jemals zu werden hoffte. Vor jeder Inkonvenienz bebte er aber zurück, Leute einen Augenblick in bedenkliche, schwierige und prekäre Wahl zu versetzen, war ihm ein Aeußerstes, zu dem er sich nicht entschließen mochte.

So standen die Sachen: Alles hing an einem kleinen Anstoße, es bedurfte nichts als einiger Herzenskourage von seiner Seite, und Aurelie, die unberührte Blume, welcher noch kein drängender 60 Sonnenstrahl nahe gekommen war, hätte sich über Nacht entfaltet zur duftenden Blume, zur hingebenden Liebe. Er fühlte auch genau den wichtigen Moment der Situation, aber sein Wesen gestattete es nicht, so viel Rücksicht von Seite der Eltern, so viel Affekt von Seiten Aureliens in Anspruch zu nehmen für sich allein. Er zögerte, es kam ein anderer kühnerer Bewerber, an einem schönen Morgen gab der gallonirte Bediente aus Aureliens Hause eine Verlobungskarte bei ihm ab –

Von diesem Augenblicke an brach Alles um ihn zusammen, oder vielmehr gewahrte er es völlig, daß bereits Alles zusammengebrochen sei. Sein von Liebe gehobenes Herz hatte es nicht bemerkt, wie gleichgültig die Menschen gegen ihn geworden seien, wie sie seine Höflichkeiten aufnahmen gleich einer Schuldigkeit, welcher er sich zu entledigen, und die man nach Belieben zu erwidern oder unerwidert zu lassen habe.

Das ganze Gebäude seiner Existenz stürzte über ihm ein, er sah nirgends Wirkungen seiner 61 gesellschaftlichen Schritte, er mißtraute nicht den Menschen, sondern sich, glaubte, die Welt durchaus nicht verstanden, eine durchaus unpassende Stellung eingenommen zu haben, kurz es überkamen ihn alle die Qualen eines gewissenhaften Menschen, welcher plötzlich inne zu werden meint, daß er ein störendes, jedenfalls unpassendes Mitglied der Gesellschaft sei, was nothwendig zu Grunde gehen müsse.

Die körperliche Anlage zur Schwermuth bildete sich mit Riesenschritten aus, denn Körper und Seele sind ein Leib; er machte unter der ärgsten Pein, die er sich aber um keinen Preis erspart hätte, überall Abschiedsvisiten, und kam der Verzweiflung nahe in Carlsbad an.

Es ist hier, wo er ohne Verkehr mit der Welt, einsam im Zimmer lebt, die Bemerkung einzuschalten, daß die bisherige Skizze Florentin's nicht etwa flüchtige Leser verleiten solle, diesen für einen unbedeutenden Schwachkopf zu halten. Er war nichts weniger als dies. Sein ganzes Wesen war aus einem breiten, mannigfachen Systeme zusammen 62 konstruirt. Eben so darf man seine Höflichkeit nicht ohne Weiteres für Schwäche, für kindisch-eingelerntes Treiben ansehn – ein innerer, tiefer Zusammenhang wurde nicht vergeblich in ihm gesucht.

Von vorn herein lebte und webte durch sein Herz wie durch seinen Geist der Grundsatz einer unendlichen Pietät; alles, was einmal war, hatte drei Viertheil Richtigkeit bei ihm voraus, weil es die Fähigkeit besessen hatte, sich zur Existenz zu machen, die Fähigkeit sich zu behaupten. Alles Historische im weitesten Sinne des Worts war ihm Auktorität, dahin gehörte nicht bloß die wichtigste Staatseinrichtung, sondern auch der kleinste Bezug zwischen Leuten, die Gewohnheit im Alltäglichen.

Er liebte keineswegs die Kriecherei, aber von dem einmal abgewogenen Verhältnisse wollte er nicht einen Gran verloren sehn.

Sich zu isoliren hielt er auch für Unrecht, er ging des Morgens zum Brunnen, und lernte dort unsre schöne Witwe Diana kennen. Da er sich auch wie einen Witwer ansah, so fand die Bekanntschaft 63 schnell und leicht harmlose und ungefährliche Bezügnisse. Diana hatte mancherlei Aehnlichkeit mit Florentin, nur besaß sie mehr Drang nach Abwechselung, und dieser hatte ihr eine zaghafte Kourage ausgebildet, womit sie mehr Andere als sich selbst aufzumuntern pflegte. Meisthin sind nur diejenigen Wesen am verlockendsten, von denen wir eine Ergänzung unseres Selbst hoffen. Bei all seiner konservativen Art war Florentin kein Ritter der Stagnation und des Stillstandes, ein so ermunterndes Etwas, welches nicht jach und frech heraustrat, reizte ihn ungemein, er verbrachte in dem engen Badeleben die meiste Zeit mit der schönen Witwe im schwarzseidenen Kleide.

Sie war kurze Zeit verheurathet gewesen, verheurathet aus Konvenienz. Der Mann war gestorben; sie sprach selten von ihm, und wenn es geschah, so lag in dem Ausdrucke »mein verstorbener Mann« eine so unklare Mischung von Pietät, Gleichgültigkeit und Gewohnheit, daß Florentin keine weitere Veranlassung darin finden konnte, näher nachzufragen.

64 Ein ungewöhnliches Interesse, was sie an männlicher, ernster Bildung nahm, gab den Unterhaltungen festen Halt, Florentin's Scherz darüber nahm sie ernsthaft lächelnd hin, ohne ihn weiter zu beantworten.

Brunnen und Umgang verscheuchten ihm den Trübsinn; wenn er zuweilen noch klagte, so tröstete ihn Diana mit wenigen scherzhaften, den Kleinmuth verwerfenden Worten. Dabei blickte sie auf ihre Arbeit, und erst wenn Florentin zu ihrer Ermunterung schwieg, schlug sie die großen Augen auf, in denen eine sichere Gutmüthigkeit und mancherlei gedanken-ahnungsreiche Phantasie zu ruhen schien. Die hatten etwas sehr Bedeutendes für ihn, diese großen schönen Augen, welche dunkle Brauen und Wimpern in lockenden Schatten stellten. Er suchte dann wohl ihre Hand und küßte sie; Diana war aber bei all solchen Annäherungen gewöhnlich verlegen, die Röthe stieg in ihr Gesicht, und so viel Reiz auch diese Jungfräulichkeit haben mochte, sie war nicht geeignet, den bedenklichen Florentin aufzumuntern.

65 Um diese Zeit traf Aurelie mit ihrer Mutter und ihrem Bräutigam im Bade ein; Florentin war bestürzt, als er sie des Morgens traf; er hätte fliehen mögen, aber sein Naturel gestattete es nicht, den Artigkeiten zu entrinnen, welche die Neuangekommenen von ihm, dem alten Bekannten und Freunde erwarten durften, der das Bad und dessen Gelegenheiten schon genauer kennen mußte.

Aurelie war noch viel schöner geworden, die Reise halte sie aufgeregt, ihre sonstige Stille ward durch ein lebhafteres Wesen bewegt, und Florentin glaubte manchmal zu entdecken, daß aus der schweigenden Ruhe ihrer Formen und Blicke ungewöhnliche Zeichen von tiefem, starkem Temperamente aufschlugen, wie in stiller, schweigender Sommernacht plötzlich Blitze am Horizonte leuchten.

Und wie unpassend erschien ihm der Bräutigam: ein glatter, gewandter Weltmann, ein aimable Roué, der schön tanzen und reiten, Artigkeiten sagen, eine Dame schön am Arme produciren konnte. Er bat Florentin in der Eile um seine Freundschaft, 66 da ihm Aurelie erzählt, mit welcher Artigkeit er sich früher ihre Unterhaltung habe angelegen sein lassen, er bat, der Dame im schwarzen Kleide vorgestellt zu werden, mit welcher Florentin eben promenirt sei.

Auf diese Weise ging die Gesellschaft in einander über. Bald darauf erschien auch Marie, eine Bekannte Diana's, an welche sie sich anschloß und wodurch sie ebenfalls diesem Zirkel eingeordnet wurde.

Es begann eine störsame bewegte Zeit für Florentin. 67

 


 

Leichte, spekulirende Charaktere können niemals so unglücklich werden, oder wenigstens nicht so leicht unglücklich werden, als österreichische, welche Florentin gleichen. Jene suchen sich bei ungewöhnlichen, mißlichen Verhältnissen neue Wege, und gelingt es auch auf diesen nicht, so trösten sie sich doch leicht über die fehlgegangene Spekulation mit der Hoffnung, daß die richtige wahrscheinlich dicht daneben ruhe, und beim nächsten Versuche gefunden werbe. Aber Florentin fürchtet sich vor der Abnormität wie vor dem Fehler, dem Irrthum selbst, das Abweichen vom Hergebrachten ist ihm ein riesiges Wagstück. Da sah er sich mit lebhafter Besorgniß drei jungen Damen gegenüber, zu welchen er, wenn auch in 68 verschiedenartige, doch gleich nahe und zutrauliche Verhältnisse gerieth. Diana zog sich zwar in ihrer Schüchternheit mehr zurück, sobald sie lebhaftes Gespräch und Interesse bemerkte, in welches Florentin von andrer Seite gezogen wurde, aber dadurch zog sie am Sichersten Florentin nach, ohne es zu wissen und zu wollen. Seine feinen geselligen Organe empfanden es auf der Stelle, wenn Jemand nicht mehr den vollen, befriedigten Herzensklang erwiderte im Umgange und Gespräch, das letztere mochte noch so unbedeutend scheinen.

Daneben frappirte ihn Marie durch Frische, Muthwillen, durch springende, herausfordernde Schönheit. Der Wechsel ihrer Stimmungen und Launen, das Leichte, Spielende ihrer Auffassung, das Verlockende, Berauschende ihrer einzelnen Blicke, dieses ganze verborgene Triebwerk einer jugendlichen Koketterie überraschte und reizte ihn auf eine andere, neue Weise. Dies Wesen ging aus dem Gewöhnlichen heraus und war doch so gefällig! er fühlte sich aufgemuntert, in Bewegung gesetzt, fand alle die 69 Gegenseitigkeit und Elasticität der Gesellschaft, welche er so lange und schmerzlich vermißt hatte, in einem erhöhten Grade wieder, wie ein Champagnerrausch drang die Nähe Mariens auf ihn ein.

Und zum Dritten, was sollte er mit seinem Herzen Aurelien gegenüber? Sympathie ist in vieler Rücksicht wie der Adel: sie wächst mit der bloßen Zeitlänge, sie ist ein Samenkorn, in's Herz geworfen, was ohne weiteres Zuthun wuchert und keimt und aufgeht, groß und gewaltig wird, ein Baum, der Alles überschattet, ohne daß wir noch daran gedacht, dafür gewirkt haben. Auch die Liebe hat ihren unsichtbaren Dämon, der im Schlafe mit uns spielt: ein Traum bringt das alte Bild vor unsre Augen, was wir bestäubt, vergessen dachten, und am nächsten Morgen steht es frisch und rosenroth vor unsern Blicken, verläßt uns nicht mehr, treibt uns zu Pferde, hinab in den Jahre lang verlassenen Ort, wo sie wohnt, wo sie waltet, zu ihren Füßen, an ihren Hals. Wir sind befangen, wir sind im Strudel, lange nachher gewahren wir 70 vielleicht erst, daß wir exaltirt worden, durch die Ferne der Farbe getäuscht worden sind, daß Jugend und Schimmer fehlen – aber dieser letztere Gang war fremd in Florentin's Seele. Sie war zu dicht mit Pietät angefüllt, um ihm Raum zu geben. Er sah nur Aurelie vor sich, die beglückende Schönheit, gedachte nur all der heimlichen Stunden, wo er neben ihr gesessen in harmlosem, wohlthuendem Gespräche, wo er ihre junge hoffende Seele aufgeschlossen habe den lockenden Aussichten auf stille, genügsame Freude, keuschen Genuß in der wohl gefügten Welt. Und er sah den faden Erben einer so wohligen Vergangenheit, er sah das ungewöhnliche, neue Feuer, was Aurelien in Wangen und Auge trat, wenn ihr eine entschlüpfte Andeutung an die Geschichte seines Herzens, ein ungewöhnlich warmes Wort, eine zufällige Berührung ihres Armes der jungen Braut näher brachte!

War es ein Wunder, wenn ein Charakter, wie Florentins, alles Steuer zu verlieren glaubte bei solcher Meeresfahrt?

71 Es war an einem blitzenden Sommermorgen, als diese Gesellschaft, Aurelie mit ihrem Bräutigam, Marie, der alte Onkel, Diana und Florentin eine Partie nach Prag unternahmen. Sie hatten zwei bequeme Wagen und rasche Pferde, die Morgensonne vergoldete Berge, der Thau tropfte von den Bäumen, Lerchen stiegen um die Wette schwirrend und trillernd auf, die Luft war durch ein nächtliches Gewitter aufgeregt und wogte in warmen, üppigen Strömungen – Florentin, welcher Aurelien und der schönen Witwe gegenüber saß, warf alle störende Herzens- und Gesellschaftssorge hinter sich, und gab sich den verlockenden, süßen Eindrücken der Fahrt ohne Weiteres hin. So ward er freundlicher, dreister als gewöhnlich gegen die junge Braut, und es war nicht wohl zu verkennen bei der Einfahrt in die stolze Bergesstadt, daß Aurelie in einer ungewöhnlichen Bewegung war. Der Abend lockte die Gesellschaft zu einem Spaziergange, man war zeitig genug angekommen, und fühlte sich nicht ermüdet. Sie waren schon alle im Hausflure des Gasthofs, 72 als Aurelie den Arm ihres Bräutigams fahren ließ, und mit der Erklärung, etwas vergessen zu haben, umkehrte. Florentin, welcher ihren Blicken begegnete, bewies sich galant, und sprang die Treppe voraus, um das Vergessene herbeizubringen, athemlos kamen sie auf dem Zimmer an, Aurelie blieb stehen, ihre Brust stürmte, Florentin fragte kaum verständlich, was sie zurückgelassen habe, sie antwortete nicht, sah zu Boden. Er schwieg ebenfalls, und hatte ihre Hand ergriffen, die leise zitterte in der seinigen. Plötzlich richtete sie ihren Kopf in die Höhe, sah ihn mit lebhaften, glühenden Augen an, und fiel ihm mit dem Ausrufe »Florentin, o Florentin!« um den Hals. Sie küßten sich, wie Wanderer trinken mögen, die eine brennende Tagereise durch Wüsten gemacht haben ohne Wasser.

Aurelie! rief der Bräutigam, die Treppe heraufkommend. Die Thür war nur angelehnt, sie hörten ihn, und flogen von einander. –

– Wer von diesen Verhältnissen und Vorgängen unterrichtet gewesen wäre, für den hätte es ein sehr 73 auffallender Anblick sein müssen, die Gesellschaft auf den Nebenhöhen des Hradczin spaziren zu sehen. Die Sonne war eben unter gegangen, roth wie Scham und Freude starker, leidenschaftlicher Wesen lag ihr Schimmer auf der duftenden Erde, die Fenster der Palläste auf dem Berge glühten, und immer dunkler, unendlicher ward die untere Stadt mit ihren steinernen Häuserkolossen, mit der gewaltigen Brücke, mit den vielen Thürmchen: die Gesellschaft war still und sah hinunter nach der Stadt. Aurelien's Augen leuchteten in ungewöhnlicher Begeisterung, und suchten Florentin.

Aber Florentin ließ die seinigen nicht finden, eine Wolke dichter Trauer hing über seinem Antlitze, und nur seine große, gesellige Routine verbarg es, mit welcher Anstrengung er seiner Obliegenheit nachkam, und Dianen unterhielt von den böhmischen Herzögen und Königen, vom heiligen Nepomuck, dem ersäuften.

Geflissentlich wich er Aurelien aus beim Rückkehren, und als diese nicht sogleich erkannte, daß 74 solche Hindernisse nur von ihm allein ausgingen, war jeden Augenblick ein leidenschaftlicher Schritt von ihrer Seite zu besorgen. Es ist, als ob die Passionen ein Erbrecht von ganz bestimmter Ausdehnung auf uns hätten, was sie früher oder später unerbittlich und rücksichtslos geltend machten: schweigsam, wie nicht existirend, hatten sie in diesem ruhigen Mädchen geschlummert, ja Niemand hatte ihr Dasein geahnt, und jetzt traten sie plötzlich so drohend, ungebunden hervor.

Man hat Viel hin und her gesprochen, und wird Viel hin und her sprechen, ob sie mehr Göttliches oder mehr Bestialisches in sich tragen, die edlen Leidenschaften unseres Herzens, welche die Schranken aller Bildung brechen, dem Herzen die ursprünglichen Rechte vindiciren, keine Schonung, keine Rücksicht erkennen.

Für diesen Zweck genügt es darauf hinzuweisen, daß sie just in stillen weiblichen Charakteren oft in größrer Gewalt angetroffen werden, sie sind wie der Blitzesschatz einer schweren Donnerwolke aufgespart 75 worden, welche geräuschlos, blaß und ohne die mindeste Ankündigung daher zieht, bei dem leisesten Anstoße aber eine nie erwartete Kraft und Fülle entladet.

Aurelie jagte an diesem Abende ihren Bräutigam fort, und rief und schickte fortwährend nach Florentin.

Er war nicht zu sehen, der Glückstaumel hatte ihn vor dem Spazirgange überwältigt, er hatte sich eine kurze Zeit ganz und gar dem Rausche hingegeben, den ein plötzliches Begegnen in Liebe besonders dann mit sich bringt, wenn es mit einem alten Wunsche des Herzens zusammentrifft. Denn unsere Wünsche wachsen uns unbemerkt über den Kopf wie unsere Kinder. In jenen Momenten hatte er zum ersten Male alle Rücksicht vergessen, sich der Poesie des Augenblicks hingegeben wie ein Kind. Noch eh' die Sonne unterging, hatte er aber sich und das Grundwesen seiner Bildung wieder gefunden, es bedrängten ihn stürmisch die Gedanken: was soll aus der Welt werden, wenn wir allen plötzlichen Regungen nachgeben oder gar fröhnen und 76 schmeicheln wollen, wenn wir alle abgeschlossene Uebereinkunft, alles geordnete Verhältniß ohne Achtung bei Seite schieben, um unserm egoistischen Gelüste nachzukommen, wenn uns die Braut, die Gattin nicht mehr verpflichtete, geweihte Wesen sind, welche die Kultur außerhalb unsrer Gedanken und Wunsche hingestellt hat.

Es gab einen harten Kampf in seinem Innern, und als er spät in der Nacht in's Gasthaus kam, glaubte er, einen Sieg errungen zu haben – er setzte sich hin, um Aurelien zu schreiben, wie nothwendig es sei, daß ihre beiderseitige augenblickliche Verirrung für eine solche angesehen werde und die einzige bleibe –

Der Onkel erzählte ihm, was vorgefallen sei, wie Aurelie nach ihm verlangt habe, und dies beschleunigte seine Feder, gab ihr noch entschied'nere Worte. Als er hörte, daß in Aureliens Zimmer noch Licht sei, ließ er das Kammermädchen rufen, und gab ihr alsbald das Schreiben.

77 Aurelie schrie laut auf, als sie's gelesen, dann schwieg sie lange, trat in's Fenster, sah in die dunklen Nachtwolken. Als endlich das Mädchen fragte, ob sie ausgekleidet seyn wolle, sprach sie: Packe meinen Koffer und bestelle mir Postpferde.

Die ersten Tagesstreifen zuckten am Horizonte herauf, als sie nach Karlsbad zurückfuhr.

Ihr Bräutigam, welcher gut geschlafen hatte, erfuhr diese Abreise erst spät am andern Morgen, und fuhr ihr gegen Mittag nach. 78

 


 


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