Wilhelm Langewiesche
Wolfs Geschichten um ein Bürgerhaus -- Erstes Buch: Im Schatten Napoleons
Wilhelm Langewiesche

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Von jenem, Karl X., wußte er die heitersten Dinge: als man ihm, der, voll unbegrenzten Vertrauens zu seinem Ministerpräsidenten Polignac, in St. Cloud den Freuden des sommerlichen Hoflebens sich hingab, gemeldet, in Paris tobe die Revolution, da habe er, seines Gottesgnadentums gewiß, ganz gelassen geantwortet, man solle sich beruhigen, Polignac sei diese Nacht die Heilige Jungfrau erschienen und habe ihm versichert, alles werde ein gutes Ende nehmen, – Und als ein wenig später das »gute Ende« tatsächlich eingetroffen und Karl als Exkönig, nach England unterwegs, auf dem Landsitz einer Aristokratin Mittagsrast gehalten, da habe sein Hofmarschall darauf bestanden, daß der Dorfschreiner zuerst den runden Tisch in einen viereckigen verwandele, denn ein König von Frankreich speise nicht an runden Tischen.

Wovon jener Karl zu viel gehabt, davon habe dieser Ludwig Philipp zu wenig, der einem Republikaner gegenüber alsbald geäußert, die goldene Krone sei im Sommer zu heiß und im Winter zu kalt, und das Zepter sei zu stumpf, um als Waffe, und zu kurz, um als Stütze gebraucht zu werden, er ziehe Filzhut und Regenschirm vor. – Sehr komisch sei auch, wie dieser »Bürgerkönig«, der übrigens, wie alle vielredenden Monarchen, ein Poseur und Phraseur sei, unmittelbar nach den Julikämpfen sich habe für Geld sehen lassen. Man hätte sich nur unter die Müßiggänger zu mischen brauchen, die beständig das Palais Royal umlagerten, so hätten sie alsbald gefragt, ob man vielleicht den König mal sehen wolle, dann solle man ihnen fünf Franken zahlen. Habe man das getan, so hätten sie ein jubelndes Vivatrufen unter den Fenstern des Königs erhoben. Dann sei Höchstderselbe auf der Terrasse erschienen und habe dankend sich verbeugt. Wenn man den Tagedieben aber zehn Franken gegeben, so hätten sie beim Heraustreten des Königs dermaßen geschrien und wie besessen sich gebärdet, daß dieser zum Zeichen seiner Ergriffenheit die Hand aufs Herz gelegt und die Augen seelenvoll zum Himmel aufgeschlagen hätte. Zuweilen sei es auch vorgekommen, daß ein Engländer sich den Spaß zwanzig Franken habe kosten lassen, dann hätten jene mit solcher Begeisterung die Marseillaise angestimmt, daß der gerührte König, die Hand auf dem Herzen und die Augen gen Himmel gerichtet, laut mitgesungen... Wenn nun die Majestät an diesem Geld auch wahrscheinlich nicht partizipiert habe, ein guter Geschäftsmann sei der König doch. Zunächst habe er nicht, wie vor ihm noch jeder König, bei der Thronbesteigung sein persönliches Vermögen den Staatsdomänen hinzugefügt, sondern es seinen Kindern zugeschrieben, die Nutznießung aber weise sich selber lebenslänglich vorbehaltend. Sodann habe er bei der Festsetzung seiner Zivilliste mit der Kammer sich herumgestritten wie ein gerissener Entrepreneur.

Übrigens heiße Ludwig Philipp noch in einem andern Sinne mit Recht der Bürgerkönig. Er, Monsieur, wisse bestimmt, daß in jenen Julitagen in Paris die Fabrikanten ihren Arbeitern gesagt hätten: »Geht kämpfen, wir zahlen die Löhne weiter!« Denn es sei doch nur die Oberschicht der Bürger, der dieses neue Regiment zugute komme. Die Masse der Kleinbürger, Bauern und Arbeiter sei nach wie vor politisch völlig rechtlos, wer zu ihr gehöre, dürfe weder wählen noch gewählt werden. Sie werde sich ihr Recht wohl durch eine neue Revolution erkämpfen müssen. Er wolle hoffen, daß das Volk dann wieder so prachtvoll sich bewahre, wieder so Zucht und Maß halte. Oder ob es nicht von einer Größe zeuge, wie die Welt sie seit den Tagen der alten Römer kaum gesehen, wenn in Paris die Gefangenen, nachdem sie mitgekämpft, freiwillig in ihre Gefängnisse sich zurückbegeben hätten?

Bei weitem am liebsten aber hörten die Herren der »Gesellschaft« den Franzosen doch von seinen Erfahrungen als Jäger erzählen. Denn Jeanbon hatte in bequem erreichbarer Nähe unmittelbar an der holländischen Grenze unendliche Heidestrecken als Jagdrevier gepachtet, auch schon des öftern dort allerlei Getier eingesetzt, das aber zu Monsieurs Leidwesen den göttlichen Befehl »seid fruchtbar und mehret euch!« beharrlich in den Wind schlug. Die Hauptschuld daran maß Jeanbon den Wilderern, besonders den holländischen bei, mit denen er in einer zähen und erbitterten Fehde lag. Es hieß sogar, er hätte einmal einen erschossen, was er selber weder bestätigte noch bestritt. Jedenfalls, hatte er einmal geäußert, besitze er kein Beinkleid wie der Graf Erbach, der aus der Haut eines getöteten Wilderers sich solches Kleidungsstück habe anfertigen lassen. An seinem Geburtstag sah Monsieur alljährlich die Herren der »Gesellschaft« zum Dejeuner bei sich auf Haus Duynberg. Dann war der kleine, sonst kaum benutzte Ahnensaal in Ermangelung von Ahnenbildern mit Girlanden aus frischem Tannengrün und mit französischen Fahnen und Fähnchen ganz festlich geschmückt, wobei die Trikolore, »der Regenbogen der Freiheit« wie Monsieur sie nannte, dominierte, und die Adler Napoleons mit den Lilien der Bourbonen gute Nachbarschaft hielten. Denn Monsieur, der zu Häupten der langen, schmalen Tafel in einem bekränzten Sessel saß, war auch in der neuen Heimat stolz darauf geblieben, Franzose zu sein. Den schönsten Schmuck des Saales aber bildeten die weit offenstehenden Fenster, deren jedes in seinem dunklen Rahmen ein eigenartiges Landschaftsbild zeigte, und von den Herren der »Gesellschaft« hat mancher hier zum erstenmal die Schönheit seiner Heimat empfunden. Da lag im Kranz der Gärten das Städtchen mit seinen Häusern und Hütten und den zwei alten Backsteinkirchen, eine Insel im Ährenmeer, wie Herr Freundgen, der Hauptlehrer, gemeint, eine Insel und Hochburg evangelischen Glaubens, wie Herr Pastor Kranevoß ihn verbessert hatte. Und weiter ringsum die heitere und fruchtbare Ebene, unendlich wie der Himmel, leicht gewellt, von weißen Wegen durchzogen, von fernen Wäldern beschirmt, eingebettet in den geheimnisvollen Dunst des Horizonts und überwölbt von einem unermeßlichen, lichtblauen Himmel. – Monsieur hatte dann immer wieder irgendeine Merkwürdigkeit zu zeigen, aber das Merkwürdigste blieb doch das vergilbte Büchlein, das der junge Napoleon Bonaparte, mit dem er eine Zeitlang auf der Kriegsschule zusammen gewesen war, ihm beim Scheiden von Brienne hinterlassen hatte. Es enthielt von Napoleons Hand eine Menge erdkundlicher Aufzeichnungen und als letzte die, daß St. Helena eine kleine Insel im Atlantischen Ozean sei ....

Auch pflegte Jeanbon zur Feier dieses Tages aus Courtoisie gegen seine deutschen Gäste stets irgendetwas von Friedrich dem Großen zu erzählen, in dessen Werken er beinahe täglich zu lesen versicherte und dessen Genie er immer aufs Neue bewundere. Zu tadeln finde er an diesem wirklichen Könige nur, daß er kein Franzose und daß er kein Jäger gewesen sei. Daß aber jener sogar des öfteren geäußert das Jagen wolle ihn ungefähr so vergnüglich bedünken wie das Schornsteinfegen, das verdenke er ihm ernstlich.

Fräulein Antoinette, die bei solchem Anlaß, bis sie die Herren allein ließ, ihren Platz dem Vater gegenüber am untern Ende der Tafel hatte, machte höchst anmutig die Honneurs. Sie war ein rassiges, dunkles Mädchen von jetzt sechsundzwanzig Jahren, nicht eigentlich schön, aber voll Leben und Gesundheit, und von den Herren der »Gesellschaft« war kaum einer, der nicht auf irgendeine Weise in sie verliebt gewesen wäre, sei's auch nur, daß ihn der Klang der Stimme oder ihre Art zu lachen bezaubert hätte. Aber die wenigen Male, da ein Heiratslustiger ernstlich an sie gedacht und sich ihr zu nähern versucht hatte, war's immer eine taube Nuß gewesen, die seine Liebesmühe endlich aufknackte. Denn sobald sie etwas merkte, schob Fräulein Antoinette nicht nur allem Schmachten und Werben durch gleichsam unabsichtliche Bemerkungen über ihre Vorausbestimmung zur Ehelosigkeit sacht ein Riegelchen vor, sondern wußte auch nach dem Grundsatz, daß die beste Verteidigung der Angriff ist, in muntern und boshaften Ausfällen den Bewerber stutzig zu machen, ohne sein Wohlwollen zu verscherzen. Und wem sie solchergestalt die Wege weisen zu sollen glaubte, dem wies sie mit sonderlicher Freude bisweilen zugleich den Weg, an dessen Ende er mit dem ihr zugedachten Kränzlein eine andere glücklich machen konnte.

So oft Friedrich Wilhelm Wolf die Möglichkeiten seiner Zukunft überdachte, trat Antoinettens Bild vor seine Seele, wie sie mit dem alten Vater zur Jagd fuhr oder beim Geburtstagsdejeuner die Unterhaltung lenkte. Auch die Büchse im Arm und ein Jagdhütchen unternehmend aufs dunkle Haar gestülpt, war sie ihm in der Nähe ihres Hauses einmal begegnet, allerlei Raubzeug nachstellend, das den Geflügelbeständen gefährlich zu werden beginne. Seine selige Frau, die zarte Gabriele, hatte sich so oft gewundert, woher Fräulein Jeanbon nur die Zeit zu allem nehme, denn sie halte ihr Hauswesen ganz musterhaft in Ordnung, beteilige sich an der ausgedehnten politischen Korrespondenz des Vaters, lese unglaublich viel und habe sich von Monsieur jetzt auch noch eines dieser merkwürdigen neuen Münchener Fernrohre schenken lassen, um vom Dachreiter aus den Sternenhimmel zu beobachten. Schlaf scheine sie nicht viel nötig zu haben, und wenn das braune Frauenzimmerchen nicht am Ende gar eine richtige kleine Hexe sei, so sei es eine erstaunlich tüchtige und beneidenswert resolute Person.

Dabei fiel ihm ein, welchen Eindruck die Nachricht von Fraunhofers frühem Sterben auf Gabriele gemacht hatte, deren Mutter in dem gleichen jugendlichen Alter derselben Krankheit erlegen war.

Armer Leute Kind aus einer kleinen Stadt in Niederbayern, war jener, früh elternlos geworden, vom Vormund zu einem Münchner Spiegelmacher in eine harte Lehre getan worden, der für den Wissensdurst des armen Jungen nur Spott gehabt hatte. Da stürzt eines schönen Tages das Haus ein, und als einziger Überlebender wird der junge Fraunhofer unter den Trümmern hervorgezogen, dem der gütige König Max Joseph daraufhin achtzehn Dukaten schenkt. Nun kauft er sich Bücher und lernt und lernt und arbeitet und arbeitet. Und nach sieben Jahren steht die Optik theoretisch und praktisch auf ganz neuen Grundlagen ....

Frau Maria Magdalena freilich, deren Gedanken über die Wiederverheiratung ihres Ältesten eigene Wege gingen, riet ihm mit einer ihr sonst fremden Lebhaftigkeit ab: nicht nur, weil Pinchen und die überaus zarte kleine Regine ihrer Ansicht nach einer ganz anders gearteten Mutter bedurften, sondern besonders, weil Antoinette katholisch war. Denn der Pastorentochter, deren Eltern aus dem evangelischen Norden stammten, war der im überwiegend katholischen Westen herrschende konfessionelle Friede immer verdächtig, dieser Scheinfriede, wie sie meinte, den mit allen Schrecken der Ketzerverfolgung zu brechen, Rom zu gelegener Zeit nicht verfehlen werde. Es war ihr nicht klar, weder, daß solcher Friede letzten Endes aus der religiösen und kirchlichen Gleichgültigkeit stammte, die die napoleonischen Kriege in beiden Lagern zurückgelassen hatten, noch daß dieser Friede jetzt, da jene Gleichgültigkeit in ihr Gegenteil sich wandeln wollte, ein Gebot der Klugheit war, indem beide Parteien gegen den gemeinsamen Feind, den Liberalismus, sich zu rüsten hatten. Und so oft sie von jemand hörte, daß er katholisch sei, begann sie eine unüberwindliche Abneigung und Mißtrauen gegen ihn zu empfinden. – Viel lieber sei es ihr, beteuerte sie mit ihrer etwas weinerlich gewordenen Stimme, viel lieber, Friedrich Wilhelm heirate eine Jüdin, Türkin oder Heidin, die sich schließlich doch leichter zum Herrn bekehren könne, als solche Tochter des römischen Antichrists. Der Sohn meinte zwar, soviel er merke, sei die junge Dame unbeschadet ihrer sonstigen, auch von der Mutter anerkannten Vorzüge, von ziemlich heidnischer Gesinnung, aber die Mutter wollte das nicht gelten lassen: das Römische stecke darin und werde bei zunehmendem Alter ganz bestimmt zum Durchbruch kommen und ihm Entfremdung, Mißverstehen und Kälte, wenn nicht noch Schlimmeres, ins Haus bringen.

Da ereignete sich, was allem Schwanken ein Ende bereitete. Dem jetzt täglich aus Köln eintreffenden Eilwagen entstieg eines Abends ein Herr, der sich als Gaston Besnard de Vivie aus Paris ins Fremdenbuch des Schwarzen Adlers eintrug, alsbald sich auf sein Zimmer zurückzog und am andern Vormittag dem Capitaine Jeanbon-St. André auf Haus Duynberg einen Besuch machte. Dieser Besuch dehnte sich bis zum späten Abend aus. Am folgenden Morgen in aller Frühe fuhr Herr Jeanbon, seiner Gewohnheit nach im scharfen Trabe, mit einem zweisitzigen Jagdwagen am Schwarzen Adler vor, der Fremde stieg zu ihm auf, und nachdem dessen leichtes Gepäck vom Hausknecht hinter den Sitzen verstaut war, rollte das Gefährt auf der zu Monsieurs Jagdgründen und weiter nach Holland führenden Landstraße zum Städtchen hinaus. – Drei Tage später gegen Mittag stieg Antoinette Jeanbon die hohe Steintreppe vor dem Wolfschen Hause hinauf, und ohne den prüfenden Blick zu bemerken, den ihr die römische Wölfin zuwarf, zog sie die Glocke. Wenige Minuten später sah sie sich dem Hausherrn gegenüber, der den Gegenstand seiner vielen Erwägungen mit einiger Verlegenheit empfing, indessen Pinchen ihr mit einem Knix zutunlich die Hand gab und die kleine Regine auf ihrem hohen und gegen die verschiedensten Möglichkeiten gesicherten Stühlchen sie mit lautem Krähen begrüßte. Antoinette war blaß und erregt, aber sie sagte, was sie zu sagen hatte, ohne Tränen oder Verwirrung: der Vater habe am Montag einen Besuch aus der Heimat empfangen, den er ihr als den Sohn einer Jugendfreundin vorgestellt und mit dem er auf seinem Zimmer lange politische Gespräche geführt habe, wobei die Geister wohl des öfteren hart aufeinander geplatzt seien. Am Abend habe er ihr erklärt, daß er am andern Morgen den Landsmann, der nach Antwerpen und weiter nach England unterwegs sei, um ihm einen Umweg zu ersparen, mit seinem Jagdwagen bis ins Holländische bringen wolle. Er gedenke ihm unterwegs seine Jagdgründe zu zeigen, die Schimmel in der holländischen Grenzstadt sich gut ausruhen zu lassen und am folgenden Nachmittag heimzufahren. Sie habe den Herren ein reichliches Frühstück, auch ihrem Vater das für eine Nacht Erforderliche eingepackt und in der Frühe ihn gesund und heiter abfahren sehen. Da er nun bis jetzt nicht zurückgekommen, auch keine Nachricht von ihm eingetroffen sei, müsse sie, wie sie ihren Vater kenne, mit vollkommener Sicherheit annehmen, daß ihm ein Unglück zugestoßen, oder daß er einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei. Sie bitte aber Herrn Wolf, ihr aus Freundschaft für den Vater zu raten und beizustehen, damit sie das, was sie nun zu tun habe, so zweckmäßig wie möglich tue. – Friedrich Wilhelm sah ihr mit der herzlichsten Teilnahme in das erregte und doch so beherrschte Antlitz und sprach ihr mit Überzeugung die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang der ja freilich zunächst ganz unerklärlichen Sache aus. Daß aber das Mögliche sofort versucht werden müsse, darin gab er ihr völlig recht. Er versprach, die Behörden unverzüglich zu benachrichtigen und andern Tags persönlich mit ihr durch die väterlichen Jagdgründe zu fahren, ob sich dort eine Spur finden lasse. Es war ein wundervoller Frühherbstmorgen, an dem sie der holländischen Grenze zufuhren. Friedrich Wilhelm Wolf hatte, sehr gegen seine Neigung, Herrn und Frau Pastor Kranevoß gebeten, die Fahrt mitzumachen. Die Damen saßen nebeneinander, die Herren ihnen gegenüber, Wolfs alter Anton kutschierte. Anfangs wollte kein Gespräch aufkommen. Die Frau Pastorin war verstimmt, weil man, als sie es reichlich frisch fand, sie nur in mehrfache Decken und Tücher eingewickelt hatte, anstatt den Wagen zu schließen. Sie sah aus ihrem spitzen blassen Gesicht mit kalten Augen an ihrem Pastor vorbei auf die silbernen Knöpfe an Antons Rockschößen, dessen Livree sie in ihrem Herzen reichlich anspruchsvoll fand. Der Pastor wie Friedrich Wilhelm Wolf hatten immerfort die ehrerbietigen Grüße der Arbeiter und Arbeiterinnen zu erwidern, die aus den Dörfchen der Umgegend der Fabrik zustrebten. Zuweilen tauschte man eine Bemerkung über die beginnende Entkirchlichung und die wachsenden Lohnansprüche des niedern Volkes aus, wobei die Pastorin besonders darüber beweglich klagte, daß auch die jungen Mädchen in gottloser Verblendung jetzt lieber Fabrikarbeiterinnen als Dienstmägde würden, nur weil sie auf solche Weise mehr Geld verdienten und mehr freie Zeit hätten, den Segen des Lebens in einer christlichen Hausgemeinschaft also völlig verkennend. Und, verstimmt, wie sie war, ließ sie sich mit einem schiefen Blick auf Antoinette zu der Bemerkung hinreißen, der Code Napoléon, wie er hier am linken Niederrhein leider Gottes immer noch Geltung habe, sei doch ein ganz schlechtes Gesetzbuch, das nicht einmal erlaube, der Magd eine Maulschelle zu geben. Nun, sagte Friedrich Wilhelm Wolf, solches Verbot zu übertreten, sei er noch nicht in Versuchung gewesen. Aber als er einmal im Preußischen Landrecht geblättert und zufällig den Paragraphen 788 gelesen, da habe er sich doch gefreut, daß dieses Gesetzbuch für seine Ehe nicht maßgebend gewesen sei. – Wieso, fragte die Pastorin neugierig, was denn da geboten oder verboten werde? Und Wolf antwortete, jener Paragraph bedrohe, wahrscheinlich um salomonischen Urteilen vorzubeugen, die Mutter mit Prügelstrafe, wenn sie ihr Kindlein in der Nacht zu sich ins Bett nehme, was seine selige Gabriele mit der kleinen Pina oft genug und immer zu seiner herzlichen Freude getan habe. – Antoinette überhörte das alles, sie dachte unablässig an ihren Vater und die Möglichkeiten seines Schicksals.

Je weiter sie kamen und je einsamer es wurde, desto stärker begann die stille Natur ringsum auf alle zu wirken. Der Herbst hatte alles vergoldet. Gold floß aus den Birken am Straßenrand, die der Pastor unter höchst befremdeten Blicken seiner Gattin spezifisch weibliche Bäume nannte, weil sie schlank, biegsam und in jedem Kleide schön wären, Gold brannte in den Kronen der Ahornbäumchen, die die lange weißgetünchte Mauer eines Gutshofes begleiteten, und Gold lag in der Luft über der weiten, leicht gewellten Ebene mit ihren Windmühlen und halbversteckten Dörfern, Klöstern und Herrensitzen. Lange fuhren sie auf einer Anhöhe dahin, von der aus die Jagdgründe des Herrn Jeanbon zu übersehen waren: unendliche braune Heidestrecken, durchsetzt von Fichtenbeständen und niedrigen schwarzen Föhren. Dahinter im Duft der Ferne ragten die Türme der holländischen Grenzstadt aus den bunten und lichteren Farben der Maasniederung empor. Am Himmel über ihnen schwammen vereinzelte weiße Wolken und die höhersteigende Sonne ermutigte die Frau Pastorin, sich ihrer Decken und Tücher zu entledigen. Alle, sogar Antoinette, gaben sich der Wärme mit wohligem Behagen hin und in ihm wurden nicht nur die Lippen immer träger, auch die Herzen mit ihren Sorgen und Wünschen kamen mehr und mehr zu Ruhe, bis das Pflaster der kleinen Maasstadt sie unsanft genug weckte.

Aber von den beiden Franzosen fand sich keine Spur, weder in den Gasthöfen noch im Rathaus ließ sich das geringste ermitteln. Der holländische Bürgermeister versprach, im Städtchen sowohl wie in den Dörfern der Umgegend nachzuforschen, und nachdem Friedrich Wilhelm Wolf mit dem Posthalter verabredet, daß dieser die müden Pferde einstellen und ihnen frische vorspannen solle und wie man übermorgen auf halbem Wege die Umwechselung vornehmen wolle, trat die Gesellschaft in der frühen Abenddämmerung kleinlaut die Heimfahrt an. Kühle und Nebel nötigten, den Wagen zu schließen, und rasch schien das Gespräch alle Möglichkeiten sowohl des Schicksals der Vermißten, wie auch der noch zu unternehmenden Versuche ihrer Ermittelung erschöpft zu haben, so daß jeder schweigend seinen Gedanken nachhing. – Es war fast Mitternacht, als der Wagen zuerst vor Haus Duynberg, dann auf dem Markt vor dem Pfarrhaus und endlich vor der hohen Treppe des Wolfschen Hauses hielt. Gegenüber beim Zuckerbäcker Stümges öffnete sich sacht ein neugieriger Fensterladen, was für ein Gesicht aber die knabensäugende römische Wölfin machte, das hätte Friedlich Wilhelm Wolf in der Dunkelheit nicht sehen können.

Der nächste Vormittag brachte ihm von neuem den Besuch Antoinettens, die berichtete, daß ihre Leute in der Morgenfrühe die beiden Schimmel mit dem Jagdwagen vor der Stalltür gefunden hätten. Die Tiere wären sichtlich ermüdet, übrigens aber wohlbehalten gewesen, und als sie sie dann im Stall besucht und gestreichelt hätte, da wäre ihr der Gedanke gekommen, ob sie ihr vielleicht auf die Spur helfen könnten. Sie wolle daher morgen früh mit ihnen die Fahrt nach Holland wiederholen und sie sowohl in der Nähe der Jagdgründe, wie auch unmittelbar vor der Stadt selber den Weg bestimmen lassen. Wenn sie sich's vielleicht auch nur einbilde, daß die treuen Pferdeaugen sie heute Morgen mit einem ganz besonderen Ausdruck angeblickt hätten – möglich sei es doch immerhin, daß den Tieren ein Verständnis dafür aufgehe, worum es sich bei dieser Fahrt und der gewährten Zügelfreiheit handle, und daß sie dann einen Weg einschlügen, der zu irgendeiner Spur führe. Sie halte es aber für richtig, die Schimmel vor den Jagdwagen zu spannen, der, wie Herr Wolf wisse, nur zwei ordentliche Sitze habe. Kutschieren wolle sie selber und wenn er ihre Bitte erfüllen und sie begleiten wolle, so werde sich ihr Stallbursche auf dem Platz hinter den Sitzen schon einzurichten wissen. Friedrich Wilhelm, so sehr ihn auch selber das rätselhafte Verschwinden Jeanbons und die merkwürdige Heimkehr der Schimmel beunruhigte, und so herzlichen Anteil er auch an der Not des lieben Mädchens nahm, hatte einige Mühe, die Freude über die Aussicht auf einen ganzen Tag in ihrer so nahen und ungestörten Gesellschaft zu dämpfen. Er sagte zu und schlug vor, daß man, um für alle Fälle recht viel Zeit zur Verfügung zu haben und möglichst wenig Leuten Stoff zu albernem Gerede zu geben, schon im Morgengrauen aufbrechen und erst nach Mitternacht heimkehren wolle. Wenn die Schimmel in Holland sechs bis sieben Stunden ausruhen könnten, würden sie ja auch imstande sein, selber den leichten Wagen wieder zurückzuziehen.

Die Pracht der Venus funkelte über ihnen, als sie fröstelnd in den dämmernden Sonntagmorgen hinausrollten. Friedrich Wilhelm freute sich des glücklichen Vorzeichens. Er hatte sich bequem zurückgelehnt, indessen Antoinette, die Zügel in der Hand, ein wenig vorgebeugt dasaß, die Augen scharf auf den Weg gerichtet. Auch sie hatte des Morgensternes wahrgenommen, aber bei sich bedacht, daß es wohl leichter sein möge, einen Planeten zu erschaffen, als ein Menschenherz auf ihm mit Trost zu füllen. Friedrich Wilhelm sah ihre feine Silhouette und ihre liebe Nähe ward ihm warm und vertraut wie nie zuvor. Und indessen sich ihre Gedanken unablässig mit der Frage beschäftigten, ob und wie dieser Tag sie auf die Spur des Vaters bringen würde, reifte in seinem Herzen der Entschluß, sie heimzuführen, mochte sie gleich zehnmal eine Tochter des römischen Antichrists sein oder wie seine Mutter sie sonst genannt hatte. Und wenn sein Großvater, der Pastor, sich wirklich dieserhalb im Grabe umdrehen sollte, er würde es doch tun, denn das Leben gehöre den Lebenden und nicht den Toten. Es gebe eine katholische Wahrheit und eine evangelische Wahrheit, suchte er sich klarzumachen, und ob die wirkliche Wahrheit nicht noch ganz anders aussehe, das wisse man nicht. Dabei gedachte er des Romans in Briefen »Der Proselyt«, den er kürzlich bei seiner Mutter gefunden und ein wenig angelesen hatte. Darin bekehrte der Protestant den Katholiken, während gleichzeitig dieser ihn, womit die Mutter freilich weniger einverstanden gewesen war, zum Katholizismus bekehrte .... Und sein Geist verlor sich auf ungewohnten philosophischen und theologischen Gedankengängen, die alle von einem Mittelpunkt ausgingen und immer wieder zu ihm zurückführten, und der hieß Antoinette. Mochte sie nun eine Hexe sein, oder eine resolute Person, mochte sie ihm Söhne schenken oder Töchter – sie war ein liebes Mädchen, dem man auch auf der Lebensfahrt die Zügel wohl überlassen konnte. Und hatte sie in ihrer Not sich nicht gerade an ihn gewandt? War er nicht dadurch zu ihrem Beschützer berufen? Sie, die Vaterlose, die Heimatlose, sollte bei ihm alles wiederfinden, und wie er seine Mutter kannte, würde sie, vor die fertige Tatsache einer Verlobung gestellt, Antoinetten das Leben nicht schwer machen. – Es war ein guter Blick, mit dem sein Auge immer wieder auf ihrem dunklen Antlitz ruhte. – Da ging die Sonne auf, und während Antoinette die bange Frage bewegte, ob und wo und wie der Vater jetzt wohl das liebe Licht des Tages begrüßen würde, sah Friedrich Wilhelm bei einer plötzlichen Biegung des Weges das kräftig geschnittene Profil des Mädchenkopfes an seiner Seite einen Augenblick wie auf Goldgrund stehen oder wie von einem Heiligenschein umwoben.

Sie sprachen wenig, und als sie Herrn Jeanbons Jagdgründe erreichten, lenkte Antoinette in diese ein, die sie so gut kannte, und überließ dann den Schimmeln, welche Wege darin sie laufen wollten. – Sie litt unter der grausamen Heiterkeit der Natur die, unbekümmert um menschliche Sorgen und Nöte, so ganz wie immer sich gab. Die Luft war voll herbstlicher Würze und die Sonne spielte mit den tausend bunten Farbtönen der Bäume, Sträucher und Gräser, die in einer letzten Lebenslust erglühten. Zuweilen sprang ein Hase über den Weg oder ein Fasan lief mit lautem Ruf querfeldein, aber von den beiden Vermißten fand sich keine Spur. Die Schimmel schienen ganz ziellos hinzutrotten. Da lenkte Antoinette sie wieder auf die Landstraße und erst unmittelbar vor der kleinen Maasstadt gab sie ihnen von neuem die Freiheit. Mochten die Tiere nun eine ungewollte Bewegung der Zügel mißverstanden haben oder eine Erinnerung in ihnen erwacht sein: sie bogen plötzlich in eine dunkle Allee ab, die zu einer alten Abtei führte, liefen durch deren weit offenstehendes Hoftor und machten vor einem Stallgebäude Halt. Alsbald wurden Schimmel, Wagen und Insassen neugierig von einer Schar kleiner Mädchen betrachtet, denn in der alten Abtei betrieben jetzt Ursulinerinnen eine Erziehungsanstalt. Antoinette ließ sich zur Domina führen, die alsbald Nonnen, Zöglinge und Gesinde zusammenrief. Aber niemand wußte etwas auszusagen.

Während danach die Schimmel im »Wapen van Amsterdam« Futter und Ruhe fanden, wiederholten Friedrich Wilhelm und Antoinette den Besuch beim Bürgermeister, der versicherte, daß die bisher leider ergebnislosen Nachforschungen fortgesetzt würden, übrigens kein Hehl daraus machte, daß seine Hoffnung gering sei. – Die Zeit bis zur Heimfahrt war im Verhältnis zu den Sehenswürdigkeiten der sonntäglich träumenden kleinen Grenzstadt reichlich lang. Endlich saßen sie wieder im Wagen und fuhren, die prachtvoll untergehende Sonne im Rücken, den Jagdgründen Jeanbons zu. Während in Friedrich Wilhelm Wolfs Herzen Abendgedanken und Morgengedanken einander ruhig und innig bestätigten, empfand er deutlich, daß Antoinette ihm etwas zu sagen hatte. Endlich begann sie: Sie könne dieses Leben nicht länger ertragen. Sie werde ihr Haus bestellen und nach Frankreich reisen, um von dort aus in Verbindung mit der Familie Besnard de Vivie Nachforschungen anzustellen, für die sich dort möglicherweise neue Anhaltspunkte finden lassen würden. Sie werde wohl nicht zurückkehren, jedenfalls würde sie ohne den Vater nicht auf Haus Duynberg leben mögen. Herrn Wolf sei und bleibe sie herzlich dankbar für alles und sie vertraue, daß er ihr auch ferner beistehen, auch ein Auge auf das Besitztum ihres Vaters haben werde, bis dieser etwa doch noch zurückkehre oder sich ein Käufer finde. Und als Friedlich Wilhelm, aufs äußerste überrascht und beinah aus der Fassung gebracht, zögernd und unsicher sich auszusprechen anfing, da sah sie ihn mit einem vollen Blick ganz freundlich und unbefangen an und sagte Nein und daß sie, auch wenn sich dieses Unglück nicht ereignet hätte, niemals Ja gesagt haben würde. Und mit einer freien und anmutigen Bewegung reichte sie ihm über die Zügel hin ihre Hand, die er ehrerbietig küßte.

Frau Maria Magdalena Wolf, die Pastorentochter, benutzte jetzt zuweilen einen abendlichen Gang zum Friedhof, um unauffällig im blaugetünchten Weberhäuschen vorzusprechen und sich in der Heilsgewißheit kräftigen zu lassen. Was verschlug es ihr, daß Pastor Kranevoß Herrn Schlüpjes einen Irrlehrer und Sektierer schalt – Doktor Latschert sprach ja von ihrem teuren Hahnemann auch als von einem Kurpfuscher und Charlatan und doch taten ihr dessen Kügelchen und Pülverchen so sichtlich gut. Und wie vielen hatte sie schon damit geholfen, denn ihre kleine Taschenapotheke hatte sie immer bei sich, mochten die Söhne sie darob auch »unser Pulvertürmchen« heißen. Zu Pastor Kranevoß hatte sie ohnehin kein rechtes Verhältnis. Zwar wäre es ihr so wenig eingefallen, Sonntags seinem Gottesdienst fernzubleiben, wie es etwa ihrem Ältesten in den Sinn hätte kommen können, seine Steuern nicht mehr zu bezahlen. Aber sie mußte Kranevoß immer mit ihrem guten Vater vergleichen, was ihre Andacht störte, und dann hatte er ihr auch nicht viel zu geben. Nur durch zwei Dinge fühlte sie sich mit ihm verbunden. Das eine war die Hengstenbergische Kirchenzeitung, die sie gemeinsam hielten, und darin immer manches stand, was er ihr später erklären mußte, aber zuweilen mußte sie auch ihm einmal etwas erklären, so den Aufsatz vom Prediger Lange, der »Das Reich der Herrlichkeit« hieß und eine Vision war, für die jenem das Verständnis versagt schien. Und das andere war die Bekehrung der Heiden, die ihnen beiden am Herzen lag. Denn die drei rheinischen Missionsvereine hatten sich um 183o in Barmen zur Rheinischen Missionsgesellschaft zusammengeschlossen, um die Ausbreitung des Evangeliums selbständig und in größerem Umfange zu betreiben, und der fromme Inspektor Richter besaß an Frau Maria Magdalena eine immer opferwillige Freundin.

Nach all dem Schweren, das die Jahre ihr gebracht, war ihre Seele den Weg vom Rationalismus zum Pietismus gegangen, den zu jener Zeit so viele sich suchten. Für einzelne Strecken waren wunderliche Heilige ihr Führer gewesen, zu denen Kranevoß wohl den Kopf schütteln mochte. So die Schriften des ehemaligen Kaplans Lindl, zu dessen Predigten unter freiem Himmel in seiner bayerischschwäbischen Heimat einst Zehntausende heilshungriger Menschen zusammengeströmt waren, bis das augsburgische Ordinariat der Sache ein Ende gemacht hatte. Und der dann auf jahrelangem Umwege über St. Petersburg und Südrußland endlich als evangelischer Hilfsprediger nach Barmen gekommen war, allwo sich natürlich auch um ihn ein richtiges Sektlein gebildet hatte. Aber schließlich war es doch Herr Schlüpjes, der Totengräber, der auf ihre seufzende Frage, was das Leben sei, die besten Antworten wußte.

Dieser seinerseits hielt es nicht für einen Raub, solche freundliche Beziehung zu der Vertreterin eines Kreises, dessen Angehörige er im allgemeinen je nachdem »Kinder der Welt« oder »Mammonsknechte« nannte, zugunsten der beiden Enkelsöhne ein wenig auszunutzen, die er zu erziehen hatte. Vor zwölf Jahren nämlich hatte seine älteste Tochter in Düsseldorf, wo die Mutter sie mit so viel Vorsicht in einer christlichen Familie als Dienstmädchen untergebracht, einen Musikus namens Ritter kennen gelernt. Das war ein begabter Mensch, aber ein allzu lustiger Bruder und dazu arm wie eine Kirchenmaus. Über seine Armut hatte ihn einst sein Lehrer, Goethes alter Freund Zelter, getröstet: er dürfe nur brav auf seiner Klarinette blasen, dann würde er manchen Dukaten herauspusten. Das gelang ihm auch ganz leidlich, aber er verjuxte sie alle. Er sah dann auch ein, daß er jemand brauchte, der sie ihm festhielt, und solcher Aufgabe fühlte Hannchen Schlüpjes sich gewachsen. So war sie ihm denn, nicht zur Freude der Eltern, die sich aber schließlich ihren zwingenden Argumenten fügen mußten, als Gattin nach Berlin gefolgt, wohin Zelter bei guter Gelegenheit den Schützling und einstigen Schüler zurückgezogen hatte. Im Jahre 1831 nun war sie und alsbald auch ihr Musikant der Cholera zum Opfer gefallen, dem russischen Gast, der übel in Deutschland hauste und auch Größere zu den Toten entbot: Gneisenau ungeachtet seines Feldherrnruhms und Hegel, »den preußischen Normalphilosophen«, dessen Philosophie trotzdem ihre Herrschaft über den deutschen Geist antrat. Da hatte sich dann freilich gezeigt, daß das Kompagniegeschäft mit den Dukaten noch kein Goldgrüblein gewesen war. Gleichwohl aber hatte Herr Schlüpjes gottergeben die beiden Buben zu sich genommen, die jene hinterlassen. Die kleinen Berliner hatten in der neuen Heimat ihrer Sprechweise wegen viel von den Altersgenossen auszuhalten, waren aber weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen. Der ältere, Wilhelm, den der Großvater Willemken rief, während die andern Jungen ihn Wimm nannten, war so entschieden der begabtere, wie er der hübschere und gewandtere war. Er wußte das und wußte auch, daß der Großvater ihn verzog, weil er sich mit weisen und frommen Redensarten gelegentlich wichtig zu machen verstand. Michel, der jüngere und zuverlässigere, hielt es für selbstverständlich, daß jedes neue Kleidungsstück zuerst von Willemken getragen ward. Er sah mit unverhohlener Bewunderung und Ergebenheit zu dem um zwei Jahre älteren, feinen Bruder auf, zu dessen Sprüchen er freilich wohl den Kopf schüttelte, zumal ihnen beiden durch solche die Existenz unter den eingeborenen Jungen nur erschwert ward. Michel erfreute sich größeren Mutes und derberer Fäuste als Wilhelm und hielt es daher für seine Pflicht, diesem beides gelegentlich zugute kommen zu lassen. – Einmal hatte der Großvater, als er nach seiner Gewohnheit mittags in der Haustür sich ein wenig sonnte, beobachtet, wie sein Willemken auf dem Heimweg aus der Schule von vier andern Schlingeln behelligt und endlich gestellt und umzingelt ward. Schon schwang einer der kleinen Feinde drohend den ausgezogenen Holzschuh und der Großvater, der die Gefährlichkeit dieser Waffe kannte, wollte sich gerade einmischen, als Michel angelaufen kam, noch im Laufen den Schulranzen abstreifte und den Klompschwinger überrannte. Dann stürzte er sich auf einen der andern und nach wenigen Minuten verließen die Brüder als Sieger den Kriegsschauplatz, ein paar Steine, die an ihnen vorbeisausten, gelassen vormerkend. Als sie aber näherkamen, hörte Schlüpjes mit Vergnügen den Schluß ihrer Auseinandersetzungen: »Ik kann dir aber doch nich immer raushauen!« meinte der Kleinere warnend. Darauf Willemken vorwurfsvoll: »Ja, wenn se mir aber doch einkreisen!« ... »Schafskopp, laß dir nich einkreisen!« Wirklich erreichte Schlüpjes mit der Zeit manches für seine Enkel. Es fing damit an, daß sie an den schulfreien Samstag- und Mittwochnachmittagen bei schönem Wetter zuweilen mit Pinchen und der zarten Regine spielen durften oder daß bei schlechtem die Großmutter den vier Kindern schöne Geschichten aus der »Urania« vorlas oder Märchen erzählte. Beim Zuhören wie beim Spielen fehlte auch ein vierbeiniger Teilnehmer nie. Das war Hauser, der Hund, der anders war als andere Hunde, Hauser, der Hund, der sein Geheimnis hatte. Nicht nur, daß die Ansichten über seine Abstammung und Rasse weit auseinandergingen: auch seine Herkunft war in Dunkel gehüllt. Es war kurz nach Gebrielens Tode gewesen, daß bei ihren kleinen Mädchen, die, von der Wärterin »verwahrt«, in der Nähe des Gartenhauses sich aufhielten, ein ziemlich großer brauner Hund sich eingefunden hatte, unmittelbar an dem Wägelchen der zarten Regine mit selbstverständlichem Behagen sich auf den feinen Sand in die Sonne legend. Als gegen Mittag die Kinder ins Haus gebracht wurden, war er mitgelaufen, und als ihr Vater ihn hinauswies, hatte er sich in den Hof gelegt bis sie wiederkämen. Das hatte sich gegen Abend wiederholt und wiederholte sich ein paar Tage hindurch immer wieder. Wenn Anton morgens das große schmiedeeiserne Hoftor öffnete, stand der Hund schon wartend davor. Niemand kannte ihn, niemand schien ihn zu vermissen. Da hatte Johannes vorgeschlagen, man solle den Hund doch behalten und ihm eine Hütte in den Hof stellen. Wegen seiner dunklen Herkunft könne man ihn ja Hauser nennen und, um ihn von jenem rätselhaften Jüngling in Bayern zu unterscheiden: »Hauser, der Hund« sagen. Denn der unbekannte Findling von Nürnberg war rasch in ganz Deutschland berühmt geworden. Und so geschah's denn auch. Als aber am nächsten Sonntagnachmittag Frau Maria Magdalena nach ihrer Gewohnheit mit dem kleinen Pinchen zum Friedhof ging und Hauser, der Hund, das Kind zu begleiten sich anschickte, dachte sie, daß sie ihn ja, während sie die Gräber besuchten, bei Herrn Schlüpjes einstellen könnte, wo Willemken ihn schon betreuen würde. Unterwegs achtete sie nicht auf ihn, und als sie vor dem blaugetünchten Weberhäuschen anlangten, war der Hund fort, wie sie annahm, wieder nach Hause gelaufen. Sie besuchten zuerst die Pieperschen Gräber. Als sie danach an das Wolfsche Erbbegräbnis traten, lag an Gabrielens Grab zu Füßen der großen Platte Hauser, der Hund. – Da erschrak Frau Maria Magdalena im innersten Herzen: was hatte den Hund gerade an dieses Grab geführt? Sie konnte sich lange nicht entschließen, über dies Seltsame zu sprechen, aber sie machte sich fortan absonderliche Gedanken über Hauser, den Hund, und seine Sendung. Von dieser Zeit an begann sie den Fragen der übersinnlichen Welt auf eine neue Weise sich zuzuwenden. Und Justinus Kerners »Seherin« und seine »Blätter aus Prevorst« mögen am Niederrhein nicht viele eifrigere Leser gefunden haben, als des seligen Pastors Pieper Tochter. – Doktor Latschert aber, als sie ihm zuerst von Kerner sprach, meinte gelassen, dergleichen Hokuspokus werde ja auch in Bonn getrieben. Und er erzählte ihr von Professor Joseph Ennemoser, der, einst Schreiber bei Andreas Hofer, dann Jäger im Lützowschen Freikorps, bald nach der Gründung der Universität sich dort habilitiert habe und nun eine Leuchte der auf einer Verquickung von Naturwissenschaft und Mystik beruhenden, mit dem sogenannten tierischen Magnetismus experimentierenden Heilkunde sei. Er, Latschert, habe als Student sich jenem geflissentlich ferngehalten und nur ein einziges Mal aus purer Neugier in Ennemosers Kolleg sich mitnehmen lassen. Mit dem aber, was er da zu hören bekommen, sei sein Bedarf an dergleichen für den Rest seines Lebens völlig gedeckt. Ennemoser habe etwa ausgeführt, alles müsse magnetisiert werden, sogar die Kinder im Mutterleib, damit sie als um so kräftigere Weltbürger ans Licht träten, und die Bäume, damit sie um so zahlreichere und schönere Früchte hervorbrächten. Der Magnetismus sei so alt wie die Welt. Schon Adam und Eva hätten ein magnetisches Leben geführt, aber mit dem Paradies sei leider ein gut Stück Magnetismus verloren gegangen, weswegen denn auch heute die wirksamsten magnetischen Kuren in der Kirche vorgenommen würden. Die Menschen sollten daher nicht gelehrt sein wollen, keine Erfahrungen sammeln wollen aber Eines sollten sie, nämlich geistlich werden, den Leib ablegen, das zeitliche Suchen aufgeben und dem Ewigen nachstreben. Denn bevor nicht Ein Gott, Eine Kirche, Ein Glaube und Eine Liebe, Ein Hirt und Ein Schafstall sei, könne auch der Magnetismus nicht allgemein werden. – »Ein Hirt und Eine Herde«, verbesserte die Pastorentochter, aber Doktor Latschert bestand darauf: Nein, »Ein Schafstall« habe Professor Ennemoser gesagt.

Hauser, der Hund, fuhr fort, Gabrielens Kinder zu behüten. Aber als es sich dann begab, daß die zarte Regine in den Bach fiel und er sie herauszog, da wußte Willemken den eigenen bescheidenen Anteil an solchem Rettungswerk so kräftig zu betonen, daß er selber und nicht Hauser, der Hund, in den Augen der Großmutter Wolf wie in seinen eigenen zu »Reginens Lebensretter« ward, und nun gelang es unschwer, Friedrich Wilhelm für die großväterlichen Zukunftspläne des frommen Webers zu gewinnen. Zunächst erhielt Willemken lateinischen und griechischen Unterricht beim Pastor Kranevoß, der den begabten Jungen in wenigen Jahren für die Obertertia eines Gymnasiums reif zu machen versprach.

Es war merkwürdig, wie verschieden in den beiden Brüdern Friedrich Wilhelm und Johannes Wolf das Erbe des einstigen Maire: Weltbürgertum mit deutschem Einschlag, sich entwickelt hatte. Deutscher als der Vater waren beide geworden. Beide beklagten die staatliche Ohnmacht und Zerrissenheit der Nation und beide empfanden die beiden Hauptfehler der Deutschen: Ausländerei und Bedientenhaftigkeit, als erbärmlich. Aber der bewegliche und in einem tätigen und geselligen Leben stehende Friedrich Wilhelm versprach sich alles Heil von der überragenden deutschen Geistigkeit, von den Philosophen und Dichtern (die zu lesen er keine Zeit fand), von deutscher Wissenschaft und Kunst (über die er sich aus der Zeitung unterrichtete), von fortschreitender Gesittung und zunehmendem Wohlstand. Das alles und dazu die Entwicklung der neuen Verkehrsmittel werde die Deutschen immer fester verbinden, für die andern Völker sie immer unentbehrlicher machen, mit der Zeit ihnen auch mehr innere und äußere Bewegungsfreiheit gewähren.

Johannes dagegen, der Grübler und Einsiedler, sah nur in einem starken, wenn auch zunächst noch herzlich unsympathischen Preußen die Möglichkeit zu einer schöneren und größeren deutschen Zukunft. Er glaubte die Linie zu erkennen, die von den »Bauern von geringem Gut« über den Großen Kurfürsten, den tüchtigen Soldaten- und Beamtenkönig Friedrich Wilhelm I. und Friedrich den Großen zu den Befreiungskriegen und weiter zu künftiger deutscher Macht und Einheit führe. Und er vertraute, daß diese Linie durch die zufällig regierende oder mißregierende Persönlichkeit des preußischen Königs zwar gebogen, aber nicht gebrochen werden könne. Das hatte ja doch erst der Befreiungskampf deutlich genug gezeigt, zu dem schließlich doch auch »der König kam, als alle, alle riefen«.

Zu erkennen, daß des deutschen Volkes Beruf und Sendung Leiden heißt, daß seine ganze Geschichte ein Leidensweg ist, das ist beiden Brüdern erspart geblieben.

Friedlich Wilhelm Wolf, dem während seines Aufenthaltes in England die größere bürgerliche Freiheit dort Eindruck gemacht hatte und dem auch noch so manches gegenwärtig war, was der selige Vater von der liberalen Gesinnung und den angenehmen Verkehrsformen der französischen Beamten erzählt hatte, hielt nicht viel von der deutschen Beglückung durch Preußen. Ihm schien dieses Land in seinem innersten Kern dem Absolutismus, dem militärischen Drill und einem mißtrauischen und anmaßenden Polizei- und Beamtentum verfallen, und seine Hoffnung war, daß die freiheitlicheren Südstaaten, wie sie ja auch zum Teil schon eine ganz annehmbare Verfassung hätten, sich zu einem Staatenbunde zusammenschließen würden, um dem preußischen Dünkel und dem österreichischen Dunkel entgegenzuarbeiten und ein aufrechtes deutsches Bürgertum heranzubilden.

Johannes meinte dann wohl, ihm wäre ein Bundesstaat unter Preußens fester Führung lieber als ein Staatenbund, der französischen Wind in den Segeln seiner Verfassungen hätte. Die preußische Heeresorganisation aber, dieses Volk in Waffen, schiene ihm die einzige vernunftgemäße und menschenwürdige – aus eigner Anschauung kannte er sie freilich so wenig wie sein Bruder die deutschen Philosophen und Dichter, – und was das preußische Beamtentum beträfe, so sähe er darin, trotz der gelegentlichen Überheblichkeit einzelner seiner Vertreter bei der anerkannten Tüchtigkeit und Rechtlichkeit des Ganzen doch die Keime einer wertvolleren neuzeitlichen Aristokratie. Allerdings bedürfe der Beamte, wie er das Volk zu Bürgern zu erziehen hätte, auch selber der Erziehung durch den Bürger. Wer aber wie sein lieber Bruder den heimlichen Wunsch hätte, Königlich Preußischer Kommerzienrat zu werden, der sei wohl nicht zu solcher Beamtenerziehung berufen, noch weniger aber berechtigt, das preußische Beamtenwesen abzulehnen. Denn letzten Endes wolle doch der Bürger, indem er sich mit jenem pompösen Titel bekleiden lasse, den Anschein erwecken, als ob er auf irgendeine Weise zum Berater des Königs in kommerziellen Dingen bestellt und also gleichsam auch ein Königlicher »Beamter« sei. Ein harmloser Täuschungsversuch zwar, weil jedermann wisse, daß der König nicht annähernd so vieler kommerziellen Ratschläge bedürfe, wie er Kommerzienräte ernenne. Immerhin sei solches Streben nicht gerade als ein Zeichen besonderen bürgerlichen Stolzes anzusprechen. – Ihm, Johannes, wolle übrigens scheinen, als ob nicht, was das Beamtentum aus dem öffentlichen Leben mache, das Bedenkliche sei, sondern, was die Gesellschaft daraus mache, die nun ja leider mehr und mehr an die Stelle der großen ehrwürdigen Lebensmächte: Familie, Volk, Staat, Kirche, sich selber setzen wolle, diese undefinierbare und unverantwortliche Masse, an der kein »Pack-Ende« sei ... Da müsse er freilich sagen, daß ihm dies einer allgemeinen Auflösung nahezukommen scheine, indem die Gesellschaft das persönliche wie das öffentliche Leben mit bewußter und unbewußter Lüge durchsättige. Sie predige Pflichten, die niemand erfüllen wolle. Im Reden und Urteilen lege sie Maßstäbe hoher Sittlichkeit an, während sie wisse und ungeahndet lasse, daß beim Handeln Furcht und Eitelkeit und Eigennutz den Ausschlag geben. So sei die Gesellschaft der Menschen untereinander recht eigentlich ein Abbild der »Politik« genannten Beziehungen der Völker zueinander, die ja auch von der freilich nicht eingestandenen Annahme ausgehe, das Sittliche sei nur zu dekorativen Zwecken verwendbar. Und doch gebe es nichts Gesundes und nichts Weiterführendes weder zwischen Mensch und Mensch, noch zwischen Volk und Volk, das nicht in der Sittlichkeit verankert sei. In dem einfachen Wort, über das alle gesellschaftliche und politische Klugheit nicht hinauskomme: »Alles nun, was ihr wollet, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch – das ist das Gesetz und die Propheten.« Die Revolution habe dieses Licht ja auch von neuem über den Völkern aufgehen lassen wollen, aber da sei der nationale Egoismus Napoleons dazwischengetreten und seitdem umdunkle sein Schatten die Menschheit.

Es war am 30. Juni 1834, als die »Gesellschaft«, die im besondern Johannes mit so hartem Urteil gewiß nicht hatte treffen wollen, durch ein »gediegenes Herrenessen« am Vorabend ihres Stiftungsfestes ihr erstes Vierteljahrhundert würdig abzuschließen gedachte. Das Fest selber sollte durch einen Ausflug gefeiert werden, dem durch ihre Beteiligung die rechte Weihe zu geben die Damen zugesagt hatten. Daß die Herren für solche Unternehmung sich gehörig stärken mußten, leuchtete auch den Damen ein, um so mehr, als sie selber dann ungestört den letzten Vorbereitungen einer sommerfestlichen Bekleidung sich hingeben konnten, denn sie gedachten keineswegs nur im Negativen den Lilien auf dem Felde vergleichbar zu erscheinen, und hier und da war doch noch ein Volant anzusetzen, eine Schärpe auszubügeln, oder eine Blume aufzunähen. Und Mamsell Wolff (auf deren zwei f ausdrücklich aufmerksam zu machen Frau Maria Magdalena früher zuweilen für richtig gehalten) hatte so über die Maßen viel zu tun, daß sie seit vierzehn Tagen vor lauter Arbeit nicht dazu gekommen war, auch nur eine Zeile von ihrem über alles geliebten Clauren zu lesen – eine Entbehrung, für deren Härte ihre Kundinnen volles Verständnis hatten. Nein, man durfte ihr nicht noch mehr zumuten, man mußte Geduld haben oder sich ohne sie behelfen. Wieviel aber konnte morgen von einer Kleinigkeit abhängen ....

Ein wunderschöner Sommertag ging zu Ende. Aber es war sehr heiß gewesen und der Königliche Flußbaudirektor Regierungsrat Ohnegroll aus Düsseldorf – er war erst kürzlich aus dem Osten an den Rhein versetzt worden und der Regierungspräsident war ein Studienfreund von ihm – der mit zwei technischen Hilfskräften viele, viele Stunden lang in der Sonne einem langsam der Maas zustrebenden Gewässer kritisch nachgegangen war, der freute sich, als ihn endlich der »Schwarze Adler« gastlich aufnahm, indessen seine beiden Beamten sich eine bescheidenere Unterkunft suchten. Während er in seinem Zimmer den äußeren Menschen auffrischte und in seinem Herzen beratschlagte, welche Genüsse er dem innern unter den Kastanien des Hotelgartens bieten sollte, fielen ihm die schwarzgekleideten Herren auf, die einzeln, paarweise oder in heitern Trüpplein über den Marktplatz dem »Schwarzen Adler« zustrebten. Eine Stunde später, als der Regierungsrat seinen Tisch im Garten gefunden und den ersten Hunger gestillt hatte, rief er den Kellner heran und fragte ihn, was denn hier los sei, denn aus den weitgeöffneten Fenstern des Gesellschaftsraumes drang der fröhlichste niederrheinische Festlärm. Der Kellner gab ihm die gewünschte Aufklärung, nicht ohne sich mit Vergnügen in einen umständlichen Bericht über die »Gesellschaft« und ihr Fest einzulassen, das ja ohnehin in diesen Tagen das Stadtgespräch bildete. – Da freute sich der Regierungsrat, dem schon das gute und reichliche Essen (dessen Üppigkeit er nun verstand) Eindruck gemacht hatte, aufs neue des weisen Entschlusses, gerade hier und nicht im »König von Preußen« der nahen Kreisstadt eingekehrt zu sein, wo ihm die mögliche Gesellschaft des Landrats vielleicht zu einer Partie Whist verholfen, aber wahrscheinlich nicht viel Neues gesagt haben würde, während er hier ganz zwanglos die Volksseele studieren und feststellen konnte, wie sich die nach Besitz und Bildung maßgebenden Kreise einer Bevölkerung, die immerhin noch keine zwanzig Jahre des Segens der preußischen Regierung genoß, mit der Neuordnung der Dinge abgefunden hatte. Denn daß »der kleine Mann« solchen Segen noch unterschätzte, das war ihm heute im Gespräch mit einem Bäuerlein klar geworden, das erbärmlich geklagt hatte, weil sein einziger Junge »Prüß werden« müsse. Und er war durchaus nicht sicher, ob er jenen überzeugt hatte, daß es für seinen Sohn nützlich und ehrenvoll sei, drei Jahre lang des Königs Rock tragen zu dürfen. – Leider war aus dem Stimmengewirr der den Tafelfreuden sich Hingebenden vorerst wenig zu verstehen. Aber das würde schon besser werden. Und nachdem der Regierungsrat, gesättigt, die versilberten Waffen gestreckt hatte, rief er den Kellner wieder heran und hieß ihn mit der Begründung, daß es hier ziehe, die zweite Flasche auf einen Tisch zu stellen, den der Anbau des Gesellschaftsraumes vor jeder Bewegung der Luft zu schützen schien. Ein Windlicht, das jener anbot, lehnte er ab: er wolle nur noch ein wenig meditieren und dann schlafen gehen.

Zunächst nun sah er sich freilich in seinen Erwartungen getäuscht: Zu verstehen war auch hier nicht allzuviel. Und vielleicht war das gut. Denn einigen Schelmen der Gesellschaft war es richtig gelungen, zwei sehr selten erscheinende und wenig beliebte Mitglieder beim Nachtisch in eine lebhafte Debatte zu bringen: Pastor Kranevoß und Johannes Wolf, die anscheinend zufällig nebeneinander saßen, die geöffneten Gartenfenster im Rücken. Eine von vielen Zwischenrufen durchkreuzte Debatte, die damit begonnen, daß Johannes geäußert hatte, soviel er sehe, fehle den Deutschen überall der rechte Mittelpunkt. Alles sei Peripherie ohne Zentrum. Da hatte Pastor Kranevoß geantwortet, die deutsche Bildung sei doch wohl ein solcher Mittelpunkt, um den sich, wie ihm scheine, mit der Zeit das gesamte Leben der Nation kristallisieren könne. Johannes widersprach: der deutsche Gedankenüberfluß sei recht eigentlich die deutsche Krankheit. Alles werde von des Gedankens Blässe angekränkelt und als von einem Mittelpunkt des deutschen Lebens könne von der deutschen Bildung nicht die Rede sein, solange sie sich auf ganz enge Kreise beschränke. Sogar diese aber befänden sich in der heillosesten Zersplitterung und Verwirrung, indem jeder der führenden Männer sich zu einem kleinen Papst auswüchse, während das Volk Not litte. Da nun hatte der Pastor es mit der deutschen Literatur versucht und auf Herder, Goethe und Schiller hinweisend gemeint, die deutsche Dichtung sei doch recht eigentlich das alle umspannende und untrennbar zusammenhaltende Band. Aber Johannes hatte auch das abgelehnt: auch die deutsche Dichtung wäre nur für ganz kleine Kreise vorhanden. Das Volk hätte gar nichts davon, daß Herder, Goethe und Schiller in den Bücherschränken der Gebildeten ständen. Es gäbe nicht einen einzigen Dichter, der aus den Tiefen der deutschen Seele schöpfend, ursprünglich und groß geartet, dem Volke bedeutende und einfältige Kunst zu bieten hätte, Brot, nicht Kuchen. Und selbst den Gebildeten – was sei ihnen Goethe? »Der größte deutsche Dichter« – gewiß. Aber doch »Achtzehntes Jahrhundert«, wenn auch mit einzelnen Ewigkeitswerten. Auch er lese zuweilen den ersten Teil des Faust oder in den Jugendgedichten. Aber der deutsche Geist des gegenwärtigen Jahrhunderts habe für ihn in Alexander von Humboldt einen ungleich stärkeren Ausdruck gefunden als in der alten Exzellenz, die vor zwei Jahren in Weimar gestorben sei. Hier mischte der neue Amtsrichter sich ein, der wenig beliebt war, weil er immer tat, als sei der Aufenthalt in dem »Baumwollnest« seiner und seiner Gattin unwürdig: Was die Herren denn nur zu seinem Kollegen Karl Immermann sagten? Daß dieser als Jurist und preußischer Beamter poetische Bücher schreibe, würde ihn ihm, falls er sein Vorgesetzter wäre, nicht gerade empfehlen. Daß er aber jetzt auch noch unter die Komödianten gegangen sei und in Düsseldorf ein Theater nach neumodischen Grundsätzen einrichten und leiten wolle, das sei doch ganz unerhört. Dabei gebe er dort der ganzen Stadt ein Ärgernis, indem er mit einer sogenannten Freundin zusammen Hause, die noch dazu von gutem alten Adel sei. Der entrüstete Amtsrichter ergriff sein volles Glas: »Ein Skandal! ein richtiger Skandal!« schrie er und leerte es auf einen Zug. – Einige Herren grinsten.

Der Pastor schüttelte mißbilligend das nach seiner Gewohnheit ein wenig schräg vorgestreckte Haupt, schien sich aber auf das Moralische nicht einlassen und das Theater mit der flüchtigen Bemerkung abtun zu wollen, daß, was Schillern nicht gelungen sei, auch diesem Herrn Immermann nicht gelingen werde. Dann aber, indem er Johannes mit dem linken Auge durchbohrte, während das rechte auf der Gipsbüste Friedrichs des Großen ruhte, rief er, sich auf seine eigenste Domäne zurückziehend mit erhobener Stimme – so gut hatte der Regierungsrat draußen noch nichts verstehen können –: »Die Kirche, lieber Freund, für mich natürlich in erster Linie unser teurer evangelischer Glaube, aber ich schließe auch die katholische Kirche nicht aus, die Kirche ist und wird der große deutsche Mittelpunkt, den Sie suchen. Ach, widersprechen Sie mir nicht – und er griff nach seinem Glas – das Reich Gottes, sehen Sie, Ein Hirt und Eine Herde – à votre santé

Aber Johannes, indem er mit ihm anstieß, widersprach ihm doch, und zwar mit einer durch den Wein noch gesteigerten Offenheit, Er glaube das nicht. Nur die negative Seite der Reformation sei begriffen und weitergeführt worden und heute seien unter den Protestanten viele, die nach der verlorenen römischen Kirche seufzten. Der Pastor runzelte die Stirn. Aber Johannes ließ sich nicht einschüchtern. Die Theologie habe sich überlebt, fuhr er fort, weil sie nicht verstanden habe, das Dogmatische den Zeiten gemäß weiterzuentwickeln. In der Kirche werde den Menschen Moral gepredigt nicht herzliche Erbauung und lebendige Erhebung zu Gott geboten. Das Gesetz des Christentums sei aber doch ursprünglich auf Freiheit und Liebe gegründet gewesen, nicht auf die Sklaverei der Pflicht oder den dürren Begriff der Tugend. Die Folgen seien nicht ausgeblieben. Es gebe doch eigentlich nur noch Unglauben oder Mystik und die wenigen Frommen flüchteten sich in Weberhäuschen wie die ersten Christen in Katakomben. ... Einige lachten. Der Pastor aber war in sichtlicher Erregung ...

Da schlug Friedrich Wilhelm an sein Glas und erhob sich stattlich. Er hatte das Gefühl, gleichzeitig dem Bruder und dem Pastor zu Hilfe kommen und die heitre Feststimmung des Abends retten zu sollen. Hochaufgerichtet stand er da, die Rechte mit den zwei Goldreifen des Witwers leicht auf den Tisch gestützt, die Zigarre in der Linken. Sein gutes, offnes Gesicht glänzte im Widerschein des Weines von Wohlwollen und Behagen. »Ganz wie der selige Papa,« raunte ein weißhaariger Herr dem Nachbar zu. »Nur jet jrößer,« gab dieser zurück. Was er sagen wollte, wußte Friedrich Wilhelm noch nicht recht, aber die Worte würden ihm schon einfallen. Und sie fielen ihm ein. Er begann mit Preußen und er blieb bei Preußen. Preußische Zucht und preußische Führung, Er reihte die Sätze aneinander, wie ihm die Erinnerung an so viele politische Auseinandersetzungen mit dem Bruder die Gedanken eingab. Er merkte nicht, daß er sich mit fremden Federn schmückte, daß es lediglich die politischen Ansichten des Bruders waren, die er so kräftig vertrat, daß er die eigenen gleichsam nur als zu widerlegende Einwürfe behandelte. Mit starken Worten pries er Preußen als Band und Mittelpunkt der deutschen Einheit ....

Der Regierungsrat draußen lauschte innigst beglückt. Welch ein prachtvoller Mann in diesem Nest! Den mußte er sehen! Er blickte um sich. Im Garten war niemand mehr. Nicht ohne Mühe kletterte er, indessen Friedrich Wilhelm Wolf soeben mit erhobener Stimme von der »beselijenden Macht des Preußenjeistes« sprach, auf seinen Gartentisch. Da sah er dem Redner gerade ins Gesicht, der dem Fenster zugewendet dastand. Wirklich ein prachtvoller Mann! Und Witwer ist er auch – den Regierungsrat durchschoß ein rascher Gedanke an seine verblühende Adelheid. – Wer war denn sonst noch da? Unmittelbar vor sich, zwischen sich und dem Redner, erblickte er eine ungeheure, bewegungslose Glatze. Im Rauch der Pfeifen und Zigarren und von dem Licht leicht bewegter Kerzenflammen beschienen, rahmten etwa dreißig Herren mit klugen und weniger klugen, müden und angeregten, gelangweilten und belustigten, verstimmten und gelassenen Gesichtern die Tafel ein, auf der Aschenbecher, Gläser und sehr viele Flaschen standen. Kein Zweifel, hier wußte man zu leben ....

Da knirschte der Kies in seiner Nähe. Es war der Kellner. Er winkte ihn heran: »Wer ist der Herr, der da redet?« Der Kellner, ein ehrsamer Flickschneider, der heute im »Schwarzen Adler« aushalf, weil Jean durch die Bedienung der »Gesellschaft« vollauf in Anspruch genommen war, kannte die Stimme nicht. Mit einem raschen Entschluß – es sah ja niemand und wer kannte ihn denn? – half ihm der Regierungsrat zu sich auf den Gartentisch, just als der Redner wieder die prächtige Wendung von der beselijenden Macht des Preußenjeistes gebrauchte. »Ah, der! Ja, dat is dä Heer Fabrikbesitzer Friedrich Wilhelm Wolf von J. P. Wolf und Sohn. Ja, wenn Se bei dem ins Jefchäff können kommen ... ein sehr solventes Haus,« denn der Kellner hielt den Regierungsrat für einen der vielen reisenden Kaufleute, die im »Schwarzen Adler« abzusteigen pflegten – »ein äußerst solventes Haus. Und en juter Mann is er auch. Schade, daß ihm so früh de Frau hat sterben müssen! Ach, das war ne jute Frau, sach ich Ihne!« –

Friedrich Wilhelm Wolf kam zum Schluß: »Jott und Preußen, Könich und Heer, Schtaat und Kirche, Kunst und Dichtung, Handel und Wissenschaft – suum cuique – Jedem das Seine!«

Es war kein rauschender Beifall, der dieser Rede folgte, aber einzelne schienen ihr doch mit Entschiedenheit beizustimmen. Die meisten saßen in nachdenklichem oder gedankenlosem Schweigen .... Johannes aber lächelte amüsiert und ein wenig boshaft als er mit dem Bruder anstieß: »Gut gebrüllt, Löwe,« raunte er ihm zu, »prost, Herr Kommerzienrat!« ...

Behutsam halfen Regierungsrat und Kellner einander vom Gartentisch. Dann trennten sie sich und jeder suchte befriedigt das Glück des Schlummers, doch schrieb der Regierungsrat im Bett noch einiges in sein Notizbuch.

Der andere Morgen enttäuschte durch einen Landregen und der Ausflug wurde verschoben. – Friedrich Wilhelm Wolf verspürte ein Unbehagen, für das er schließlich doch dem Wein die Schuld beimaß. Immerhin vermied er in den nächsten Tagen, seinem Bruder Johannes zu begegnen.

Einige Wochen später hielt der Wagen des Landrats aus der nahen Kreisstadt vor der hohen Treppe des Wolfschen Hauses. Im »besten Zimmer« saßen die beiden Herren unter dem Bilde des seligen Maire einander gegenüber und verabredeten die Einzelheiten der Besichtigung der Fabrik, die der Regierungspräsident kennenzulernen wünschte. Als dieser dann einige Tage später selber erschien, vom Landrat im Frack geleitet, von Friedrich Wilhelm im Frack empfangen, konnte er für die technischen Dinge freilich nicht allzuviel Verständnis aufbringen.

Das Bildnis des seligen Maire aber gefiel dem Präsidenten ausnehmend gut, besonders als er hörte, daß es eine frühe Arbeit des kleinen Malers Preyer sei, der aus einem Nachbarstädtchen stamme und jetzt in Düsseldorf lebe. Ja, da müsse er den Herren doch eine Geschichte erzählen, meinte er, eine Geschichte, die den Düsseldorfern viel Vergnügen mache. Dieser Preyer, von dem Schadow ihm übrigens neulich gesagt habe, daß er sowohl zum Bildnis- wie zum Historienmaler gänzlich verdorben sei und nur noch Stilleben male, dieser Preyer habe unlängst einen hochgestellten Herrn besuchen wollen, der sich für eines seiner Bilder interessiert hätte. Der habe gerade andern Besuch gehabt und der Kleine, der ja bei übrigens guten Proportionen tatsächlich nach Gestalt und Antlitz das Aussehen eines Achtjährigen habe, sei vom Mädchen einstweilen der gnädigen Frau zugeführt worden. Diese hübsche und noch ziemlich junge Dame, eine passionierte Kindernärrin, habe, die Situation völlig verkennend, alsbald Gefallen an dem netten Bengel gefunden und ihn kosend auf den Schoß genommen, was der Schelm sich auch ganz harmlos habe gefallen lassen. Der eintretende Herr Gemahl aber sei von diesem tête-á-tête weniger erbaut gewesen und der geplante Bilderhandel wohl infolgedessen nicht zustande gekommen. Seitdem habe er, der Regierungspräsident, immer Mühe, ernst zu bleiben, wenn er dem Kerlchen auf der Straße begegne.

Im weitern Verlauf des Besuches äußerte sich der Regierungspräsident höchst anerkennend über den erst kürzlich erbauten Raum, darin die Arbeiter und Arbeiterinnen, wenn der Weg zu weit oder das Wetter zu schlecht war, ihr Mittagessen verzehren konnten, das ihnen von den Frauen, Kindern oder Geschwistern in blankgeputzten Blechgeschirren zugetragen ward. Daß dieser Raum nicht immer so sauber und so gut gelüftet war, wie heute, und daß es nicht immer Szenen höchst moralischen Familienlebens waren, die in ihm sich abspielten, davon wußte Friedrich Wilhelm Wolf nicht viel und der Präsident gar nichts, der einen Hauch von Wohlwollen und guter englischer Seife darin zurückließ. Aber auch Kesselhaus, Maschinensaal, Schreibstuben und Lagerräume erhielten durch den hohen Besuch eine Weihe, die lange nachwirkte. – Und wieder einige Wochen später stand unter »Lokales« im Wochenblättchen: »Wie wir aus bester Quelle erfahren, hat Seine Majestät der König in Gnaden geruht, unsern allverehrten und beliebten Mitbürger, Herrn Fabrikbesitzer Friedrich Wilhelm Wolf, zum Königlich Preußischen Kommerzienrat zu ernennen. Es ist dies das erstemal, daß unsere mächtig aufstrebende Industriestadt in den Genuß dieses hohen Titels kommt, und erblicken wir hierin einen neuen Beweis landesväterlicher Huld und Gnade. Wir sind so frei, auch unsererseits dem durch die wohlverdiente Königliche Anerkennung ausgezeichneten Herrn unsre ehrerbietigsten Glückwünsche auszusprechen. Nicht ohne tiefe Wehmut geben wir zugleich dem Bedauern Ausdruck, daß es unserm unvergeßlichen seligen Herrn Bürgermeister nicht vergönnt gewesen ist, diesen hohen Ehrentag seines Herrn Sohnes noch zu erleben.«


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