Wilhelm Langewiesche
Wolfs Geschichten um ein Bürgerhaus -- Erstes Buch: Im Schatten Napoleons
Wilhelm Langewiesche

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Trotz der Befürchtung der erfahrenen Frau van Neersen, daß man das rothaarige kleine Mädchen, das kaum vier Pfund wog und sehr lange auf den ersten Schrei hatte warten lassen, zusammen mit der Mutter werde begraben müssen, war es doch nur ein Sarg, der eines trüben Vorfrühlingsnachmittags unter der knabensäugenden Wölfin hinweg, mühelos aber sehr behutsam, die große Treppe hinabgetragen ward, von deren Plattform der selige Maire sich so stattliche Wirkungen versprochen hatte. Den Trauerzug eröffnete Herr Freundgen, der Hauptlehrer, der nun schon fünfzehn Jahre lang den Bakel preußischer Schulzucht schwang, ein kleiner, rundlicher, bartloser Mann. Der füllte Sonntags sein eigenes Gestühl, unmittelbar unter der Kanzel, aus dem heraus er mit seiner goldenen Brille sowohl die Aufmerksamkeit der Gemeinde, wie den Organisten und den gesanglichen Fleiß der Schuljugend überwachte und nach der Predigt allerlei kirchliche Nachrichten verlas. Ihm folgten die stimmbegabten seiner Knaben und Mädchen, den Blick unverwandt auf seinen rhythmisch zuckenden Zylinder gerichtet, der den Sterbegesängen ihrer lebensfrischen Münder den Takt wies. Ach, die Gedanken unter diesem Zylinder waren nicht bei den Liedern. Das waren schwere, schwarze Gedanken, die immer wieder dieselben Wege durchliefen und immer wieder in Not und Gram endeten. Sein einziges Kind, sein Stolz, sein Gustav, dessen Leben seine selige Anna mit ihrem Leben bezahlt hatte, dieser begabte Junge, dem er mit schweren Entbehrungen und drückenden Schulden den Besuch der Universität ermöglicht, der hatte sich in freiheitliche Umtriebe eingelassen. Und er, der Vater, der schlechte Vater, er war, von der Begeisterung des Jünglings hingerissen und von der Gerechtigkeit seiner Ziele überzeugt, schwach gewesen. Er hatte ihn nicht ernstlich genug gewarnt, nicht durch ein striktes Verbot ihn gehalten. Nun war der Unbehütete, der für ein einiges und freies Deutschland glühte, der nur erstrebt hatte, was gerecht und was versprochen war – der war wie ein gemeiner Verbrecher zu fünfzehnjährigem Zuchthaus verurteilt worden. Und noch bevor er, der Vater, die Schuld auf sich nehmen und die Gnade des Königs anrufen konnte, war es jenem gelungen, zu entfliehen, und von Rotterdam aus hatte er geschrieben, daß er nach dem Lande der Freiheit unterwegs sei. Wo mochte er jetzt sein und was mochte drüben aus ihm werden, der so gar nicht zum Abenteurer paßte. Ja, er war ein schlechter Vater und die Leute hatten recht, wenn sie mit Fingern auf ihn wiesen, weil er mit seinem Jungen so hoch hinausgewollt.

Dann kam der zierliche, mit Kränzen bedeckte Mahagonisarg, von sechs Arbeitern der Fabrik getragen. Mit auffallend großen Füßen in derben Stiefeln schritt der stattliche Herr Pastor Kranevoß, der, das gelehrte Haupt nach seiner Gewohnheit ein wenig vorgestreckt, das eine Auge fest auf den Sarg gerichtet hielt, während der Blick des andern die Fenster der Erdgeschosse streifte, denn er schielte beträchtlich. Mit seinem Talar spielte der flattrige Wind, und während die Rechte ein schwarzes Buch an die Brust gedrückt hielt, mußte die Linke immer wieder das Barett festhalten. Hinter ihm ging Friedrich Wilhelm Wolf, der junge Witwer, das kleine Pinchen an der Hand und einander widerstreitende Gedanken an die teure Tote und seine Zukunft im Herzen. Von den Bompels nahm nur der Vater und der älteste Stiefbruder der Verstorbenen teil an der Beerdigung, denn die englische zweite Mutter weilte in Bradford am Sterbebett ihres Vaters und die jüngeren Geschwister waren in auswärtigen Erziehungsanstalten. Die Herren der »Gesellschaft« gingen paarweise in gedämpfter, aber lebhafter Unterhaltung, die in der Hauptsache sich um die Preisschwankungen der Baumwolle bewegte. Frau Maria Magdalena, auf deren spitzem und vorwurfsvollem Antlitz ihre seufzende Lebensfrage sichtbaren Ausdruck gefunden hatte, eröffnete, von Frau Pastor Kranevoß geleitet, die Abteilung der Damen, die alle ohne Hut und in schwarzen Umschlagtüchern gingen. Ihnen folgten die Arbeiter und Arbeiterinnen der Fabrik, und den Beschluß machten die zwei Polizeidiener, die nachströmende Straßenjugend im Zaum haltend. Vor seinem bläulich getünchten Lehmhäuschen, dem letzten der den Friedhof berührenden Duhnbergerstraße, erwartete der fromme Weber Schlüpjes, der Totengräber, den Zug, um ihn der Sitte gemäß an das offene Grab zu führen. Mit einem ernsten und stummen Grinsen seiner schmalen Lippen, durch das er den Respekt vor der Obrigkeit und die Ergebung in Gottes Willen andeuten wollte, trat der große, hagere und bleiche Mann schlotternden Schrittes an Herrn Freundges linke Seite, und als beim Einbiegen in den Friedhof der Wind ihm die weiten Hosen an die dünnen Beine preßte, indessen er den kurzen schwarzen Radmantel fester an sich zog und aus den tiefliegenden Augen den Trauerzug entlang blickte, da war's, als hätte der Tod selber die Führung übernommen. – Übrigens war der fromme Mann und Stundenhalter, wenn er auch mancherlei Anfechtung zu erleiden, ja, in schwarzen Nächten zuweilen mit dem Teufel selber hart zu kämpfen hatte, durchaus kein Spielverderber und Verneiner des Lebens. Im Gegenteil. In der schwer genug errungenen und zäh festgehaltenen Gewißheit, der Gnade teilhaftig und durch sie auch in der Ewigkeit vor dem Zorn Gottes geborgen zu sein, suchte er die Heiterkeit seines Geistes der Totengräberarbeit gegenüber dadurch aufrechtzuerhalten, daß er, wie der letzten, so auch in möglichst vielen Menschenleben der ersten Betätigung der Kirche und ihrem kaffeegewürzten Nachspiel beiwohnte. Er fehlte bei keiner Kindtaufe und sein Appetit war in beiden Fällen gleich gesegnet.

»Von Erde bist du genommen, – zu Erde sollst du werden,« rief Pastor Kranevoß am Schluß seiner Amtshandlung, den Kopf ein wenig schräg nach vorn gestreckt, eindringlichst ins offene Grab. Der alte C. C. Windemann aber, auf dem dabei, ganz ohne Absicht, lediglich nach dem Naturgesetz seines Schielens, sein rechtes Auge ruhte, bezog, als Katholik mit den kirchlichen Formen der Evangelischen nicht vertraut, diese unerwartete Drohung auf sich. Er knickte in den Knieen zusammen und mußte, auf den Arm seines einzigen Sohnes, des »Schönen Oskar« gestützt, vor den andern den Friedhof verlassen.

Auf dem Kaffeetisch im Wolfschen Hause, um den sich nach der Beerdigung die Verwandten und nächsten Freunde niederließen, – für Herrn Schlüpjes war in der Leutestube mitgedeckt – lag das feine Damasttuch mit dem eingewebten Wappen Napoleons, womit der selige Maire Anno achtzehnhundertzehn auf der Industrieausstellung zu Aachen Aufsehen erregt und einen ersten Preis gewonnen hatte. Als nach Verabschiedung des letzten Trauergastes Friedlich Wilhelm Wolf sich endlich allein sah, hieß er das Mädchen das Tischtuch liegen lassen. Und immer wieder mußte er das feine Gewebe und das Wappen betrachten. Und er bedachte in seinem Herzen, wie vergänglich doch das lebendige Glück im Vergleich zu den leblosen Dingen sei, und in seine aufrichtige Trauer um die Heimgegangene mischte sich eine fürchterliche Angst vor der Einsamkeit und vor dem Ende.

Jedesmal, wenn Friedrich Wilhelm Wolf, der Witwer, die hohe Treppe zu seinem Hause hinanstieg, war es ihm, wie wenn die knabensäugende römische Wölfin ihm einen vorwurfsvollen Blick zuwürfe. Aber wie oft er auch in seinem Herzen die Schönen des Landes Revue passieren ließ – bei keiner kam ihm die Erleuchtung, daß sie vielleicht die Rechte sein könnte. Das einzige Mädchen, zu dem er einen leisen Zug des Herzens verspürte, der sich ja möglicherweise in Liebe verwandeln konnte, war eine Fremde, Antoinette Jeanbon, die mit ihrem Vater, dem Capitaine Pierre Jeanbon-St. André auf Haus Duynberg lebte. Das lag eine Viertelstunde vor dem Städtchen auf der höchsten Erhebung einer sandigen Erdwelle, die in unvordenklichen Zeiten eine Düne gewesen sein sollte, und hatte in der Jugend des seligen Maire dem letzten eines Adelsgeschlechtes gehört, das mit diesem erloschen war. Dann war der ziemlich verwahrloste Herrensitz Gegenstand langwieriger Prozesse gewesen und schließlich ohne die ursprünglich dazugehörigen Ländereien als ein Achtel des gesamten Nachlasses einem österreichischen Grafen zugefallen, der solche Errungenschaft aber niemals in Augenschein genommen, vielmehr alsbald die zuständige Pfalzneuburgische Hofkammer zu Düsseldorf zum Verkauf ermächtigt hatte. Um achtzehnhundert endlich hatte der Capitaine Pierre Jeanbon-St. André, der in der Armee des Generals Jourdan 1796 an den Niederrhein gekommen war und wegen Übergehung beim Avancement seinen Abschied genommen hatte, das alte Gemäuer um ein Geringes an sich gebracht. – Er war ein Neffe des gleichnamigen »Bürgers«, dem Frankreich die Verwaltung des südlichsten der vier rheinischen »Departements« anvertraut, und der, unbeschadet seines einstigen Jakobinertums, als ein kleiner »aufgeklärter Despot« bis 1813 in Mainz residiert hatte: wer sich seinen meist verständigen Anordnungen widersetzte, den ließ er ohne viel Federlesens einsperren, aber nur um ihn persönlich unter vier Augen um so besser überzeugen zu können und alsdann wieder laufen zu lassen. – Einige Jahre nach geschehenem Ankauf hatte der Neffe sich eine Frau geholt, die Tochter eines in Koblenz festgewurzelten Emigranten, die ihm ein Töchterchen, Antoinette, geboren und dabei ihr Leben verloren hatte. Jetzt war Pierre Jeanbon, bei dem Haupthaar, Augenbrauen, und Schnurrbart miteinander an Weiße und Straffheit wetteiferten, ein alter Herr, aber auf seinem gebräunten Antlitz mit den lebhaften dunkeln Augen und in seiner schlanken, sehnigen Gestalt trat eine erfrischende Jugendlichkeit in die Erscheinung, auch war er voll Interesse für die Dinge des Zeitlichen, das zu segnen offenbar noch nicht in seiner Absicht lag. Dreimal jede Woche fuhr er, selber kutschierend, am Schwarzen Adler vor, wo die beiden Schimmel mit militärischer Exaktheit auf einen Ruck hielten. Dann trank der Alte, der sich am liebsten »Monsieur« nennen ließ, in der »Gesellschaft« seine halbe Flasche Medoc, den er stets mit Wasser verdünnte, wobei er besonders über Fragen der Politik und der Jagd prächtig zu Plaudern verstand, ohne je durch seine, vom ortsüblichen oft stark genug abweichende Meinung einen ernstlichen Streit oder Verstimmung hervorzurufen.

Wie vieles, was nicht oder anders in den Zeitungen gestanden, hatte man von ihm erfahren: daß Ludwig der Achtzehnte in dem Massengrab der Hingerichteten die Leiche des Sechzehnten gesucht, in Wahrheit aber die Robespierres erwischt und mit großem Pomp in der Königsgruft zu St. Denis habe beisetzen lassen... Daß eine Madame Boursier aus purer Begeisterung für die Befreiung Griechenlands ihren braven Mann vergiftet, um den Griechen Kostolo heiraten zu können... Oder daß der reiche Aristokrat, der 1816 die Dampfschiffahrt zwischen Paris und London eingerichtet, im Armenhaus gestorben sei... Nur von der Reise, die Jeanbon 1830 zwischen der Aufhebung der französischen Preßfreiheit und dem Ausbruch der Pariser Juli-Revolution nach Frankreich unternommen hatte, vermied er zu erzählen, wenn er auch kein Hehl daraus machte, daß er den abgesetzten Karl X. so wenig schätze, wie seinen Nachfolger Louis Philippe, den Bürgerkönig, der vordem Oberlehrer am Philanthropin zu Reichenau bei Chur gewesen war.


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