Wilhelm Langewiesche
Wolfs Geschichten um ein Bürgerhaus -- Erstes Buch: Im Schatten Napoleons
Wilhelm Langewiesche

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Seit jener denkwürdigen Reise, die der Pastor Pieper und sein Schwiegersohn im Sommer 1805 nach Hamburg unternommen, hatte das Leben keine persönliche Berührung mit den dortigen Verwandten mehr gebracht. Aber man war in Fühlung geblieben, und nachdem, zeitlich just in der Mitte zwischen dem des geistlichen Herrn und dem des Ehrenbürgermeisters, auch des Reeders Lebensschifflein den Hafen der Ewigkeit erreicht hatte, war es Frau Maria Magdalena, die sich die Pflege solcher Beziehungen angelegen sein ließ. Sie »hielt auf Familie« und schätzte überlieferte »Bildung« höher denn jungen Reichtum. Und sowohl dem seligen Maire wie auch dem Kommerzienrat hatte es noch immer Eindruck gemacht, wenn sie bei gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten für die Stichhaltigkeit ihrer Gründe als Letztes die an sich ja nicht gerade überraschende Tatsache ins Treffen führte, daß sie »eine geborene Pieper« sei. Hatte doch zu einer Zeit, da der Urgroßvater Wolf noch in Holzschuhen und blauem Kittel hinter seinem Webstuhl hantierte, der Urgroßvater Pieper schon am Reichskammergericht zu Wetzlar die Fülle der Weisheit sowohl Salomos wie des Römischen Rechtes unter seiner Perücke vereinigt.

Ungleich verzweigter als der des Pastors Pieper war der Nachwuchs des Reeders Pieper, und wenn Frau Maria Magdalena auch verstand, in den vielen, übrigens ohne Erschütterungen oder sonderliche Abenteuer sich entwickelnden Einzelschicksalen auf dem laufenden zu bleiben, so freute sie sich doch herzlich, als im Sommer 1843 der jüngste Enkel ihres seligen Oheims, des Reeders, mit seiner blonden Frau auf der Hochzeitsreise persönlich sich vorstellte. Das junge Paar hatte in den Schweizer Bergen sich bräunen lassen, nachdem es in gemächlichen Etappen auf dem Wasserwege von Hamburg über Rotterdam nach Basel gereist war, und nun die schnellere Talfahrt in Köln unterbrochen, um in der persönlichen Bekanntschaft mit den von hier aus bequem erreichbaren Verwandten noch eines weiteren schönen Reisegewinns teilhaftig zu werden. – Immer wieder mußte Frau Maria Magdalena sich wundern, wie sehr dieser Johannes Pieper nach Gestalt, Antlitz und Wesen ihrem früh vollendeten Bruder gleiche. Allerdings waren es weder die Ziele der deutschen Burschenschaft, noch die einer mystischen Askese, wofür jener glühte, sondern die Macht und Herrlichkeit seiner Vaterstadt Hamburg, die aus der Asche des fürchterlichen Brandes um so stolzer sich erheben, mit dem Schutt der Ruinen auch den veralteter Einrichtungen ihrer Verfassung abstoßen und, freieren Wind in den Segeln, durch Schiffahrt und Handel die Welt erobern werde.

Wie manche nächtliche Stunde hatte Frau Maria Magdalena voriges Jahr vergeblich auf den Schlaf gewartet, weil ihr immerfort das brennende Hamburg vor Augen stand. Da hatte ihre Einbildungskraft sich stärker erwiesen als Hahnemanns Kügelchen, Pülverchen und Tropfen, soviele sie auch schluckte. Jetzt, da auch dies schon wieder so weit zurücklag, jetzt war gleich den andern auch sie so unermüdlich im Zuhören, wie die beiden im Erzählen unermüdlich waren, denn auch die junge Hamburgerin hatte in jenen Schreckenstagen tüchtig sich umgetan und unter der edlen Amalie Sieveking Führung geholfen, die Not der vielen Obdachlosen zu lindern.

Pina und Regine stellten allerlei heimliche Vergleiche an und beschlossen dann endgültig, den ersten Platz in ihrem Herzen doch München und Mirl vorzubehalten. Denn wie man in Hamburg ß-prach, das wollte ihnen nun gar nicht gefallen, und diese neue Tante, so nett sie war, ein wenig ß-teif war sie doch und so vertraut wie mit Mirl konnte man mit ihr nicht werden. Gleichwohl freuten sie sich jetzt, da sie so viel schauerliche Einzelheiten zu hören bekamen, von neuem, daß sie im vorigen Sommer, als in der Kirche, auf dem Rathaus und in der »Gesellschaft« für Hamburg gesammelt worden war, ihre kleinen Ersparnisse restlos für die unglückliche Stadt hingegeben hatten. – Sie freuten sich auch geziemend über das sonderbare »Andenken«, womit der neue Ohm, durch einen Brief der Großmutter über ihre Opferwilligkeit unterrichtet, ihretwegen sein Reisegepäck beschwert hatte: das saubere und vollständige Knochengerüstlein eines Sperlings, dessen Schnabel zu schließen das entfliehende Leben keine Zeit mehr gehabt hatte, als die Glut die kleine Kreatur mit dem Bruchstück eines Steins der Sankt Petrikirche zusammenbuk. Aber sie kamen dann doch überein, solcher ein wenig grauslichen Seltsamkeit nur vorläufig einen Platz zwischen den jüngferlichen Nettigkeiten auf ihrem Bücherbrett zu gönnen, um bei guter Gelegenheit den Vater zu bitten, sie Herrn Rektor Dr. Stups für den Naturalien- und Raritätenschrank der Höheren Bürgerschule anzubieten. Von welchem Schrank zu jener Zeit noch niemand ahnte, daß er in nicht viel mehr als einem halben Jahrhundert zu einem recht ansehnlichen städtischen Museum sich auswachsen würde. Denn noch hielt der uralte Kulturboden dieser Landschaft fest, was er von den entschwundenen Zeiten und Geschlechtern der Menschen in sich aufgenommen hatte. – Heute nun wird in diesem Museum neben allerlei keltischen und römischen Funden, spanischen Münzen und verrosteten Franzosensäbeln auch das »martialische« Amulett des unglücklichen Achatschleifers von Kirn aufbewahrt.

Ein anderes »Angedenken« trug Johannes Pieper immerfort bei sich. Das war eine tiefe Narbe auf der Wurzel des linken Daumens, wohin sich ihm ein Stücklein regnender Glut gelegt, als er ein Holzrelief aus Sankt Petri in Sicherheit brachte, das fast schwarz vor Alter war. Da hatte er, die wertvolle Last nicht zu gefährden, den Schmerz verbissen, bis ihm Hilfe ward.

Wie unbefangen und anschaulich dieser Hamburger Kaufmann zu erzählen verstand! Es war am letzten Abend, daß Frau Anna, nachdem sie den häuslichen Kreis durch Verwandte, Freunde und Bekannte beträchtlich erweitert und die Gesellschaft auf dem kleinen Platz zwischen Zedern und Gartenhaus sich eingerichtet hatte, den jungen Vetter bat, er möchte ihnen doch nun noch einmal alles in zeitlicher Folge und Zusammenhang darstellen. Da war es seinen Zuhörern dann, als sähen sie den hannoverschen Postbeamten in der schwülen Nacht vom 4. auf den 5. Mai müde vom Dienst durch die stillen Straßen nach Hause gehn ... Schon unterwegs hat er einen sonderbaren, brenzlichen Geruch zu verspüren gemeint. Den wird er auch in seiner Wohnung nicht los. Er öffnet ein Fenster und späht in die Dunkelheit hinaus. Er sieht und hört nichts Auffallendes, aber ihm ist, der Geruch werde stärker. Er kehrt auf die Straße zurück und teilt einem Nachtwächter seine Beobachtung mit und daß er die Ahnung von etwas Fürchterlichem habe ... Nun gehen die beiden Männer suchend in der Nachbarschaft umher. Andere Wächter schließen sich an, auch einzelne vom Stammtisch heimkehrende Bürger. Bald glauben sie, sich getäuscht zu haben, dann wieder sind alle überzeugt, daß von Täuschung keine Rede sein könne. Und wortlos teilt die bangende Ahnung des Einen sich allen mit, denn die letzten vier Wochen sind ganz ohne Regen gewesen und ein starker Wind geht durch Gassen und Fleete ... Da – es hat schon so lange Zwölf, aber immer noch nicht Eins geschlagen – da sehen sie aus dem Levyschen Erbe an der Deichstraße eine mächtige Rauchwolke vom Speicher wehen, und indessen ihr Feuerruf sich fortpflanzt und von den Soldaten an den Wachen durch Signalschüsse bestätigt wird, sagt irgendeine Stimme im Dunkeln, daß auf dem Speicher da oben das große Lumpenlager von Philipp Seligmann sei. Die Türmer läuten Sturm und mit den ersten Spritzen stellen, wie dem Erdboden entstiegen, Hunderte von Neugierigen sich ein. Schon beginnen auch einige Nachbarhäuser zu rauchen und hier und da werden Fenster heller, als sie es von einer Kerze oder Öllampe werden könnten. Und plötzlich steht eine ganze Reihe Häuser lichterloh in Flammen, die der Spritzen spotten. – Aber an ihrer einem, dem Stuckenbergischen, öffnet sich sacht die Tür und an die fünfzig oder sechzig fremde Schreinergesellen, jeder sein Felleisen auf dem Rücken und den Ziegenhainer in der Faust, treten aus dem dunklen Flur in die glühe Straßenhelle. Und gelassen wie das Häuflein Christen aus der Zerstörung Jerusalems ziehen sie von dannen: Die Welt ist weit und sie werden schon Arbeit finden. – Brennende Latten und Bretter schießen durch die Luft, ja das Wasser in den Fleeten beginnt zu brennen. Nein, das ist der Spiritus, der dort, eine feurige Kaskade, von einem Speicher herabrauscht und die trübe Flut in ein Flammenmeer verwandelt... Wie die Hitze durstig macht! Ah, da ist ja der Weinkeller von Hein und Jung! In den Stockwerken über ihm wütet das Feuer schon. Soll das Fleet etwa den guten Wein saufen? Auch von den Spritzenleuten bedarf mancher der Stärkung. Und mag man gleich ein wenig über den Durst trinken – man wird schon rasch genug wieder nüchtern werden. – Immer mehr Spritzen finden sich ein, auch die im Hafen liegenden Schiffe senden die ihren. Aber wie hart sie, in allen Sprachen der Erde durcheinanderfluchend, sich plagen, der Siegeslauf des Feuers wird auch durch die Blaujacken kaum verlangsamt. ... Man diskutiert, ob man noch nicht brennende Häuser niederreißen soll? – darf? – kann? – um die Brandstätte zu begrenzen. Häuser? Nein: Straßen! Pulver gehörte her, Kanonen!

Inzwischen ist die Sonne aufgegangen. Himmelfahrtsmorgen. Heute soll die Eisenbahn nach Bergedorf eröffnet werden. Statt mit Festgästen und Ausflüglern füllen und überfüllen gleich die ersten Züge sich mit Flüchtlingen. – Der Senat hat schon in der Nacht sich versammelt. Er tagt ohne Unterbrechung. Einzelne Senatoren sind immerfort zwischen Rathaus und Brandstätte unterwegs. Die Hitze wird unerträglich. Gegen zehn Uhr erklären die beiden Spritzenmeister zum zweitenmal, daß ihre Kunst zu Ende sei. Die Mannschaften sind teils übermüdet, teils betrunken. Ein zusammenstürzender Hausgiebel erschlägt zwei Rohrführer. Um elf Uhr steht das ganze Stadtviertel in Feuerregen, Rauch und Flammen.

Mit raschen, sichern Strichen zeichnete Johannes Pieper die wichtigeren Straßenzüge und Plätze seiner Vaterstadt in den feinen Sand, die zerstörten oder geretteten öffentlichen Gebäude durch kleine Kreuze, Ringe oder Quadrate andeutend. Und an solchem, sehr vergänglichen Stadtplan erklärte er seinen Zuhörern, wie die Feuersbrunst, auf noch nicht ermittelte Weise im Südwesten der Altstadt entstanden, fächerförmig nach Nordosten sich ausgedehnt, das Südende der Binnenalster umklammert und nach vier Tagen diese von halbverbranntem Hausrat belebte Wasserfläche als endgültige Begrenzung zögernd genug anerkannt hatte.

Persönlich hatte er an jenem Himmelfahrtstag am Rettungswerk sich nicht beteiligen können, weil darin für freiwillige Helfer seiner Art noch kein Platz vorgesehen war. Mit seiner Braut und ihren Eltern hatte er dem mittäglichen Gottesdienst in Sankt Nikolai beigewohnt, wo der Kandidat Wendt nach der Predigt für die Bewahrung dieser jedem Hamburger besonders teuren Kirche noch betete, als schon die ersten Rauchwölkchen aus ihrem Turm aufflatterten. Ein Habichtsnest sollte Feuer gefangen haben. – Daß er durch die Bitten seiner Braut vom Besteigen des Turmes sich habe zurückhalten lassen, das tue ihm heute noch leid, wie denn sein sonst ganz nüchterner Bruder Walter, der oben gewesen, von der grausigen Erhabenheit der Aussicht heute noch nicht ohne Überschwang sprechen könne. – Um drei Uhr nachmittags steht die Turmspitze in Flammen. Keine Möglichkeit, den Turm zu retten. Mehr als hundert Menschen steigen gleichzeitig auf der Treppe hinab, die sonst schon bedenklich wackelte, wenn nur drei gleichzeitig auf ihr sich fortbewegten. Nun läutet der Türmer von Sankt Nikolai zum letztenmal, brüderlich tröstend antwortet der von Sankt Michaelis. Und dann plötzlich ertönt das Glockenspiel, aber das ist kein Choral: eine wilde Rapsodie erbraust über der brennenden Stadt. Hat die Glut das Spiel verwirrt oder der Schornsteinfegerjunge, der als Letzter auf dem Turm sich zu schaffen machte? Als Letzter? Ist es Rauch oder sind es händeringende Menschen, die Gestalten, die da oben umgehen? – Um vier bricht die Turmspitze zusammen. Eine schlanke Lohe, wenigstens viermal höher als der Turm, springt gegen den Himmel, Kirchendach und Pastorate entzünden sich und die Drachenhäupter der Traufen speien glühendes Kupfer ...

Hier fragte die Pastorin Kranevoß, ob jener Kandidat durch seine Himmelfahrtspredigt den Hamburgern auch so kräftig ans Gewissen gegriffen hätte, wie der Pastor Mallet am Sonntag darauf. Dessen Predigt »Das hat Gott getan!«, die ja zum Besten der Abgebrannten gedruckt worden, hatte ihr Mann sich kommen lassen, und auch sie hätte sie mit sonderlicher Erbauung gelesen. Denn sie hätte ja immer gesagt, daß diese Großstädte wahre Sündenpfuhle seien, und sie wüßte noch recht gut, wie sehr die Frau Bürgermeisterin einst um ihren Johannes in Berlin sich gesorgt hätte. – Frau Maria Magdalena nickte bestätigend, aber Johannes Pieper lächelte: Nein! Der Kandidat habe schön und tröstlich über »Das Erbe, das uns wird behalten im Himmel« gesprochen, und was Mallets Predigt der strafenden Gerechtigkeit betreffe, so habe sie doch vielleicht mehr geschadet als genützt. Daß die Theologen gelegentlich den lieben Gott selber zum Brandstifter machten, sei zwar nichts Neues, wie denn schon Anno 1637 nach der großen Hamburger Feuersbrunst des Magisters Jodocus Edzardi gleichfalls im Druck erschienene Predigt betitelt gewesen sei »Der Herr zündet ihre Stadt an«. Unanfechtbar hätte Mallet etwa behaupten dürfen: »Das hat Gott zugelassen!« In der Tat verdächten ihm viele ernstlich, daß er, nicht ohne anscheinende Überheblichkeit, das göttliche Verbot, zu richten, in den Wind geschlagen und auf solche Weise manche Herzen beschwert und verbittert habe. Er, Johannes, halte auch dafür, daß kein Sterblicher die Gedanken des Unerforschlichen zu kennen sich vermessen dürfe, und daß es zum mindesten gegen die Liebe und gegen den Takt sei, dem von einem ungeheuren Schicksal Zugrundegerichteten sein Los als wohlverdiente Strafe hinzustellen. Übrigens hatte nicht nur christlicher Übereifer, sondern auch mohammedanischer Aberglaube oder Gaukelei die allgemeine Not auszunützen versucht, wie denn am Himmelfahrtstag ein richtiger Muselmann beim Senat eine Audienz nachgesucht und, als ihm solche gewährt, auch ein Dolmetscher beschafft worden, angeboten habe, für fünfzigtausend Taler den Brand alsbald aufhören zu machen. Des näheren befragt, habe jener erklärt, Allah sei groß und Mohammed sein Prophet, und er brauche nur einige Worte aus dem Koran in der richtigen Zusammenstellung, die sein Geheimnis sei und bleibe, auf einen Zettel zu schreiben und diesen dann ins Feuer zu werfen, so werde die versprochene Wirkung unverzüglich eintreten. Der Senat sei hierauf nun freilich nicht eingegangen, aber wenn er, Johannes, regierender Bürgermeister gewesen wäre, so hätte er dem Muselmann, bis zum Verglimmen des letzten Fünkleins, täglich fünfundzwanzig aufzählen lassen, nicht Taler, sondern mit einem guten Tauende. Solcher Ratsbeschluß würde, wolle ihm dünken, die lange Reihe eines halben Jahrtausends aufs würdigste beendet haben. Denn das alte Rathaus sei nicht mehr zu halten, seine Sprengung nicht mehr zu umgehen gewesen: Um halb drei in der Nacht habe der präsidierende Bürgermeister Benecke zum letztenmal in dem Raum das Wort ergriffen, darin durch fünf Jahrhunderte über Hamburgs Wohl und Wehe Rats gepflogen worden. – Andern Tags habe jener Muselmann sein Angebot erneuert, diesmal aber hunderttausend Taler sich ausbedingend. Leider sei er wieder ungestäupt entlassen worden.

Ernster als solche Schwäche des Senats sei die Gefahr gewesen, daß bei der mit dem Feuer wachsenden Kopflosigkeit am Ende noch der Pöbel die Herrschaft über die Stadt an sich reißen werde. Es habe wirklich zuweilen ganz so ausgesehen, als ob dies unmittelbar bevorstehe. Wie denn er, Johannes, in jenen schlimmen Tagen auch sonst gelernt habe, daß eine allgemeine Not wirksamer noch als die Kräfte des Guten die des Bösen wachrufe: bis zum Zwanzigfachen des sonst üblichen Fahrpreises hätten Fuhrleute und Schiffsführer gefordert, um den Flammen entrissenen Hausrat völlig in Sicherheit zu bringen, und nur allzu viele, die von irgendwelchen vielbegehrten, weil vielverbrannten Dingen größeren Vorrat besessen, hätten davon nicht anders als zu schamlosen Wucherpreisen abgegeben. ... Was aber jene Gefahr der Pöbelherrschaft betreffe, so sei sie durch »die sogenannten Zimmerleute« und »die angeblichen Brandstifter« offenkundig, aber rechtzeitig noch durch einen hochedlen Rat bekämpft worden, indem dieser am 7. Mai durch ein Publikandum alle wackeren Bürger aufgefordert, als »Polizey- Bürger« sich einschreiben zu lassen, um, nach Ordnung des Bürger-Militärs in Kompagnien abgeteilt, an einer weißen Schärpe kenntlich und mehr den Geist als die Worte einer in der Eile abgefaßten Instruktion vor Augen, überall nach dem Rechten zu sehen, einseitiger Anordnungen hinsichtlich der technischen Teile der Löschung sich zwar zu enthalten, nach Kräften aber sich angelegen sein zu lassen, die Arbeiter und das Volk zur Nüchternheit und Mäßigkeit, zu steter Tätigkeit und besonders zum Vertrauen auf Gott zu vermahnen. Solchergestalt habe auch er unverzüglich sich in den Dienst der bedrängten Vaterstadt begeben und dabei alsbald mit den sogenannten Zimmerleuten ein Renkontre gehabt. Es sei nämlich von alters her der Brauch, daß bei Bränden die Zimmerleute, den Spritzenmeistern zwar unterstellt, aber doch mit ziemlich weitgehenden eigenen Machtbefugnissen, an der Bekämpfung des Feuers sich zu beteiligen hätten, wobei in den kleineren Verhältnissen der guten alten Zeit von einer ausdrücklichen Legitimation des einzelnen abgesehen wäre. Solche Gepflogenheit nun hätten jetzt zahlreiche Taugenichtse nach rasch beschaffter Axt benutzt, um unangefochten auf Raub und Zerstörung auszugehen. So habe er selber in einem der vielen Häuser, die von ihren überängstlichen Bewohnern verlassen worden lange bevor das Feuer sie ernstlich bedroht, geschweige denn ergriffen hätte, fünf solcher Kerle angetroffen, die Zimmer und Schränke erbrochen und durchsucht, auch schon fünf artige Häuflein nützlicher und angenehmer Dinge in der Nähe der Haustür zu bequemer Mitnahme aufgeschichtet gehabt hätten. Von ihm zur Rede gestellt, habe der eine, ein bebrillter Graukopf, auf das »Kollegium ehrbarer Oberalten« sich berufen, dem er angehöre, und versichert, daß sie im Auftrag und nach Anweisung des Hausherrn hier verführen. Als jener dabei aber in allerhand Widersprüche sich verstrickt, sei ein andrer, ein baumlanger, flachsblonder und pockennarbiger Kerl hinzugetreten: »Uns hett hier keen Minsch mehr watt to seggen, nu sind wi de Herren!« – welche Auffassung ihn, den Erzähler, entschieden glaubwürdiger angemutet. Obwohl er nun als einzige Waffe nur einen derben Knotenstock gehabt, sei es ihm doch ohne sonderliche Mühe und Gefahr gelungen, die fünf Unholde auf die Straße hinauszukomplimentieren, wie denn erfreulicherweise dieses Gesindel weder durch Mut ausgezeichnet, noch organisiert gewesen sei.

Übrigens sei einmal eine ganze Bande solcher sogenannten Zimmerleute von der fürchterlichsten Strafe ereilt worden. Die hätten in der Nähe der Heiligen-Geist-Brücke einen Weinkeller erbrochen und alsbald einstimmig beschlossen, dessen wohlassortiertes Lager auf dem einfachsten und zugleich angenehmsten Wege zu »retten«. Um das »Bankett« ansehnlicher und pläsierlicher zu gestalten, hätte man einige pflichtvergessene Soldaten, auch etliche holde Weiblichkeit zugezogen, den Eingang aber gehörig verbarrikadiert, auf daß man ja die ganze Nacht unangefochten und »unter sich« bleibe. Inzwischen habe das Feuer jenes Haus ergriffen und völlig zerstört. Nach Wochen, bei den Aufräumungsarbeiten seien vierzehn Zimmermannsäxte und zweiundzwanzig Leichen zutage befördert worden...

Mit den »angeblichen Brandstiftern« habe er persönlich, fuhr der Erzähler fort, keine Bekanntschaft gemacht, es sei da aber manchen Unschuldigen gar übel mitgespielt worden. Gleich anfangs habe es geheißen, das Feuer sei von Arbeitern der großen englischen Maschinenfabrik auf dem Grasbrook angelegt, die nur Engländer beschäftige. Hierfür nun habe sich auch nicht der geringste Anhalt ergaben. Im Gegenteil: gerade diese englischen Arbeiter und besonders ihre Ingenieure hätten mit mustergültiger Disziplin, Tatkraft und Umsicht an der Bekämpfung des Feuers sich beteiligt. Gleichwohl sei jenes Gerede nicht zu Ruhe gekommen, das letzten Endes wohl auf Brotneid und nationale Mißgunst Hamburger Arbeiter zurückzuführen sei. Wie dann auch im weiteren Verlauf der Feuersbrunst mancher Lump sein Mütchen an einem persönlichen Feind gekühlt, indem er ihn der Begünstigung des Brandes oder gar der Anlage eines neuen Feuerherdes bezichtigt und so einer raschen und derben Volksjustiz überantwortet habe.

Nun wolle er aber, eingedenk des Wunsches seiner teuren Frau Base, strenger als bisher an die zeitliche Ordnung der Dinge sich halten. In der zweiten Nacht also habe das Durcheinander, am zweiten Tage die Feuersbrunst den Höhepunkt erreicht. Doch habe man in jener zweiten Nacht Sankt Katharinen gerettet – wie denn auch die Bewohner der nach dieser Kirche benannten Straße ihre Häuser mit sonderlicher Tapferkeit, Umsicht und Erfolg gegen die nimmersatten Flammen verteidigt hätten. Und an jenem zweiten, dem auf »Himmelfahrt« folgenden Tage, wäre es einem halben Dutzend beherzter Männer, die zufällig in der schon aufgegebenen Börse sich gefunden, wider alles Erwarten gelungen, diese Hochburg der hamburgischen Kaufmannschaft zu retten, also daß man schon nach Ablauf einer Woche darin wieder Geschäfte habe abschließen können.

Aber wie wenig vermag des Menschen Wille zur Ordnung gegen des Elementes Willen zum Chaos. ... Auf immer neue Straßen flutet das Flammenmeer. Ein Feuerregen geht ihm voran. Und vor diesem her fliegt ein Sturm, ihm die Fenster zu öffnen. – Alle Städte und Dörfer ringsum haben Spritzen und Mannschaften zu Hilfe gesandt. Dänisches Militär rückt ein, auch preußische Pioniere. Zuweilen wird das unendliche Brausen des Feuers von dumpfen Donnerschlägen übertönt: Pulverexplosionen, Sprengungen, von Offizieren und englischen Ingenieuren geleitet, und, wie alles, eine Lustbarkeit für das Gesindel, das allenthalben im Wege ist. Und die sogenannten Zimmerleute wirtschaften mit einer wahren Berserkerwut, als wären sie dem Tollhaus entsprungen. – Aber die Neustadt wenigstens wird durch die Sprengungen gerettet, bei denen einzelne allzu Verwegene den Heldentod finden und viele verletzt werden, denn die Straßen sind überfüllt von Menschen und Fuhrwerken. Es heißt, an die sechzigtausend Flüchtlinge hätten bis jetzt schon die Stadt verlassen.

Um sechs Uhr nachmittags wird durch die ganze Stadt Generalmarsch geschlagen: Auf dem Pferdemarkt und in der Breiten Straße hält hannöversche Artillerie. Doch die Kanonen richten wenig aus: ihre zwölfpfündigen Kugeln schlagen glatt durch die Mauern. Aber, Gott sei Dank, die Hannoveraner haben eine Unmenge Pulver mitgebracht. Denn wer kann verkennen, daß Sankt Petri, die größte und älteste der Hamburger Kirchen in höchster Gefahr und nur durch Sprengungen in der Nachbarschaft vielleicht noch zu retten ist. Mit Pulverfässern hochbeladene Wagen müssen durch den Feuerregen. Auf jedem thront ein Kanonier, gelassen die Funken und brennenden Holzstückchen aus- oder abschlagend, die auf die über die Fässer gebreiteten nassen, allzu rasch trocknenden Tücher fallen. Sechshundert Pfund Pulver werden in den Keller des großen alten Hauses von Romagnolo geschafft, dessen hohen Giebel schon die Flammen grell beleuchten. ... Eine fürchterliche Explosion, nächst der Sprengung des alten Rathauses wohl die gewaltigste von allen. Eine weiße Wolke verschlingt Haus und Straße. Daraus erhebt sich eine dunkle Masse von Steinen und Balken zum Himmel, die niederprasselnd Dächer, Schornsteine und Fenster der Nachbarhäuser zertrümmert. Vielleicht ist Sankt Petri gerettet.

Aber die höllischen Mächte spotten der menschlichen! Mit glühenden Armen greifen sie nach dem Gotteshaus. In erhabener Ruhe, wie ein Unverwundbarer im Toben der Schlacht, steht der hohe Turm, nur das kupferne Fähnlein auf seiner höchsten Spitze, durch die von der zunehmenden Glut bewegte Luft in immer rasenderem Wirbel umgetrieben, zeugt von Erkenntnis der Gefahr und äußerster Spannung. – Da, wo das Mauerwerk des Turmes sich der ganz aus Holz erbauten, mit Kupfer gedeckten Spitze verbindet, beginnt in der Nacht vom Freitag zum Samstag der Turm sich zu entzünden. Fieberhaft und mit wechselndem Glück versucht man ihn zu retten. Nach übermenschlicher Anstrengung muß man endlich jede Hoffnung aufgeben. Und bald steht dann auch das Kirchendach in Flammen. In den hohen Hallen darunter, in die Hunderte ihr gerettetes Hab und Gut geflüchtet haben, sind die verschiedenartigsten Kräfte gleichzeitig am Werke. Soldaten und »Polizeibürger« bringen unter Leitung eines Pfarrers die Kunstwerke und Kirchengeräte in Sicherheit, während zahlreiche der sogenannten Zimmerleute unter rohen Scherzen mit dem umherstehenden Hausrat Fangball spielen oder das alte Kirchgestühl die Wucht ihrer Äxte kosten lassen. Hier und da kniet ein zitterndes Mütterchen auf den Steinfliesen und betet. – Und dann, in der Nacht, sind die hohen, spitzbogigen Fensterhöhlen voll vom roten Widerschein des unersättlichen Feuers, das alles verzehrt, was die Menschen in der Kirche zurückgelassen haben. Und in dessen Glut und Wut Pfeiler und Gewölbe zusammenbrechen und Grüfte bersten ...

Johannes Pieper kam zum Schluß. Am Sonntag, den 8. Mai, um die Mittagstunde, kurz nachdem Herr Mallet sein Amen gesprochen, sei Hamburgs gewaltige Brandstätte endlich begrenzt, ein Weitergreifen des Feuers nicht mehr zu befürchten gewesen. Aber noch zwei Monate hindurch hätten die Spritzen zwischen den Ruinen der fast zweitausend Häuser zu tun gehabt. Ja, noch Ende September wären halbverkohlte Bücherballen, aus den Trümmern des Verlagshauses Hoffmann und Campe hervorgezogen, in der frischen Luft alsbald lichterloh aufgeflammt. »So, so, bei Hoffmann und Campe!« sagte Dr. Stups, der Basilisk, und meinte dann mit Strenge, daß das meiste, was diese Handlung verlege, auch wohl kein besseres Schicksal verdiene: Und er begreife den König nicht, dessen mitleidiges Herz die Regierung veranlaßt hätte, für Preußen den bekannten Buudesratsbeschluß gegen das sogenannte Junge Deutschland aufzuheben und mit einer milden Ermahnung zum Bravsein jenen Verlegern die Grenzen wieder zu öffnen, lediglich um sie für das Brandunglück zu entschädigen. Damit begann das Gespräch sich Heinrich Heines zu bemächtigen. Die meisten fanden seine Gedichte wunderschön, einige Damen einzelne sogar himmlisch. Doktor Stups fand sie entbehrlich und meinte, der alte Salomon Heine scheine diese Ansicht zu teilen, denn er habe geurteilt: »Hätte der Heinrich was ordentliches gelernt, so brauchte er keine Bücher zu schreiben.« Als aber Herr Latschert, der Baumwollagent, den Dichter als Volkstribunen und Apostel der Freiheit pries, sagte die Pastorin Kranevoß, sie danke entschieden für solche Freiheit und Heine sei ein Lästerer und Lüderjan, den der liebe Gott nicht umsonst so lange Jahre an einer schrecklichen Krankheit zwischen Leben und Sterben halte.

»Mallet« dachte der junge Hamburger, und um zu verhüten, daß die Unterhaltung sich nun etwa in dieser Richtung weiter entwickle, bat er, noch erzählen zu dürfen, auf welche heitere Weise Campe zu Heine oder vielmehr Heine zu Campe gekommen sein sollte: Vor etwa dreißig Jahren hätte der junge Heine in Berlin ein Bündchen Gedichte, seine ersten, erscheinen lassen. Als er dann einmal bei seinem Onkel Salomon in Hamburg zu Besuch gewesen, wäre er eines schönen Tages in die Buchhandlung von Hoffmann und Campe eingetreten und hätte Campe, ohne daß sie einander gekannt, nach jenem Gedichtbuch gefragt, das er sich gern einmal ansehen möchte. Campe hätte es ihm gereicht und der Dichter, nachdem er fünf Minuten darin geblättert, es dankend zurückgegeben: Nein, diese Gedichte wären nach Gehalt und Form doch allzu schlecht! Da wäre der Buchhändler aufgebraust: dann verstände einer von ihnen beiden nichts von Poesie, denn er seinerseits hielte dafür, daß seit Goethes Jugendtagen gehaltvollere und schönere Gedichte nicht geschrieben wären, und daß unter den Neueren keiner diesem Heine das Wasser reichte. Der Dichter aber hätte nach diesem Zornesausbruch mit gewinnendem Lächeln gesagt: »Ich bin Heine, und Sie, Campe, müssen mein Verleger werden!«

Übrigens sei der vom Herrn Rektor soeben erwähnte Ukas doch wohl reichlich weit gegangen, indem er »auch alle zukünftig noch bei Hoffmann und Campe zu verlegenden Druckwerke« im voraus verboten habe. Wonach Herr Campe sich nun freilich nicht gerichtet, vielmehr vorgezogen habe, »im Betretungsfalle« eine Geldstrafe auf sich zu nehmen, solche jedesmal erst nach erfolgter Pfändung zahlend. Dabei habe es sich dann einmal begeben, daß er dem Exekutor auf die Frage »Was soll ich pfänden, Herr Campe?« ganz ernsthaft geantwortet: »Den Kronleuchter, denn der Bundestag bedarf der Erleuchtung.«

Während Johannes Pieper alsdann von Herrn Latschert, dem Baumwollagenten, der seit kurzem Brandoffizier und Chef des neuen Feuerkorps war, in ein längeres Gespräch über das Hamburger Feuerlöschwesen im allgemeinen und seine technischen Hilfsmittel im besonderen verwickelt ward, sah der Rektor Dr. Stups von unterschiedlichen Vätern und Müttern sich umringt, die, durch eine Notiz in der Kölnischen Zeitung beunruhigt, teils fürchtend teils hoffend zu wissen begehrten, ob es denn wirklich wahr sei, daß das bisher doch als demagogenhaft verpönte Turnen in Bälde als richtiges Schulfach allgemein eingeführt werden solle. – Ja, das sei leider wahr und eine Folge dieser unseligen Schrift »Zum Schutz der Gesundheit auf Schulen« vom Professor Lorinser, die viel Staub aufgewirbelt und eine ganze Literatur für und wider das Turnen hervorgerufen habe. Er, Dr. Stups, verspreche sich garnichts von dieser Sache, halte vielmehr dafür, daß die Schule den Verstand und den Charakter auszubilden habe und nicht die Muskulatur, und daß das Turnen, ganz abgesehen von seiner Gefährlichkeit, leicht zur Verrohung der Jugend führen könne. Aber selbstverständlich müsse und werde er sich fügen. Weit erfreulicher und in Hinsicht jener unerwünschten Nebenwirkung des Turnens auch einigermaßen beruhigend erscheine ihm, daß Exzellenz Eichhorn nun sein Gelöbnis: »eine widerstrebende Welt zum lebendigen Christentum zurückzuführen«, auch der Schule gegenüber in Taten umzusetzen beginne. Zunächst werde der Religionsunterricht ganz beträchtlich vertieft und erweitert werden, so müsse z.B. in Zukunft der Gymnasialabiturient siebzig geistliche Lieder und hundertachtundvierzig meist ziemlich lange Bibelsprüche auswendig können. »Wenn er sie nur auch inwendig kann!« warf Heinrich ten Bompel ein. Dafür werde selbstverständlich gleichfalls gesorgt werden, meinte der Rektor und fuhr dann fort, den frischeren Wind der Zeit zu preisen, der seit Herrn von Altensteins Tode durch das preußische Schulwesen gehe und die Ansprüche steigere. Man sei jetzt auch in Berlin endlich dahintergekommen, was er schon immer gesagt, daß es gegen die Gefahren und Versuchungen dieser nach einer falschen Freiheit lüsternen Zeit kein wirksameres Mittel gebe als das Rezept des alten Pharao. Was denn das für ein Rezept sei, fragte die Kommerzienrätin, und prompt und ein wenig pathetisch erwiderte der Schulmonarch: »Man drücke die Leute mit Arbeit, daß sie zu schaffen haben und sich nicht kehren an lose Rede.« Das gelte nicht nur für das Volk, sondern erst recht für die Jugend dieser entartenden Zeit. – Die Kommerzienrätin entgegnete, sie ihrerseits halte nicht nur für das Volk, sondern erst recht auch für die Jugend ein anderes Wort aus dem Alten Testament für viel beherzigenswerter. Das stehe im »Prediger« und laute: »Darum sah ich, daß nichts Besseres ist, denn daß ein Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit.« Der Rektor lächelte überlegen: seiner Ansicht und pädagogischen Erfahrung nach lasse sich das vereinen. Dann wandte er sich an die Frau Pastorin: In der Kirche habe ja nun endlich das Positive über Rationalismus und Bürokratismus den Sieg davongetragen, und was der Kirche recht sei, das sei der Schule billig. »Ja, gewiß!« bestätigte die Angeredete und sie ihrerseits hoffe nur, daß es dem neuen Kultusminister mit der Zeit doch noch gelinge, die unanständigen Figuren von der Berliner Schloßbrücke zu entfernen, an denen alle ernsten Christen Anstoß nähmen, denn das Nackte gehöre nicht in die Öffentlichkeit, wo jedermann es betrachten könne. »Selbstverständlich,« meinte der Rektor, um aber bei der Schule zu bleiben, so hoffe er, daß bald über jeder Schultür und in jedem Schülerherzen geschrieben stehe: Ora et labora – Bete und arbeite! – Dann werde in Wahrheit ein ver sacrum, ein heiliger Frühling seinen Einzug halten. – Als sie noch Lehrerin gewesen, warf die Kommerzienrätin ein, hätte sie solches Sprüchleins über der Schultür zwar entbehren müssen, gleichwohl aber wäre durch diese täglich »ein heiliger Frühling« in die graue Schulstube geströmt, der sie dann während des ganzen Unterrichts aus siebzig oder achtzig Kinderaugen angestrahlt hätte. Daß aber in den Vorschriften und Methoden der Schule auch zu ihrer Zeit noch nichts von einem heiligen Frühling zu verspüren gewesen, das wolle sie gern zugeben und es solle sie freuen, wenn dies anders werde. Nur befürchte sie, daß die neue unendliche Vermehrung des Lernstoffes jeden heiligen Frühling alsbald wie ein böser Reif anfallen und das Beste, das Interesse des Schülers, lähmen würde. Wenn es z.B. wahr sei, daß der Gymnasialabiturient in Zukunft viertausend Geschichtszahlen wissen müsse, so sei es ihr nicht zweifelhaft, daß ein derartig belastetes Gehirn die Fähigkeit einbüßen werde, etwa in Rottecks Weltgeschichte die großen Zusammenhänge zu suchen oder gar des Geistes der Geschichte einen Hauch zu verspüren. Am allerbedenklichsten aber wolle ihr doch die geplante ungeheuerliche Vermehrung des religiösen Lernstoffes erscheinen. – Er im Gegenteil, erwiderte Dr. Stups, verspreche sich nun gerade hiervon nur Gutes, besonders auch für die Schulzucht, die Disziplin, die ja im Grunde doch die Hauptsache sei und bleibe. – Für Lehrautomaten und Lernautomaten ganz gewiß, bestätigte die Kommerzienrätin, aber für Lehrer und Schüler halte sie einen Ausbau der Disziplin nach der Seite einer maßvollen Freiheit hin für nützlicher und auch für würdiger. – Aber davon wollte der Rektor nichts wissen: wohin das führe, habe doch schon vor zehn Jahren Dr. Bunsens Schule in Frankfurt am Main gezeigt, die ja so eine Art »Freistaat der Jugend« gewesen, bis sie dann durch die vermutlich ganz logische Beteiligung ihres Leiters am Frankfurter Wachensturm ein Ende mit Schrecken genommen, wie denn inzwischen auch dieser Dr. Bunsen selber jämmerlich zugrunde gegangen, soviel er wisse, in Texas verschollen sei. Was aber eine Beschäftigung der Schüler mit Rottecks Weltgeschichte betreffe, so befürchte er, daß sie am Ende gar in eine Beschäftigung mit der Politik ausarten werde, was doch gewiß niemand erwünscht sein könne. – Hier nun kam Friedrich Wilhelm Wolf seiner Frau zu Hilfe: In seinen Augen sei es in der Tat ein außerordentlicher Vorzug der englischen Schulen im Vergleich mit den deutschen, daß drüben das politische Interesse frühzeitig geweckt und gepflegt werde, so daß die Knaben con amore politisch debattierten. – Gott möge uns bewahren, rief Dr. Stups, daß Schuljungen über Politik reden wie Männer! – Die Kommerzienrätin aber, indem sie sich erhob, um ein paar aufbrechende Gäste zu verabschieden, meinte lächelnd, vielleicht würde das immer noch erfreulicher und für die deutsche Zukunft besser sein, als daß jetzt zuweilen Männer über Politik redeten wie Schuljungen.

Das Aufbrechen wirkte ansteckend. Auch der Basilisk empfahl sich. Als Frau Anna in den beträchtlich verkleinerten Kreis zurückkehrte, hatte Friedrich Wilhelm ein Windlicht entzündet, in dessen Schein er soeben eine Flasche »Eilfer« entkorkte, während der Vetter aus Hamburg in einem Büchlein blätterte. Denn als das Gespräch vorhin die Wendung ins Pädagogische genommen, war ihm sein Freund Dr. Schleiden eingefallen, dessen junge Schulunternehmung durch das Feuer aus den zwei Zimmern an der Paulstraße vertrieben worden war, und der nun mit seinen zwanzig Jungen in der elterlichen Wohnung bei der kleinen Michaeliskirche beschränkt genug hauste. Und daß er, Pieper, ja die Absicht gehabt hatte, nach Beendigung seiner Erzählung das schöne Schlußwort aus Schleidens Darstellung des großen Brandes vorzulesen, dieses Schlußwort, um dessentwillen er das Büchlein seinem Reisegepäck einverleibt hatte. Alle freuten sich seiner Absicht und er las:

»Zum Pfingstfeste, acht Tage nach dem Aufhören des Brandes, füllten sich die stehengebliebenen Kirchen so, daß überall die Räume zu enge waren für die Menge derer, welche in gemeinsamer Andacht Beruhigung und Erhebung des Gemütes suchten.

Jeder der Geistlichen suchte das Feuerzeichen von seinem Standpunkte aus zu deuten, aber auch Redner, die nicht auf der Kanzel standen, haben gepredigt und gesprochen, wie sie der Geist getrieben und was sie zum Nutzen und Frommen der Stadt für nützlich und wünschenswert erachteten. Von der Notwendigkeit, daß es anders, daß es besser werden müßte, daß, wenn nicht der alte Ruhm unserer geliebten Stadt zugleich mit ihren Kirchen und Straßen zugrunde gehen sollte, wir uns dieses furchtbare Ereignis »zum Besten dienen lassen« müßten, darüber waren alle einig. Klagen und Fragen, Hoffnungen, Wünsche, Vorschläge, Reformpläne der verschiedensten Art wurden laut, ein rüstiger Kampf der Meinungen hat sich erhoben und ein lebensfrischer Odem weht kräftigend durch viele Kreise unseres Gemeinwesens. Man hat diese Bewegung Aufregung genannt und ihr Erlöschen von der Zeit erwartet. Wollte Gott, daß diese Aufregung, »in welcher jeder Bürger mehr an das Gemeinwohl als an sich selbst denkt,« daß diese Liebe für unsere Stadt und unseren Staat, welche nicht das Ihre sucht, sondern das, so der andern ist, nie aufhöre, denn nur in dem sich solchergestalt bildenden und entwickelnden vaterländischen Gemeingeist ist das Heil, und ein Freistaat wie Hamburg ist ohne denselben ein Kinderspott. Es wird niemand in Abrede stellen, daß wir noch mancherlei Schutt dort zu versenken haben, wo es am tiefsten ist; daß aus den Ruinen mittelalterlicher Institutionen sich ein Neubau erheben muß, welcher namentlich fast alle Zweige unserer Verwaltung umfaßt; aber nur Einseitigkeit oder Gehässigkeit wird die Schuld der Übelstände unter uns irgend einem einzelnen Gliede des Staatskörpers allein beimessen, und nur Kurzsichtigkeit wird von der Umgestaltung einzelner Institutionen die Wiedergeburt eines Staates erwarten. Als Nero Rom beherrschte, bestanden noch alle Formen der alten Republik, aber, vom Geist verlassen, waren sie ein Spiel der Willkür. Das Übel liegt tiefer.

Aus diesem Gefühl heraus müssen uns die Verbesserungen kommen, sonst sind sie hohl und nichtig von Anfang. Solange die philisterhafte Lobhudelei über die Vortrefflichkeit unserer Institutionen noch für Patriotismus gilt, solange nur jeder von dem andern fordert und nicht selbst zu leisten und aufzuopfern bereit ist, solange unsere Bürgerkonvente nur dann sich füllen, wenn die Sonderinteressen irgend eines Standes gefährdet scheinen, solange nicht die Kenntnis unserer Verfassung und unserer Gesetze und die lebendige Teilnahme dafür in jedem Bürger ist, solange die einen behaglich den alten Weg des Schlendrians wandeln und die andern ebenso behaglich kritisieren, ohne sich energisch zu rühren, daß es besser werde, solange nicht aus unseren niederen Ständen die Völlerei und die alberne Sucht, es den Reichen gleich zu tun, und aus unseren höheren Ständen das gemeine Vorurteil, den Wert des Menschen nach seinem Kapital und nach der Opulenz seiner Gastereien anzuschlagen, ausgerottet sind, solange mit einem Worte nicht ein Geist der Zucht und Ehre, der Gerechtigkeit und Frömmigkeit alle zusammen und jeden einzelnen Bürger durchdringt, so lange werden alle Verfassungsreformen, und wären es die besten, uns nichts helfen.

Sollen wir denn nun alles gutheißen und in Geduld erwarten, bis dieser heilige Geist über uns komme? – das sei ferne! Formen sind nicht gleichgültig, und wer den Tempel bauen will, muß einen Stein zum andern legen. Geist und Form stehen in beständiger Wechselwirkung und nur in dem Kampf um Formen ringt sich, wie die Geschichte aller Zeiten lehrt, der Volksgeist der Selbständigkeit und Gerechtigkeit empor. Darum räume jeder Bürger in seinem Kreise zuerst den Schutt weg und suche diesem Geiste eine Heimat zu bereiten, und wem die Kräfte dazu verliehen sind, der denke und wirke fürs Ganze. Es mögen die Besten und Einsichtigsten sich zum starken Bunde die Hand reichen, daß vor der Gerechtigkeit und Wahrheit ihrer Forderungen die Selbstsucht und der Unverstand sich beschämt zurückziehen müssen. Es kämpfe im redlichen Kampfe jeder für seine Überzeugung und an der Stelle, wo ihm im Verhältnis zum Ganzen sein Platz angewiesen ist. Vor allem aber: es fordere niemand, der nicht zu geben bereit ist, oder besser: es sei jeder bereit zu geben, was von ihm das Vaterland fordert. Dann wird es vorwärts gehen. Etwas Besseres haben wir nicht zu erwarten und das wäre das Beste. Es gibt keinen vollkommenen Staat und wird auch keinen geben; aber das sind die besten und die zeichnet die Geschichte mit unsterblichem Ruhme aus, welche in stetem Fortschritt begriffen, das Ziel der Vollendung anstreben. Denn, wie Dahlmann sagt, »weil nichts vollkommen ist, was besteht, so ist das höchste Darstellbare der Fortschritt.« Ruhen ist freilich bequemer als Arbeiten, und »Gehenlassen« bequemer als diese Unruhe des Vorwärtsstrebens; aber Gesundheit ist auch besser als Siechtum und ein blühender, kräftiger, gerechter und ehrenhafter Staat schöner als eine Ruine, an der man, zur Schmach der Gegenwart, nur die Weisheit der Vorfahren zu loben hat.

Eine Mahnung, eine furchtbare, ist uns geworden: ein Anfang, ein erster Anfang ist gemacht; die Zukunft muß entscheiden, ob wir der Teilnahme, welche das deutsche Vaterland und die Völker Europas uns bewiesen haben, würdig sind oder nicht, ob Hamburg in künftigen Menschenaltern als eine wahrhaft freie, ehrenhafte und gerechte Stadt, als der blühende Sitz des Welthandels, als die Heimat, von Kunst und Wissenschaft dastehen – oder versunken und vergessen sein wird. Sollten wir zweifeln? – »die Völker werden, was sie in gutem Selbstvertrauen aus sich machen.« So laßt uns die Hand aufs Herz legen und geloben:

Wir wollen halten und dauern,/Fest uns halten und fest der schönen Güter Besitztum./Denn der Mensch, der zur schwankenden Zeit auch schwankend gesinnt ist,/Der vermehret das Übel und breitet es weiter und weiter./Aber wer fest auf dem Sinne beharrt, der bildet die Welt sich.«


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