Wilhelm Langewiesche
Wolfs Geschichten um ein Bürgerhaus -- Erstes Buch: Im Schatten Napoleons
Wilhelm Langewiesche

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Eine Stunde später herrschte hier das Reich der Finsternis, aber nebenan im Unterhaltungszimmer saß noch ein Grüpplein trinkfester Männer um den runden Tisch unter der Hängelampe, deren Öl der Ökonom frisch aufgefüllt hatte: Der alte Jup Breskens in seinem Ehrensessel, aber er wachte nur selten und nur zu dem Zweck auf, ein Schlücklein »Zwölfer« zu sich zu nehmen, der Kommerzienrat Wolf in seiner Sofaecke, denn er gedachte eine kurze Strohwitwerschaft auszukosten, der streitbare Demokrat und Baumwollagent Herr Latschert und sein Bruder der Doktor, der noch in der letzten Stunde des alten Jahres einer winzigen Eins geholfen hatte, die Einwohnerzahl auf fünftausend zu erhöhen. Die andern von vorhin waren nach Hause gegangen, aber dafür hatte der Saal der Jugend Ersatz geschickt: den dicken, goldbebrillten Assessor Lohmeyer, einen Schöngeist, der den »Zerrissenen« spielte, allen jungen Damen den Hof machte, aber keine einzige heiraten wollte, Heinrich ten Bompel, einen jüngeren Bruder der zarten Gabriele, der den andern Fabrikanten dadurch imponierte, daß er als Erster und mit augenscheinlichem Erfolg auf Cassinet, diesen neuen englischen Arbeiterkleiderstoff aus Baumwollkette mit Wollgarneinschlag sich geworfen hatte, dann den jungen Rektor der neuen Höheren Bürgerschule Dr. Stups, dessen Basiliskenblick zwanzig Schüler und vierzehn Schülerinnen in Zucht hielt und der sich erboten hatte, das Griechische als Wahlfach einzuführen, wovon aber nie Gebrauch gemacht ward, und endlich »den edlen Polen«, den Apotheker Max Weynandts, den geplagtesten aller Mädchenpapas und Ballväter, der so gerne der Schwiegervater dieser drei Herren geworden wäre, bloß damit endlich ein Anfang gemacht würde.

Ach, wieviel lieber würde er aus solchem Anlaß den Pegasus bestiegen haben, als ihn immer nur für andere Leute zu reiten! Denn Weynandts war der anerkannte Lokaldichter und blieb es, trotzdem sowohl der Rektor wie der Assessor anfänglich versucht hatten, ihn aus dem Sattel zu heben. Nur Pastor Kranevoß bestritt seiner Muse neuerdings die Echtheit. Denn er zürnte ihr ernstlich und verbreitete sich auffallend oft über den grundsätzlichen Unterschied zwischen »Gedichten« und »Versen«. Und damit hatte es solche Bewandtnis: Als voriges Jahr dem pastoralen Ehepaar die Silberne Hochzeit nahte, hatte die Pastorin, eine kleine Notlüge nicht scheuend, einigen Damen unter vier Augen ausgesprochen, sie hätte gehört, die Gemeinde beabsichtige, ihnen eine silberne Teekanne zu schenken. Nun würde ihnen aber, offen gestanden, ein bequemes Wachstuchsofa für die Studierstube viel erwünschter sein. Denn der Pastor würde immer älter und empfände immer dringender das Bedürfnis, seine Predigten liegend zu durchdenken. Der Wunsch ward erfüllt und das Sofa von einem Weynandtsschen Festgedicht begleitet, einem kalligraphischen Meisterwerk des Stadtsekretärs, das namens der Gemeinde die Mitglieder des Presbyteriums vollzählig unterschrieben hatten. Gleichwohl nahm Kranevoß an einer Strophe alsbald ernstlichen Anstoß, die gewiß nicht so gemeint war, wie er sie deutete: als eine verkappte Bosheit. Was der Pastor jedoch dem Apotheker am meisten verdachte, war, daß er, Kranevoß, selber so unklug gewesen, in der »Gesellschaft« dem Rektor über die ärgerliche Sache zu sprechen, wodurch solche dann rasch zum Gelächter der Stadt geworden war. Die ihm so anstößige Strophe aber lautete:

Ringst du auf diesem Sofa
nach Geistes Kraft und Licht,
versagt gewiß Jehova
auch dir ein Wunder nicht.

Von den andern nicht allzu gerne gesehen, hatte inzwischen Herr Oskar Windemann sich eingefunden, um, wie er sagte, das neue Jahr im alten Freundeskreis anzufangen. C. C. Windemanns einziger Sohn war ein äußerst stattlicher und wohlgepflegter Herr, dessen sonores Organ niemand lieber hörte als er selber. Seinen zweizipfeligen blonden Vollbart mit weißer und fleischiger Hand liebkosend, begann er alsbald einen kleinen Vortrag über die Flüchtigkeit der Zeit, wobei seinem freundlich überlegenen Lächeln der Ausdruck kindlicher Unschuld sich verband. Er war aber, wie jedermann wußte, durchaus unsauberen Geistes, selbstgerecht und voll Torheit. Und wie unerwünschte Erfahrungen das Leben ihn machen ließ – er lernte nichts aus ihnen und schrieb die Schuld immer »den Andern« oder »den Umständen« zu. Als sein ehrenfester Vater, wenige Monate nachdem er am offenen Grab der zarten Gabriele durch des schielenden Pastors Sprüchlein und Auge so grausam erschreckt worden, überraschend aber sanft aus dieser Zeitlichkeit geschieden war, hatte »der schöne Oskar« die Weberei übernommen, die jener in langer und mühevoller Arbeit zu Gedeihen und Ansehen gebracht. Solches war dem Vater, der weder in den kaufmännischen noch in den technischen Dingen ein Daus war, durch Fleiß und Redlichkeit, noch mehr freilich dadurch gelungen, daß er einen selbstlosen und außergewöhnlich begabten Angestellten, Bernhard Suydenkamp mit Namen, still gewähren ließ, dessen Treue und überlegener Einsicht unbedingt vertrauend. Der Sohn aber machte kein Hehl daraus, daß er selber sein Prokurist zu sein und die Geschäftsführung der neuen Zeit anzupassen, auch seine Tätigkeit keineswegs auf die Weberei zu beschränken wünschte. Und nach Ablauf des ersten Jahres sah der alte Suydenkamp in allen Ehren und mit einem bescheidenen Ruhegehalt sich verabschiedet. Von seinem Gewissen getrieben und des seligen Prinzipals gedenkend, warnte er Oskar anfänglich noch zuweilen von den »Neuerungen«, die dieser für zeitgemäß hielt und die in allerlei Spekulationen und Beteiligungen, in impulsiven Reisen mit Geschäftsabschlüssen bei Austern und Champagner, in reichlichem Personalwechsel, in der raschen Aufnahme und dem noch rascheren Wiederfallenlassen immer neuer Artikel und endlich im Brüskieren oder übertriebenen Flattieren der Kundschaft bestanden, alles wie es der sprunghaften Laune des neuen Herrn und seinem Drange, die eigne Persönlichkeit in den Vordergrund zu stellen, entsprach. Aber solche Warnungen waren verlorne Liebesmüh und so ließ Suydenkamp bald schweren Herzens den Dingen ihren Lauf, der zur Katastrophe führen mußte. Als solche nach sieben Jahren auch durch die Briefe von wortreicher Herzlichkeit nicht mehr abzuwenden war, die der schöne Oskar in letzter Stunde an die größten seiner Gläubiger richtete, ihnen besonders das Unglück der vielen kleinen Leute, deren Existenz mit der seinen verbunden sei, beweglich genug vorstellend – da blieb nur noch eines. Und das gelang. Der schöne Oskar mobilisierte durch eine große und scheinbar improvisierte Rede in der Loge »Zum östlichen Gewölbe« das Mitleid und die tätige Hilfe der Freimaurer, wobei sich zeigte, daß Not nicht nur beten, sondern auch reden lehrt – selbst die dem Bruder Windemann persönlich nicht holdgesinnt waren, widerstanden seiner Rhetorik nicht. Und als er am Schluß, die weiße und fleischige Rechte wie zum Schwur erhebend, mit der ganzen klangvollen Wucht seiner Stimme ausrief: »Ich habe es nicht gewollt!« – da war sein zweizipfeliger Bart nicht der einzige, in den sich eine Träne stahl. Zugleich ein Märtyrer und ein Sieger stand er da, der Größe der Stunde innerlich gewachsen, die alle Schuld zu Schicksal hatte werden lassen, und mit Ergriffenheit und Wohlwollen die Hände drückend, die sich ihm entgegenstreckten. Die Brüder brachten einen höchst anständigen Vergleich zustande. Heinrich ten Bompel übernahm die Weberei und Oskar Windemann den in solchen Fällen naheliegenden Beruf eines Agenten: man verschaffte ihm die Vertretung einer Treibriemen- und einer Schmierölfabrik, eine ausländische Lebensversicherungsgesellschaft betraute ihn mit Werbung und Inkasso, und ganz diskret befaßte er nebenbei sich noch mit kleinen Makler- und Lotteriegeschäften, also daß er bei freilich begrenzter Selbständigkeit nicht nur rasch sein gutes Auskommen fand, sondern auch, häufiger noch denn als Fabrikant, der Freude, sich reden zu hören, genoß.

Die empfand er auch jetzt lebhafter als die andern, die zerstreut sein Phrasenbächlein über sich ergehen ließen.

Der Apotheker hatte sich's in der vom Pastor geräumten Sofaecke bequem gemacht und wartete auf seine Halbe »Achter« (mit welcher Zahl nicht die des Jahrgangs, sondern die des Preises – acht Silbergroschen – gemeint war) und auf den Schluß der Windemannschen Ausführungen. In der Rechten hielt er die lange holländische Tonpfeife, indessen die Linke nervös den grauen Knebelbart zupfte – er hatte etwas auf dem Herzen und der Kommerzienrat, als der schöne Oskar endlich fertig war, behauptete, daß es ein Gedicht sei. Nach geziemender Nötigung gab er's dann auch zum besten, die bebrillten Augen starr auf die noch blendend weiße Gipsbüste des neuen Königs gerichtet, wie wenn er bei diesem ein besonderes Verständnis für das jüngste Kind seiner Muse voraussetzen dürfe:

Nun haben die Soliden
sich eiligst fortgemacht,
sie ziehn dahin in Frieden
Wohl durch die stille Nacht.

Mich dünkt, ich hör sie flüstern:
»Der Abend war sehr nett,
doch besser ist's im Düstern,
im Bett, im Bett, im Bett.«

Bravo! rief der Assessor, und der Apotheker fuhr in seiner Deklamation fort, die in vielen Strophen das Glück des deutschen Männertrunks pries und mit der Aufforderung endete, die Plätze um den Tisch mit solchen unter dem Tisch zu vertauschen.

Nachdem dergestalt die Poesie den kleinen Kreis geweiht, und der Baumwolle wie der Politik den Zutritt erschwert hatte, bekannte der Assessor Lohmeyer seufzend, daß er allzu tief in zwei wundervolle Augen geblickt habe, die nun den ganzen Abend ihn verfolgten. Der Rektor Dr. Stups lächelte: »Weil' auf mir, du dunkles Auge,« aber der Apotheker Weynandts spitzte die Ohren, und der Kommerzienrat Wolf fragte verbindlich, ob man gratulieren dürfe. »Ach nein, eher kondolieren,« antwortete der Assessor, es handle sich um eine Tote, allerdings um eine Tote, die unsterblich lebe, wenn auch die Augen, die es ihm angetan, leider nur lithographiert gewesen seien. Er habe nämlich zu Weihnachten ein Buch geschenkt bekommen, von dem er schon seit Jahren viel gehört und das in der Tat köstlich sei. Es heiße »Charlotte Stieglitz, ein Denkmal«, und es sei wirklich ein Denkmal. Ja, das Buch kenne er, versicherte der Rektor, nur daß er nicht dahintergekommen sei, ob Theodor Mundt, der anonyme Herausgeber, dieses Denkmal der Überspanntheit der jungen Frau oder der Eitelkeit und Schlaffheit ihres Herrn Gemahls habe errichten wollen. Übrigens halte er dafür, daß die gute Charlotte, sofern sie wirklich sich erdolcht haben sollte, damit aus Heinrich Stieglitz durch einen großen Seelenschmerz doch noch ein tüchtiger Kerl werde, solches Opfer vergeblich gebracht habe. Er wolle daher lieber annehmen, daß das mit dem Opfer eine schöne Pose sei und daß jene in Wahrheit sich getötet, weil sie das Leben als Frau Stieglitz einfach nicht länger mehr habe ertragen können.

»Frau Stieglitz,« wie hübsch und vergnüglich das klinge, bemerkte der Kommerzienrat, aber der gestrenge Schulmonarch ging hierauf nicht ein: Die Herren wüßten wohl, daß dieser bedauerliche Vorfall Gutzkow zu seinem Roman »Wally« angeregt habe, welches Buch dann durch einen höchst verständigen Bundestagsbeschluß verboten sei, da derartige ungesunde Sentimentalitäten leicht ansteckend wirkten. Übrigens habe auch er, und zwar mit wissenschaftlicher Gründlichkeit, das Titelbild jenes Buches sich angesehen. Der seelenvolle Ausdruck der Augen sei wohl auf den Lithographen zurückzuführen, dagegen habe er an den Ohrringen sich gestoßen, weil man, solche zu tragen, das Ohrläppchen durchlochen müsse, was barbarisch sei. Besonders wenn man, wie die lithographierte Charlotte, eigentlich gar keines habe, was bekanntlich für ein Zeichen von Degeneration gelte. Ja, das stehe fest, bestätigte der Apotheker, und er erinnere sich gut, wie beruhigend es für ihn gewesen sei, als er bei jeder seiner Töchter gleich nach der Geburt außerordentlich entwickelte Ohrläppchen konstatiert habe, übrigens würde er gleichwohl nie erlaubt haben, daß seine Töchter Ohrringe trügen, ganz abgesehen davon, daß sie dafür selbst viel zu verständig seien. Etwa des weitern noch über die Vorzüge seiner Töchter sich zu verbreiten, hinderte den »edlen Polen« der Kommerzienrat, indem er Senefelder glücklich pries, der, durch den Tod des Vaters gezwungen, das Studium der Jurisprudenz aufzugeben und, als Theaterdichter sich durchhungernd, bei dem Versuch, aus Gründen der Sparsamkeit seine Geisteskinder selber zu vervielfältigen, so Wertvolles wie die Lithographie erfunden, auch vor seinem Tode noch die Freude gehabt habe, diese Erfindung den Erdkreis erobern zu sehen. Das lithographierte Bildnis der Frau Stieglitz, das auf die Herren ja sehr verschieden gewirkt habe, kenne er nun freilich nicht, aber er habe seiner Frau auf ihren Wunsch auch diesmal wieder zu Weihnachten einige der Lithographien geschenkt, die die Brüder Boisserée nach den von ihnen mit so viel Ausdauer, Verständnis und Glück gesammelten altdeutschen und altniederländischen Gemälden hätten anfertigen lassen, sehr köstliche Blätter, die seine Frau den Herren gewiß gern einmal zeigen werde. Die Beiden versicherten lebhaft, daß ihnen dies eine besondere Freude sein werde, und der Assessor meinte, es sei doch ein großer Verlust für die Rheinlands, daß die Brüder Boisserée mit ihrer Sammlung und ihren vielen künstlerischen Interessen nach Süddeutschland verzogen seien. Freilich, bestätigte der Rektor, aber sie wirkten doch auch von dort anregend genug. Ihre berühmte Sammlung habe ja nun längst der König von Bayern erworben und seit einigen Jahren in seiner Pinakothek zu München dem Studium und allgemeinen Genuß bequem zugänglich gemacht. Ja, meinte der Kommerzienrat, er selber sei in den Dingen der Kunst nicht eben sehr bewandert, aber seine Frau finde diese altdeutschen und altniederländischen Bilder viel schöner als die sogenannten klassischen und sie habe ihm erzählt, daß Goethe in Heidelberg vor der Boissereéschen Sammlung von seiner einseitigen Vorliebe für gemalte Antike einigermaßen abgekommen sei. Darum verdrieße es ihn, daß jene Sammlung sich nicht mehr in Köln, und daß auch die alte Düsseldorfer Gemäldesammlung der Herzöge von Berg jetzt in der Münchner Pinakothek sich befinde. Woraus Preußen aber doch schwerlich einen casus belli machen könne, scherzte der Rektor, übrigens würden die Brüder Boisserée, wie in Heidelberg und Stuttgart, so auch in München ihrer Vaterstadt Köln die Treue halten. Insonderheit lasse Sulpiz Boisserée nicht ab, für seinen alten Lieblingsplan der Vollendung des Kölner Domes zu wirken. Daß der jetzige König schon als Kronprinz diesen Gedanken sich zu eigen gemacht habe, sei ausschließlich sein Verdienst. – Ob der Herr Kommerzienrat, fragte der Assessor, vielleicht auch das wundervolle Kupferstichwerk besitze, das Sulpiz Boisserée über den Dom, wie er jetzt sei und wie er nach den mutmaßlichen Plänen seines ersten Baumeisters werden solle, herausgegeben habe. Wolf verneinte: es sei ihm zu teuer gewesen, er hoffe, daß gelegentlich eine kleinere und wohlfeilere Ausgabe erscheinen werde, was ja mit Hilfe der Lithographie vielleicht möglich sei. Hier fragte Heinrich ten Bompel den Schwager, ob er – um noch einmal auf Senefelder zurückzukommen – wisse, daß dieser durch seine Erfindung auch die Textilindustrie wesentlich gefördert habe, und dann erklärte er, daß der Kattundruck unmittelbar auf Senefelder zurückzuführen sei. Unter dessen persönlicher Mitarbeit sei in Wien eine Kattundruckerei eingerichtet worden, wie denn auch der Musikverleger André in Offenbach das Recht, Senefelders Erfindung zu benutzen, keineswegs nur für den Notendruck, sondern ausdrücklich auch für den Kattundruck erworben, auch alsbald eine Kattundruckerei ins Leben gerufen habe. – Übrigens solle Senefelders Begabung von einer ganz gefährlichen Vielseitigkeit gewesen sein: er hätte mit Bravour gedichtet, komponiert, gemimt, gezeichnet und gemalt, auch ein besonderes Vergnügen darin gefunden, auf langwierige Zeitungspolemik sich einzulassen. Ja, es sei dem guten Senefelder sein Lebenlang recht schwer gefallen, bei der Stange zu bleiben, wie er denn auch, als er in London um ein Privilegium sich bemühend, gehört, daß die Regierung dreiunddreißigtausend Pfund Sterling für einen lenkbaren Luftballon ausgeschrieben, unverzüglich die zum Zweck der Vorführung seiner Erfindung in einem Gasthof eingerichtete lithographische Anstalt geschlossen, die Arbeiter entlohnt und heimgeschickt, dagegen alle Werke über Ärostatik zusammengekauft und mit kleinen Ballons und großen Blasebälgen an jenem neuen, entlegenen Problem zu experimentieren begonnen habe. – Von der Äronautik kam man allgemach auf das Bedürfnis der menschlichen Seele nach Höherem und dann bewegte sich die Unterhaltung lange um neue Bücher, die man gelesen haben müsse, bis sie endlich zu einem Rededuell zwischen Rektor Dr. Stups und Assessor Lohmeyer ward. Jener hatte, als der schöngeistige und heiratsunlustige Assessor mit Entzücken von George Sand sprach, wegwerfend geäußert, dieses androgyne Ungeheuer kokettiere ja mit der deutschen Burschenschaft, indem es sich den Namen des Kotzebuemörders zum Pseudonym gewählt habe, worauf der Assessor ihn belehrte, daß die Dichterin sich nach ihrem Freunde Sandoz so nenne, der ihr bei den ersten Versuchen behilflich gewesen sei und sie in die Literatur eingeführt habe. – Das sei ja schließlich auch nebensächlich, meinte der Rektor, aber jedenfalls sei die Sand ein übles Frauenzimmer, das Hosen trage, Zigarren rauche und ein liederliches Leben führe. – Er habe nicht den Vorzug, die Dame persönlich zu kennen, sagte der Assessor, und sei daher nicht in der Lage, diese Vorwürfe nachprüfen zu können, aber Hosen trügen die Orientalinnen und die bayrischen Sennerinnen auch, und bei den Damen in Südamerika sei das Rauchen allgemein üblich – ob der Herr Rektor über den liederlichen Lebenswandel Authentisches wisse. – Nein, das nicht, gestand Stups, aber er schließe es mit Sicherheit aus dem Was und Wie ihrer ›Schriftsteller‹. – Dann erlaube er sich, daran zu erinnern, entgegnete der Assessor, daß ein gewisser Gotthold Ephraim Lessing, den ja auch der Herr Rektor verehre und als Autorität anerkenne, für durchaus unstatthaft halte, aus den Werken eines Dichters derartige Schlüsse auf seine persönliche Lebensführung zu ziehen. – Nun ja, lenkte der andre ein, aber die Bücher der Sand seien doch völlig unethisch, dazu erstaunlich monoton. Sie behandle im Grunde immer ein und dasselbe Thema: Die Zugrunderichtung des Weibes durch den Mann. Die einzige Abwechselung sei, daß das Weib das eine Mal an der Brutalität des Mannes, das andere Mal an der Schwäche des Mannes zugrunde gehe. – Der Assessor konnte das in solcher Einseitigkeit durchaus nicht zugeben. Vielmehr sei die Sand gewissermaßen eine Richterin der Ehe und ihre weibliche Befangenheit keineswegs der Art, daß man sie deswegen ablehnen müsse. Übrigens zeige sie doch nicht nur das Negative, sondern auch das Positive, die Kraft der Aufopferung, die Herrlichkeit der wahren Liebe. – Ja, es sei etwas Herrliches um die wahre Liebe, etwas unsagbar Köstliches, warf »der edle Pole« ein, aber der Rektor stellte mit seinem strengsten Basiliskenblick fest, daß die Sand ihrem Manne entlaufen sei, was doch gewiß nicht auf eine moralische Gesinnung schließen lasse. »Doch auch nicht unbedingt auf das Gegenteil,« belehrte ihn der Assessor, indem er sich wohl denken könne, daß ein weltunkundiges Mädchen, das in unmittelbarem Anschluß an die Klostererziehung einem alten Herrn angetraut werde, diesem alsbald entlaufe, gerade um seine Sittlichkeit zu retten. – »Seine? Wessen?« fragte der Rektor spitzfindig, »die des alten Herrn oder die des jungen Mädchens?« – »Na meinetwegen beider,« antwortete der Assessor ungeduldig. »Aber sagen Sie mal,« fügte er grob hinzu, »welche Bücher von der Sand haben Sie denn gelesen?« – »Keine,« lehnte der Rektor entrüstet ab, »aber ganz ausgezeichnete Kritiken und Charakteristiken.« – Hier nun schützte ihn der Kommerzienrat vor einer bösen Abfuhr, indem er rasch einwarf, vielleicht sei der Fall George Sand noch nicht spruchreif, indem ja die Dichterin möglicherweise erst am Anfang ihres Werkes stehe. Denn wenn man auch gewiß jede einzelne Dichtung als ein abgeschlossenes Kunstwerk betrachten dürfe, für die ethische Beurteilung des Schöpfers sei doch Wohl das Gesamtwert entscheidend. – Er müsse übrigens gestehen, daß er außer den Lettres d'un voyageur noch nichts von der Dame gelesen habe, obgleich sie schon seines Namens wegen für ihn doch besonders anziehend sein müsse, wenigstens wenn dergleichen auf Gegenseitigkeit beruhe. – Wie das zu verstehen sei, fragte der Rektor, und der Kommerzienrat erklärte lächelnd, ja, als die Sand einst in der Gascogne bei ihrem Schwiegervater, dem Baron Dudevant, zu Besuch gewesen, wäre sie beinah von Wölfen aufgefressen worden, die sogar gewaltsam ihr nach ins Haus einzudringen versucht hätten. – Die Herren belachten den Witz gebührend und der Rektor sagte boshaft: »Schade!«

Übrigens habe seine Frau gemeint, fuhr der Kommerzienrat fort, daß die Sand in ihrem Ehescheidungsprozeß auf ihr Vermögen verzichtet, um ihre Kinder behalten zu dürfen, zeige doch, daß die Schriftstellern ihr das Beste des Weibes, die Mütterlichkeit, noch nicht verdorben habe. – Aber der Rektor wollte das letzte Wort behalten. »Mag sein,« sagte er, »aber mir sind alle diese ›emanzipierten Frauenzimmer‹ herzlich unsympathisch (»der edle Pole« nickte zustimmend), mögen sie nun Karoline, Rahel, Bettine oder George heißen.« – »Die Karoline Pichler nehmen Sie aber doch wohl aus?« höhnte der Assessor. – »Ja, die will ich ausnehmen,« gab der Rektor zu, »aber im übrigen: das Weib gehört ins Haus, an den Kochherd, in die Kinderstube. Und ich jedenfalls verspüre als Schulmann nicht die geringste Neigung, der Emanzipation irgendwie Vorschub zu leisten.« – Damit lenkte sich die Unterhaltung dann auf die Höhere Bürgerschule und die Kämpfe, die ihrer Gründung vorausgegangen waren, und Doktor Latschert sagte, er müsse immer noch lachen, wenn er daran denke, mit welcher einmütigen Zähigkeit die beiden Pastoren, und Kranevoß vielleicht noch mehr als sein katholischer Amtsbruder, der neuen Städtischen Schulkommission gegenüber an ihren geistlichen Oberhoheitsrechten festgehalten hätten. Kranevoß selber hätte ihm gesagt, daß er der Regierung als letzten Trumpf die Bestimmungen aus dem Jahre 1624 unter die Nase gerieben hätte, die durchaus noch zu Recht beständen. »Nun, meine Herren,« schlug endlich der Kommerzienrat vor, »wie wär's, wenn wir ein Stündchen schlafen gingen? Unter den Tisch trinken wir uns doch nicht. Und – wie sagte doch unser Dichter?:

»Der Abend war sehr nett,
doch besser ist's im Bett!«

In der Tat war es Johannes Wolf ergangen wie Saul, der auszog, eine Eselin zu suchen, und ein Königreich fand. Niemand, selbst seine Mutter nicht, freute sich über diese seine späte Verlobung mehr als seine Schwägerin Anna. Für sie und die Mutter hatte er besondere Briefe mitgeschickt, auch solche von seiner Braut. Besonders eingehend hatte er an Anna geschrieben, weil er bei ihr jedes Verständnisses sicher war. Seine Marie zähle erst achtzehn Jahre und sei das einzige, ziemlich spät geborene Kind seiner braven Hauswirtin, die, seit sie vor sechzehn Jahren Witwe geworden, wie man in München sage: Zimmer verstifte. Übrigens tue sie dies wohl weniger, um Geld zu verdienen als aus Tätigkeitsdrang und um sich nicht von ihrer Wohnung mit dem hübschen Blick in den Englischen Garten und von ihren Möbeln trennen zu müssen. Sein Schwiegervater scheine ein merkwürdiger, vielseitig begabter und erfahrener Mann gewesen zu sein, der nach abgebrochenem Studium der Rechte und, mancherlei anderem Mißgeschick endlich in den Thurn-und-Taxischen Postdienst geraten sei. Als dann der edle Eugen Beauharnais, der Stiefsohn Napoleons, die Tochter Max Josephs, des vorigen Bayernkönigs, geheiratet und als Herzog von Leuchtenberg und Fürst von Eichstätt in Bayern sich niedergelassen, habe er jenen, der ihm einmal einen großen Dienst erwiesen, alsbald zu seinem Geheimsekretär ernannt. Leider habe der Tod beide Männer allzu früh und in ihren besten Jahren abgerufen. Infolge eines herzoglichen Vermächtnisses oder Witwengeldes und einer anderweitigen kleinen Erbschaft habe jedoch sein Schwiegervater Frau und Töchterchen in leidlich auskömmlichen Verhältnissen zurückgelassen. Seine Marie solle, wie ihre Mutter sage und ein altes, von einem in München verkommenen Schweizer Bildhauer stammendes kleines Alabasterrelief bestätige, einer Schwester ihrer Mutter auffallend ähnlich sehen, die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts als ganz junges Mädchen leichtfertigen Sinnes von einem französischen Leutnant sich habe an den Niederrhein entführen lassen, von wo aus sie unter mancherlei Liebesabenteuern nach Dänemark gelangt sei, um dort in einer harten und ärmlichen Ehe früh zu sterben. Solcher äußern Ähnlichkeit ungeachtet wisse er, daß seine Braut, die übrigens ja sozusagen unter seinen Augen zur Jungfrau erblüht sei, die verhängnisvollen Anlagen jener Tante nicht geerbt habe. Vielmehr sei Marie, die nach der gütigen Herzogin von Leuchtenberg mit ihrem zweiten Namen Auguste heiße, von jener schönsten und stärksten, weil unbewußten und selbstverständlichen Reinheit, die als ein Geschenk Gottes nicht auf eignen oder fremden Grundsätzen beruhe, sondern auf natürlicher Empfindung und seelischer Gesundheit. Dank ihrer verständigen Mutter, die die Beziehungen zur Herzogin nur mit weiser Beschränkung benutzt habe, sei der kluge und lebhafte Geist des Mädchens einer feineren Bildung teilhaftig geworden, ohne daß Marie dadurch an Einfalt und Bescheidenheit Schaden genommen hätte. Übrigens würde ihre Absicht, das Examen zu machen und Erzieherin zu werden, wenn er sie nicht durchkreuzt hätte, über kurz oder lang durch irgendeinen andern durchkreuzt worden sein, wie er denn auch überzeugt sei, daß seine teure Schwägerin auch ohne den »Herzog von Nassau« dem Lehrerinnenberuf untreu geworden, wenn auch nicht in ein so nahes freundschaftliches Verhältnis zu ihm geraten sein würde, wodurch ihr nun das Lesen so langer Briefe und verliebter Herzensergüsse aufgenötigt werde ...

Bevor die Neuvermählten im Sommer 1841 die große Reise nach Nordwesten antraten, ließ die Kommerzienrätin das alte Gartenhaus aufs schönste instand setzen, damit sie dort nach Belieben jederzeit auch ganz für sich sein könnten. Das gab dann freudenreiche Wochen für alle Beteiligten. Frau Maria Magdalenas Verjüngung ward durch den langen Besuch ihres Lieblings aufs beste gefördert, und Pinchen und Regine schlossen sich mit leidenschaftlicher Schwärmerei an die junge Tante an, die der Onkel Johannes komischerweise Mirl nannte, obwohl sie doch Marie hieß, und die von ihnen als von den Madeln sprach. Sie hatte ihnen Riegelhauben mitgebracht, wie die Münchener Bürgertöchter sie trügen, und der Onkel Johannes erklärte, wenn man in München von einem saubern Riegelhäubchen spreche, so meine man nicht die Haube, sondern das Jungfräulein darunter. Und Mirl, für die die Hochzeitsreise die erste Reise ihres Lebens war, und die die ganze Zeit an einem leichten Heimweh nach den Frauentürmen laborierte, fand es tröstlich und ward nicht müde, den beiden Madeln ihr geliebtes München immer von neuem aufzubauen und auszubauen: diese ferne und große Stadt an der rauschenden Isar, mit ihren Gassen und Gärten, Toren und Standbildern, Palästen und Kirchen, Hallen und Kunsttempeln, von denen die neuen alle irgendwelchen bedeutenden Bauwerken Italiens oder Griechenlands nachgebildet würden. Und sie bevölkerte ihnen diese Märchenstadt mit schwarzen Nonnen und braunen Mönchen, mit riesigen Hatschieren und hellblauen Soldaten in Raupenhelmen, mit Künstlern in langen Locken unter breitrandigen Hüten, mit trippelden Riegelhäubchen, übermütigen Studenten, buntgewandeten Griechen, mit zerlumpten Bettlern und italienischen Gipsfigurenhändlern, Bauern und behäbigen Bürgern und ließ durch solches Gewimmel noch schmetternde Postillone, Sänften mit vornehmen Damen, Hofequipagen und gewaltige, von riesigen Ochsen gezogene Bierfässer, stolze Reiter und hochbepackte Reisewagen ihre Wege suchen. – Bis ins kleinste hinein sei in dieser großen Stadt alles aufs genaueste geordnet: bis hinab zu den Bettlern an den Kirchentüren wisse jeder, wo er hingehöre, was er zu tun und zu lassen habe und was ihm zukomme; und als vor etlichen Jahren der Hofknopfmacher sich habe einfallen lassen, Borten zu machen, habe der Hofbortenmacher für solchen Übergriff ihm in der Zeitung ganz gehörig auf die Finger geklopft. – Und selbst der Arme Sünder noch könne verlangen, daß der Scharfrichter, bevor er ihn köpfe, seiner Genehmigung und Verzeihung sich dadurch versichere, daß er unter vier Augen den Johannissegen mit ihm trinke, dem enthaupteten Täufer zum Gedächtnis.

Auch von den Königen erzählte sie, von dem alten, unter dessen Regierung sie noch geboren, der große goldene Ohrringe und einen langen blauen Rock getragen und sich einen richtigen Mohren und einen häßlichen und sehr boshaften Hofzwerg gehalten hätte. Dieser erste König von Bayern, Max Joseph, wäre ein gar freundlicher und gemeiner Herr gewesen und unmittelbar nach einem Ball beim russischen Gesandten eines sanften Todes verblichen. Da hätte man ihn dann im Gruftgewölbe unter der Michaelis-Hofkirche beigesetzt, aber sein Herz, das hätte man in einer silbernen Kapsel mit der Aufschrift »Das beste Herz« weit über Land nach Altötting in eine alte Kirche zu andern Wittelsbacher Herzen gebracht. Seitdem die Mutter ihr das erzählt, komme ihr das Bild immer ganz merkwürdig vor, das der gnädige Herr Herzog von Leuchtenberg einst ihrem Vater selig geschenkt und das daheim in der Wohnstube hänge. Darauf seien zwei gekrönte Herzen dargestellt, von einem Lorbeerkranz umschlungen, mit der sinnigen Unterschrift:

Napoleons und Max Josephs Herz
schließen sich fest aneinander,
Verschaffen Bayern Ruh und Fried
vor Franz und Alexander.

Zwar sage der Onkel Johannes, das mit der herzlichen Verbundenheit sei nicht so weit hergewesen und habe den Napoleon nicht abgehalten, seine kurzen Briefe an Max Joseph meist mit » Je demande« anzufangen. Das wisse sie nicht, aber sie wisse, daß der König Max Joseph sein Bayernvolk sehr lieb gehabt hätte, und dieses ihn, und daß er sowohl zum Kaiser Franz wie zum Kaiser Alexander gesagt hätte, er würde nicht mit ihnen tauschen, denn sein Land wäre doch das schönste und seine Untertanen die treuesten. Und von dem jetzigen König erzählte sie, der schon des öftern mit ihr gesprochen und einmal sie recht in Verlegenheit gebracht habe. Sie trage sonst nie einen Schleier. Aber als ihr Verlobter ihr einmal einen geschenkt habe, weil er wissen wolle, wie sie darin aussehe, da habe sie gemeint, sie müsse ihn doch nun auch zuweilen tragen. Als sie aber das erstemal darin ausgegangen, sei der König Ludwig quer über die Straße auf sie zugekommen und habe ganz laut, so daß viele Leute es gehört hätten, zu ihr gesagt, er wolle keinen Schleier, das verstoße gegen die Etikette, wer was Hübsches zeigen könne, dürfe es nicht verstecken. – Dieser König Ludwig, der nicht nur der Landesvater von Bayern, sondern auch der Landesgroßvater von Griechenland sei, könne auch ganz wunderschön dichten. Auch heiße es, er hätte sich's geschworen, daß München die schönste Stadt in Deutschland werden solle, und darum müßten sie, Pinchen und Regine, die Eltern recht schön bitten, daß sie bald mal zu ihr nach München kommen dürften, denn es ließe sich alles viel besser zeigen als erzählen. – In der Residenz – so nenne man in München das Königliche Schloß – daran er immerfort umbaue, habe der König Ludwig auch eine Schönheitengalerie, lauter Bilder von Münchener Bürgermädchen, worunter »die schöne Wildbretstochter« das schönste sei. So oft nämlich der König einem besonders schönen Riegelhäubchen begegne, lasse er's durch den Hofmaler Stieler abmalen, wenn sie aber ihre Häubchen nicht aufsetzten, könne ihnen nichts passieren, denn fremde Mädeln wolle der König gar nicht, dessen Frau übrigens Theres heiße und sehr lieb sei. Wie denn auch der König der Königin zur silbernen Hochzeit selber ein Gedicht gemacht habe, damit sie seine Vorliebe für hübsche Riegelhäubchen nicht etwa gar falsch auffasse:

Dichter es so schlimm nicht wirklich meinen:
Leicht erregt, wie ein poetischer Sinn,
mocht ich andre liebend auch erscheinen,
bist du dennoch tief im Herzen drin.

Und von »ihrer« Herzogin erzählte sie, die sehr gütig sei und beim Tode des gnädigen Herrn Herzogs alle Pfänder im Leihhaus eingelöst und den Armen zurückgegeben habe. Und von der Fußwaschung der Zwölf Apostel am Gründonnerstag: wie da die zwölf ältesten Männer aus dem ganzen Königreich nach München kämen und der König in der Residenz jedem einzelnen eigenhändig die Füße wüsche, alsdann mit ihnen speiste und endlich sie reich beschenkt entließe. Und von den sogenannten Sklavenmädchen: unbescholtenen armen Jungfrauen, denen der König eine kleine Aussteuer schenkte, damit sie um so leichter einen Mann kriegten. Und vom Hoftheater und Madame Schröder, »Teutschlands größter Tragödin«, die wegen Kränklichkeit und zunehmenden Alters jetzt leider wohl nicht mehr auftreten werde, und von den Konzerten im Odeon. Aber an Musik das Schönste sei doch Palestrinas Miserere am Karfreitag in der Michaeliskirche, die dann durch ein großes, frei in der Luft schwebendes Kreuz aus tausend Lichtern ganz wundersam beleuchtet sei. Und von der Prozession am Fronleichnamstage, daran der Erzbischof mit der ganzen Geistlichkeit und der König mit dem ganzen Hofstaat teilnehme, und von den Freuden des Oktoberfestes, und vom Tage Allerheiligen, an dem ganz München durch das alte Sendlingertor auf den Friedhof ströme, die Gräber zu schmücken und auf jedem ein Lichtlein anzuzünden. Und in einem dieser Gräber liege, als armer Sprachlehrer in München gestorben, der Vater des grünäugigen Revolutionsfanatikers Robespierre, jenes tugendhaften Diktators von Frankreich, der die Existenz des lieben Gottes gesetzlich sichergestellt, die eigene jedoch auf dem Schafott beendet habe. – Den beiden Schwestern aber, Pinchen und Regine, war wie den Träumenden.

Doch weit über alle Traume hinaus mußte die Pracht und Herrlichkeit des großen Künstlerfestes vom vorigjährigen Fasching gegangen sein, wovon sogar Johannes nicht ohne zu schwärmen erzählen konnte. Seit den goldenen Tagen von Florenz und den Festen Linardos, meinte er, sei derartiges gewiß nicht erlebt worden, und ein Studienfreund aus Berlin, der vor elf Jahren im dortigen Schauspielhaus das berühmte Kostümfest »Hoflager Ottos des Großen« mitgemacht, habe ihm versichert, das Münchner Dürerfest sei unvergleichlich viel großartiger und geistreicher gewesen. Jedenfalls müsse er, Johannes, bekennen, daß ihn das Ganze wie ein Blick in eine andere, schönere und bessere Welt angemutet habe. Freilich sei auch unendliche Liebe und Mühe aufgewendet worden bis jeder der sechshundert Mitspieler wirklich war, was und wie er sein sollte. So, von dem väterlichen Erbe schauspielerischer Begabung unterstützt, der Landschaftsmaler Lichtenheld als Kaiser Maximilian nach Aussehen, Haltung und Benehmen jeder Zoll ein Kaiser, auch innerlich mit seiner Rolle ganz verwachsen. Denn als der König Ludwig, vom Glanz des im Hoftheater an ihm vorbeidefilierenden kaiserlichen Zuges geblendet und aus der Fassung gebracht, an jenen die etwas banale Frage »Wer sind Sie?« gerichtet, da habe Lichtenheld, mit Grandezza das stolze Haupt leicht neigend, ganz gelassen erwidert: »Euer Majestät getreuester Vetter, der Kaiser Maximilian.« Worauf König Ludwig hochbeglückt der Königin zugerufen: »Theres, er vettert mich schon!« ...

In der schönsten Gruppe des dem Kaiser folgenden Mummenschanzes, der des Bergkönigs, habe übrigens auch der kleine Maler Preyer als Berggeist mit seinem Grubenlicht eine gute Figur gemacht, wenn auch keine so komische wie einige Tage später bei der Wiederholung des Festes auf der Menterschwaige, wo nach Vertilgung des Riesenhechtes ein paar übermütige Landsknechte das Männlein auf der umgedrehten Fischschüssel hoch über allen Köpfen hin im Triumph durch den Saal getragen hätten ...

Mirl war ziemlich viel größer als Johannes, aber Frau Maria Magdalena, die die Schwiegertochter »apart, aber angenehm« fand, erklärte mit Entschiedenheit, daß die beiden ein schönes Paar wären, und dabei blieb es. Die kleine Enttäuschung, daß auch diese zweite Schwiegertochter wieder nicht »von Familie« war, bekämpfte sie tapfer und wenn sie die Mundart der jungen Münchnerin auch nur schwer verstand, so ward sie doch nicht müde, ihrem Geplauder zuzuhören, weil Marie so viel Musik in ihrer dunklen Stimme hätte und weil sie sich im Herzen doch so gut verständen. Daß Mirl im Gespräch so oft »o Mai« sagte, fand sie freilich komisch und auch ein wenig störend, aber sie dachte, schließlich sei es doch netter, einen Monat anzurufen, als, was so Viele in sträflicher Gedankenlosigkeit täten, den lieben Gott. – In religiöser Hinsicht wollte sich zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter leider kein Kontakt herstellen, und jene meinte duldsam, daß die Evangelischen da unten in München doch wohl eben eine besondere Art von Christentum hätten. Aber etliche Male mußte Frau Maria Magdalena doch mit Entschiedenheit den Kopf schütteln, wobei ihr Mutterauge mit einiger Sorge auf ihrem Liebling Johannes ruhte. So einmal als Mirl erzählte, die einzige protestantische Kirche in München habe man vorsorglich als Rotunde erbaut, damit sie, falls der Protestantismus aus der Königlichen Haupt- und Residenzstadt wieder verschwände, leicht in eine Reitbahn verwandelt werden könne. Und ein andermal, als die junge Münchnerin ebenso harmlos erklärte, der katholische Gottesdienst gefalle ihr doch viel besser als der protestantische, aber noch schöner sei der in der griechischen Kapelle. Auch auf einem andern, dunklen Gebiet des Übersinnlichen, zu dem Mirl sich übrigens keineswegs hingezogen fühlte, ergaben sich nur wenige Berührungen, indem die junge Frau vom »dicken Mann« erzählte, den sie selber zwar nie, wohl aber ihre Mutter des öftern gesehen hätte. Der tauche abends spät, wenn man etwa aus dem Bürgerverein nach Haus gehe, an irgend einer Straßenecke auf: ein wahrer Koloß stehe er plötzlich da und warte. Und wenn man dann an ihm vorübergehe, so folge er schweigend bis zur Haustür, dann sei er plötzlich verschwunden, Männer sähen ihn nicht, sondern nur Frauen und Mädchen, wenn sie ohne männlichen Schutz wären, aber getan hätte er noch keiner etwas. – Ihre Eltern hätten übrigens den Grafen Eckartshausen noch gekannt, der ja eine Art Hexenmeister gewesen sein sollte. Wenn der an finstern Abenden nach Hause gegangen wäre, dann hätte er nur mit seinem Spazierstock über das Pflaster zu streichen brauchen, um die Steine zum Leuchten zu bringen und so gut sehen zu können. – Und ihre Großmutter selig, die draußen in Harlaching gewohnt, die wäre beim Heimgehen durch die Abendnebel der Isarauen oft genug vom Tutlipfeiferl angepfiffen worden ...

Mochte Mirl nun plaudern oder mit ihren beiden Nichten im Garten umhertollen oder mütterlich der Buben sich annehmen: immer fanden alle, daß Johannes doch das große Los gewonnen habe. Am entzückendsten aber erschien sie ihnen, wenn sie zur Zither ihre heimatlichen Lieder sang, wobei die dunkle und fremdartige Schönheit ihres länglichen Angesichts den Ausdruck einer unschuldigen und unbewußten Schelmerei gewann:

Wann i erst aussi schau,
wos Lüfterl is schö blau,
sich i die Stadt, die schö,
mit die zwoa Kirchturm steh.

Die Herren der »Gesellschaft« waren beinahe vollzählig in sie verliebt, und Pastor Kranevoß, der sich auf Frauen verstand, sagte, daß sie genau dem Bilde entspräche, das er sich immer von der klugen Ruth gemacht hätte, und daß der Altersunterschied zwischen dieser und dem trefflichen Boas wohl nicht beträchtlicher gewesen sein dürfte, als der zwischen ihr und Johannes.

Nur die alte Witwe des Kutschers Anton, in deren müdem Kopf die Gedanken und Erinnerungen des Lebens zu erlöschen begannen, schien die allgemeine Freude nicht mehr zu verstehen. Sie sah Mirl zuweilen mit besinnlichen und hilfesuchenden Augen an, und wenn sie von ihr sprach, nannte sie sie nie anders als »das fremde Fräulein«.

Aber die steinerne Wölfin über der Haustür warf der jungen Frau stets einen freundlich ermunternden Blick zu, so oft sie die hohe Treppe des seligen Maire hinaufstieg.


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