Wilhelm Langewiesche
Wolfs Geschichten um ein Bürgerhaus -- Erstes Buch: Im Schatten Napoleons
Wilhelm Langewiesche

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Pastor Pieper, ein kleiner, sehr beweglicher Herr von entschiedener pastoralem Aussehen, als er es Wort haben wollte, war durch seine Frau zu Vermögen gekommen. Das gestattete ihm ein Vergnügen, woran weder die Gattin noch sonst jemand im Städtchen ein sonderliches Gefallen fand: Er reiste gern. Sein leichter Reisewagen war schon in fast aller deutschen Herren Ländern auf guten und schlechten Wegen dahingerollt. Meist waren es freilich nur kurze Entfernungen, die mit ihm zurückgelegt wurden, wenn es galt, einer Konferenz oder Synode beizuwohnen. Aber einmal in jedem Jahr nahm der Pastor seine sechs Wochen Urlaub, und dann ging's in die weite Welt hinaus. Die kleinen Verdrießlichkeiten des Reisens, als da waren: Wege, die den Wagen beschädigten oder gar umwarfen, mürrische oder allzusehr auf ihren Vorteil erpichte Wirte und Posthalter, schläfrige oder allzu temperamentvolle Kutscher und Pferde, umständliche Vorschriften und zeitraubende Formalitäten, die ebenso zahlreich waren wie die deutschen Landeshoheiten – das alles ward gern in Kauf genommen, und durch viele neue Eindrücke erfrischt und bereichert kehrte Pieper von jeder Reise befriedigt heim.

Im Sommer 1805 entschloß sich I. P. Wolf, der Maire, auch einmal Urlaub zu nehmen und den Schwiegervater auf solcher Fahrt zu begleiten, deren Ziel diesmal Hamburg sein sollte. Dort lebte als Schiffsmakler und kleiner Reeder ein Bruder des Pastors. Den wollte man besuchen und sehen, ob sich etwa ein Wasserreis'chen anschließen lasse. Unterwegs hielten sich die Reisenden ein paar Tage in Helmstedt auf, denn der Pastor Pieper, dessen Frau einer dortigen Professorenfamilie entstammte, hatte zu seiner Zeit etliche Semester auf dieser kleinen braunschweigischen Universität studiert, und nun machte es ihm Freude, den Schwiegersohn die alten Wege dort zu führen und mit ihm in der dämmerigen Stephanskirche den Grabstein des Mannes aufzusuchen, in dem er seinerseits den Schwiegervater verehrte, freilich ohne ihn noch gekannt zu haben. Die Berufung auf den toten Professor erschloß den beiden Reisenden in Helmstedt das Haus eines lebenden, eines Sonderlings, dessen Ruhm den der kleinen Universität überflügelt hatte und überdauern sollte. Es war der fünfundsiebzigjährige Professor Gottfried Christoph Beireis, der die fremden Besucher freundlich empfing, auch, gut gelaunt, alsbald ihre Bitte erfüllte und ihnen seine weltberühmten Merkwürdigkeiten zeigte. Da war die automatische Ente aus seinen Metallfäden, die, aufgezogen, sich genau wie eine lebende betrug: watschelte, schnatterte, vorgehaltene Gerstenkörner aus der Hand fraß und – verdaute. Da waren die Lieberkühnschen Präparate, die dem bloßen Auge wie rote Fleckchen von der Größe eines Stecknadelkopfes erschienen, wenn man sie aber durchs Mikroskop betrachtete, sich als unendlich zart aus Wachs gebildete, in allen Einzelheiten klar erkennbare Organe des menschlichen Körpers darstellten. Und mit Stolz erzählte der Alte, wie er diese Wunderwerke menschlicher Geschicklichkeit in Berlin dem Fürsten Orlow, der sie aus dem Lieberkühnschen Nachlaß für die Zarin kaufen sollte vor der Nase weggeschnappt hätte. Allerdings hätte er vierzehntausend Taler dafür bezahlen müssen. Jener nun wäre ihm alsbald nachgereist und hätte ihm schließlich unter Fluchen und Drohen die Hälfte mehr geboten. Da aber hätte er, Beireis, gesagt: »Fürst, wenn Gott selbst vom Himmel stiege, vor mich träte und spräche: Beireis, siehe ich will dir geben ganz Deutschland, Europa, Asia, Amerika, die ganze Welt und alles, was darinnen ist – gib mir das Kästchen mit den Präparaten! – so spräche ich dennoch: das kann ich nicht!« – Aber die größte Merkwürdigkeit war doch das blasse dürre Männlein selber in seiner weißen Ziegenhaarperücke, die hinten einen Knoten und an den Seiten zwischen Ohr und Auge kunstvolle Locken hatte. Eine weiße, dünne und schmale Halsbinde wurde im Nacken durch eine große silberne Schnalle gehalten und der Rock mit Aufschlägen und langen Schößen war, wie die tiefausgeschnittene Weste und die kurzen Beinkleider, von blauem Tuch. Hochklappige Schuhe und lange schwarze Strümpfe vollendeten die Gewandung des Sonderlings, der bald gravitätisch schreitend, bald leichtfüßig tänzelnd, sie durch das Museum führte, das seine Junggesellenwohnung bildete. Dabei redete er in einemfort mehr noch als von seinen Schätzen von sich selber, den Verdiensten um die Wissenschaft, die er als Jurist und Theologe, als Chemiker und Sprachforscher sich erworben, von den wunderbaren Kuren, die er als Arzt gemacht, von seinen mannigfachen Reisen in fernen Ländern und von seinen Beziehungen zu den Großen der Erde. Bitter klagte er über die Unvernunft der Menschen, die er in ganze, dreiviertel, halbe und viertel Köpfe einteilte, nicht ohne anzudeuten, daß zu der ersten dieser Klassen außer ihm nur Archimedes, Christus, Newton und allenfalls Friedrich der Große zähle. Beireis schien Gefallen an seinen artig zuhörenden Gästen zu finden, denn als diese, von dem Gesehenen und Gehörten überwältigt, unter geziemenden Dankesbezeigungen und gegenseitigen Bücklingen sich zu verabschieden begannen, schloß er plötzlich die schon geöffnete Haustür wieder, und bedeutete den überraschten Herren mit geheimnisvollem Flüstern, ihm zu folgen. Nun führte er sie in seine Bibliothek, zog einen Teil des Bücherregals heraus, der sich wie eine Tür bewegte, und entnahm dem Geheimfach eine Flasche und drei Gläser; jetzt wollten sie noch miteinander von seinem Lebenselixier trinken. Das schmeckte freilich den beiden Herren vom Niederrhein scharf und abscheulich, indessen Beireis sein Gläschen mit Behagen ausschlürfte. Dann trat er wieder an den Wandschrank und holte einen derben Stein heraus, der an einigen Stellen ein wenig glitzerte: das sei sein höchster Schatz, erklärte er strahlend, das sei der größte Diamant der Erde und alle Potentaten Europas zusammen wären nicht annähernd reich genug, ihn nach seinem Wert zu bezahlen. – Während der Pastor diesen Diamanten, der so unscheinbar aussah, mit Ehrfurcht in der Hand wog, dachte er in seinem Herzen, jetzt sei der Augenblick günstig, und ganz unvermittelt fragte er den Alten, ob es denn wahr sei, daß er Gold machen könne. – Und alsbald begann auf dem Greisengesicht ein seltsames Mienenspiel, wie wenn alle die Falten und Runzeln durcheinander huschten. Dann aber war es ein unheimlich starrer Ausdruck, mit dem jener erwiderte: ja, wahr sei das freilich, aber darüber spreche er nicht, denn dies Geheimnis tauge nicht für die dem Mammonsgeist verfallende Menschheit und er werde es mit ins Grab nehmen. – Als der Pastor und sein Schwiegersohn abends in ihrem Gasthof die Einzelheiten dieses denkwürdigen Besuches durchsprachen, um sie alsdann in ihr Reisetagebuch einzutragen, wußten sie nicht recht, ob sie Beireis für einen Schelmen und Narren, oder für ein Genie und großen Gelehrten halten sollten. Schließlich kamen sie überein, daß er wohl eine Mischung aller menschlichen Möglichkeiten und Widersprüche darstelle.

Etliche Tage später hielt das pastorale Wägelchen nach mancherlei Paßumständlichkeiten glücklich vor dem Hause des Schiffsmaklers Pieper auf dem Holländischen Brook zu Hamburg, und die beiden Reisenden begannen, den Eindrücken der lauten und lebhaften Hafenstadt sich hinzugeben, deren Schiffe alle Meere durchfuhren, die aber daheim jeglicher Erziehung zum Weltbürgertum um so entschiedeneren Widerstand entgegensetzte. Die vielen französischen Emigranten zwar, die der Sturm der Revolution hierher geweht, hatte man gastlich genug aufgenommen, und beim Doppelkonzert im Rainvilleschen Garten am Sonntagnachmittag begann die eine Kapelle mit der Marseillaise, die andere mit God save the King. Aber gegen das nachbarliche Ausland wurden allabendlich die Tore sorgsam geschlossen und die Wälle von einer Bürgerwache besetzt, deren Soldaten weder nach Gestalt und Haltung, noch nach Montur und Bewaffnung den Beifall eines preußischen Generals gefunden hätten. Das jede Nacht eintreffende berlinische Postfelleisen mußte mittels eines sinnreichen Flaschenzuges über Tor und Wall hinweg durch die Luft seinen Weg nehmen, und wer nicht in Hamburg geboren war, der blieb zeitlebens ein »Butenminsch«.

Alsbald nach dem ersten Abendbrot lobten die Gäste die vorzügliche Mischung, womit der Reeder sie ihre Pfeifen hatte stopfen heißen. Das sei freilich etwas anderes als sie's daheim bekommen könnten, meinte der Maire, und der Pastor fragte, ob es denn wahr sei, daß hier in Hamburg auch die Frauen dem Tabakgenuß sich hingäben, und daß man immer mehr dazu überginge, das edle Kraut ohne Pfeife zu rauchen. – Jawohl, das sei so, in den niederen Ständen rauche freilich alles, auch Frauen und junge Burschen, aber unter den Gebildeten gelte der Tabak doch noch für ein ausschließliches Vorrecht des erwachsenen Mannes. Und was die sogenannten Zigarren betreffe, so erziele sein Freund, der Bürgerkapitän Hans Hinrich Schlottmann am Rademachergang, der seit Anno achtundachtzig als erster in Hamburg, und somit wohl auch als erster in ganz Deutschland, diese Dinger fabrikmäßig herstelle, von Jahr zu Jahr einen größeren Umsatz. Und das, obwohl die Zigarren keineswegs billig seien, sintemal die ordinärste Sorte doch immerhin fünfzehn Pfennig das Dutzend koste, und obwohl mit der Zeit auch ein paar Konkurrenten sich aufgetan.

Noch mehr als in Hamburg werde übrigens wohl im benachbarten Altona geraucht, so daß der dortige Polizeimeister, ein Herr von Aspern, sich schon veranlaßt gesehen, dagegen einzuschreiten und zum mindesten alles öffentliche Tabakrauchen unter Androhung einer Geldstrafe und sofortiger Konfiskation der Pfeife strengstens zu verbieten.

Da nun habe vor wenigen Wochen eine Geschichte sich zugetragen, die zeige, daß ein einfacher Hamburger Bürger allein gegen die Übergriffe einer ausländischen Macht sich zu helfen wisse. Das sei aber solchergestalt zugegangen:

Herr Kaspar Knoop fährt eines Samstagnachmittags im offenen Wagen aus Hamburg durch Altona seinem Landsitz zu, allwo er die Sonntage zu verleben pflegt. Ohne des Polizeiverbots zu gedenken, raucht er behaglich seine schöne Meerschaumpfeife. In solcher angenehmen Beschäftigung sieht er plötzlich durch Polizeidiener sich gestört, die, ihren Müßiggang unterbrechend, seinen Wagen halten lassen und unwirsch zwei Taler Strafe und die Pfeife heischen. Sie lassen sich auf nichts ein, so daß Herr Kapsar Knoop ihnen schließlich gehorsamen muß.

Aber er fährt sofort bei Herrn von Aspern vor und gibt dem Allgewaltigen gute Worte genug, um seine Lieblingspfeife wiederzukriegen. Doch der bleibt harthörig: er dürfe das Recht nicht biegen. – Am Montag nach der Hamburger Börse gehen die Altonaer Kaufleute wie immer zum Maria-Magdalenen-Kirchhof, wo nach alter Gewohnheit ihre Equipagen auf sie zu warten pflegen. Aber diesmal ist der Platz leer, nicht ein Wagen zu sehen. Indessen jene noch stehen und sich den Kopf zerbrechen, was ihren Kutschern denn nur eingefallen sein könne, fährt einer von diesen gemächlich heran. Da erfahren sie dann, daß Herr Kaspar Knoop, dem der Fuhrwerskverkehr auf den Hamburger Straßen und Plätzen unterstellt ist, ein strenges Verbot erlassen hat, wonach sie nicht mehr wie bisher auf dem Maria-Magdalenen-Kirchhof ihre Herren erwarten dürfen, sondern während der ganzen Börsenzeit unablässig in den Straßen umherfahren müssen. Am Dienstag aber erhält Herr Kaspar Knopp seine geliebte Meerschaumpfeife zurück, denn den Vorstellungen der vereinigten Altonaer Kaufmannschaft hat Herr von Aspern nicht zu widerstehen vermocht ...

Kaum hatte der Reeder diese Erzählung beendet, als ein Höllenlärm von der Straße her seine Gäste aufschreckte: das seien die Nachtwächter, beruhigte er sie, die mit großen Schnarren etwaige Spitzbuben verscheuchen und, um ja nicht überhört zu werden, auch noch ihre eisenbeschlagenen Stöcke über das Pflaster fahren lassen müßten. Auch hätten sie mit diesen Stöcken nachzuprüfen, ob etwa die eine oder andere Haustür nicht ordentlich verschlossen oder vielleicht sogar nur angelehnt sei ... Und später wimmerte die ganze Nacht alle Viertelstunden das Glockenspiel auf einem nahen Stadtturm – mit den nicht immer richtigen und nicht immer vollzähligen Tönen der verschiedensten Bußlieder der bürgerlichen Frömmigkeit sänftiglich aufzuhelfen.

Wenn nun auch mancher Hamburger jahraus jahrein mit der ganzen Welt Geschäfte machte, ohne selber jemals eine Nacht außerhalb des Bereichs dieser frommen Klänge verbracht zu haben, so gab doch, besonders seit sie am zweiten Abend in einer Gondel über den weiten Alsterspiegel geglitten waren, jeder Tag dem Wunsche des Pastors und seines Schwiegersohnes neue Nahrung, eine bescheidene Seefahrt zu riskieren.

Eines Mittags konnte der Schiffsmakler die Gastfreunde dann auch durch die Mitteilung erfreuen, daß er einen zuverlässigen Schiffer ausfindig gemacht habe, der sie nach Helgoland mitnehmen und nach etwa vierzehn Tagen von dort wieder abholen wolle. Er kenne den Mann seit langem und habe sich sein Schiff angesehen, das einen tüchtigen und saubern Eindruck mache. So rate er, die gute Gelegenheit zu benutzen, sie würden daheim viel zu erzählen haben und er bedauere nur, daß seine Geschäfte ihm nicht erlaubten, die Partie mitzumachen, wie er denn bisher noch nie dazu gekommen sei, jenes seltsame Felseneiland aufzusuchen. Die beiden Landratten griffen erfreut zu und gestanden einander erst viel später, daß jeder alsbald heimlich einen Brief an die Frau geschrieben, der so etwas wie ein letzter Wille gewesen sei, und daß sie ein höchst ungemütliches Herzklopfen verspürt hatten, als sie das Schiff bestiegen. Es war schon dunkel geworden, als sie die Ufer aus den Augen verloren und an den lebhafteren Bewegungen des Schiffes merkten, daß sie sich der offenen See näherten. Und alsbald fühlten sie sich gleichzeitig mit solcher Heftigkeit von der Seekrankheit befallen, daß sie, einander mit sterbenstraurigen Augen hilflos anblickend, heimlich aber herzlich den Leichtsinn verwünschten, der sie in diese abscheuliche Lage gebracht hatte. Obwohl an Schlaf nicht zu denken war, wurden sie doch erst nach geraumer Zeit inne, daß ein widriger Wind sich aufgemacht hatte, der den Schiffer zwang, viele Stunden lang hin und her zu kreuzen. – In der Dämmerung des zweiten Abends erst kam Helgoland in Sicht und ward dann auch bald erreicht, eine hohe schwarze Masse, darauf, von dunkeln Gestalten geschürt und behütet, ein mächtiges Feuer flammte, sprühte und qualmte, fernen Schiffen die Wege zu weisen. – Die beiden Reisenden, denen der feste Boden unter den Füßen alsbald Gesundheit und Unternehmungslust zurückgab, stiegen, von einem Fischer geleitet, der sich als zu den Ratsmännern der Insel gehörig vorstellte, übrigens aber wortkarg und schwer verständlich blieb, die hohe Treppe zum Oberland hinauf und fanden in dem einzigen Gasthäuschen leidliche Unterkunft. Als Männer von guter Erziehung machten sie gleich am ersten Tage den Honoratioren ihren Besuch: dem dänischen Landvogt, dem sie als Ausländer ohnehin ihre Pässe vorzulegen hatten, den beiden Pastoren, dem Apotheker, den der Maire einen botanischen Beireis nannte, weil er bei der Vorführung seiner Blumenzucht versicherte, seine Sonnenblumen wendeten jede Nacht ihre Köpfe dem Leuchtfeuer zu, und im vorigen Sommer hätte er eine Levkoie zu solcher Höhe und Umfang gebracht, daß er mittags mit seiner Frau in ihrem Schatten den Kaffee habe trinken können. Endlich dem Kommandanten Major Ziska. Der führte hier mit seiner aus vierundzwanzig Invaliden bestehenden Inselwache das beschaulichste Stilleben, das aber keineswegs ohne Haltung war: bei jedem Ausgang mußte, in geziemendem Abstand und nie erteilter Befehle stets gewärtig, eine Ordonnanz ihn begleiten und vor dem Hause, in dem der Gestrenge etwa an Tee oder Souper teilnahm, ohne Rücksicht auf Zeit und Witterung Posten stehen. Der Major nahm den Besuch der beiden mit verbindlichen Worten entgegen, wobei freilich sein Raubvogelgesicht sie aus kleinen wasserblauen Augen anschaute, wie wenn er in ihrer Seele lesen wollte, ob sie auch wirklich so harmlos wären, wie sie aussähen. – Übrigens war seine militärische Laufbahn zu jener Zeit ihrem letzten Ende schon recht nahe. Als nämlich zwei Jahre später, 1807, die Engländer den Dänen die Flotte wegnahmen und der Major ahnte, daß seinem Felseneiland bald das gleiche Schicksal widerfahren werde, da bildete er auf eigene Faust die jungen Insulaner militärisch aus, entschlossen, bis aufs äußerste Widerstand zu leisten. Doch der Heldentod blieb ihm versagt ... Zwar ließ er, als die Engländer ihn zur Übergabe aufforderten, seine Truppe aufmarschieren und hielt ihr eine gewaltige Ansprache: Als er aber am Schluß fragte, ob sie denn nun auch alle wie rechte Männer sich wehren und die Insel bis zum letzten Hauch verteidigen wollten, da öffneten sich die lebensfrischen Lippen der Flachsköpfe zögernd, aber mit einstimmiger Entschiedenheit zu einem überzeugten: »Nee!« Worauf dann freilich nur übrig blieb, zu kapitulieren. So ward Helgoland englisch.

Die beiden Reisenden vom Niederrhein, die in ihren Tagen die einzigen Fremden auf der Insel waren, denn an ein Seebad dachte noch niemand, unterbreiteten jeden Morgen, während sie sich rasieren ließen, der jungen Barbierin ihren Tagesplan, die sie immer freundlich und munter beriet, auch nicht unterließ, dem Maire Ort und Stunde zu verraten, da die jungen Burschen und Mädchen täglich ihren Spaß miteinander trieben. Sie warnte ihn aber: wenn er etwa mittun und auch »körteln« wolle, so solle er doch von den »Deerens« die in Ruhe lassen, die einen silbernen Schmuck auf der Brust trügen, denn die waren »Bruut«, und soviel Freiheit den andern gegenüber auch gern erlaubt sei, so wenig ratsam sei es, mit Bräuten zu scherzen, »denn die jungen Keerls mögt dat nich hebben«. So körtelte der Maire dann in den Grenzen, die ihm die Barbierin, der Gedanke an sein blondes Lenchen daheim und die Augen des pastoralen Schwiegervaters zogen, und obwohl diese Grenzen nicht allzu weit waren, fand er die Sache doch ganz pläsierlich.

Standen die Bräute so hoch in Ehren, so war das Los der Witwen um so betrüblicher: sie durften sich nicht wieder verheiraten, auch wenn sie noch so jung waren. Aber auch das Leben der verheirateten Frauen war hart genug. Alle Arbeit lag auf ihnen, indessen die Männer, sofern sie nicht als Fischer oder Lotsen gerade auf See waren, sich einen guten Tag machten. Allerdings waren sie nur scheinbar ganz müßig, wenn sie, die Hände in den Hosentaschen, stundenlang auf dem Oberland umherlungerten. Denn ihre scharfen Augen suchten immerfort den Horizont ab. Und sobald einer von ihnen »wat in Kieker« hatte, schlenderte er nachlässig und wie zufällig an die Treppe, um sie dann plötzlich in wilden, mächtigen Sätzen hinabzuspringen, auf daß er als erster sein Boot und das noch ferne Schiff erreiche, das vielleicht einen Lotsen brauchte. – Von der Gefährlichkeit dieses Berufes sollten die beiden Landratten alsbald einen Eindruck bekommen. Am Sonntagnachmittag hatte Pastor Pieper seinen Helgoländer Amtsbruder noch gefragt, warum er denn nach der Predigt so umständlich gesagt hätte: »Ferner bitten wir Gott für einen christlichen Lotsen, der am 20. in ein Schiff getreten, und für einen christlichen Lotsen, der am 20. in ein Schiff getreten, und für einen christlichen Lotsen, der am 20. in ein Schiff getreten«, statt diese drei christlichen Lotsen summarisch dem Schutze Gottes zu empfehlen. – Tja, das müsse so sein, hatte ihm jener auseinandergesetzt: die Insulaner hätten solche Lotsenfürbitten ganz abschaffen wollen, weil sie für jede zwölf Schillinge an den Pastor zahlen müßten. Aus demselben Grunde hätten aber die Geistlichen an der guten alten Sitte festhalten zu müssen geglaubt, und die oberste Behörde hätte ihnen recht gegeben. Da wäre dann die Folge gewesen, daß die zur Zahlung der Schillinge Verurteilten nun darauf beständen, daß dann auch jede einzelne Fürbitte für sich ausgesprochen werden müsse ... Am Sonntagabend setzte ein böser Sturm ein, und am Dienstag verbreitete sich das Gerücht, daß eine Jolle umgeschlagen und zwei Männer ertrunken wären. Da machten sich mehrere Boote auf, die Leichen zu suchen. – Am nächsten Sonntag nach der Predigt wurden die beiden Särge im Mittelgang der Kirche niedergesetzt. Nahe bei jedem nahmen die Leidtragenden Platz, und die beiden jungen Witwen mußten der Sitte gemäß während der ganzen Trauerrede das verschleierte Haupt an den Sarg gelehnt halten. Auf dem Friedhof aber, wo die Entfernung zwischen den beiden offnen Gräbern kaum zwanzig Schritt betrug, redeten beide Geistliche gleichzeitig, an Seelenschmerz und Lungenkraft einander überbietend, denn jede Partei hatte ihren Pastor bezahlt und wußte und wollte, was ihr zukam.

Wie manches artige Erlebnis und seltsame Beobachtung das Reisetagebuch auch festzuhalten hatte, nie hat größere Begeisterung die pastorale Feder geführt, als am Abend des Tages, an dem die beiden auf der Rückreise in Hamburg den französischen Luftschiffer François Blanchard hatten aufsteigen sehen. Es sei ihm wie eine richtige Himmelfahrt vorgekommen, versichert der ehrliche Rationalist, und nie habe er einen Menschen mehr beneidet, als diesen Luftschiffer, der, alles Irdische zurücklassend, in der seligen Blaue verschwunden sei. Und das Heiligegeistfeld, von wo aus Blanchard aufgefahren, trage nun seinen Namen in einem neuen Sinn, denn es sei eine heilige und rein geistige, von keinerlei materiellen Absichten gespeiste Sehnsucht des Menschen, aller Erdenschwere ledig, so in dem Unendlichen sich zu verlieren ... An die Hunderttausend seien nicht nur aus den Schwesterstädten Hamburg und Altona, sondern auch aus ganz Holstein, Mecklenburg und Hannover auf diesem Felde zusammengeströmt, wehmütig beneidet von den Hunderttausenden, die sie hatten zu Hause lassen müssen. – Die Füllung des Ballons sei innerhalb der Sternschanze geschehen und der Eintritt in diese mit zwei Reichstalern wahrlich nicht zu teuer bezahlt gewesen. Nach schier endlosem Warten drei Kanonenschüsse und dann habe der Ballon, zuerst langsam, bald aber immer rascher, sich erhoben. Der Luftschiffer, ein behender kleiner Mann in weißer Matrosenkleidung, seidener Schärpe und rundem Hütchen, habe mit zwei Fahnen, die er statt der Ruder in Händen gehalten, den unendlichen Jubel erwidert, unter oder vielmehr über dem der Ballon kerzengerade in die völlig windstille Höhe gestiegen sei, zuletzt nur noch als Pünktlein erkennbar. Da plötzlich sei in raschem aber sanftem Gleiten ein Schaf vom Himmel her auf der Wiese gelandet, das jener mittels eines Fallschirmes der Erde zurückgegeben habe. Das Tierlein nun, anscheinend durch solche Luftreise nicht im geringsten alteriert, habe unverzüglich zu grasen begonnen, indessen die Menschen einander fast totgedrückt hätten, um seiner ansichtig zu werden, das doch genau so ausgesehen wie jedes andere Schaf.


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