Wilhelm Langewiesche
Wolfs Geschichten um ein Bürgerhaus -- Erstes Buch: Im Schatten Napoleons
Wilhelm Langewiesche

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Mit Pfarrhaus und Kirche gute Nachbarschaft haltend, stand mitten auf dem Markt der Blumenpott. So nannte man augenfälliger Ähnlichkeit halber ein fast mannshohes, kreisrundes und stark verwittertes Backsteingemäuer, daraus ein schöner alter Kastanienbaum aufragte. Der »Verkehr«, zu jenen Zeiten noch Diener, noch nicht Tyrann der Menschen, ärgerte sich an solchem »Hindernis« keineswegs. Im Gegenteil, er sah sich dadurch gefördert, denn das junge Volk vereinte mit Vorliebe am Blumenpott sich zu Spiel und Kletterkunst, und die Erwachsenen, wenn sie den Markt überquerend einander begegneten, traten nicht ungern in den Schatten der Kastanie, um ein wenig zu schwatzen. In jedem Herbst aber bedauerten kleine und große Leute einmütig, daß man bei solchen Anlässen sich nicht ein Paar Nüsse abschlagen könne. – Von dem alten Gemäuer nahm man an, daß es die Reste eines durch die Spanier zerstörten Wachtturms darstelle, dessen Trümmer, soweit sie nicht in seinem Innern zwischen den Wurzeln der Kastanie begraben lagen, von den verständigen Vorvätern wohl zum Bau ihrer Häuser mitverwendet sein mochten.

In der Dämmerung eines nebeligen Spätnachmittages zu Anfang Oktober des Jahres 1812 gewahrte der Pastor Pieper, als er von einer Beerdigung heimschreitend auf den Marktplatz einbog, am Blumenpott ein Trüpplein Männer, daraus zwei auffallend hochgewachsene emporragten. Da so ansehnliche Leibeslänge des Landes zwischen Niederrhein und Maas nicht der Brauch ist, mutmaßte Pieper alsbald, daß es sich um durchwandernde Fremdlinge handle, die etwa eine politische Neuigkeit oder ein absonderliches Reiseerlebnis zum besten zu geben sich gedrungen suhlen mochten. Es schien lediglich der längere der beiden Langen zu sein, der redete, und zu dem an die zwanzig oder fünfundzwanzig Leutchen gereckten Halses hinaufblickten; auch schien jener abwechselnd der deutschen und der französischen Sprache sich zu bedienen, denn vorhin hatte er seine Hörer »Bürger« angeredet und jetzt nannte er sie › citoyens‹, das eine wie das andere Wort mit erhobener Stimme und einer werfenden Bewegung der Rechten ihnen zuschleudernd. Als der Pastor, der unwillkürlich seine Schritte verlangsamt und etwas näher als seines Zieles wegen nötig gewesen wäre, auf den Blumenpott zugelenkt hatte, endlich, zwischen sich und dem lauschenden Häuflein geziemenden Abstand wahrend, gar stehen geblieben war, da merkte er zunächst mit Staunen, daß er sich getäuscht hatte: Der dort redete, war keineswegs ein Riese, eher hätte man ihn einen Zwerg nennen können, denn er stand nicht vor, sondern in dem alten Gemäuer, es als Kanzel benutzend. Aber der Bebrillte daneben, der, den Ellenbogen auf die Brüstung solcher Kanzel gestützt, schwarz gewandet in derben Stiefeln vor der Mauer stand, der war nun in der Tat von ganz außergewöhnlicher Länge, denn sein kräftiges und ruhiges, wenn auch anscheinend etwas erheitertes Antlitz befand sich in gleicher Höhe mit dem blassen und leidenschaftlich erregten des Redners, der soeben wieder sein » citoyens« auf die Hörer herabschmetterte. Und der dann fortfuhr, in beweglichen, übrigens ausschließlich deutschen Worten und mit einer Stimme von landfremder Rauheit den Heiligen Vater zu beklagen und dem Kaiser Napoleon, dem Verruchten, zu fluchen, der, allem göttlichen und menschlichen Recht hohnsprechend, jenen in Frankreich gefangen halte, und dem für so unerhörten Frevel die Fülle der zeitlichen und ewigen Strafen sicher sei. Noch zwar sitze der Bluthund, verblendet als Sieger sich fühlend, in Moskau, aber schon habe in seinem Rücken die Heilige Mutter Gottes das himmlische Heer aufgestellt, ihm die Heimkehr zu verleiden. Und aus dem sibirischen Bergwerk, wohin die Russen den Elenden schleppen würden, und wo der Teufel schon auf ihn warte, gebe es nur einen Ausgang und der führe schnurstracks in die benachbarte Hölle. – Nachdem das Männlein alsbald mit der Bitte, durch Anrufung der Heiligen und fromme Gelübde die Wiederbesetzung des verwaisten Stuhles Sankt Petri und das Hereinbrechen des Strafgerichtes zu beschleunigen, seinen Sermon beendet hatte, ließ es sich ganz gemächlich durch den Langen von der Kanzel herunterheben. – Der Volkshaufe löste sich auf und war rasch von Nebel und Dämmerung verschlungen. Pieper aber schritt seinem Pfarrhaus zu, im Herzen bedenkend, auf wie vielen und krausen Wegen die deutsche Seele wandle, um in Haß oder Liebe, Furcht oder Hoffnung mit diesem einen Franzosen sich auseinanderzusetzen. Er freute sich des gesunden Empfindens dieses gutkathotischen Mannes, der dem Bonaparte so gar keine »heilsgeschichtliche Bedeutung« beizulegen schien und der gewiß weder am 15. August zwischen der Geburt des Korsen und der Himmelfahrt der Maria die vorgeschriebenen Beziehungen konstruierte, noch am 10. Dezember den »Tag des heiligen Napoleon« in besonderer Andacht feierte. Und der Pastor gestand sich, daß ihn persönlich solche Philippika des Hasses doch ungleich erfreulicher berühre als die vom großherzoglich bergischen Staatsrat zu Düsseldorf unlängst dem Kaiser zu Füßen gelegte Bitte um sein Bildnis, mit ihrer überschwenglich liebevollen Begründung: »Wenn wir uns schwach fühlen, werden wir unsere Augen zu Euer Majestät erheben, und diese Züge werden uns erleuchten, uns das Wissen und die Weisheit geben, die uns fehlt.« – Im Grunde aber, meinte Pieper, habe doch Friedrich Stapß, der siebzehnjährige Pastorensohn aus Naumburg (den gerade jetzt vor drei Jahren Napoleon zu Schönbrunn hatte erschießen lassen, weil jener ihn hatte totstechen wollen) in seiner Unschuld den natürlichsten Weg gewählt – nur daß er ihn leider nicht bis zum glücklichen Ende zurückgelegt habe. Freilich wäre es ein Mord gewesen, ein politischer zwar, aber immerhin ein Mord, ein feiger Meuchelmord ... Nun, gerade »feige« hätte man die Tat wohl nicht nennen dürfen ... Aber Mord bleibt Mord, bleibt ein nach der christlich-bürgerlichen Moral zu verdammendes Verbrechen. Gewiß! Nur, daß Klio ihre eigene Moral hat, die zuerst nach dem Motiv und dann nach dem Erfolg – vielleicht auch umgekehrt, aber jedenfalls dann nicht weiter – fragt. Ihr Griffel hätte den Namen dieses »Verbrechers« in die Ehrentafel der Helden seines Volles eingegraben...

Während solcher Meditation hatte der Pastor ein Gefühl, wie wenn ihm jemand folge. Richtig. An seiner Haustür sah er sich eingeholt. Es war der Lange, der, indessen der Zwerg ein paar Schritte zurückblieb, als studiosum theologiae Justus Bollinger aus der Pfalz sich vorstellte. Er sei eines Weinbauern Sohn und nach den Niederlanden unterwegs, wo in Utrecht ein schönes Stipendium auf ihn warte. Ob der Herr Pfarrer für zwölf Stunden Quartier und Nahrung um Gottes Lohn ihm gewähren wolle. – Pieper, der des freien Antlitzes und der frischen Art des Studenten sich freute, warf unwillkürlich einen fragenden Blick nach dem abseits stehenden Zwerg. Vollinger lächelte: » Par nobile fratrum, Herr Pfarrer!« Der kleine Papist, erklärte er dann, sei freilich ein sonderbarer Reisekamerad für einen evangelischen Theologiebeflissenen, übrigens auf seine Weise ein kluger Kopf und von gutem Humor. Ja, vielleicht sei sogar ein Kleriker und Stiefbruder im Herrn an jenem verloren gegangen, denn, wenn es über ihn komme, könne er reden wie ein Buch, und es komme oft über ihn. Mit dem Reisezufall aber, der sie beide zusammengeführt, habe es solche Bewandtnis: eines Morgens kurz hinter Boppard habe er bemerkt, daß in Steinwurfsweite ein kleiner Mann ihm folge. Der sei dann den ganzen Tag hinter ihm hergezogen, bis sie in der späten Dämmerung Andernach erreicht, wo er des kleinen Trabanten wohl für immer ledig zu sein vermeint hätte. Als er aber nach gefundenem Nachtquartier noch ein wenig am Ufer sich ergangen, denn er sehe für sein Leben gerne, wie Mondschein auf fließendem Wasser sich spiegle, da sei er plötzlich des Knirpses wieder ansichtig geworden. Der habe, am Steuerruder eines am Ufer angeseilten großen Kahnes stehend, im Licht der Schiffslaterne mit eindringlichen Gebärden zu einigen ihr Pfeiflein schmauchenden Rheinschiffern und allerlei müßigem oder müdem Volk geredet – was, das habe er nicht verstehen können, da er vorgezogen, sich in einiger Entfernung zu halten. – Am zeitigen andern Morgen aber auf der Landstraße seien die kleinen Beine richtig wieder hinter ihm her gewesen. Und kurz vor Remagen hätten sie plötzlich gar sich in Trab gesetzt, ihn einzuholen, und ihr Besitzer ihn angerufen: Der Herr habe gewiß etwas verloren! Und dann habe jener in der Tat ihm sein Novum Testamentum Graece überreicht, das ihm wohl, indem er sein Sacktuch gezogen, aus der Rocktasche gefallen sein müsse, ohne daß er in dem flattrigen Rheinwind und Staub der Landstraße solches Verlustes alsbald inne geworden. So seien sie in ein Gespräch gekommen, in dessen Verlauf das Männchen ihm erzählt habe, es heiße Pius Ungeheuer, stamme aus dem Nassauischen, sei aber seit einem Dutzend Jahren in Kirn an der Nahe wohnhaft, allwo es eine Achatschleiferei und Handel betreibe, und soeben unterwegs, einem Gelübde gemäß zur Heiligen Mutter Gottes nach Kevelaer zu pilgern. Er, Bollinger, habe Gefallen an dem muntern Redebächlein des Andern gefunden, und als der ihm dann ganz treuherzig gestanden, daß er immer hinter ihm hergegangen sei und auch weiterhin immer hinter ihm hergehen werde, das geschehe, weil er von einer argen Angst vor Räubern und Mördern besessen sei, da habe er bei sich gedacht, wenn zwei auf so seltene und erbauliche Namen getaufte Männer den gleichen Weg hätten, dann könnten sie ja auch wohl statt hintereinander nebeneinander fürbaß ziehen, auch wenn jeder vom andern für gewiß halte, daß er in Hinsicht der ewigen Ziele auf einem Irrweg sich befinde. Ja, gerade solches Irrwegs halber habe ihn, Bollinger, das Unternehmen gereizt, da er sich von dem zwanglosen Gedankenaustausch langer Wandertage Einblicke in die ihm fremde römische Innenwelt des Andern und somit einigen Gewinn und Stärkung für das eigene Glaubensleben versprochen habe. – Pius Ungeheuer, der Furchtsame, sei mit Freude einverstanden gewesen und so seien sie denn seit ein paar Tagen selbander durch das herbstliche Land gezogen. Und wenn es ihm auch ein wenig genannt gewesen sei, daß allabendlich vor oder in der Herberge jenen der Geist der Rede überfallen und nach Zuhörern lüstern gemacht habe, so müsse er doch bekennen, daß es ihn schier schmerze, den guten Wandergesellen morgen in Kevelaer zurücklassen zu müssen. Übrigens werde der für die heutige Nacht auch ohne ihn leicht einen Unterschlupf zu finden wissen, denn er gedenke keineswegs, den Herrn Pfarrer auch mit dem kleinen Papisten noch zu beschweren. Aber Pieper, indem er den Knirps freundlich heranwinkte, meinte lachend, das Pastorat sei am Ende doch geräumig genug, um neben Justo auch noch Pium zu beherbergen, worauf Bollinger rasch und mit fröhlicher Offenheit bat, dieses »neben« nicht allzu wörtlich verstehen zu müssen. Denn es gelüste ihn keineswegs nach einer zweiten so schlafarmen Nacht, wie sein Geselle von gestern auf heute in Grevenbroich sie ihm bereitet. Dort habe ein augenscheinlich sehr reicher Zigeunerstamm aufs üppigste Hochzeit gefeiert und sei infolgedessen nur in einer einzigen Herberge noch für die beiden Wandrer ein winziges Stüblein zu haben gewesen. Darin nun Pius Ungeheuer als einen Schnarcher von unerhörter Ausdauer sich erwiesen und ihn um alle und jede nächtliche Erquickung gebracht habe. – Der Pastor nickte dem also Geschädigten verständnisvoll zu und dann traten sie ein, und die gute Pastorin machte große Augen, begrüßte aber die unerwarteten Gäste aufs herzlichste. – Bald nach dem frühzeitigen Abendbrot, während die Pastorin sich verabschiedete, um noch auf ein Stündchen zu ihrer Tochter zu gehen, stellte die Magd den drei Männern einen großen blauen Steinkrug mit Altbier auf den Tisch. Pieper legte seinen Tabaksbeutel mit Oldenkott-Kanaster daneben und forderte seine Gäste auf, sich's schmecken zu lassen. Dem Pfälzischen Weinbauernsohn schien der bittere Trank nicht recht zu munden, aber Pius Ungeheuer, der während der Mahlzeit in stummer Befangenheit dagesessen, übrigens seinen Wanderhunger ganz resolut gestillt hatte, begann immer offenherziger sich mitzuteilen. Ja einmal – man hatte von den Zeitläuften gesprochen und der Pastor seiner Hoffnung auf ein befreites und geeintes Deutschland Ausdruck gegeben, in welchem zu leben eine Lust sein werde – da kam der Geist der Rede so gewaltig über das Männlein, daß es unversehens auf seinen Stuhl sprang und mit lebhaften Gebärden ausführte: Nein, Nein! Nein! Eine Lust werde es nie sein, zu leben, nie! nie! Denn die Hand des Menschen sei verflucht und was sie anfasse, vergifte sie, und was sie beginne gereiche endlich ihm nur zum Verderben. Und wenn auch, wie er glaube und inniglich hoffe, den Kaiser Napoleon, den Verruchten, der an Gottes Statthalter auf Erden sich vergriffen, bald sein Schicksal ereile, ja, in dieser Stunde vielleicht schon ereilt habe: eine Lust werde es nie sein, zu leben, nie! In einem befreiten und geeinten Deutschland so wenig, wie in einem unterjochten und uneinigen. Und wenn wirklich Gott die deutschen Stämme ihrer innersten Natur zuwider sich einigen und das alte Heilige Römische Reich deutscher Nation neu erstehen und erstarken lassen sollte, so werde der Teufel schon dafür sorgen, sorgen müssen, daß es zu seiner Zeit auch wieder auseinanderfalle und untergehe. Wie jener Bluthund, den so viele Verblendete den Friedenskaiser nannten, bösen, ehrgeizigen und selbstsüchtigen Willens Tausende und Zehntausende in den Tod geschickt habe, so werde, wenn ein Jahrhundert oder ein halbes nach ihm die aufatmende Menschheit soeben den schönen Traum vom ewigen Frieden zu träumen beginne, ganz gewiß irgend ein andrer aufstehen und, vielleicht jenem schönen Traum zuliebe, Hunderttausenden, Millionen den Tod bereiten. Denn die Hand des Menschen sei verflucht, mit immer neuem Blut sich zu besudeln, seit Kain einst den Abel erschlagen. Und über und über mit Blut besudelt zu werden, davor sei nichts dem Menschen Erreichbares sicher, und nach dem Unerreichbaren sogar taste seine von Gott verfluchte Mörderhand. Wie hätten Katholiken und Protestanten, die bei allem Trennenden doch gemeinsam bekannten: ›Wir glauben all an einen Gott!‹ – wie hätten sie, guten aber verblendeten Willens, das Letzte der Seele einander in Blut zu ersäufen getrachtet und damit Gott zu dienen vermeint. Was solle aber erst werden, welches Blutbad, wenn einst, nachdem die letzten der verirrten Gläubigen in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche sich zurückgefunden, die unabsehbaren Scharen derer herangezogen kämen, die da bekannten: ›Wir glauben all an keinen Gott!‹ Nein, wahrlich, es sei keine Lust zu leben, und werde nie eine sein, nie, nie, nie! Blut ... Da dröhnten drei dumpfe Schläge durchs Haus ... Der Prophet schrak zusammen und verlor den Faden. »Blut! Blut!« wiederholte er und verstummte. – Es war die heimkehrende Pastorin, die den Klopfer an der Haustür in Bewegung gesetzt hatte – dreimal, das war ihr Zeichen. Der Pastor erhob sich, ihr zu öffnen. – Da bat Pius Ungeheuer plötzlich, schlafen gehen zu dürfen. Sein freundlicher Wirt selber leuchtete ihm in die ihm zugedachte Kammer und mußte lächeln, als jener deren Türschloß umständlich untersuchte. Als er dann in die Wohnstube zurückkehrte, fand er seine Frau und Bollinger im Gespräch am geöffneten Fenster stehen, durch das der Tabakrauch, ihr allzu langsam, in die nebelfeuchte Nacht abzog. »Ein wunderlicher Heiliger, Ihr Reisekamerad, Herr Studiosus!« meinte Pieper lächelnd, aber seine Frau unterbrach ihn lebhaft: sie höre soeben, daß der Herr Studiosus über Cleve zu reisen gedenke, da wolle sie ihm doch einen Gruß an ihren Johannes mitgeben, den aufzusuchen er ihr freundlich versprochen habe – übrigens solle dieser mütterliche Gruß ihm die Tasche nicht allzusehr beschweren. Während dann die Mutter in der pastörlichen Studierstube ihren Brief schrieb, rauchten die beiden Männer plaudernd eine letzte Pfeife. Der Pastor, indem er bitter über die absichtliche Vernachlässigung der rheinischen höheren Schulen seitens der französischen Verwaltung klagte, setzte dem Studenten auseinander, aus welchen Gründen er seinen spätgeborenen Sohn, nachdem er selber infolge der vermehrten und immer noch zunehmenden Amtsgeschäfte, offen gestanden: auch, weil er mit seinem Latein ziemlich zu Ende gewesen, ihn nicht mehr habe unterrichten können, gerade nach Cleve aufs Gymnasium oder, wie man ja jetzt sagen müsse, Lyzeum gebracht habe. Und als er ihm dann von diesem Reis'chen erzählte und die eigenartige Schönheit des Clever Landes pries, erklärte der junge Pfälzer, daß er ohnehin im Sinn habe, dort einen Ruhetag einzuschieben, und zwar in Pfalzdorf. Denn ein Vorfahr von ihm sei mit unter den ihres Glaubens wegen aus der Pfalz Vertriebenen gewesen, die dort am Reichswald sich eine neue Heimat gegründet. Und wenn auch einer von dessen Söhnen schon wieder in die alte zurückverschlagen und in ihr eingewurzelt sei – die Beziehungen zwischen den ober- und niederrheinischen Bollinger seien doch nie ganz abgerissen, – Ja, meinte der Pastor, um die Wanderung durch den herbstlichen Reichswald beneide er ihn, und wenn er darin den Sturmvogel schreien höre, solle er ihn grüßen. Was denn das für ein Vogel sei, fragte der Student, und der Pfarrer erklärte: auf der höchsten Spitze des Schwanenturms zu Cleve sitze seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts ein versilberter kupferner Schwan. Der blitze und funkle im Sonnenschein weit, weit ins niederrheinische Land hinaus. Wenn aber der Seewind blase und den Clevern einen Salzgeschmack und guten Durst mache, so fahre er auch dem Schwan unter die Flügel, in die Schallöcher. Und dann schreie der über den unabsehbaren Reichswald und die unendlichen Weiden hin, Zorn oder Klage, wie der Wind es ihn heiße. Er, der Pastor, hoffe aber, die Tage noch zu erleben und die Nächte, da dieser niederrheinische Sturmvogel gewaltigen Fluges über das Land ziehen werde, mit seinem Schreien zum Kampf gegen die Fremdherrschaft aufrufend. – Damit kam man wieder auf Pius Ungeheuer und seinen fanatischen Haß gegen Napoleon zu sprechen und Bollinger meinte, der kleine Mann würde am Ende noch einen ganz brauchbaren oberrheinischen Sturmvogel abgeben. – Übrigens verbinde jener mit einer gutkatholischen Rechtgläubigkeit den krassesten Aberglauben. Nicht nur, daß er in einer flachen, runden Achatkapsel ein Amulett auf der Brust trage, das seinen Andeutungen nach nichts mit Rom und den Heiligen, aber um so mehr mit der magischen Astrologie zu tun haben müsse, sondern er habe auch über die Edelgesteine und ihre geheimnisvolle, aber starke Wirkung auf den, der solche trage, das krauseste Zeug expektoriert und unter anderm behauptet, daß es ganz von der Stellung der Sterne in der Stunde der Geburt eines Menschen abhänge, welche Steine ihm Glück und welche ihm Unglück bringen würden; und was dergleichen Narretei mehr sei. – Aber merkwürdiger noch als dieses alles sei ihm, Bollinger, doch gewesen, wie blutig in jenes friedlichen und ängstlichen Menschen Kopf die Welt sich male, auch wenn es sich um noch so unschuldige Dinge handle. Dabei kenne der Kleine weder Vulpiussens Rinaldo Rinaldini, noch einen der vielen auf dessen Spuren wandelnden Räuberromane, wisse auch ganz gut, daß es jetzt, fast zehn Jahre nach der Hinrichtung des Schinderhannes, am ganzen Rhein keine einzige Räuberbande mehr gebe, wofür den Franzosen und insbesondere dem tatkräftigen Öffentlichen Ankläger Keil zu Köln von Herzen dankbar zu sein jener wiederholt versichert habe. Gleichwohl scheine ein blutiger Schrecken, ein Grauen vor Blut im Innersten sein ganzes Denken und Empfinden zu beherrschen, – So habe Pius Ungeheuer unterwegs einmal aus seinem eigenen gewiß harmlosen Metier dieses Gleichnis angeführt: die Menschheit sei wie ein Achat, dem Glanz und Farbe zu geben, Gott unablässig sich mühe. Nicht eben zur Freude des Steins, der mit Angst und Schmerzen die verschiedenen Prozeduren über sich ergehen lasse: das viele Schleifen und besonders das Baden in der gräßlichen Blutlauge. Und doch sei es allein das Blut, was ihm die tiefe und reine Bläue verleihe, die blauer als der Himmel und nur mit dem Mantel der heiligen Mutter Gottes vergleichbar sei. – Die wiedereintretende Pastorin, die diese letzten Wörter noch hörte, sagte lächelnd, die Herren sprächen gewiß von jenem wunderlichen Heiligen, wie ihr Mann ihn vorhin genannt habe, dem Kevelaerpilger, der bei Tisch so stumm gewesen. Ob der etwa nachher bei Bier und Tabak hier im evangelischen Pfarrhaus ein wenig auf den Proselytenfang ausgegangen sei? Der Pastor erwiderte, nein, für so töricht halte er den kleinen Papisten nun doch nicht, und dann berichteten die Herren ihr, was jener alles vorgetragen, und der Pastor fügte hinzu, ein Kern von Wahrheit sei in solchem Pessimismus schließlich doch nicht zu verkennen, wie ja auch vom Acker als dem Symbolum der menschlichen Lebensarbeit geschrieben stehe: »Dornen und Disteln soll er dir tragen.« Und der Teufel möge wohl schmunzeln, so oft er beobachte, daß dieser Fluch sich erfülle. »Aber die Engel im Himmel jubeln, so oft ein tapfrer Mensch sein ›Dennoch!‹ spricht«, sagte die Pastorin, und nun wollten sie schlafen gehen.

In der Frühe des andern Morgens verabschiedeten sich die beiden Wanderer mit geziemenden Dankesworten, und der Pastor und seine Frau sahen von ihrer Haustür aus ihnen nach, bis in der Nähe des Blumenpotts der Nebel die so ungleichen Gestalten verschluckte. Als der Pastor gegen Mittag von einem Krankenbesuch heimkehrte, fand er auf seinem Schreibtisch ein rundes Blättchen Pergament. Darauf war unter einem Stern ein martialischer Krieger dargestellt, der gegen einen unsichtbaren Feind das Schwert zückte und mit dem Schild sich deckte. Zu seiner Rechten befand sich ein Widder, zu seiner Linken ein Krebs. Auf der Rückseite aber war ein Quadrat schachbrettartig in sechzehn kleine Quadrate eingeteilt und in dieser jedem stand eine dreistellige Zahl. Mechanisch liest der Pastor die erste Zahlenreihe: 486. 473. 472. 483., die zweite: 475. 480, 481. 478., die dritte: 479. 476. 477. 482., die vierte: 474. 485. 484. 471. Unwillkürlich stellt er fest, daß es sich um die sechzehn Zahlen von 471 bis 486 handelt, aber vergebens sinnt er, nach welchem Gesetz sie hingeschrieben sein mögen. Da beginnt er die einzelnen Spalten zusammenzuzählen und siehe: jede ergibt dieselbe Summe: 1914. Er stellt die Quersummen fest: auch hier jedesmal 1914. Er addiert nach der Diagonale: immer 1914. Er teilt das große Quadrat in vier kleinere zu je vier Feldern ein und addiert diese: jedesmal 1914. Und auch das vierfelderige Quadrat in der Mitte des großen ergibt die gleiche Zahl. – Unterdessen war seine Frau eingetreten und hatte erzählt, daß die Magd das Pergamentblättlein beim Aufräumen im Zimmer des kleinen Kevelaerpilgers gefunden hätte. Pieper zeigte ihr das seltsame Zahlenspiel und meinte, wahrscheinlich hätte das Kerlchen mit diesem Blatt das Amulett verloren, wovon der Student ihm gesprochen und es nehme ihn nur wunder, daß jener Überängstliche sich einem so kriegerischen und heidnischen Schutzpatron anvertraut, denn der grausliche Herr auf der Vorderseite könne doch niemand anders sein, als der unter die Sterne versetzte römische Kriegsgott. Welche Bewandtnis es aber mit den Zahlen habe, verstehe er nicht, gewiß sei da noch irgendein Kniff verborgen, sintemal es doch vermutlich schon 1814 und nicht erst 1914 heißen werde »Und Mars regiert die Stunde.« – Die gute Pastorin sagte, das sei alles Teufelswerk und er solle das greuliche Blättchen in den Ofen stecken, wozu er sich aber nicht entschließen konnte, da er ein Liebhaber von Kuriositäten war und vertraute, daß ihm diese nichts anhaben werde. Etwa vierzehn Tage später setzte Frau Maria Magdalena eines Abends den väterlichen Türklopfer in Bewegung, die neueste Nummer des Kölner Beobachters in der Hand. Darin stand, daß man unweit der Nahemündung im Weidengestrüpp des Rheinufers die blutige Leiche eines auffallend kleinen Mannes gefunden habe. Bis auf die Kleidung, die wegen ihrer Kleinheit wohl, nicht leicht einem andern gepaßt haben dürfte, sei der augenscheinlich Ermordete, in dem ein zufällig des Weges kommender Handelsmann aus Kreuznach mit Sicherheit einen Kirner Achatschleifer erkannt habe, völlig ausgeraubt gewesen. Nur ein sogenanntes Kevelaerer Herrgöttchen sei dem Mörder entgangen, der dann auch in der Person eines vagabundierenden Kesselflickers alsbald dingfest gemacht worden, übrigens schon geständig sei: Der Kleine habe sich ihm, rheinaufwärts wandernd, bei Bacherach auf der Landstraße angeschlossen und soviel von Räubern und Mördern, Blut und Blutvergießen geredet, daß er ihn schier verrückt gemacht und also gleichsam selber zu der Untat angestiftet habe.


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