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II. Kosmische Fragen.

»Die Welt besteht aus den Atomen und dem leeren Raum.« In diesem Satz harmoniren die materialistischen Systeme des Alterthums und der Neuzeit, so verschieden auch der Begriff des Atoms sich allmählig gestaltet hat, so verschieden die Theorien sind über das Entstehen des bunten und reichen Weltganzen aus so einfachen Elementen.

Eine der naivsten Aeusserungen des heutigen Materialismus ist Büchner entschlüpft, indem er die Atome der Neuzeit » Entdeckungen der Naturforschung« nennt, während die der Alten »willkürlich speculative Vorstellungen« gewesen sein sollen. In der That ist die Atomistik noch heute, was sie zu Demokrits Zeiten war. Noch heute hat sie ihren metaphysischen Charakter nicht verloren, und schon im Alterthum diente sie zugleich als naturwissenschaftliche Hypothese zur Erklärung der beobachteten Naturvorgänge. Wie der Zusammenhang unsrer Atomistik mit derjenigen der Alten geschichtlich feststeht, so hat sich auch der ganze ungeheure Fortschritt in der gegenwärtigen Ansicht von den Atomen graduell aus der Wechselwirkung von Philosophie und Erfahrung entwickelt. Freilich ist es das Grundprincip der modernen Wissenschaften, das kritische, welches durch sein Zusammentreffen mit der Atomistik diese fruchtbare Entwickelung bewirkt.

Robert Boyle, »der erste Chemiker, dessen Bemühungen nur in dem edlen Triebe, die Natur zu erforschen angestellt sind,« machte seine Bildungsreisen über den Continent noch im zarteren Jünglingsalter, grade um die Zeit, da der wissenschaftliche Kampf zwischen Gassendi und Descartes entbrannte. Als er 1654 sich zu Oxford niederliess, um sein Leben fortan der Wissenschaft zu widmen, war die Atomistik als metaphysische Theorie schon wieder zur Geltung gelangt. Grade die Wissenschaft aber, welcher Boyle sich gewidmet hatte, machte sich am spätesten aus den Fesseln der mittelalterlichen Mystik und der Aristotelischen Auffassung frei. Boyle ist es, welcher die Atome in diejenige Wissenschaft einführte, welche seitdem von dieser Theorie den ausgedehntesten Gebrauch machte; Boyle ist es aber zugleich, welcher schon durch den Titel seines Chemista scepticus (1661) anzeigt, dass er die Bahn der exakten Wissenschaft betreten hat, in welcher die Atome ebensowenig einen Glaubensartikel bilden können, als der Stein der Weisen.

Boyles Atome sind noch fast ganz diejenigen Epikurs, wie Gassendi sie wieder in die Wissenschaft eingeführt hatte. Seine Atome haben noch verschiedene Gestalt, und diese Gestalt ist auf die Festigkeit oder Lockerheit der Verbindungen von Einfluss. Sparsam mit Hypothesen scheint er sich nicht bestimmt darüber geäussert zu haben, wie er sich den Vorgang der Verbindung und Trennung der Atome denkt. In diesem Punkte liegt aber jedenfalls die erste grosse Fortbildung der Atomlehre verborgen. Der Materialismus der Alten führte streng das Princip der sinnlichen Anschaulichkeit durch. Nur Empedokles verband die Atome durch Liebe und Hass. Der reinere Materialismus liess sie durch Haken und rauhe Flächen aneinander haften. Alle Veränderung erfolgte mittelst Uebertragung der Bewegung durch den mechanischen Stoss und durch die Beschleunigung, Verzögerung und Umformung aller Bewegungen der Atome, welche aus diesen einfachen und in der That vollständig anschaulichen Elementen folgen. Die neuere Zeit vermochte mit diesen einfachen Mitteln die Masse der Thatsachen nicht mehr zu bewältigen. Wir haben gesehen, welche Noth schon Lucrez hatte, um den Magnetismus zu erklären. Jetzt hatte man aber nicht nur durch Gilberts Arbeiten sehr ausgedehnte Erkenntnisse über die Attraktions-Erscheinungen magnetischer und elektrischer Körper gewonnen, sondern man hatte grade auch in den Operationen der Alchemisten eine solche Reihe merkwürdiger Naturvorgänge vor Augen, die sich einer direkten mechanischen Erklärung entzogen, dass man mit der sinnlichen Anschauung Epikurs auf diesem Gebiete nicht zurecht zu kommen wusste.

Die Mystik der Alchemisten hat in dieser Beziehung keine Noth gehabt. Der reiche Begriffsvorrath der Scholastik bot ihnen eine qualitas occulta dar, ein verborgnes Princip der Aehnlichkeit oder Verwandtschaft: die Affinität. Natürlich musste sich grade das Gefühl der exakteren Forscher anfänglich gegen die Anwendung dieses mystischen Begriffes sträuben; Boyle namentlich scheint ihn möglichst vermieden zu haben.

Unterdessen trat die grosse Wendung in der ganzen Auffassung der Natur ein, welche Newton durch den Nachweis des Gravitätsgesetzes bewirkte. Mit der allmähligen Annahme seiner Theorie wurde das antike Princip der unmittelbaren Anschaulichkeit und Begreiflichkeit der Naturvorgänge – vielleicht für immer – gebrochen. So sehr sich auch Newton selbst dagegen sträubte, in seiner allgemeinen Gravitation eine Wirkung in die Ferne zu erkennen, so war doch jeder Versuch einer mechanischen Erklärung der grossartigen Erscheinungen des Sternenhimmels fortab unmöglich – wenn man nicht den Begriff der Mechanik selbst reformirte. Das Widersinnige der Wirkung in die Ferne wurde dadurch für die exakten Wissenschaften unschädlich gemacht, dass man es in die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften zurückschob und es dort möglichst unbeachtet ruhen liess. Der zunehmende Relativismus brachte es bald mit sich, dass man es für den Fortschritt der Wissenschaften nicht mehr für erforderlich hielt, einen völlig befriedigenden Anfangspunkt zu haben. Wenn man nur überhaupt einen festen Punkt hatte, von welchem man fortschreiten konnte. Die absolute Grundlage liess man dem Metaphysiker; der Naturforscher hielt sich an die relative. Eine solche bot das Gravitationsgesetz, an dessen transscendente Seite man sich gewöhnte, indem man die empirische allein beachtete. So kommt es, dass es heutzutage wirklich einer besondern Besinnung bedarf, um das Widersinnige in der Annahme zu empfinden, dass die Erde ihre Bewegungsform ändert, wenn ein anderer Himmelskörper seine Lage im Räume wechselt, ohne dass zwischen beiden Körpern ein materielles Band waltet, welches diese Bewegungsveränderung vermittelt.

Der Chemie war nunmehr geholfen. Newton selbst nimmt auch für die kleinsten Theile der Materie anziehende Kräfte an, und erklärt sich nur deshalb gegen die Identität von Chemismus und Gravitation, weil er für die Abhängigkeit der Kraft von der Entfernung dort ein andres Verhältniss vermuthet als hier. Im Anfange des 18. Jahrhunderts war man bereits im sichern Fahrwasser. Buffon hielt chemische Anziehung und Gravitation für identisch. Boerhave, einer der klarsten Köpfe des Jahrhunderts, kehrte zu der φιλία des Empedokles zurück und behauptete ausdrücklich, dass die chemischen Vorgänge nicht durch mechanischen Stoss, sondern durch einen Trieb nach Verbindung – so erklärt er den Ausdruck »amicitia« – hervorgerufen würden. Unter diesen Umständen durfte sich auch die affinitas der Scholastiker wieder hervorwagen. Nur freilich musste die etymologische Bedeutung des Ausdrucks aufgegeben werden. Die »Verwandtschaft« blieb ein blosser Name, denn an die Stelle der auf Gleichartigkeit beruhenden Neigung sah man vielmehr ein Streben zur Vereinigung treten, welches auf Gegensätzen zu beruhen schien.

»Im Anfange des 18. Jahrhunderts,« sagt Kopp, »erhoben sich noch Viele, namentlich die Physiker jener Zeit, gegen diesen Ausdruck, indem sie in dem Gebrauch desselben die Anerkennung einer neuen vis occulta fürchteten. In Frankreich besonders waltete zu dieser Zeit Abneigung gegen den Ausdruck »Affinität« vor, und St. F. Geoffroy, um diese Zeit (1718 und später) eine der bedeutendsten Autoritäten, was chemische Verwandtschaft angeht, vermied den Gebrauch desselben; statt zu sagen: zwei vereinigte Stoffe werden zersetzt, wenn ein dritter dazu kommt, der zu einem der beiden vorigen mehr Verwandtschaft hat, als diese unter sich, drückt er sich aus: wenn er zu einem derselben mehr rapporthat.« So stellt sich ein Wort zur rechten Zeit nicht nur da ein, wo Begriffe fehlen, sondern auch da, wo Begriffe zu viel sind. Thatsächlich steckt in beiden Ausdrücken nichts, als eine Substantivirung des blossen Vorganges. Der blassere Ausdruck weckt weniger störende Nebenvorstellungen, als der gefärbte. Das könnte zur Vermeidung von Irrthümern beitragen, wenn überhaupt Begriffe und Namen der methodischen Wissenschaft gegenüber so gefährlich wären. Die Erfahrung, welche die Geschichte der Wissenschaft mit dem Begriff der Affinität gemacht hat, zeigt, dass die Gefahr nicht so gross ist, wenn die thatsächliche Forschung einen strengen Weg wandelt. Die vis occulta verliert ihren mystischen Zauber und sinkt von selbst herab zum bloss zusammenfassenden Oberbegriff für eine Classe von genau beobachteten und streng begrenzten Erscheinungen.

Noch Bergmann (1775 und später) dachte sich die Atome verschieden an Gestalt und machte die Verschiedenheiten in der Affinität von der verschiednen Form abhängig. Ein neues Stück der Vorstellungsweise der Epikureer fiel, als Dalton den wirksamen Unterschied der Atome in das Gewichtversetzte und alle Atome, ohne übrigens hierüber ein Dogma aufzustellen, als kugelförmig ansah. Das Atomgewicht wurde die Idee, in deren Verfolgung die Wissenschaft namentlich in BerzeliusHänden die wichtigsten bleibenden Fortschritte machte. Bald fanden sich auch thatsächliche Entdeckungen, welche zu der atomistischen Hypothese vortrefflich passten. Dulong und Petit fanden 1819, »dass für die einfachen Körper die specifische Wärme dem Atomgewicht umgekehrt proportional ist;« ein Jahr darauf machte Mitscherlich die Entdeckung des Isomorphismus bekannt. Während jene Entdeckung die Lehre vom Atomgewicht zugleich bestätigte und in einzelnen Punkten verbesserte, schien die Uebereinstimmung zwischen Krystallform und Mischungsform gradezu einen Blick in die Lagerungsverhältnisse der Atome zu eröffnen.

Bedenkt man, dass um dieselbe Zeit in der Physik die Vibrationstheorie ihre Triumphe feierte, weiche ebenfalls auf den Atomismus gebaut ist, so kann es nicht mehr räthselhaft erscheinen, dass die Sucht nach metaphysischen Dogmen bald in der Lehre von den Atomen wieder ihre Befriedigung fand.

Die Geschichte des Atomismus zeigt uns, wie ein ererbter metaphysischer Begriff allmählig nach den Erfordernissen der Erfahrung umgestaltet wird; wie sein metaphysischer Charakter dabei keinen Augenblick verloren geht, wohl aber mehr und mehr in Vergessenheit geräth.

Unterdessen aber wird der Atombegriff theils durch fortschreitende Entdeckungen dermassen ausgebildet, dass seine hypothetische Natur auch dem Blindesten wieder einleuchten muss; theils führt der immer schärfer hervortretende Relativismus der exakten Wissenschaften dazu, ihn auch principiell auf eine blosse Annahme zum Zweck der mathematischen Naturerklärung zurückzuführen: In demselben Augenblick, wo der Atomismus seine höchsten Triumphe feiert, gewahrt man, dass er gar kein Atomismus mehr ist, und dass der Streit zwischen dynamischer und atomistischer Naturforschung sich auf einen Wortstreit zu reduciren beginnt. Es sind aber nicht die Philosophen, welche diese Umwandlung vollzogen haben, sondern die Chemiker, die Physiker und vor Allen die Mathematiker.

Als man entdeckte, dass Substanzen von derselben Zusammensetzung in ganz verschiedner Krystallform erscheinen ( Dimorphismus), als man fand, dass es vollkommen gleich zusammengesetzte Substanzen giebt, welche in allen ihren chemischen und physikalischen Eigenschaften, sogar im specifischen Gewicht der Gase verschieden sind ( Isomerie, Polymerie u. s. w.): da schien es noch eine reine Bestätigung des Atomismus zu sein, dass man nur allerlei Umstellungen, Combinationen und Gruppirungen der Atome annehmen durfte, um alle diese Erscheinungen aufs herrlichste zu erklären. In der Sturm- und Drangperiode der Analyse (etwa 1815-1840) achtete man wenig darauf, dass sich der Schatz der vermeintlichen Einsicht in das innerste Wesen der Materie in einer bedenklichen Weise häufte; man fühlte sich um so sicherer, als man an der elektro-chemischen Theorie zugleich schon ein rationelles Princip für Auflösung und Verbindung aller Körper zu haben glaubte. Die Erschütterung der von Berzelius ausgehenden Grundanschauung durch die Typentheorie brachte auch in Beziehung auf die Atomenlehre eine beträchtliche Ernüchterung mit sich. Mehr und mehr begannen besonnene Forscher sich zu fragen, ob nicht alle jene Atom- und Molecularconstructionen überflüssig seien, ob es nicht besser sei, einfach von Thatsache zu Thatsache fortzuschreiten und sich an dem Gedanken einstweilen genügen zu lassen, dass die wirklichen Erscheinungen der Wandlung des Stoffes jedenfalls wohl auch irgendwie möglichsein müssten.

Eine der durchschlagendsten Entdeckungen der Neuzeit zeigte sogar, dass einfache Substanzen in verschiednen Zuständen verschiedne Eigenschaften darbieten. Der Begriff des Elementes wurde erschüttert. Zum Ozon fand man das Antozon und während der Streit darüber noch fortdauert, ob damit der Sauerstoff in zwei neue Elemente zerlegt sei oder nicht, eröffnet sich die Perspektive in ein ganz neues Zeitalter der Chemie. Kein Wunder, dass grade Männer, welche auf diesen Gebieten mit dem höchsten Erfolg gearbeitet haben, weit davon entfernt sind, die Atomlehre, wie der sanguinische Materialist es liebt, mit der Lehre von der Bewegung der Himmelskörper gleich zu stellen. Schönbein geht so weit, der Chemie die Bezeichnung »Wissenschaft« »in dem Sinne, in welchem wir die Astronomie, Optik u. s. w. als solche bezeichnen« noch nicht beilegen zu wollen.

»Wo die Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein, und sicherlich ist ganz besonders in der Chemie mit Molekülen und ihrer Gruppirung seit Cartesius Zeiten ein arger Missbrauch getrieben worden in dem Wahne, durch derartige Spiele der Einbildungskraft für uns noch durchaus dunkle Erscheinungen erklären und den Verstand täuschen zu können.« (Schönbein, Combe-Varin).

Mit musterhafter Klarheit hat neuerdings Kekulé versucht, die Grenze zwischen Hypothese und Thatsache den Chemikern ins Bewusstsein zurückzurufen. Er zeigt, dass die Proportionszahlen der Mischungsgewichte den Werth der Thatsache haben, und dass man die Buchstaben der chemischen Formeln allerdings als den einfachen Ausdruck dieser Thatsache betrachten kann.

»Legt man den Buchstaben der Formeln aber eine andre Bedeutung unter, betrachtet man sie als den Ausdruck der Atome und der Atomgewichte der Elemente, wie dies jetzt meistens geschieht, so wirft sich die Frage auf: wie gross oder wie schwer (relativ) sind die Atome? Da die Atome weder gemessen noch gewogen werden können, so ist es einleuchtend, dass nur Betrachtung und Speculation zur hypothetischen Annahme bestimmter Atomgewichte führen kann

Dasselbe wird für die Moleküle nachgewiesen. Die neunzehn verschiednen Formeln für die Zusammensetzung der Essigsäure, welche Kekulé auf S. 58 seines Lehrbuchs der organischen Chemie zusammenstellt, können in der That kein besondres Vertrauen in die Reichhaltigkeit der bisherigen Hypothesen erwecken. Dass sie dessen ungeachtet in der Erforschung der Thatsachen treffliche Dienste thun, hat damit wenig zu schaffen, denn wir wissen bereits hinlänglich, dass dies jede Hypothese thut, wenn sie eine einfache Uebersicht der in jeder Periode ermittelten Thatsachen gestattet. Nicht nur als Hypothese kann die Atomistik werthvoll sein, sondern selbst als blosse mathematische Fiktion behufs Aufstellung einer Differential-Gleichung. Doch sehen wir zunächst zu, was die Physiker und Mathematiker aus der Atomistik gemacht haben.

Zunächst warfen sie natürlich den Begriff der absoluten Untheilbarkeit weg, da sie in ihrer Wissenschaft überhaupt nichts Absolutes brauchen können. Es genügt der Physik, wenn sie Atome hat, von deren etwaiger weiterer Theilbarkeit abgesehen wird, Körperchen, welche sich zu diesem aus ihnen gebildeten Weltganzen, soweit unsre Forschung reichen kann, als Atome verhalten, welche relativ Atome sind. Dieser Relativismus des Atombegriffs wurde dadurch nur noch mehr gefördert, dass man sich bald genöthigt sah, um die Licht- und Wärmeerscheinungen zu erklären, neben den eigentlichen Körperatomen noch Aetheratome anzunehmen, welche nach einigen Auffassungen ungleich kleiner sein müssen als die Körperatome, ja, welche vielleicht gar keine Ausdehnung haben.

In der That musste der streng ordnende Sinn der Franzosen zunächst darauf führen, die Ausdehnung überhaupt den Atomen abzusprechen. Seit die Atome und Moleküle nicht mehr, wie bei Gassendi, wie in Descartes Wirbeltheorie durch ihre ausgedehnte Masse direkt aufeinander wirkten, sondern durch rein intellektuelle Kräfte alle Wirkungen ausübten, die ihnen überhaupt zufielen, wurde das Atom selbst, als kleinstes, nach Analogie der sichtbaren Körper vorgestelltes Massentheilchen im Grunde überflüssig. War doch alle Wirkung, sogar die Wirkung auf unsre Sinne, vermittelt durch die unsinnliche, im leeren Raum construirte Kraft. Das kleine Körperchen war eine hohle Ueberlieferung geworden. Man hält es noch fest wegen der Aehnlichkeit mit den zusammengesetzten Körpern, die wir sehen und die wir mit den Händen fassen können. Diese Greifbarkeit schien den Elementen des Sinnlichen zu gebühren, weil sie dem wirklich Sinnlichen zukommt. Bei Lichte besehen wird ja aber selbst das Greifen und Fassen, geschweige denn Sehen und Hören nach der neueren Theorie nicht mehr durch direkte stoffliche Berührung bewirkt, sondern eben durch jene ganz und gar unsinnlichen Kräfte. Unsre Materialisten halten am sinnlichen Stofftheilchen fest, eben weilsie der unsinnlichen Kraft noch ein sinnliches Substrat lassen wollen. Um solche Gemüths-Bedürfnisse konnten sich die französischen Physiker nicht kümmern. Naturwissenschaftliche Gründe für die Ausgedehntheit der Atome schien es nicht mehr zu geben; wozu also den unnützen Begriff weiter schleppen?

Gay-Lussac fasste die Atome nach Analogie der verschwindenden Grösse des Differenzials als unendlich klein im Vergleich zu den Körpern, die sich aus ihm zusammensetzen. Ampèreund Cauchy betrachteten die Atome als im strengsten Sinn ohne alle Ausdehnung. Eine ähnliche Ansicht sprach Seguinaus, und Moigno stimmt diesem bei, und würde nur statt der ausdehnungslosen Körper mit Faraday einfache Kraftcentra vorziehen.

So wären wir denn durch die blosse Fortbildung des Atomismus mitten in die dynamische Naturauffassung gerathen, und zwar nicht durch die spekulative Philosophie, sondern durch die exakten Wissenschaften.

Es hat einen eigenthümlichen Reiz für den stillen Beobachter, zu sehen, wie der geistreiche Naturphilosoph und Physiker, dem wir die obigen Notizen über Ampere, Cauchy, Seguin und Moigno verdanken, sich selbst zur Atomistik stellt. Fechner, der ehemalige Schüler Sendlings, der Verfasser des mystischen und mythischen Zend-Avesta, Fechner, der selbst ein lebendiges Beispiel dafür ist, dass selbst eine schwärmerische Philosophie den Geist wahrer Forschung nicht immer vergiftet, hat grade seine Atomenlehre (Leipzig 1855) dazu benutzt, um der Philosophie einen Absagebrief zu schreiben, gegen welchen selbst Büchners Aeusserungen noch einigermaassen schmeichelhaft scheinen können. Was wir im vorigen Abschnitt über das Verhältniss der Philosophie zur Naturforschung an von Mohls Adresse gerichtet haben, ist hier nicht zu wiederholen; denn in der That ist der Grundfehler bei beiden Männern derselbe: eine völlige Verkennung der Philosophie, welche darin beruht, dass man eine vorübergehende Ausartung mit ihrem wahren Wesen verwechselt. Alle die geistreichen Wendungen Fechners, die zahlreichen, erfinderisch geschaffenen Bilder und Vergleiche, die scharfsinnigen Argumente laufen doch schliesslich nur darauf hinaus, dass Fechner jeden Philosophen hinter der Ofenbank sucht, hinter welcher er selbst gesteckt hat.

Das Merkwürdigste aber ist dies, dass Fechner in seinem ganzen Buche die dynamische Theorie bekämpft, welcher er selbst, genau genommen, huldigt. Das Räthsel, wie dies bei einem so scharfsinnigen Manne möglich sei, löst sich aber ganz einfach dadurch, dass Fechner – wieder den Specialfall mit dem Allgemeinen verwechselnd – bei der dynamischen Ansicht nur an diejenige dynamische Ansicht denkt, welche in der deutschen Naturphilosophie vorherrscht, nämlich an die Lehre von der Continuität des Stoffes, und zwar an die rohesten, mit den Thatsachen nicht einmal versuchsweise in Einklang gebrachten Allgemeinheiten derselben, wie sie auf den Kathedern deutscher Professoren zu hausen pflegen.

Bekanntlich soll Kant grade der Urheber dieses Dynamismus sein. Wir haben uns bei den »metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften« in unserm Kapitel über Kant absichtlich nicht aufgehalten, weil die Hauptfragen des Systems durch den dort entwickelten Dynamismus wenig berührt werden. Es ist nicht nöthig dies hier nachzuholen. Nur darauf sei hingewiesen, dass Kants Ansichten mit dem thatsächlichen Stande der Naturwissenschaften von 1786 vollkommen in Harmonie waren. Wer den grossen Denker aus seinen Schriften kennt, kann keinen Augenblick zweifeln, dass Kant diese Harmonie würde erhalten oder sein System aufgegeben nahen, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, die grossen Entdeckungen unsres Jahrhunderts auf den Gebieten der Chemie, der Licht- und Wärmelehre zu erleben, die ein solcher Geist mit dem freudigsten Interesse bis in alle Einzelheiten verfolgt haben würde. Was die metaphysischen Strudelköpfe statt dessen aus dem Dynamismus gemacht haben, können wir dahin gestellt sein lassen.

Uebrigens ist es keineswegs so leicht, mit Bestimmtheit anzugeben, weshalb grade die Continuitäts-Theorie verlassen werden muss, da auch diese der mannigfachsten Umbildung fähig ist Die ausdehnungslosen Kraftcentra können alle Kunststücke der Atome nachahmen. Sie können vibriren, können verschiedne Lagerungsverhältnisse eingehen, und was nur der Physiker verlangen mag. Daher eben ist es keine Frage der Physik, sondern der Metaphysik, ob man sich mit diesem abstrakten Wesen begnügen oder ob man die Atome lieber knollig haben will. Was dagegen die Continuität der Materie im Raume betrifft, so scheint es mit dieser schlimmer zu stehen.

Der berühmte französische Mathematiker Poisson wurde, wie uns Fechner mittheilt, durch Fresnel zum Atomismus bekehrt. Er war bisher in seinen Arbeiten von der Continuität der Materie ausgegangen; fand aber eine Schwierigkeit darin, von dieser Voraussetzung aus sich die Fortpflanzung der transversalen Lichtschwingungen zu erklären, auf welche doch die Thatsache der Interferenz-Erscheinungen hinleitete. Fresnel machte ihn darauf aufmerksam, dass alle Schwierigkeiten verschwinden, sobald man die Aethertheilchen discret setzt, und von Stund an legte Poisson diese Auffassung seinen ferneren Untersuchungen zu Grunde.

Vom Standpunkte des Physikers aus war die Frage erledigt; denn ihn konnte es nicht kümmern, dass es eine dritte Auffassung gab, welche weder Poisson noch Fresnel gehabt hatten. Es ist nämlich sehr einfach die Annahme übrig, dass zwischen den Aethertheilchen wieder eine Materie verbreitet sei, welche im Vergleich zu diesen nur eine in der Rechnung verschwindende Dichtigkeit hat, welche sich also zum Aether ähnlich verhält, wie dieser zu den Körpern. Es bleibt dann ganz dem Belieben des Metaphysikers überlassen, sich diesen Aether-Aether wieder nach bestimmten Kraftcentren zu gliedern und zwischen diesen wieder eine noch unendlich viel feinere Substanz anzunehmen, et sic in infinitum. Interessant ist, dass auch Büchner gelegentlich den daraus hervorgehenden Begriff einer relativen Leere anwendet In der That dürfte dieser Begriff, den man nun so weit ausspinnen mag, als man Lust hat, den Anforderungen der exakten Wissenschaften sogar am besten entsprechen; denn irgend eine metaphysische Voraussetzung müssen diese doch anwenden, und da können sie am besten eine solche brauchen, welche nach Analogie des Erfahrungsinhaltes gebildet ist. Die Erfahrung giebt uns nur Relationen. Die absolute Kälte ist ebenso in das Reich der Träume verwiesen, wie die in sieben Himmel eingeschlossne Welt. Es scheint fast in der Welt des Grossen und Kleinen eben so wenig Anfang und Ende zu geben, wie im Raum und in der Zeit. Warum sollen nicht die Begriffe des Vollen und Leeren grade so gut bloss relativ sein, als die der Wärme und Kälte, der Schnelligkeit und Langsamkeit? Es würde sich durch diese Annahme, die übrigens in keiner Weise dogmatische Geltung beanspruchen darf – eben weil sie metaphysisch ist – der Streit zwischen Atomen und Kraftcentren sehr gut schlichten lassen.

In der That giebt es noch empirische Gründe, welche den blossen Kraftcentren, für welche sich Fechner ausspricht, Schwierigkeiten bereiten. Redtenbacher, welcher sich um die Anwendung einer gesunden mathematischen Naturphilosophie auf die Lehre von den Molekularbewegungen vorzügliche Verdienste erworben hat, construirt seine Moleküle aus » Dynamiden.« Er versteht darunter körperliche, Schwerkraft ausübende und ausgedehnte Atome, welche von einer Atmosphäre discreter, mit abstossender Kraft versehener Aethertheilchen umgeben sind. Im Verhältniss zu diesen ist also das Körperatom nicht nur ausgedehnt, sondern sogar ausserordentlich gross vorzustellen. Der Grund welcher ihn bestimmt, Cauchys punktuelle Atome zu verwerfen, liegt in der Nothwendigkeit, für die Schwingungen der körperlichen Atome in verschiednen Richtungen verschiedne Elasticität derselben anzunehmen.

»Da wir ein Dynamidensystem mit Elasticitätsachsen voraussetzen, so müssen wir nothwendig die Atome als kleine Körperchen von bestimmter, wenn auch unbekannter Gestalt betrachten, denn nur, wenn die Atome axige Gestalt haben und nicht blosse Punkte oder Kügelchen sind, kann im Gleichgewichtszustand eine ungleiche Elasticität nach verschiednen Richtungen vorhanden sein. Cauchy legt seinen Untersuchungen ein aus Körperpunkten bestehendes Medium zu Grunde, nimmt aber gleichwohl an, dass die Elasticität um jeden Punkt herum nach verschiednen Richtungen verschieden sei. Dies ist ein Widerspruch, ist eine Unmöglichkeit, daher eine schwache Seite von Cauchys Theorie.«

Will man nun aber die unserm Verstände wenig zusagende Annahme vermeiden, dass es Körper gebe, welche im Verhältniss zu andern (den Aethertheilchen) unendlich gross und doch gänzlich untheilbar sind, so bietet sich wieder der einfache Ausweg dar, das Körperatom, welches den Kern der Dynamide bildet, nur als relativ untheilbar anzusehen, nämlich als untheilbar, so weit unsre Erfahrung und unsre Rechnung es fordern. Es mag dann axige Gestalt haben und wieder aus unendlich vielen unendlich viel kleineren Unteratomen von ähnlicher Gestalt zusammengesetzt sein. Diese Annahme kann ohne irgend eine erhebliche Aenderung zu fordern durch alle Rechnungen laufen, welche Redtenbacher angestellt hat. Es ist harmlose Metaphysik, kann weder eine Entdeckung veranlassen, noch eine verhindern. Und wenn man zur Bequemlichkeit für den Physiker dahin übereinkommt, den relativ leeren Raum als absolut leer zu betrachten, den relativ untheilbaren Körper als absolut untheilbar, so bleibt Alles beim Alten. Der Mathematiker namentlich, welcher gewohnt ist, die höheren Potenzen einer unendlich kleinen Grösse aus seiner Rechnung wegzulassen, kann nichts Bedenkliches dabei finden.

Aber das Ding muss doch irgendwo ein Ende haben, sagt der gesunde Menschenverstand. Gut, es ist aber kein andrer Fall, als bei allem Unendlichen. Die Wissenschaft führt uns auf den Begriff des Unendlichen; das natürliche Gefühl sträubt sich dagegen. Worauf dies Sträuben beruht, ist schwer zu sagen. Kant würde es den Einheitsbestrebungen der Vernunft zuschreiben, welche mit dem Verstande in Widerspruch gerathen. Aber dies sind nur Namen für eine unerklärte Thatsache. Der Mensch hat nicht zwei verschiedne Organe, Verstand und Vernunft, die sich verhielten, wie Auge und Ohr. Es ist aber gewiss, dass Urtheil und Schlussfolgerung uns immer von einem Glied zum andern und zuletzt ins Unendliche rühren, während wir ein Bedürfniss des Abschlusses empfinden, welches mit den endlosen Folgerungen in Widerspruch geräth.

Büchner lässt in seiner Schrift über Natur und Geist den philosophischen Wilhelm – der natürlich ein Einfaltspinsel ist – die Idee der Theilbarkeit ins Unendliche vertreten. August aber, der etwas von den Naturwissenschaften versteht, antwortet ihm darauf mit folgendem Orakelspruch:

»Du quälst dich mit Schwierigkeiten, welche mehr speculativer als thatsächlicher Art sind.« (Nämlich in einer Unterhaltung, welche ganz und gar speculativ ist.) »Sind wir ausser Stande, uns in Gedanken an die letzte Stelle hinzuversetzen, an welcher die Materie nicht mehr theilbar wird, so muss sie doch irgendwo ein Ende haben.« Es geht in der That nichts über einen kräftigen Glauben! »Eine unendliche Theilbarkeit annehmen, ist ungereimt; es heisst so viel als nichts annehmen und die Existenz der Materie überhaupt in Zweifel ziehen – eine Existenz, welche zuletzt kein Unbefangener mit Erfolg wird leugnen können.«

Es kann nicht unsre Aufgabe sein, Ampère gegen Büchner zu vertheidigen, zumal da Büchner selbst in »Kraft und Stoff« das Atom für einen blossen Ausdruck erklärt und die Unendlichkeit im Kleinsten zugiebt; vielmehr müssen wir uns die Frage stellen, wie es kommt, dass noch im Lichte der heutigen Physik ein solcher Begriff der Materie, wie Büchners August ihn für nothwendig hält, bestehen kann. Ein Physiker von Fach, auch wenn er ausgedehnte Atome annimmt, wird nicht leicht darauf verfallen, die Existenz dessen, was wir im Leben und in der Wissenschaft Materie nennen, von dem Vorhandensein ausgedehnter kleinster Körperchen abhängig zu machen. Redtenbacher z. B. macht gegen Cauchy nur seine Elasticitätsachsen geltend, nicht aber die Wirklichkeit der Materie. Anderseits dürfen wir uns nicht verhehlen, dass Büchners August, wie es vermuthlich auch im Plane des Verfassers liegt, die Ansichten fast aller der Laien ausspricht, welche sich mit diesen Fragen mehr oder weniger befasst haben. Der Grund dafür dürfte aber darin liegen, dass man sich von der sinnlichen Vorstellung der zusammengesetzten, compakt scheinenden Körper, wie unser Tastgefühl und unser Auge sie uns darbieten, nicht hinlänglich frei machen kann. Der Physiker von Fach, wenigstens der mathematische Physiker, kann in seiner Wissenschaft auch nicht den kleinsten Schritt thun, ohne sich von diesen Vorstellungen frei zu machen. Alles was ihm vorkommt, ist eine Wirkung von Kräften, zu denen der Stoff ein an und für sich ganz leeres Subjekt bildet. Die Kraft aber lässt sich nun einmal nicht in adäquater Weise sinnlich vorstellen; man hilft sich durch Bilder, wie die Linien der Figuren zu Lehrsätzen der Mathematik, ohne je diese Bilder mit dem Begriff der Kraft zu verwechseln. Wie sich diese beständige Gewöhnung an eine abstrakte geistige Auffassung der Kraft für den Fachmann leicht auf den Begriff des Stoffes überträgt, mag uns noch das Beispiel eines Physikers zeigen, dessen Name der deutschen Wissenschaft zur besondern Zierde gereicht.

W.  Weber sagt in einem Briefe an Fechner (Atomenlehre 73) Folgendes: »Es kommt darauf an, in den Ursachen der Bewegung einen solchen constanten Theil auszusondern, dass der Rest zwar veränderlich ist, seine Veränderungen aber bloss von messbaren Raum- und Zeitverhältnissen abhängig gedacht werden können. Auf diesem Wege gelangt man zu einem Begriff von Masse, an welchem die Vorstellung von räumlicher Ausdehnung gar nicht nothwendig haftet. Consequenter Weise wird dann auch die Grösse der Atome in der atomistischen Vorstellungsweise keineswegs nach räumlicher Ausdehnung, sondern nach ihrer Masse bemessen, d. i. nach dem bei jedem Atom constanten Verhältnisse, in welchem bei diesem Atome die Kraft zur Beschleunigung immer steht. Der Begriff von Masse (so wie auch von Atomen) ist hiernach eben so wenig roh und materialistisch, wie der Begriff von Kraft, sondern ist demselben an Feinheit und geistiger Klarheit vollkommen gleich zu setzen.« Das Beiwort »roh« für den gewöhnlichen Massenbegriff darf hier gewiss nicht als allgemeiner Ausdruck der Abneigung angesehen werden, wie man oft von »rohem« oder »crassem« Materialismus sprechen hört, ohne dass damit ein bestimmter Begriff verbunden wird. Es bezeichnet vielmehr ganz treffend die aus dem unmittelbaren Bewusstsein sich ergebende, dem Einfluss wissenschaftlicher Betrachtung noch trotzende Vorstellungsweise.

Wir möchten aber allerdings auch annehmen, dass der ganze Materialismus, so berechtigt er bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts war, bei dem gegenwärtigen Standpunkt der exakten Wissenschaften, ganz abgesehen von der philosophischen Kritik, nicht mehr bestehen kann. Dem auflösenden Einfluss des physikalischen Kraftbegriffes konnte man nur auf zwei Wegen zu entgehen suchen, und beide Wege sind in der That betreten worden. Man konnte versuchen, den Begriff der Kraft durch Unterordnung unter den Stoffbegriff oder aber durch Versinnlichung der Kraft selbst unschädlich zu machen. Den ersteren Weg schlagen Moleschott und Büchner ein, den letzteren Czolbe. Dieser nimmt an, dass z. B. die mathematischen Verhältnisse der Lichtschwingungen nicht nur in unserm Bewusstsein die Einheit der Farbenempfindung hervorrufen, sondern dass sie auch ausserhalb unsres Organismus eine substantielle Einheit bilden, welcher dieselbe Qualität zuzuschreiben ist, die in uns zum Bewusstsein kommt. Diese Auffassung verlässt aber nicht nur den strengen Atomismus, sondern sie führt auch in ihrer Consequenz nothwendig zu der pantheistischen Annahme einer Beseelung des ganzen Weltalls. Was dagegen die Unterordnung der Kraft unter den Stoffbegriff betrifft, so ist dieser Versuch bisher nur in einer so vagen Allgemeinheit gemacht worden, dass sich ein Urtheil darüber überhaupt nicht abgeben lässt.

In Moleschotts Kreislauf des Lebens trägt ein längeres Kapitel die Ueberschrift »Kraft und Stoff«. Das Kapitel enthält eine Polemik gegen den aristotelischen Kraftbegriff, gegen die Teleologie, gegen die Annahme einer übersinnlichen Lebenskraft und andre schöne Dinge; aber keine Silbe über das Verhältniss einer einfachen Attractions- oder Repulsivkraft zwischen zwei Atomen zu den Atomen selbst, die als Träger dieser Kraft gedacht werden. Wir hören, dass die Kraft kein stossender Gott, aber wir hören nicht, wie sie es anfängt, um von einem Stofftheilchen aus durch den leeren Raum hindurch in einem andern eine Bewegung hervorzurufen. Im Grunde erhalten wir nur Mythus für Mythus.

»Eben die Eigenschaft des Stoffes, welche seine Bewegung ermöglicht, nennen wir Kraft. – Grundstoffe zeigen ihre Eigenschaften nur im Verhältniss zu andern. Sind diese nicht in gehöriger Nähe, unter geeigneten Umständen, dann äussern sie weder Abstossung, noch Anziehung. Offenbar fehlt hier die Kraft nicht; allein sie entzieht sich unsern Sinnen, weil die Gelegenheit zur Bewegung fehlt. – Wo sich auch immer Sauerstoff befinden mag, hat er Verwandtschaft zum Kalium

Hier finden wir Moleschott tief in der Scholastik; seine »Verwandtschaft« ist die schönste qualitas occulta, die man verlangen kann. Sie sitzt im Sauerstoff wie ein Mensch mit Händen. Kommt Kalium in die Nähe, so wird es gepackt; kommt keins, so sind doch wenigstens die Hände da und der Wunsch Kalium abzufassen. – Die Verwüstungen des Möglichkeitsbegriffes!

Büchner geht noch weniger als Moleschott auf das Verhältniss von Kraft und Stoff ein, obwohl er sein bekanntestes Werk nach diesen Begriffen betitelt hat. Nur beiläufig sei der Satz hervorgehoben: » Eine Kraft, die sich nicht äussert, kann nicht existiren.« Das ist wenigstens eine gesunde Anschauung, gegenüber jener Verkörperung einer menschlichen Abstraktion bei Moleschott. Das Beste, was Moleschott über Kraft und Stoff vorbringt, ist eine längere Stelle aus der Vorrede Du Bois Reymonds zu seinen Untersuchungen über thierische Elektricität; allein grade den klarsten und wichtigsten Abschnitt hat Moleschott weggelassen.

Bei Gelegenheit einer gründlichen Analyse der unklaren Vorstellungen von einer sogenannten Lebenskraft kommt Du Bois darauf, zu fragen, was wir uns überhaupt unter »Kraft« vorstellen. Er findet, dass es im Grunde weder Kräfte noch Materie giebt, dass vielmehr beides nur von verschiedenen Standpunkten aus aufgenommene Abstraktionen der Dinge sind.

»Die Kraft (insofern sie als Ursache der Bewegung gedacht wird) ist nichts als eine verstecktere Ausgeburt des unwiderstehlichen Hanges zur Personifikation, der uns eingeprägt ist; gleichsam ein rhetorischer Kunstgriff unsres Gehirns, das zur tropischen Wendung greift, weil ihm zum reinen Ausdruck der Klarheit die Vorstellung fehlt. In den Begriffen von Kraft und Materie sehen wir wiederkehren denselben Dualismus, der sich in den Vorstellungen von Gott und der Welt, von Seele und Leib hervordrängt. Es ist, nur verfeinert, dasselbe Bedürfniss, welches einst die Menschen trieb, Busch und Quell, Fels, Luft und Meer mit Geschöpfen ihrer Einbildungskraft zu bevölkern. Was ist gewonnen, wenn man sagt, es sei die gegenseitige Anziehungskraft, wodurch zwei Stofftheilchen sich einander nähern? Nicht der Schatten einer Einsicht in das Wesen des Vorgangs. Aber, seltsam genug, es liegt für das innenwohnende Trachten nach den Ursachen eine Art von Beruhigung in dem unwillkürlich vor unserm innern Auge sich hinzeichnenden Bilde einer Hand, welche die träge Materie leise vor sich herschiebt, oder von unsichtbaren Polypenarmen, womit die Stofftheilchen sich umklammern, sich gegenseitig an sich zu reissen suchen, endlich in einen Knoten sich verstricken.«

So viel Wahres diese Worte enthalten, so ist dabei doch übersehen, dass der Fortschritt der Wissenschaften uns dazu gebracht hat, mehr und mehr Kräfte an die Stelle der Stoffe zu setzen, und dass auch die fortschreitende Genauigkeit der Betrachtung mir den Stoff mehr und mehr in Kräfte auflöst. Die beiden Begriffe stehen daher nicht so einfach als Abstraktionen nebeneinander, sondern der eine wird durch Abstraktion und Forschung in den andern aufgelöst, so jedoch, dass stets noch ein Rest bleibt. Abstrahirt man von der Bewegung eines Meteorsteines, so bleibt unserer Betrachtung der Körper selbst übrig, der sich bewegte. Ich kann ihm seine Form nehmen durch Aufhebung der Cohäsionskraft seiner Theile: dann habe ich noch den Stoff. Ich kann diesen Stoff zerlegen in die Elemente, indem ich Kraft gegen Kraft setze. Schliesslich kann ich mir die elementaren Stoffe in Gedanken in ihre Atome zerlegen, dann sind diese der alleinige Stoff und alles Andre ist Kraft. Löst man nun mit Ampère auch das Atom noch auf in einen Punkt ohne Ausdehnung und die Kräfte, die sich um ihn gruppiren, so müsste der Punkt, »das Nichts« der Stoff sein. Gehe ich in der Abstraktion nicht so weit, so ist mir ein gewisses Ganze noch schlechthin Stoff, was mir sonst als eine Verbindung stofflicher Theile durch zahllose Kräfte erscheint. Mit einem Worte: der unbegriffene oder unbegreifliche Rest unsrer Analyse ist stets der Stoff, wir mögen nun so weit vorschreiten, wie wir wollen. Dasjenige, was wir vom Wesen eines Körpers begriffen haben, nennen wir Eigenschaften des Stoffes, und die Eigenschaften führen wir zurück auf »Kräfte«. Daraus ergiebt sich, dass der Stoff allemal dasjenige ist, was wir nicht weiter in Kräfte auflösen können oder wollen. Unser »Hang zur Personifikation« oder wenn man mit Kant reden will, was auf dasselbe hinauskommt, die Kategorie der Substanz nöthigt uns stets den einen dieser Begriffe als Subjekt, den andern als Prädikat aufzufassen. Indem wir das Ding Schritt für Schritt auflösen, bleibt uns immer der noch nicht aufgelöste Rest, der Stoff, der wahre Repräsentant des Dinges. Ihm schreiben wir daher die entdeckten Eigenschaften zu. So enthüllt sich die grosse Wahrheit »kein Stoff ohne Kraft, keine Kraft ohne Stoff« als eine blosse Folge des Satzes »kein Subjekt ohne Prädikat, kein Prädikat ohne Subjekt,« »keine Substanz ohne Accidens, kein Accidens ohne Substanz;« mit andern Worten: wir können nicht anders sehen, als unser Auge zulässt, nicht anders reden, als uns der Schnabel gewachsen ist; nicht anders auffassen, als die Stammbegriffe unsres Verstandes bedingen.

Obwohl sonach die eigentliche Personifikation im Stoffbegriff liegt, so wird doch eben dadurch die Kraft beständig mit personificirt, dass man sie sich als einen Ausfluss des Stoffes, gleichsam als ein Werkzeug desselben denkt. Gewiss stellt sich Niemand bei einer physikalischen Untersuchung die Kraft ernsthaft als eine in der Luft schwebende Hand vor; eher dürften die Polypenarme passen, mit denen ein Stofftheilchen das andre umklammert. Das, was am Kraftbegriff anthropomorph ist, gehört im Grunde noch dem Stoffbegriff an, auf den man, wie auf jedes Subjekt, einen Theil seines Ichs überträgt. »Die Existenz der Kräfte,« sagt Redtenbacher, »erkennen wir an den mannigfaltigen Wirkungen, welche sie hervorbringen, und insbesondere durch das Gefühl und Bewusstsein von unseren eignen Kräften.« Durch das letztere geben wir der bloss mathematischen Erkenntniss doch nur die Färbung des Gefühls und gerathen dadurch zugleich in Gefahr, aus der Kraft etwas zu machen, was sie nicht ist. Grade jene Annahme »übersinnlicher Kräfte«, welche die Materialisten eigentlich bekämpfen wollen, kommt immer darauf hinaus, dass man neben den Stoffen, die aufeinander wirken, sich für die Kraft noch eine unsichtbare Person hinzudenkt, also einen falschen Faktor in Rechnung bringt. Das ist aber nie Folge eines zu abstrakten, sondern vielmehr eines zu sinnlichen Denkens. Das Uebersinnliche des Mathematikers ist genau das Gegentheil von dem Uebersinnlichen des Naturmenschen. Wo der letztere übersinnliche Kräfte anbringt, da ist ein Gott, ein Gespenst oder sonst ein persönlich, also in Wahrheit möglichst sinnlich gedachtes Wesen dahinter. Der personificirte Stoff ist dem Naturmenschen schon viel zu abstrakt, deshalb malt er sich in der Phantasie noch eine »übersinnliche« Person daneben. Der Mathematiker mag sich auch, bevor er seine Gleichung aufgestellt hat, die Kräfte ziemlich nach Art von Menschenkräften vorstellen, aber er wird deshalb nie in Gefahr kommen, einen falschen Faktor in Rechnung zu bringen. Steht aber erst die Gleichung da, so hört auch jede sinnliche Vorstellung auf irgend eine Rolle zu spielen. Die Kraft ist nicht mehr die Ursache der Bewegung und der Stoff nicht mehr die Ursache der Kraft; es giebt dann nur noch einen bewegten Körper und die Kraft ist eine Funktion der Bewegung.

Sonach lässt sich in diese Begriffe doch wenigstens Ordnung und Uebersicht bringen, wenn auch keine vollständige Erklärung dessen, was Kraft und Stoff sei. Genug, wenn wir nachweisen können, dass unsere Kategorieen eine Rolle dabei spielen. Es muss Niemand seine eigne Netzhaut sehen wollen!

So ist es denn auch begreiflich, dass Du Bois nicht über den Gegensatz von Kraft und Stoff hinaus kommt, und wir wollen deshalb die von Moleschott ausgelassene Stelle noch hinsetzen als ein Zeugniss dessen, wie vortheilhaft der berühmte Forscher sich von der dogmatischen Zuversicht der Materialisten unterscheidet.

»Fragt man, was denn übrig bleibe, wenn weder Kräfte noch Materie Wirklichkeit besitzen, so antworten diejenigen, die sich mit mir auf diesen Standpunkt stellen, folgendermassen. Es ist dem menschlichen Geiste nun einmal nicht beschieden, in diesen Dingen hinauszukommen über einen letzten Widerspruch. Wir ziehen daher vor, statt uns zu drehen im Kreise fruchtloser Spekulationen oder mit dem Schwerte der Selbsttäuschung den Knoten zu zerhauen, uns zu halten an die Anschauung der Dinge, wie sie sind, uns genügen zu lassen, um mit dem Dichter zu reden, an dem »Wunder dessen, was da ist.« Denn wir können uns nicht dazu verstehen, weil uns auf dem einen Wege eine richtige Deutung versagt ist, die Augen zu schliessen über die Mängel einer andern, aus dem einzigen Grunde, dass keine dritte möglich scheint; und wir besitzen Entsagung genug, um uns zu finden in die Vorstellung, dass zuletzt aller Wissenschaft doch nur das Ziel gesteckt sein möchte, nicht das Wesen der Dinge zu begreifen, sondern begreiflich zu machen, dass es nicht begreiflich sei. So hat sichs schliesslich als Aufgabe der Mathematik herausgestellt, nicht den Kreis zu quadriren, sondern zu zeigen, dass er nicht zu quadriren sei; der Mechanik, nicht ein perpetuum mobile herzustellen, sondern die Fruchtlosigkeit dieser Bemühung darzuthun.« Wir fügen hinzu: »der Philosophie, nicht metaphysische Erkenntnisse zu sammeln, sondern zu zeigen, dass wir über den Kreis der Erfahrung nicht hinaus können.«

Bevor wir nun zu den specielleren Fragen von der Entstehung der Welt und der Organismen übergehen, müssen wir noch einen Punkt der metaphysischen Atomenlehre hervorheben, welcher für die Beurtheilung des Materialismus von Wichtigkeit ist. Büchners August hat das, was wir brauchen, am schärfsten ausgesprochen. »Nicht weil sie Widersprüche in ihr entdeckt hat, widersetzt sich die spekulative Philosophie der Atomistik, sondern weil sie das Bewusstsein hat, dass mit dieser Lehre ihr bisheriger Lebensnerv zerschnitten wird. Die spekulative Philosophie ist die Erklärung des Theiles aus dem Ganzen, die Atomistik hingegen die Erklärung des Ganzen aus den Theilen

Der hier bezeichnete Gegensatz ist allerdings von durchgreifender Wichtigkeit, obwohl wir nicht glauben, dass Trendelenburg sich vor der Vernichtung sehr fürchten wird, welche hier seinem Lieblingsgedanken angedroht wird. Die antike Atomistik stand allerdings in einem so schroffen Gegensatz gegen die aristotelische Weltanschauung, dass sie diese möchte überwunden haben, wenn sie die Naturwissenschaften entschieden auf ihrer Seite gehabt hätte. Heutzutage ist letzteres der Fall; allein der Gegensatz ist nicht mehr der alte. Eben wegen der Rolle, welche gegenwärtig Kräfte und Gesetze spielen, statt des einfachen Stosses der bewegten Atome Demokrits, kann jetzt auch der Atomistiker eher vom Ganzen ausgehen. Ein Beispiel giebt uns Fechner, indem er ausführt, dass die Kraft für den Physiker nichts ist, als ein Hülfsausdruck zur Darstellung der Gesetze.

»Man sagt, es muss doch ein Grund sein, dass sich Sonne und Erde nach einander hin bewegen. Dieser Grund ist eben nichts als das Gesetz ... Anstatt, dass also die physische Kraft in den Körpern besonders sitze und von dem einen auf den andern hinüberwirke, statt dass sie an Orten wirke, wo sie nicht ist, statt dass sie in einem Körper latent sein könne, um erst bei Zutritt eines andern Körpers wirksam zu werden, ... kommt Alles, was man von ihr aussagen mag, faktisch wie klar begrifflich auf ein allgegenwärtiges Gesetz und dessen Befolgung zurück ... Sitzt die Kraft irgendwo, so sitzt sie nur im Gesetze ... Wie ein Thurm steht, wie ein Weltkörper geht, ist seine Sache nur, sofern es des allgemeinen Gesetzes Sache ist; alle Thürme stehen, alle Weltkörper gehen mit Eins unter seiner Hut, und die Kräfte, durch die sie stehen, durch die sie gehen, bedeuten und bezeugen eben nichts als die Macht des Gesetzes über ihnen allen, in ihnen allen, und ihr Unterthansein unter diese Macht.«

Zu der Lehre von den Aequivalenten und zu der Vibrationstheorie tritt als dritte grosse Errungenschaft unsres Jahrhunderts das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, welches für die Fragen, die uns hier bewegen – ja vielleicht für die gesammte Naturauffassung in jedem beliebigen Sinne – weitaus die grösste Bedeutung hat.

Warum ist das Gesetz von der Erhaltung der Kraft so ungleich wichtiger, als das Gesetz von der Erhaltung der Materie, welches schon Demokrit als Axiom hinstellte, und welches als »Unsterblichkeit des Stoffs« bei unsern heutigen Materialisten eine so grosse Rolle spielt?

Die Sache ist die, dass in unsren gegenwärtigen Naturwissenschaften überall die Materie das Unbekannte, die Kraft das Bekannte ist. Will man statt Kraft lieber »Eigenschaft der Materie« sagen, so möge man sich vor einem logischen Cirkel hüten! Ein »Ding« wird uns durch seine Eigenschaften bekannt; ein Subjekt wird durch seine Prädikate bestimmt. Das »Ding« ist aber in der That nur der ersehnte Ruhepunkt für unser Denken. Wir wissen nichts, als die Eigenschaften und ihr Zusammentreffen in einem Unbekannten, dessen Annahme vielleicht eine Dichtung unsres Gemüthes ist, aber, wie es scheint, eine nothwendige, durch unsre Organisation gebotene. Sonach kann auch der Satz von der Beharrlichkeit der Materie streng genommen uns über den blossen Stoff nichts lehren, sondern – nur über eine Eigenschaft, die in der mathematischen Physik als »Kraft« erscheint. Diese Eigenschaft, die einzige, welche wir gewöhnlich mit dem Begriff des Stoffes identificiren, und welche doch wissenschaftlich nur als Kraft gefasst werden kann, ist die Schwere.

Dubois' berühmtes »Eisentheilchen«, welches zuverlässig dasselbe »Ding« ist, »gleichviel ob es im Meteorstein den Weltkreis durchzieht, im Dampfwagenrade auf den Schienen dahinschmettert, oder in der Blutzelle durch die Schläfe eines Dichters rinnt«, ist eben nur deshalb in all diesen Fällen »dasselbe Ding«, weil wir von der Besonderheit seiner Lage zu andern Theilchen und der daraus folgenden Wechselwirkungen absehen und dagegen andre Erscheinungen, die wir doch nur als Kräfte des Eisentheilchens kennen gelernt haben, als constant betrachten, weil wir wissen, dass wir sie nach bestimmten Gesetzen immer wieder hervorrufen können. Man löse uns erst das Räthsel des Parallelogramms der Kräfte, wenn wir an das beharrliche Ding glauben sollen. Oder ist eine Kraft, welche mit der Intensität x in der Richtung a–b wirkt, auch zuverlässig dasselbe Ding, wenn ihre Wirkung sich mit einer andern Kraft zu einer Resultirenden von der Intensität y und der Richtung a–d verschmolzen hat? Ja wohl, die ursprüngliche Kraft ist noch in der Resultirenden erhalten, und sie erhält sich fort und fort, wenn im ewigen Wirbel mechanischer Wechselwirkung die ursprüngliche Intensität x und die Richtung a–b auch nie wieder zum Vorschein kommen. Aus der Resultirenden kann ich die ursprüngliche Kraft gleichsam wieder herausnehmen, wenn ich die zweite componirende Kraft durch eine gleich grosse von entgegengesetzter Richtung aufhebe. Hier weiss ich also ganz genau, was ich unter Erhaltung der Kraft verstehen darf, und was nicht. Ich weiss, und ich muss wissen, dass der Begriff der Erhaltung nur eine bequeme Vorstellungsweise ist. Es erhält sich Alles und es erhält sich Nichts, je nachdem ich die Vorgänge betrachte. Das Thatsächliche liegt einzig und allein in den Aequivalenten der Kraft, welche ich durch Rechnung und Beobachtung erhalte. Die Aequivalente sind, wie wir gesehen haben, auch das einzig Thatsächliche in der Chemie; sie werden ausgedrückt, gefunden, berechnet durch Gewichte, d. h. durch Kräfte.

Die »Unsterblichkeit des Stoffs« ist sonach nur ein Specialfall der Erhaltung der Kraft.

Unsre neueren Materialisten befassen sich nicht gern mit dem Gesetz der Erhaltung der Kraft.

Es kommt von einer Seite her, auf welche sie ihre Aufmerksamkeit wenig gerichtet haben. Obwohl das deutsche Publikum beim Ausbruch des materialistischen Streites schon seit einer Reihe von Jahren mit dieser bedeutungsvollen Theorie bekannt geworden war, findet man sie in den wichtigsten Streitschriften kaum mit einer Silbe erwähnt. Der Umstand, dass Büchner späterhin das Gesetz der Erhaltung der Kraft mit Wärme aufgriff und ihm in der fünften Auflage der Schrift über Kraft und Stoff ein besonderes Kapitel widmete, legt nur ein neues Zeugniss ab für die gährende Vielseitigkeit dieses Schriftstellers; allein man wird vergeblich auch bei ihm völlige Klarheit suchen über die Tragweite dieses Gesetzes und über sein Verhältniss zur Lehre von der Unsterblichkeit des Stoffes. Den dogmatischen Materialisten, die übrigens in unserer Zeit überall und nirgends sind, wird durch die Lehre von der Erhaltung der Kraft der Boden unter den Füssen weggezogen.

Das Wahre des Materialismus – die Ausschliessung des Wunderbaren und Willkürlichen aus der Natur der Dinge – wird durch dies Gesetz in einer höheren und allgemeineren Weise bewiesen, als sie es von ihrem Standpunkte aus vermögen; das Unwahre – die Erhebung des Stoffs zum Princip alles Seienden – wird durch dasselbe vollständig und, wie es scheinen will, definitiv beseitigt.

Es ist daher nicht zu verwundern, obwohl auch nicht vollständig zu billigen, wenn einer der vorzüglichsten Bearbeiter der Lehre von der Erhaltung der Kraft wieder fast auf den aristotelischen Begriff von der Materie zurückkehrt. Helmholtz sagt in seiner Abhandlung (1847) über die Erhaltung der Kraft wörtlich Folgendes:

»Die Wissenschaft betrachtet die Gegenstände der Aussenwelt nach zweierlei Abstraktionen: einmal ihrem blossen Dasein nach, abgesehen von ihren Wirkungen auf andre Gegenstände oder unsre Sinnesorgane; als solche bezeichnet sie dieselben als Materie. Das Dasein der Materie an sich ist uns also ein ruhiges, wirkungsloses; wir unterscheiden an ihr die räumliche Vertheilung und die Quantität (Masse), welche als ewig unveränderlich gesetzt wird. Qualitative Unterschiede dürfen wir der Materie an sich nicht zuschreiben, denn wenn wir von verschiedenartigen Materien sprechen, so setzen wir ihre Verschiedenheit immer nur in die Verschiedenheit ihrer Wirkungen, d. h. in ihre Kräfte. Die Materie an sich kann deshalb auch keine andre Veränderung eingehen, als eine räumliche, d. h. Bewegung. Die Gegenstände der Natur sind aber nicht wirkungslos, ja wir kommen überhaupt zu ihrer Kenntniss nur durch ihre Wirkungen, welche von ihnen aus auf unsre Sinnesorgane erfolgen, indem wir aus diesen Wirkungen auf ein Wirkendes schliessen. Wenn wir also den Begriff der Materie in der Wirklichkeit anwenden wollen, so dürfen wir dies nur, indem wir durch eine zweite Abstraktion« (richtiger durch eine nothwendige Dichtung, eine mit psychischem Zwang eintretende Personifikation) »demselben wiederum hinzufügen, wovon wir vorher abstrahiren wollten, nämlich das Vermögen Wirkungen auszuüben, d. h. indem wir derselben Kräfte zuertheilen. Es ist einleuchtend, dass die Begriffe von Materie und Kraft in der Anwendung auf die Natur nie getrennt werden dürfen. Eine reine Materie wäre für die übrige Natur gleichgültig, weil sie nie eine Veränderung in dieser oder in unsern Sinnesorganen bedingen könnte; eine reine Kraft wäre etwas, was dasein sollte und doch wieder nicht dasein, weil wir das Daseiende Materie nennen. Ebenso fehlerhaft ist es, die Materie für etwas Wirkliches, die Kraft für einen blossen Begriff erklären zu wollen, dem nichts Wirkliches entspräche; beides sind vielmehr Abstraktionen von dem Wirklichen, in ganz gleicher Art gebildet; wir können ja die Materie eben nur durch ihre Kräfte, wie an sich selbst, wahrnehmen.«

Ein trefflicher Philosoph – ob zwar Professor – hat in meinem Exemplar dieser Abhandlung zu den Worten »weil wir das Daseiende Materie nennen« ganz richtig an den Rand geschrieben » vielmehr Substanz«. In der That ist der Grund, warum wir keine reine Kraft annehmen können, nur in der psychischen Nothwendigkeit zu suchen, welche uns unsre Beobachtungen unter der Kategorie der Substanz erscheinen lässt. Wir nehmen nur Kräfte wahr, aber wir verlangen eine beharrliche Trägerin dieser wechselnden Erscheinungen, eine Substanz. Die Materialisten nehmen in naiver Weise die unbekannte Materie als einzige Substanz; Helmholtz dagegen ist sich wohl bewusst, dass es sich hier nur um eine Annahme handelt, welche durch die Natur unsres Denkens gefordert wird, ohne für das wahrhaft Wirkliche Geltung zu haben. Es macht daher wenig Unterschied, dass er in dieser Annahme eben jene Materie an die Stelle der Substanz bringt, welche er doch vorher als qualitätlos annimmt; der Standpunkt der Betrachtung ist im Wesentlichen der Kantische. Was aber die passive und wirkungslose Natur der Materie betrifft, insofern wir von den Kräften abstrahiren, so wäre diesem Rückfall in die aristotelische Definition durch die Annahme eines relativen Begriffs der Materie vorzubeugen. Dazu gehört denn auch ein relativer Kraftbegriff, und wir dürfen uns wohl erlauben, als Abschluss dieser Untersuchungen hier ein Kleeblatt zusammengehöriger Definitionen vorzuschlagen.

Ding nennen wir eine zusammenhängende Gruppe von Erscheinungen, die wir unter Abstraktion von weiteren Zusammenhängen und inneren Veränderungen einheitlich auffassen.

Kräfte nennen wir diejenigen Eigenschaften des Dinges, welche wir durch bestimmte Wirkungen auf andre Dinge erkannt haben.

Stoff nennen wir dasjenige an einem Ding, was wir nicht weiter in Kräfte auflösen können oder wollen, und was wir als den Grund der erkannten Kräfte betrachten.

Eine der wichtigsten Fragen des antiken Materialismus war die der natürlichen Kosmogonie. Die viel bespöttelte Lehre von der endlosen parallelen Bewegung der Atome durch den endlosen Raum hin, von den allmähligen Verschlingungen und Verbindungen der Atome zu festen und flüssigen, lebenden und leblosen Körpern, hatte bei aller Sonderbarkeit doch eine grossartige Aufgabe zu erfüllen. Ohne Zweifel haben auch diese Vorstellungen mächtig auf die Neuzeit eingewirkt, doch ist der Zusammenhang unsrer natürlichen Kosmogonie mit derjenigen Epikurs nicht so klar, wie die Geschichte der Atomistik. Vielmehr ist es gerade der Punkt, welcher die antiken Vorstellungen der ersten entscheidenden Umbildung unterwirft, aus welchem sich folgerichtig diejenige Vorstellung von der Entstehung des Weltganzen entwickelte, welche trotz ihrer hypothetischen Natur noch jetzt die grösste Wichtigkeit hat. Hören wir Helmholtz darüber!

» Kant war es, der, sehr interessirt für die physische Beschreibung der Erde und des Weltgebäudes, sich dem mühsamen Studium der Werke Newtons unterzogen hatte, und als Zeugniss dafür, wie tief er in dessen Grundidee eingedrungen war, den genialen Gedanken fasste, dass dieselbe Anziehungskraft aller wägbaren Materie, welche jetzt den Lauf der Planeten unterhält, auch einst im Stande gewesen sein müsste, das Planetensystem aus locker im Weltraum verstreuter Materie zu bilden. Später fand unabhängig von ihm auch Laplace, der grosse Verfasser der mécanique céleste, denselben Gedanken und bürgerte ihn bei den Astronomen ein.«

Die Theorie der allmähligen Verdichtung gewährt den Vortheil, dass sie eine Rechnung erlaubt, welche durch die Auffindung des mechanischen Aequivalentes der Wärme einen hohen Grad theoretischer Vollkommenheit erlangt hat. Man hat berechnet, dass sich bei dem Uebergang von unendlich geringer Dichtigkeit bis zu derjenigen unsrer gegenwärtigen Himmelskörper allein aus der mechanischen Kraft der Attraktion der Stofftheilchen so viel Wärme ergeben musste, als wenn die ganze Masse des Planetensystems 3500 mal in reiner Kohle dargestellt und diese Masse dann verbrannt würde. Man hat gefolgert, dass der grösste Theil dieser Wärme sich bereits in den Weltraum verlieren musste, bevor die gegenwärtige Gestalt unsres Planetensystems entstehen konnte. Man hat gefunden, dass von jenem ungeheuren mechanischen Kraftvorrath der ursprünglichen Attraktion nur noch etwa der 454ste Theil in den Bewegungen der Himmelskörper als mechanische Kraft erhalten ist. Man hat berechnet, dass ein Stoss, welcher unsre Erde plötzlich in ihrer Bahn um die Sonne hemmte, so viel Wärme ergeben würde, als die Verbrennung von 14 Erden aus reiner Kohle, und dass bei dieser Hitze die Masse der Erde ganz geschmolzen und mindestens zum grössten Theil verdampft werden würde. Mit Recht betont Helmholtz, dessen Vortrag über die Wechselwirkung der Naturkräfte wir diese Notizen entnehmen, dass in diesen Annahmen nichts hypothetisch ist, ausser der Annahme von Kant und Laplace, dass die Massen unsres Planetensystems ursprünglich in Form eines unendlich feinen Nebels im Raum vertheilt waren. Alles Uebrige ergiebt die Rechnung.

Während so Kants natürliche Kosmogonie, auf welche auch unsre Materialisten mit Ausnahme von Czolbe viel Werth legen, durch das Gesetz der Erhaltung der Kraft eine theoretische Stütze erhalten hat, sind dagegen die empirischen Anhaltspunkte, welche man ehemals für sie anzuführen pflegte, beträchtlich zusammengeschwunden. Zwei Umstände kommen dabei vorzüglich in Betracht: die Auflösung der Nebelflecken durch die verbesserten Teleskope und die Reform der Geologie durch Bischoff und Lyell. Im vorigen Jahrhundert konnte man noch glauben, in den fernen Nebelflecken das Bild werdender Welten vor sich zu haben, und in der Geologie herrschte bis nahe an die Gegenwart heran eine Anschauung vor, welche in den Spuren grossartiger Erdrevolutionen gleichsam noch das Bild der Stürme vor sich zu haben glaubte, die der allmähligen Consolidation unsrer Erdrinde vorangingen. Seitdem aber ein Nebelfleck nach dem andern sich in discrete Sternhaufen löst, seit die grössten Veränderungen an der Erdoberfläche mit steigender Sicherheit auf die leise und stetige Wirkung der bekannten tellurischen und meteorischen Kräfte zurückgeführt werden – seitdem sind die empirischen Anhaltspunkte für jene Theorie fast ganz geschwunden, und nur ihre erhebende Grossartigkeit, ihre reine Anschaulichkeit und die Befriedigung, welche sie dem rechnenden Denker gewährt, bleiben die Grundlagen, auf denen sie vermuthlich noch lange Zeit hindurch ruhen wird. Damit aber würde sie aus dem Bereich der Physik in die Grenzen einer edlen und massvollen Naturphilosophie hinübertreten.

Hier dürfte denn auch die Bemerkung an der Stelle sein, dass es unzulässig ist, eine naturphilosophische Anschauung, wenn sie auch noch so viel für sich hat, zu dem Rang einer physikalischen Theorie zu erheben, oder gar ihre nothwendigen Annahmen als Thatsachen zu behandeln, aus dem angeblichen Grunde, dass eine andre Weise, sich die Sache zu denken, unmöglich sei. Die methodische Verwerflichkeit eines solchen Argumentes beruht freilich nicht darauf, dass man verpflichtet wäre, in Gebieten, die so weit über die Erfahrung hinausliegen, auch solche Annahmen mit in Betracht zu ziehen, welche den Anforderungen unsres Verstandes widersprechen. Das »Wunderbare« hat ein für allemal nicht nur in der strengeren Wissenschaft keinen Raum, sondern auch nirgend, wo überhaupt eine wissenschaftliche Betrachtungsweise stattfindet. Die Forderung der Begreiflichkeit der Dinge ist für das ganze Gebiet unsrer erkennenden Thätigkeit und selbst für jede bloss gedachte, bloss als möglich angenommene Erkenntniss gleich unbedingt. Ganz anders steht aber die Frage, wenn einer angeblich unentbehrlichen Vorstellungsweise andre ebenfalls denkbare Annahmen gegenübergestellt werden können; und der Umstand, dass wir die Möglichkeit einer solchen Gegenüberstellung häufig gar nicht zu beurtheilen wissen, macht die apagogischen Schlüsse aus der blossen Denkbarkeit wo es sich nicht um Verstösse gegen die formale Logik handelt, unanwendbar.

Ueber den methodischen Werth der Möglichkeiten herrschen vielfach ganz unklare Vorstellungen. Weil so häufig mit Möglichkeiten ein phantastischer Missbrauch getrieben wird, hasst der nüchterne Forscher meist schon das blosse Wort und den ganzen Begriff der Möglichkeit. Und da es den empirischen Wissenschaften so sehr zum Nachtheil gereicht, wenn man sich – nach der Methode Epikurs – damit begnügt, eine bloss denkbare Erklärungsweise der Naturvorgänge zu finden, statt auf die einzig richtige loszugehen und diese durch das Experiment zu beweisen, so nimmt man gern einen natürlichen Gegensatz an zwischen der unfruchtbaren Neigung der Philosophie zur Annahme von Möglichkeiten und der auf die Sache selbst gerichteten Thätigkeit der exakten Wissenschaften. Dabei schleicht sich aber oft ein verhängnissvoller Fehler unter, indem man gar zu leicht geneigt ist, einer Vorstellungsweise, an die man sich einmal gewöhnt hat, einen höheren Rang anzuweisen, als jedem neu auftauchenden Gedanken, wenn auch der logische Werth beider derselbe ist. Wo immer eine blosse Möglichkeit zum Dogma erhoben wird, da ist es methodisch vollkommen richtig, auf die coordinirten Möglichkeiten hinzuweisen, eben um zu verhüten, dass eine Ansicht, welcher nur eine eingeschränkte Wahrscheinlichkeit zukommt, durch das Argument der Kurzsichtigkeit: »man kann es sich nicht anders denken« zum anerkannten Lehrsatz erhoben werde.

Zu einer zweckmässigen Erweiterung des Gesichtskreises für die kosmogonischen Fragen ist aber ein andrer Gesichtspunkt noch ungleich wichtiger. Es ist die Frage nach der logischen Bedeutung der Annahme sehr grosser Zeiträume in den Erklärungsversuchen. Hier ist ein Punkt, dessen aufmerksame Betrachtung auch in andrer Hinsicht das höchste Interesse erregt. Wir haben bereits im vorigen Abschnitte gesehen, wie leicht auch geübte Denker in eine ungerechtfertigte Scheu vor grossen Zahlen verfallen. Das methodische Princip der Sparsamkeit in solchen Annahmen erweist sich für eine unbefangene logische Prüfung so offenbar als das Gegentheil des Richtigen, dass man sich, wenn man die Sache erst wirklich verstanden hat, mit Verwunderung fragt, wie man überhaupt zu einem so unsinnigen Princip habe kommen können. Die Antwort ist aber klar genug; mag sich der Stolz des aufgeklärten Forschers auch noch so sehr dagegen sträuben. Es sind die sechstausend Jahre der Bibel; es sind überhaupt die beschränkten Vorstellungen aus unsrer eignen Kindheit und aus der Kindheit der Menschheit, von denen wir uns in unwillkürlicher Scheu nicht gern weiter entfernen möchten, als irgend nöthig ist. Und doch ist es vom Standpunkt des Glaubens, der übrigens bei den Meisten dabei nicht so sehr in Frage kommt, wie die Gewohnheit, ganz gleichgültig, ob von dem Maasse, welches er feststellt, um Tausende oder um Billionen abgewichen wird, da jede entschiedene Abweichung in völlig gleicher Weise das Princip umwirft. Für die Wissenschaft anderseits sind jene überlieferten Zahlen ohne irgend eine Bedeutung. Da nun ferner durchaus kein Grund vorhanden ist, der uns hinsichtlich der Dauer der Welt oder der Erde a priori bestimmen könnte, eher diese Zahl anzunehmen als jene, so wird die wahrscheinlichste Zahl, so lange das Gegentheil nicht bewiesen wird, immer eine unendlich grosse sein. Denn nehme man irgend ein sicheres Minimum an, welches die Zahl m bezeichnen soll, so wird jede beliebige grössere Zahl als m a priori gleich wahrscheinlich sein. Der Durchschnitt dieser unendlichen Reihe, (m + ∞)/2, ist immer eine unendliche Zahl. Man wird daher, der üblichen Weise schnurstracks entgegen, bei allen Fragen dieser Art in dubio stets sehr grosse Zeiträume annehmen und dann dahin trachten müssen, diese durch wissenschaftliche Argumente zu beschränken. Wo die Natur des Problems uns, wie bei manchen Fragen der Geologie, nur gestattet, das Minimum von Zeit annähernd festzustellen, welches verfliessen musste, um gewisse Gebilde entstehen zu lassen, da wird man sich erinnern müssen, dass dies Minimum durchaus nicht mit einiger Wahrscheinlichkeit an die Stelle des Wirklichen gesetzt werden darf, sondern dass es eben nur die eine Grenze einer Reihe von Möglichkeiten bedeutet, deren andre Grenze völlig unbestimmt bleibt. Wo wir sicher wissen, dass sich grossartige Vorgänge, wie z. B. Hebung und Senkung ganzer Küstenstriche, innerhalb geschichtlicher Zeiträume vollzogen haben, da müssen diese Erfahrungen allerdings auch zu induktiven Schlüssen auf analoge Vorgänge benutzt werden; wo jedoch jede Analogie der Art aufhört, da stehen wir immer wieder vor der schrankenlosen Unendlichkeit. Es ist daher keine Wirkung so klein und anscheinend geringfügig, von welcher nicht, vorausgesetzt, dass sie nur stetig ist, jeder beliebige Grad von Einfluss, sowohl in Beziehung auf die Zukunft als auf die Vergangenheit der Erde hergeleitet werden könnte.

Wenn man diese Umstände mit ihren vollen Consequenzen im Auge behält, so wird man auch leicht einsehen, dass der Gegensatz zwischen der Kosmogonie nach Kant und Laplace einerseits und der Stabilitätstheorie anderseits, weder so schroff noch so erschöpfend ist, als man gewöhnlich annimmt. Es ist vollkommen möglich und fast scheint uns Volger die Sache so verstanden zu haben, dass man in Beziehung auf alle geologischen Fragen, die bisher zur Sprache gekommen sind, sich an Lyell anschliesst und dennoch die Möglichkeit einer Kosmogonie für ungleich fernere Zeiträume zugiebt. Ja, man wird behaupten dürfen, dass eine streng wissenschaftliche Fassung dieser Frage ohne nähere Bestimmung der relativen Unendlichkeit, die man behauptet oder bestreitet, gar nicht mehr möglich ist; während der Gedanke an eine absolute Unendlichkeit schon aus ganz positiven Gründen unbedingt aufzugeben ist.

Der Gedanke einer absoluten Stabilität des grossen Weltganzen mit einem engen Kreise des periodischen Werdens und Vergehens hat schon für die rein logische Betrachtung, ganz abgesehen von positiven Gegengründen, so erhebliche Bedenken gegen sich, dass man sich veranlasst sieht, zu fragen, woher es denn eigentlich kommt, dass dieser Gedanke uns vergleichsweise so nahe liegt; dass er namentlich für das Gefühl so wenig Befremdendes hat Wir erblicken den Grund dieser merkwürdigen Erscheinung nur in der abstumpfenden Gewöhnung an den Begriff der Ewigkeit. Dieser Begriff ist uns von Kindheit auf geläufig, und wir denken uns in der Regel nicht viel dabei. Ja, es scheint sogar bei der Einrichtung unsres so eng an die Sinnlichkeit gebundenen Denkvermögens nothwendig zu sein, die absolute Ewigkeit gleichsam in der Vorstellung zu vermindern und relativ zu machen, um der Bedeutung dieses Begriffs einige Anschaulichkeit zu geben; ähnlich, wie man sich die Tangente von 90° einigermassen anschaulich zu machen sucht, indem man sie werden lässt, d. h. indem man vor dem Auge der Phantasie eine sehr grosse und immer grössere Tangente bildet, obwohl es für das Absolute kein Werden mehr giebt. So verfahren mit der Ewigkeit jene populären Bilder der Theologen, welche in der Vorstellung Zeitraum auf Zeitraum zu häufen suchen und dann das Aeusserste, was die Phantasie erreichen kann, etwa »einer Sekunde der Ewigkeit« gleich setzen. Obwohl der Begriff einer absoluten Ewigkeit so viel in sich schliesst, dass Alles, was die ausschweifende Phantasie nur je erdenken kann, ihm gegenüber nicht mehr in Betracht kommt, als das gewöhnlichste Zeitmaass; so ist uns doch dieser Begriff so geläufig, dass uns derjenige, welcher ein ewiges Bestehen der Erde und der Menschheit annimmt, vergleichsweise noch bescheiden vorkommt, neben einem Andern, welcher etwa die Uebergangsperiode vom Diluvialmenschen bis zum Menschen der Gegenwart bloss billionenfach nehmen wollte, um bis zum Entstehen des Menschen aus der einfachsten organischen Zelle zurückzugehen. Es ist hier überall die Sinnlichkeit im Kampf mit der Logik. Was wir uns nur einigermassen veranschaulichen können, erscheint uns leicht überschwenglich und unwahrscheinlich, während wir mit den ungeheuersten Vorstellungen spielen, sobald wir sie in die Form eines ganz abstrakten Begriffes gebracht haben. Sechstausend Jahre einerseits – Ewigkeit anderseits; daran ist man gewöhnt. Was dazwischen liegt, scheint zuerst merkwürdig, dann kühn, dann grossartig, dann phantastisch; und doch gehören alle solche Prädikate nur der Gefühlssphäre an; die kalte Logik hat mit ihnen nichts zu schaffen.

Man hat gefunden, dass die Umdrehungszeit der Erde von den Tagen Hipparchs bis auf die Gegenwart sich noch nicht um den dreihundertsten Theil einer Sekunde geändert hat, und Czolbe hat diese Thatsache zur Unterstützung seiner Stabilitätstheorie benutzt. Es ist aber ganz klar, dass aus dieser Thatsache weiter nichts folgt, als dass die Verzögerung der Umdrehungsgeschwindigkeit, welche aus der physikalischen Theorie als nothwendig zu entnehmen ist, auf keinen Fall schneller vor sich geht, als etwa 1 Sekunde in 600,000 Jahren. Nehmen wir aber an, sie betrüge auch nur in 100 Millionen Jahren eine einzige Sekunde, so müssten sich schon nach wenigen Billionen von Jahren die Verhältnisse von Tag und Nacht auf der Erde so total geändert haben, dass das ganze jetzige Leben der Oberfläche verschwinden müsste, und der totale Stillstand der Axendrehung könnte nicht lange ausbleiben. In zwei Fällen möchte man sich mit Recht auf die von Czolbe angeführte Beobachtung berufen: einmal wenn es überhaupt nur darauf ankäme, eine recht lange, und nicht gerade eine ewige Dauer des gegenwärtigen Zustandes zu beweisen; sodann aber auch, wenn auf der andern Seite durchaus keine Gründe für die Annahme einer Aenderung dieses Zustandes beständen. Sobald aber eine solche Aenderung durch Theorie oder Beobachtung erwiesen wird, kommt jener angebliche Gegengrund gar nicht mehr in Betracht; es sei denn, dass unsre Rechnung ausdrücklich eine schnellere Aenderung ergäbe, als 1/300 Sekunde in 2000 Jahren. Nur in diesem Falle müsste man schliessen, dass eine von beiden Rechnungen nothwendig falsch sein muss. Wir haben nun aber ein vollständig durchschlagendes physikalisches Princip jener Verzögerung in dem Einfluss von Ebbe und Fluth. Hier findet die ganze zwingende Schärfe mathematischer Schlüsse ihre Anwendung. Nur unter der Voraussetzung einer absoluten Starrheit des Erdkörpers müssen sich die Wirkungen der Attraktion, welche die Rotation hemmen, mit denjenigen, welche sie beschleunigen, vollständig ausgleichen. Da nun aber verschiebliche Theile da sind, muss der Erdkörper mit Nothwendigkeit eine ellipsoidische Schwellung erhalten, deren Verschiebung auf der Oberfläche eine wenn auch noch so geringe Reibung hervorbringt. Das Zwingende dieses Schlusses kann nicht im Mindesten dadurch erschüttert werden, dass nach neueren Beobachtungen die Erscheinung der Ebbe und Fluth, welche wir an unsern Küsten wahrnehmen, nicht sowohl durch eine fortschreitende Schwellung hervorgerufen werden, als vielmehr durch eine einmalige bedeutende Hebung, welche entsteht, wenn die Mitte der grössten Meeresflächen grade dem Monde oder der Sonne zugewandt ist. Sind auch die ringförmig sich von dieser Hebung verbreitenden Wellen, insofern sie nach allen Seiten gleichmassig gehen, ohne hemmenden Einfluss auf die Rotationsgeschwindigkeit, so muss doch die hemmende Wirkung der Fluth ebenfalls vorhanden sein, nur minder bemerkbar. Unmöglich kann der Process derselbe sein, als wenn die Erde sich ruckweise drehen, und in der Position, bei welcher die Fluthwelle sich bildet, jedesmal einige Sekunden unbeweglich verharren würde. Es muss eine fortschreitende Fluthwelle geben, wenn nicht die ganze Physik trügen soll. Die wirkliche Fluth kann man sich denken als zusammengesetzt aus den Wirkungen einer stehenden und einer fortschreitenden Fluthwelle. Mag auch die Wirkung der letzteren in den unendlich verwickelten Erscheinungen der Ebbe und Fluth anscheinend verschwinden, so kann doch ihre hemmende Wirkung nimmermehr verloren gehen. Und, wie klein auch immer eine stetig wirkende Ursache sei; man hat nur die Zeiträume gross genug zu nehmen und das Resultat ist unausbleiblich. Ein Theil der lebendigen Kraft der Planetenbewegung wird unbedingt durch Ebbe und Fluth vernichtet. »Wir kommen dadurch«, sagt Helmholtz in seiner Abhandlung über die Wechselwirkung der Naturkräfte, »zu dem unvermeidlichen Schlusse, dass jede Ebbe und Fluth fortdauernd, und wenn auch unendlich langsam, doch sicher, den Vorrath mechanischer Kraft des Systems verringert, wobei sich die Axendrehung der Planeten verlangsamen muss, und sie sich der Sonne, oder ihre Trabanten sich ihnen nähern müssen.«

Eine gleich unerlässliche Bedingung ewig unveränderter Planetenbewegung, wie die absolute Starrheit der Himmelskörper ist auch die absolute Leere des Raums, in welchem sie sich bewegen oder wenigstens die völlige Widerstandslosigkeit des Aethers, von dem man sich denselben erfüllt denkt. Es scheint, dass auch diese Bedingung nicht erfüllt ist. Der Enke'sche Komet beschreibt gleichsam vor unsern Augen immer engere Ellipsen um die Sonne, und es liegt kein Grund näher, dies zu erklären, als die Annahme eines Widerstand leistenden Mediums. Hier ist freilich der Zwang einer nothwendigen Deduktion nicht gegeben; allein es liegt eine Beobachtung vor, weiche uns nöthigt, das Vorhandensein eines Widerstand leistenden Mediums mindestens als wahrscheinlich anzunehmen. Mit der blossen Thatsache eines, wenn auch noch so geringen Widerstandes des Aethers ist aber alles Weitere gesagt.

Vollkommen zwingend ist wieder der Schluss, dass die Wärme der Sonne nicht ewig währen kann. Man kann diesem Schluss nicht dadurch entgehen, dass man das Brennen der Sonne leugnet und als Wärmequelle eine ewige Reibung zwischen dem Sonnenkörper und seiner Hülle oder dem Aether oder irgend etwas der Art annimmt. Es ist keine Bewegung denkbar, durch welche Wärme erzeugt wird, ohne dass andere Kräfte verbraucht würden. Man mag daher über die Wärme der Sonne jede beliebige Hypothese aufstellen; es wird immer darauf hinauskommen, dass die Quelle dieser Wärme endlich ist, während der Gebrauch unendlich bleibt. Man wird immer schliessen müssen, dass im Verlauf ewiger Zeiträume die ganze uns so unabsehbare Dauer von Sonnenlicht und Wärme nicht nur vergehen, sondern völlig verschwinden wird.

Während somit über den dereinstigen Untergang unsrer irdischen Welt kein Zweifel bestehen kann, müssen wir zwar auch mit Sicherheit rückwärts auf ein Werden schliessen; über die nähere Art und Weise desselben bleiben wir jedoch im Dunkel. Wollen wir uns auch hier, wie es in der Geologie jetzt allgemein geschieht, an das halten, was wir noch täglich vor Augen sehen, so bietet sich uns ein keineswegs zu unterschätzender Faktor in der Accumulation kleinerer und kleinster Weltkörper zu einem grösseren Ganzen. Wie verschwindend auch jetzt gegen das Ganze der Erde die Masse der alljährlich niederstürzenden Aerolithen sein mag, so darf man doch nie vergessen, dass der allerwinzigste Aerolith zum Erdball wird, so bald man ihm so oft seine eigne Masse hinzufügt, als dieselbe in der Masse der Erde enthalten ist. Die kleinen Planeten zwischen Mars und Jupiter haben den Astronomen oft genug als Bild gedient für das, was aus der Erde einst werden möchte, wenn sie durch die Gewalt des inneren Feuers explodirte. Uns scheint es jedenfalls natürlicher in ihnen das Bild eines früheren Zustandes andrer Himmelskörper zu erblicken. Wir lassen dahingestellt, ob unsre Erde sich von den Dunstmassen der Kometenschweife, in die sie schon öfter eingehüllt war, etwas anzueignen vermag; allein wir müssen aufs Strengste darauf bestehen, dass wenn auf diese Weise auch nur alle tausend Jahre ein Quentchen kosmischer Materie mit der terrestrischen vereinigt würde, doch das Anwachsen eines ganzen Himmelskörpers aus solcher Nahrung durchaus keine abenteuerliche oder unmethodische Vorstellung wäre. Es ist eben nur das Gefühl, was sich gegen solche Annahmen sträubt; dasselbe Gefühl, welches hundert Jahre lang auf die Irrthümlichkeit der Kopernikanischen Theorie Eide zu schwören bereit war.

Einer solchen Accumulationstheorie gegenüber empfiehlt sich die Laplace'sche Verdichtungstheorie durch Einfachheit und Uebersichtlichkeit, Eigenschaften, welche gewiss oft mit der objektiven Wahrheit verbunden sind, aber nicht immer, da sie mit menschlichem Maassstabe gemessen werden. In der Geologie z. B. war die Anschauung der Erdrevolutionen gewiss auch durch diese Eigenschaften vor der Lyell'schen Ansicht ausgezeichnet, und doch hat die letztere überwiegende Gründe für sich. Das blosse Streben nach einfachen und grossartigen Anschauungen gehört schon seiner Natur nach in die Metaphysik. Es gehört zu den »Einheitsbestrebungen der Vernunft«, die auch im vorigen Jahrhundert bei der fast dogmatischen Behauptung der Existenz sternloser Nebelflecke durch Halley, Derham, Lacaille, Kant und Lambert eine bedeutende Rolle spielten. Auf streng physikalischem Standpunkt dagegen sieht man nichts als eine Reihe von Möglichkeiten vor sich. Indem unser ganzes Sonnensystem – bis jetzt trotz Mädlers Bemühungen noch ohne Centralsonne – sich unbekannten Fernen zubewegt, muss schon allein hierin eine Schranke jeglicher Dogmatik gefunden werden.

Wenn die Materialisten noch heute dazu neigen, eine philosophische Dogmatik auf die Physik zu bauen, so werden sie also auch in dem wichtigen Punkte der Kosmogonie sich auf den Standpunkt des Relativismus zurückgewiesen sehen. Dieser ergiebt, bei strenger Durchführung, auch eine Philosophie; nur freilich keine dogmatische. Kant würde sagen, dass sich nur der Verstand bei ihm befriedigt findet, aber nicht die Vernunft. Dies ist jedoch auch nicht so unbedingt hinzunehmen.

Vergleichen wir einen Augenblick in Beziehung auf die metaphysische Befriedigung das System Czolbe's mit einem strengen Relativismus. Czolbe basirt sein System ganz offen auf den Zweck der Befriedigung des Gemüthes, und wir haben bereits oft genug bemerken können, dass diese von Kants Befriedigung der Vernunft nur scheinbar verschieden ist. Er hält grade die Ewigkeit der Welt für den Schlussstein des Gebäudes, sonst würde er sie den Schwierigkeiten gegenüber, die er selbst wohl einsieht, nicht so standhaft vertheidigen. Feuerbachs kategorischer Imperativ: »Begnüge dich mit der gegebenen Welt!« scheint ihm unausführbar, so lange nicht wenigstens der Bestand dieser gegebenen Welt gegen die Untergang drohenden Folgerungen der Mathemathiker gesichert ist. Es ist nun aber sehr die Frage, ob es vom Standpunkt der Gemüthsruhe aus besser scheint, sein System völlig abzuschliessen, während das Fundament selbst den stärksten Erschütterungen ausgesetzt bleibt; oder sich ein für allemal eine willkürliche Schranke des Wissens und Meinens zu setzen, jenseit welcher man alle Fragen offen lässt. So weit wir anschaulich (nicht bloss in abstrakter Logik!) denken können; so weit wir uns für das Menschengeschlecht als für unsre grosse gemeinsame Familie interessiren können; so weit wir rückwärts unsre Forschungen ausdehnen können: erscheint uns die Welt als ein in stetiger Bewegung harmonisch sich erhaltendes Ganze. Diese Welt unsrer Vorstellungen, unsrer Interessen, unsrer Forschungen, ist unsre gegebene Welt. Begnüge dich mit derselben! Nichts Absolutes können wir uns vorstellen. Wir wollen der Logik nicht widersprechen; aber ihre nothwendigen Begriffe sind uns nur Hülfsmittel zur schliesslichen Erkenntniss des Anschaulichen, das uns allein interessirt; wie wir in der Mathematik uns den Begriff der unendlichen Tangente gefallen lassen, weil die Mathematik uns als Ganzes zur Erforschung des Endlichen dient. Die ganze gegebene Welt ist eine Welt der Relationen. Wir bedürfen auch nur ein relativ Dauerndes, um alle Veränderungen daran zu messen. Von einem absolut Unveränderlichen auszugehen, ist uns nicht nur überflüssig, sondern sogar störend, da es einen falschen, dogmatischen Tropfen in unsre Weltanschauung bringt. Wir sind froh, dass wir das πϱῶτον ϰινοῦν ἀϰίνητον des alten Aristoteles los sind; sollen wir uns nun mit einem neuen derartigen Gespenst, mit dem ewig gleichgestellten Uhrwerk des Weltalls quälen?

Der gemeine populäre Dogmatismus wird sich auch bei der ewig unveränderlichen Welt nicht beruhigen; er will seinen Anfang haben, seinen Schöpfer. Erhebt man sich einmal über diesen Standpunkt; sucht man den Ruhepunkt der Seele im Gegebenen, so wird man sich auch leicht dazu bringen, ihn nicht in der ewigen Dauer des materiellen Zustandes zu finden, sondern in der Ewigkeit der Naturgesetze, und in einer solchen Dauer des Bestehenden, welche uns den Gedanken seines Untergangs in eine hinlängliche Ferne rückt. Die architektonische Neigung der Vernunft wird sich aber zufrieden geben, wenn man ihr den Reiz einer Weltanschauung enthüllt, die keine sinnliche Stütze mehr hat, die aber auch keiner bedarf, weil alles Absolute beseitigt ist. Sie wird sich erinnern, dass diese ganze Welt der Verhältnisse durch die Natur unsres Erkenntnissvermögens bedingt ist. Und wenn wir dann auch immer wieder darauf zurückkommen, dass unsre Erkenntniss uns nicht die Dinge an sich erschliesst, sondern nur ihr Verhältniss zu unsern Sinnen; so ist doch dies Verhältniss um so vollkommner, je lauterer es ist; ja es ist sogar der berechtigten Dichtung eines Absoluten um so tiefer verwandt, je reiner es sich von willkürlichen Beimischungen erhält.

Fast noch mehr als die Entstehung des Weltganzen hat den denkenden Geist seit geraumer Zeit das Entstehen der Organismen beschäftigt. Für die Geschichte des Materialismus wird diese Frage schon deshalb wichtig, weil sie zu den anthropologischen Fragen, um die der materialistische Streit sich besonders zu drehen pflegte, den Uebergang bilden. Der Materialist verlangt eine erklärbare Welt; ihm genügt es, wenn die Erscheinungen sich so fassen lassen, dass das Zusammengesetzte aus dem Einfachen, das Grosse aus dem Kleinen, das vielfach Bewegte aus der schlichten Mechanik hervorgeht. Mit allem Uebrigen glaubt er leicht fertig zu werden, oder vielmehr er übersieht die Schwierigkeiten, die sich erst dann ergeben, wenn die erklärbare Welt in der Theorie so weit hergestellt ist, dass das Causalgesetz kein weiteres Opfer mehr zu fordern hat. Der Materialismus hat auch auf diesem Gebiete aus Dingen, welche von jedem vernünftigen Standpunkte aus anerkannt werden müssen, Nahrung gezogen; bis auf die neueste Zeit hin war aber grade die Entstehung der Organismen ein Punkt, welcher von den Gegnern des Materialismus nachdrücklich ausgebeutet wurde. Insbesondere glaubte man im Ursprung der Organismen mit Notwendigkeit auf einen transcendenten Schöpfungsakt geführt zu sein, während man in der Einrichtung und Erhaltung der organischen Welt immer neue Stützen der Teleologie zu finden meinte. Ja, eine gewisse Opposition gegen materialistische Ansichten knüpfte sich oft schon an den blossen Namen des Organischen, des Lebenden, indem man auf diesem Gebiet gleichsam den verkörperten Gegensatz einer höheren, geistig wirkenden Kraft gegen den Mechanismus der todten Natur vor Augen zu haben wähnte.

Im Mittelalter und noch mehr im Beginne der Neuzeit, so weit namentlich der Einfluss eines Paracelsus und van Helmont reichte, fand mau zwischen dem Organischen und Unorganischen keine solche Kluft, wie in den letzten Jahrhunderten. Es war eine weit verbreitete Vorstellung, dass die ganze Natur beseelt sei. Liess schon Aristoteles Frösche und Schlangen aus dem Schlamm entstehen, so konnte man dergleichen unter der Herrschaft der Alchymie vollends nur für sehr natürlich halten. Wer sogar in den Metallen Geister erblickte und in ihrer Mischung einen Gährungsprocess sah, der konnte im Entstehen des Lebenden keine besondere Schwierigkeit finden. Man glaubte zwar im Allgemeinen an die Unveränderlichkeit der Arten – ein Dogma, welches direkt aus der Arche Noah stammt; aber man nahm es auch mit der Entstehung neuer Wesen nicht eben genau, und namentlich die niederen Thiere liess man in weitester Ausdehnung sich aus unorganischer Materie entwickeln. Beide Glaubensartikel haben sich bis heute erhalten; der eine mehr unter den Professoren, der andre unter Bauern und Fuhrleuten. Jene glauben an die Unveränderlichkeit der Arten und suchen vielleicht zwanzig Jahre lang sich aus dem Gebiss der Schnecken ein Zeugniss für ihren Glauben zu bereiten; diese finden immer wieder durch ihre Erfahrung bestätigt, dass aus Sägemehl und andern Ingredienzen Flöhe entstehen. Die Wissenschaft ist auf diesem Gebiete später als auf andern dazu gekommen, die Glaubensartikel zu Hypothesen herabzusetzen und den breiten Strom der Meinungen durch einige Experimente und Beobachtungen einzudämmen.

Gleich die Frage, die uns zuerst entgegen tritt, ist noch heute Gegenstand eines erbitterten Streites; die Frage der Urzeugung (generatio aequivoca). Carl Vogt hat uns einen launigen Bericht darüber gegeben, wie in Paris der wissenschaftliche Kampf zwischen Pasteur und seinen verbündeten Gegnern Pouchet, Joly und Musset mit der Erbitterung von Theologen und mit einem dramatischen Effekt geführt wird, welcher an die Magister-Promotionen des fünfzehnten Jahrhunderts erinnert. Auf Pasteurs Seite steht die Akademie und die Ultramontanen. Die Möglichkeit der Urzeugung zu bestreiten gilt als conservativ. Die alten Autoritäten der Wissenschaft waren einmüthig der Ansicht, es lasse sich ohne Ei oder Samen nun und nimmer ein organisches Wesen hervorbringen. Omne vivum ex ovo ist ein wissenschaftlicher Glaubensartikel. Warum aber stehen die Orthodoxen auf dieser Seite? Etwa nur, um das absolut Unerklärte hinzustellen, um zum Tort des Verstandes und der Sinnlichkeit an einer rein mystischen Schöpfung festzuhalten? – Die ältere Orthodoxie nahm nach Anleitung des heiligen Augustinus einen ganz andern Standpunkt ein; gewissermassen einen mittleren. Man verschmähte es durchaus nicht, sich die Dinge so anschaulich als möglich vorzustellen. Augustinus lehrte, dass von Anbeginn der Welt zweierlei Samen der lebenden Wesen bestanden hätten: der sichtbare, welchen der Schöpfer in Thiere und Pflanzen gelegt, damit sie sich, ein jegliches in seiner Art fortpflanzen, und der unsichtbare, welcher in allen Elementen verborgen sei und nur bei besonderen Mischungs- und Temperaturverhältnissen wirksam werde. Dieser von Anbeginn in den Elementen verborgene Samen sei es, der Pflanzen und Thiere in grosser Anzahl ohne jegliche Mitwirkung fertiger Organismen hervorbringe.

Dieser Standpunkt wäre für die Orthodoxie ein ganz günstiger; er liesse sich sogar ohne viel Mühe so weit umformen, dass er bei dem heutigen Stande der Wissenschaften noch so gut wie jedes der beiden streitenden Dogmen könnte behauptet werden. Aber, wie in der Hitze eines Kampfes der Fechtende oft halb genöthigt, halb unwillkürlich seine Position wechselt, so geschieht es auch in dem grossen Gange wissenschaftlicher Streitfragen. Der Materialismus des vorigen Jahrhunderts spielt hier seine Rolle. Indem man versuchte, das Leben aus dem Leblosen, die Seele aus dem Stoff zu erklären, stellte man die vermeintliche Entstehung von Insekten aus faulenden Stoffen in eine Reihe mit der Belebung todter Fliegen durch Salz, mit den willkürlichen Bewegungen geköpfter Vögel und andern Instanzen für die materialistische Ansicht. Freunde der Teleologie und der natürlichen Theologie, Anhänger des Dualismus von Geist und Natur ergriffen nun die Taktik, das Entstehen von Insekten und Infusorien ohne Zeugung gänzlich zu bestreiten, und der Kampf der Ideen führte, wie so oft in der Geschichte der Wissenschaften, zu fruchtbaren und sinnreichen Experimenten, in welchen die Materialisten den Kürzeren zogen. Seit der viel gelesene und bewunderte Bonnet in seinen Betrachtungen der Natur die generatio aequivoca widerlegt hatte, galt es als Spiritualismus, an dem omne vivum ex ovo festzuhalten, und in diesem Punkt harmonirte nun die Orthodoxie erträglich mit den Resultaten der exakten Forschung. Ja, es scheint fast bis auf die Gegenwart hin, als würde jener Satz um so unerschütterlicher festgestellt, je genauer und sorgfältiger die Forschung zu Werke ging.

Die Metaphysik wurde bei der neuen Entdeckung toll. Man schloss, dass bei der natürlichen Zeugung alle zukünftigen Generationen schon in dem Ei oder Samenthierchen enthalten sein müssten, und Professor Meier in Halle führte dieses »Präformationssystem« mit so naiver Anschaulichkeit durch, dass wir ein Unrecht gegen unsre Leser begehen würden, wenn wir nicht ein Pröbchen seiner Ausführung mittheilten: »So hätte«, sagt der Professor, »Adam alle Menschen schon in seinen Lenden getragen, und also auch zum Exempel das Samenthierchen, woraus Abraham geworden. Und in diesem Samenthierchen lagen schon alle Juden als Samenthierchen. Als nun Abraham den Isaak zeugte, so ging Isaak aus dem Leibe seines Vaters heraus, und nahm mit sich zugleich, in sich eingeschlossen, das ganze Geschlecht seiner Nachkommen.« Der Verbleib der unbenutzten Samenthierchen, die man sich gern schon mit etwas Seele behaftet dachte, hat begreiflicher Weise viel tollere Phantasien veranlasst, die uns hier wenig berühren.

In jüngster Zeit war es namentlich Schwann, welcher theils in der Zelle das eigentliche Element aller organischen Bildungen nachwies, theils durch eine Reihe von Versuchen darthat, dass bei der scheinbaren Entstehung der Organismen durch generatio aequivoca stets das Vorhandensein von Eiern oder Keimzellen vorausgesetzt werden müsse. Seine Beweismethode galt im Allgemeinen als vorzüglich; es war aber einer unsrer Materialisten – C.  Vogt – welcher den Verdacht ihrer Unzulänglichkeit mit Bestimmtheit aussprach, längst bevor der alte Streit in Frankreich so heftig wieder entbrannte. Wir entnehmen den Gedankengang seiner scharfsinnigen und eingehenden Kritik den Bildern aus dem Thierleben (1852).

Die Infusorien entstehen beim Zusammentritt von Luft, Wasser und organischem Stoff. Schwann traf Maassregeln, in diesen Bestandteilen alle organischen Keime zu vernichten. Bleiben sie dann abgeschlossen und es entstehen doch Infusorien, so ist die generatio aequivoca bewiesen. Es wurde in einem Kolben Heu mit Wasser gekocht, bis nicht nur die ganze Flüssigkeit, sondern auch die Luft in dem Kolbenhalse auf den Siedepunkt erhitzt war. Man wusste, dass in geschlossenen Kolben keine Infusorien entständen. Liess man nun gewöhnliche Luft durch den Kolben streichen, so entstanden trotz des vorangegangenen Siedens jedesmal Infusorien; liess man dagegen nur Luft zutreten, welche durch eine glühende Röhre, durch Schwefelsäure oder Aetzkali geleitet war, so entstanden niemals Infusorien. Man nimmt nun an, dass die Zusammensetzung der Luft durch die angewendeten Mittel nicht verändert werde. Dies ist aber nur annähernd wahr. Die Atmosphäre enthält nicht nur Sauerstoff und Stickstoff. »Es finden sich in ihr eine gewisse Menge von Kohlensäure, von Wasserdampf, von Ammoniak, vielleicht noch viele andere Stoffe in verschwindend kleiner Menge. Diese werden durch die angewandten Mittel mehr oder minder zersetzt und absorbirt, die Kohlensäure vom Aetzkali, das Ammoniak von der Schwefelsäure. Die Erhitzung der Luft muss einen besondern Einfluss auf die Anordnung der Moleküle der Luft äussern ... Wir haben Fälle genug in der Chemie, wo es sich um scheinbar sehr geringfügige Umstände handelt, wenn eine Verbindung oder Zersetzung bewerkstelligt werden soll ... Es ist möglich, dass gerade die bestimmte Menge von Ammoniak, von Kohlensäure, dass eine gewisse Lagerung oder Spannung der Moleküle in der Atmosphäre nöthig sind, um den Process der Neubildung eines Organismus einzuleiten und durchzuführen. Die Bedingungen, unter denen die beiden Kolben stehen, sind demnach nicht vollkommen gleich, weshalb auch der Versuch nicht ganz beweisend erscheint.« In der That ist durch diese Ausführung die Unzulänglichkeit des Schwann'schen Versuches dargethan, und die Frage durfte als eine offne betrachtet werden; zumal da eine Reihe gewichtiger Bedenken der Annahme entgegensteht, dass alle Keime der zahllosen Infusorien, welche bei jenen Versuchen erblickt werden, in der Luft lebensfähig umhertreiben. Ehrenberg nahm eine Theilung der Infusorien an, welche in geometrischer Proportionsreihe fortschreitend in wenigen Stunden das Wasser bevölkern sollte; allein Vogt hat mit Recht die Unwahrscheinlichkeit dieser Hypothese hervorgehoben. In neuerer Zeit hat man nun begonnen, die in der Luft etwa schwebenden Stäubchen systematisch zu sammeln, bevor der weitere Versuch beginnt. Pasteur wirft seine Sammlung angeblicher Keime und Eier in die zum Versuch bestimmten Flüssigkeiten und glaubt damit Infusorien und Pilze zu säen; Plouchet besieht sich die Sammlung vorher. »Er lässt Hunderte von Kubikmetern Luft durch Wasser streichen und untersucht das Wasser; er erfindet ein eigenes Instrument, das Luft gegen Glasplatten bläst, auf denen die Samenstäubchen haften bleiben; er analysirt Staub, der sich niedergesetzt hat, und zwar macht er diese Versuche auf den Gletscherhöhen der Maladetta in den Pyrenäen, wie in den Katakomben von Theben, auf dem Festlande wie auf dem Meere, auf den Pyramiden Aegyptens wie auf der Spitze des Domes von Rouen. Er schleppt so eine Menge von Luft-Inventarien herbei, in denen zwar alles Mögliche figurirt, aber nur höchst selten ein Keimsporn eines Schimmelpflänzchens und noch weit seltener die todte Leiche eines Infusoriums.« Auch Schaaffhausen bestätigt, dass das Mikroskop nur selten ein Schimmel-Keimkorn oder ein ausgetrocknetes und todtes Infusionsthierchen in der Luft nachweist; niemals ein lebendes oder ein Ei. Die Schwierigkeit der früheren Erklärung scheint sich dadurch zu vervielfältigen, dass in verschiedenen Aufgüssen, über welche dieselbe Luft streicht, ganz verschiedene Arten von Pilzen entstehen. Hält man nämlich mit Plouchet an dem Dogma von der Unveränderlichkeit der Arten fest, so müssten in jeden Aufguss nach mechanischen Gesetzen die Keime aller dieser verschiedenen Arten niederfallen, von denen dann nur diejenige Art Leben erhält, welche den entsprechenden Boden findet. Die Schwierigkeit, welche schon Ehrenberg durch seine künstliche Hypothese zu beseitigen suchte, würde sich dadurch vervielfältigen. Hier aber kommt freilich die durch Darwin so mächtig angeregte Frage in Betracht, und Vogt hat gewiss das Richtige getroffen, wenn er aus einer Combination der Gesichtspunkte, die sich aus den beiden Streitfragen ergeben, und zwar speciell aus Untersuchungen über die niedersten Organismen des Thier- und Pflanzenreiches für die nächste Zeit wichtige Aufschlüsse erwartet. Für die Frage des Materialismus in philosophischem Sinne kann sich zwar in keinem Falle hier eine Entscheidung ergeben. Man darf die zufällige Position, welche die Kämpfer auf dem Boden der Thatsachen nehmen, nicht mit den wahren Entscheidungsgründen verwechseln. In jedem Falle werden sich Für und Wider neue Hypothesen finden, mittelst deren der Kampf mit Anstand fortgesetzt werden kann.

Anderseits dürfen die hier für den Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntniss zu gewinnenden Resultate auch nicht unterschätzt werden. Was der Philosoph so leicht antecipirt, den unbedingten und lückenlosen Causalzusammenhang alles Geschehens, das müssen die positiven Wissenschaften doch immer erst Schritt für Schritt aufzeigen, bevor es auf die Massen wirkt und mit dem Glauben an den höhern Beruf der menschlichen Vernunft das Vertrauen auf die sichern Wege des intellectuellen Fortschritts erweckt. Das Gesetz der Erhaltung der Kraft als philosophisches und selbst als mathematisches Theorem wirkt nur auf Wenige; wenn aber ein Joule mit unendlicher Ausdauer das mechanische Aequivalent der Wärme bestimmt, so bricht es sich Bahn. Man kann viel reden über die höhere Einheit der organischen und der unorganischen Welt; man will doch diese Einheit erst sehen. Organische Stoffe sind längst durch unsere Chemiker dargestellt; aber noch keine Organismen. Wir haben gesehen, dass Liebig sogar die Möglichkeit einfach leugnete; die Demonstration des Gegentheils würde sonach ein epochemachendes Ereigniss sein – das wir freilich erst abwarten müssen.

Nicht minder führt uns nunmehr die Hypothese Darwins von der Entstehung der Arten auf das weite Gebiet einer offenen Streitfrage, doch haben wir hier, wenigstens nach der negativen Seite hin, zu einigen sehr bestimmten Sätzen mehr als genügende Veranlassung. Es giebt vielleicht in der ganzen neueren Wissenschaft kein Beispiel eines so haltlosen und zugleich so crassen Aberglaubens, wie der von der Species, und es giebt wohl wenige Punkte, in welchen man sich mit so bodenlosen Argumentationen immer wieder in den dogmatischen Schlummer eingewiegt hat. Es geht fast über das Verständliche, wie ein Naturforscher, welcher sich seit zwanzig Jahren speciell für die Feststellung des Artbegriffes interessirt, welcher es unternimmt, in der Fortpflanzungsfähigkeit ein neues Kriterium der Species aufzustellen, während dieser ganzen Zeit kein einziges Experiment über diese Frage anstellt, sondern sich damit begnügt, als ächter Natur historiker, die zufällig überlieferten Erzählungen kritisch zu sichten. Allerdings ist auch auf dem Felde der Naturforschung die Theilung der Arbeit, zwischen Experiment und kritischer Zusammenstellung der Experimente durchaus zulässig, und zwar in weiterem Sinne, als gewöhnlich anerkannt ist. Wenn aber ein Feld noch so vollständig brach liegt, wie das der Artenbildung, so ist es doch wohl der erste kritische Spruch, auf den die gesunde Vernunft und die naturwissenschaftliche Methode führen müssen, dass auf diesem Gebiete so gut wie auf allen andern nur der Versuch uns etwas lehren kann. Andreas Wagner aber verirrte sich so weit vom Pfade der Naturforschung, dass er Grosses zu leisten glaubt, wenn er für die angeblichen Bastardbildungen einen »juristischen« Beweis verlangt, und bis zur Erbringung desselben seine Dogmen für feststehend erachtet. Das mag denn freilich das geeignete Verfahren sein, wenn man ein lieb gewordenes Vorurtheil als einen persönlichen Besitz betrachtet, und jedem, der es rauben will, mit dem Rechtstitel der Verjährung entgegentritt; mit Naturforschung hat dieser ganze Standpunkt keine entfernte Aehnlichkeit. Ein einziger Zug mag eine Methode näher charakterisiren, auf deren Ergebnisse näher einzugehen übrigens frivole Zeitvergeudung wäre.

Es liegt eine Reihe offenbarer Bastardbildungen vor, die sich durch Spielerei von Liebhabern oder durch Zufall ergeben haben und, besser oder schlechter beglaubigt, weiter erzählt werden. Aus solchem Material wird nun die Frage entschieden, wie es sich mit der Fruchtbarkeit der Bastarde a) unter sich, b) mit der Stammlinie verhalte. Man sieht auf den ersten Blick, wenn man das treffliche Material mustert, dass ad a) keine oder nur sehr wenige Beispiele vorliegen, weil man entweder nur einen Bastard hatte, der also auch nicht mit einem gleichartigen gepaart werden konnte, oder weil die Bastarde verschiednen Geschlechtes getrennt und verschenkt wurden, da eben Niemand daran dachte, über die Bildung neuer Arten zu experimentiren. Ad b) ergiebt sich die grosse Wahrheit, dass die Bastardrassen allmählig wieder in die ursprünglichen Rassen zurückkehren, weil man sie eben von Generation zu Generation nur mit einer derselben gepaart hat. Daraus wird nun der grosse Schluss gezogen, dass Bastarde entweder unfruchtbar sind, oder sich nur durch Anpaarung mit den elterlichen Rassen fortpflanzen können; denn den entgegengesetzten Angaben » fehlt der legale Nachweis.« Der Gegner muss den Process verlieren; das Inventar der Schrullen ist gerettet.

Jedermann weiss, wie hier zu verfahren wäre, wenn man nicht die Schrulle retten, sondern die Wahrheit finden wollte, was doch für einen Mann, der sich zwanzig Jahre mit der Frage der Species beschäftigt, kein ganz unpassendes Ziel genannt werden dürfte. Man hätte offenbar mit aller der Sorgfalt, welche die neueren Naturwissenschaften auf andern Gebieten anzuwenden pflegen, und der sie ihre grossen Erfolge durchweg zu danken haben, zunächst eine grössere Reihe der betreffenden Bastardbildungen, z. B. zwischen Canarienvogel und Hänfling, zu erzeugen. Die grössere Reihe ist nicht nur zur Elimination des Zufalls und zur Gewinnung eines richtigen Mittels nothwendig, sondern sie wird schon unmittelbar durch die Natur einer Aufgabe gefordert, die sich um ein Mehr oder Weniger dreht. Man nehme nun gleich viel Paare der gleichartigen Bastarde, ferner der Bastarde mit der väterlichen und endlich der mütterlichen Stammlinie. Man bringe diese Paare unter möglichst gleiche Verhältnisse des relativen und absoluten Alters, der Pflege, der Umgebung, oder man variire diese Verhältnisse methodisch, und man wird ein Resultat haben, auf Grund dessen schon einige Wahrscheinlichkeitssätze auszusprechen sind; was denn freilich von grösserem Verdienst wäre, als Andreas Wagners zwanzigjährige Prüfung der Legalität höherer Jagdgeschichten.

Darwin hat einen mächtigen Schritt zu der Vollendung einer naturphilosophischen Weltanschauung gethan, welche Verstand und Gemüth in gleicher Weise zu befriedigen vermag, indem sie sich auf die feste Basis der Thatsachen gründet, und in grossartigen Zügen die Einheit der Welt darstellt, ohne mit den Einzelheiten in Widerspruch zu gerathen. Seine Darstellung der Entstehung der Arten fordert aber als naturwissenschaftliche Hypothese auch das Experiment zu ihrer Bestätigung, und Darwin wird Grosses geleistet haben, wenn es ihm gelingt, den Geist methodischer Forschung auf ein Gebiet zu rufen, welches ihm den reichsten Lohn verspricht, indem es freilich auch die grösste Aufopferung und Ausdauer erfordert. Manche der hierher gehörigen Experimente mögen die Kräfte, ja die Dauer der Wirksamkeit des einzelnen Forschers übersteigen und erst spätere Generationen werden die Früchte dessen erndten, was die Gegenwart anbahnen muss. Grade darin aber wird sich ein neuer Fortschritt zu grossartiger Auffassung der Aufgabe der Wissenschaft kund thun, und an der richtigen Erfassung dieser Aufgabe muss das Gefühl für die Zusammengehörigkeit der Menschheit, für die Gemeinsamkeit ihrer kühnen Ziele erstarken.

Was Darwins Theorie zu einer solchen Wirkung auf die Forschung befähigt, ist nicht nur die einfache Klarheit und befriedigende Rundung des Grundgedankens, der in den Erfahrungen und methodischen Anforderungen der Gegenwart schon vorbereitet lag, und sich leicht aus der gelegentlichen Combination verschiedner Zeitgedanken ergeben musste. Ungleich höheres Verdienst liegt ohne Zweifel schon in der ausdauernden Verfolgung eines Gegenstandes, der bereits im Jahre 1837 den von einer wissenschaftlichen Seefahrt heimkehrenden Naturforscher mächtig ergriff, und dem er seitdem sein Leben widmete. Das reiche Material, welches Darwin gesammelt hat, ist grösstentheils noch rückständig, die genaueren Belege für seine Angaben fehlen noch, und ein späteres, grösseres Werk wird uns hoffentlich die Riesenarbeit des ausgezeichneten Mannes in ihrem vollen Umfange vorführen. Viele wollen bis zum Erscheinen dieses Materials ihr Urtheil über Darwins Theorie aussetzen, und es ist gegen solche Vorsicht nichts einzuwenden, da allerdings auch in dieser Arbeit menschlichen Fleisses und Scharfsinns die Kritik viel zu thun haben wird, bis das Bleibende vom Vergänglichen und Subjektiven gesondert ist. Es ist aber wohl zu beachten, dass eine genügende Bewährung der eminenten Hypothese doch in keinem Falle von diesem Material allein abhängen kann, sondern dass die selbständige Thätigkeit Vieler und vielleicht die experimentirende Arbeit von Generationen dazu gehört, um die Theorie der natürlichen Züchtung durch die künstliche zu bestätigen, welche in verhältnissmässig kurzer Frist eine Arbeit wiederholen kann, zu der die Natur Jahrtausende braucht. Anderseits hat Darwins Theorie schon in ihrer jetzigen Form eine Bedeutung, welche weit über den Bereich einer zufällig aufgeworfenen Frage hinausreicht. Seine Sammlung der Beobachtungen hat mit Wagners stümperhaften Protokollen über die Legitimität vereinzelter Jagdgeschichten nicht die geringste Aehnlichkeit. Darwin weiss die ganze Naturgeschichte der Pflanzen und Thiere durch feine und scharfsinnige Combination bewährter Beobachtungen mit seiner Theorie in Verbindung zu setzen. Alle Strahlen sind in einem Brennpunkt gesammelt, und die reiche Entfaltung der Theorie leitet die scheinbar entlegensten Erscheinungen des organischen Lebens in den Strom des Beweises. Will man aber die vorzüglichste Seite seiner Leistungen bezeichnen, so muss man darauf hinweisen, dass eben jene Gliederung des Grundgedankens, die Unterstützung desselben durch zahlreiche Lehrsätze und Hülfshypothesen fast nirgend etwas Willkürliches und Gezwungenes hat; ja, dass manche derselben nicht nur an sich evidenter sind als der Hauptgedanke, sondern auch gleich hoch, wo nicht höher an naturwissenschaftlicher Bedeutung. Hier haben wir namentlich die Lehre von dem Ringen der Arten um ihre Existenz im Auge und die tiefgreifenden Beziehungen dieser Lehre zur Teleologie.

Die Theorie der Entstehung der Arten führt uns in eine Vorzeit zurück, welche dadurch den Charakter des mysteriösen erhält, dass hier den Dichtungen der Mythe nur eine Summe von Möglichkeiten gegenübersteht, deren grosse Zahl die Glaubwürdigkeit jeder einzelnen ausserordentlich beeinträchtigt. Der Kampf um das Dasein entspinnt sich dagegen vor unsern Augen und ist doch Jahrhunderte lang der Aufmerksamkeit eines nach Wahrheit spähenden Zeitalters entgangen. Ein Recensent von Radenhausens Isis, einem trefflichen, wenn auch nicht ganz auf den Grund gehenden naturalistischen System der letzten Jahre, findet sich zu einer Bemerkung veranlasst, die uns zeigt, wie schwer selbst ein ziemlich unbefangener Beobachter den Stand dieser Fragen überblickt, in einem Augenblick, wo Jeder, der ihn zu überblicken vermag, zu einem ganz unzweideutigen Resultate kommen muss. Radenhausen benützt Darwins Lehre um Consequenzen zu ziehen, welche auf die uralte radikale Opposition des Empedokles gegen die Teleologie zurückführen; er giebt aber zu, dass der vollständige Beweis für Darwins Lehre noch fehle. Zwei Sätze seines Recensenten im Literarischen Centralblatte sollen uns zum Thema einer Betrachtung dienen, die wir ohnehin nicht umgehen dürften, und für die uns hier nur ein bestimmter Anknüpfungspunkt gelegen kommt. »Man zieht es vor«, sagt der Ungenannte, »an die Stelle einer zweckmässig aber wunderbar wirkenden ausserweltlichen Causalität die Möglichkeit glücklicher Zufälle zu setzen, und findet in der fortschreitenden Entwicklung dessen, was ein glücklicher Zufall begonnen hat, Ersatz dafür, dass alle Erscheinungen der Welt in ihrem letzten Grunde sinn- und zwecklos sind, und dass das Schöne und Gute nicht am Anfange liegt, sondern erst am Ende, oder wenigstens erst im Fortgange des Geschehens zum Vorscheine kommt ... So lange diese (die beweisenden) Entdeckungen noch nicht wirklich gemacht sind, wird es erlaubt sein, sich die Frage vorzulegen, ob die Hypothesen, zu denen sich dieser Naturalismus für berechtigt hält, weniger kühn und gewagt sind, als die Voraussetzungen der teleologischen Weltansicht.«

Der Recensent ist ein Typus; die meisten, welche der neueren Naturwissenschaft gegenüber noch an der Teleologie glauben festhalten zu dürfen, klammern sich an die Lücken der wissenschaftlichen Erkenntniss, und übersehen dabei, dass wenigstens die bisherige Form der Teleologie, die anthropomorphe durch die Thatsachen gänzlich beseitigt ist; einerlei, ob die naturalistische Ansicht hinlänglich festgestellt ist oder nicht. Die ganze Teleologie hat ihre Wurzel in der Ansicht, dass der Baumeister der Welten so verfährt, dass der Mensch nach Analogie menschlichen Vernunftgebrauches sein Verfahren zweckmässig nennen muss. So fasst es im Wesentlichen schon Aristoteles, und selbst die pantheistische Lehre von einem »immanenten« Zweck hält die Idee einer, menschlichem Ideal entsprechenden, Zweckmässigkeit fest, wenn auch die ausserweltliche Person aufgegeben wird, die nach Menschenweise diesen Zweck erst erdenkt und dann ausführt. Es ist nun aber gar nicht mehr zu bezweifeln, dass die Natur in einer Weise fortschreitet, welche mit menschlicher Zweckmässigkeit keine Aehnlichkeit hat; ja, dass ihr wesentlichstes Mittel ein solches ist, welches mit dem Maassstabe menschlichen Verstandes gemessen, nur dem blindesten Zufall gleichgestellt werden kann. Ueber diesen Punkt ist kein zukünftiger Beweis mehr zu erwarten; die Thatsachen sprechen so deutlich und auf den verschiedensten Gebieten der Natur so einstimmig, dass keine Weltansicht mehr zulässig ist, welche diesen Thatsachen und ihrer notwendigen Deutung widerspricht.

Wenn ein Mensch, um einen Hasen zu schiessen, Millionen Gewehrläufe auf einer grossen Haide nach allen beliebigen Richtungen abfeuerte; wenn er, um in ein verschlossenes Zimmer zu kommen, sich zehntausend beliebige Schlüssel kaufte und alle versuchte; wenn er, um ein Haus zu haben, eine Stadt baute, und die überflüssigen Häuser dem Wind und Wetter überliesse: so würde wohl Niemand dergleichen zweckmässig nennen und noch viel weniger würde man irgend eine höhere Weisheit, verborgene Gründe und überlegene Klugheit hinter diesem Verfahren vermuthen. Wer aber in den neueren Naturwissenschaften Kenntniss nehmen will von den Gesetzen der Erhaltung und Fortpflanzung der Arten – selbst solcher Arten, deren Zweck wir überhaupt nicht einsehen, wie z. B. der Eingeweidewürmer, der wird allenthalben eine ungeheure Vergeudung von Lebenskeimen finden. Vom Blütenstaub der Pflanzen zum befruchteten Samenkorn, vom Samenkorn zur keimenden Pflanze, von dieser bis zu der vollwüchsigen, welche wieder Samen trägt, sehen wir stets den Mechanismus wiederkehren, welcher auf dem Wege der tausendfältigen Erzeugung für den sofortigen Untergang und des zufälligen Zusammentreffens der günstigen Bedingungen das Leben soweit erhält, als wir es in dem Bestehenden erhalten sehen. Der Untergang der Lebenskeime, das Fehlschlagen des Begonnenen ist die Regel; die »naturgemässe« Entwicklung ist ein Specialfall unter Tausenden; es ist die Ausnahme, und diese Ausnahme schafft jene Natur, deren zweckmässige Selbsterhaltung der Teleologe kurzsichtig bewundert. »Wir sehen das Antlitz der Natur«, sagt Darwin, »strahlend von Heiterkeit; wir sehn oft Ueberfluss von Nahrung; aber wir sehen nicht, oder wir vergessen es, dass die Vögel, welche ringsum so sorglos singen, meist von Insekten oder Samen leben, und so beständig Leben zerstören; oder wir vergessen, wie stark diese Sänger, oder ihre Eier, oder ihre Jungen von Raubvögeln und andern Thieren vertilgt werden; wir halten nicht im Sinne, dass das Futter, welches jetzt im Ueberfluss vorhanden ist, zu andern Zeiten jedes wiederkehrenden Jahres mangelt.« Der Wettbewerb um das Fleckchen Landes, Glück oder Unglück in der Verfolgung und Vertilgung fremden Lebens bestimmt die Ausdehnung der Pflanzen und Thierarten. Millionen von Samenthierchen, Eiern, jungen Geschöpfen schwanken zwischen Leben und Tod, damit einzelne Individuen sich entfalten. Die menschliche Vernunft kennt kein anderes Ideal, als die möglichste Erhaltung und Vervollkommnung des Lebens, welches einmal begonnen hat, verbunden mit der Einschränkung von Geburt und Tod. Der Natur sind üppige Zeugung und schmerzvoller Untergang nur zwei entgegengesetzt wirkende Kräfte, die ihr Gleichgewicht suchen. – Hat doch die Volkswirtschaft selbst für die »civilisirte« Welt das traurige Gesetz enthüllt, dass Elend und Nahrungsmangel die grossen Regulatoren des Bevölkerungszuwachses sind. Ja selbst auf geistigem Gebiete scheint es die Methode der Natur zu sein, dass sie tausend gleich begabte und strebende Geister der Verkümmerung und Verzweiflung entgegenwirft, um ein einziges Genie zu bilden, welches seine Entfaltung der Gunst der Verhältnisse dankt. Das Mitleid, die schönste Blüthe der irdischen Organismen, bricht nur auf vereinzelten Punkten hervor und ist selbst für das Leben der Menschheit mehr ein Ideal als eine der gewöhnlichen Triebfedern.

Was wir in der Entfaltung der Arten Zufall nennen, ist natürlich kein Zufall im Sinn der allgemeinen Naturgesetze, deren grosses Getriebe all jene Wirkungen hervorruft; es ist aber im strengsten Sinne des Wortes Zufall, wenn wir diesen Ausdruck im Gegensatz zu den Folgen einer menschenähnlich berechnenden Intelligenz betrachten; wo wir aber in den Organen der Thiere und Pflanzen Zweckmässiges finden, da dürfen wir annehmen, dass in dem ewigen Mord des Schwachen zahllose minder zweckmässige Formen vertilgt wurden, so dass auch hier das, was sich erhält, nur der günstige Specialfall in dem Ocean von Geburt und Untergang ist. Das wäre denn nun in der That ein Stück der viel geschmähten Weltanschauung des Empedokles, bestätigt durch das endlose Material, welches allein die letzten Decennien der exakten Forschung ans Licht gefördert haben.

Und doch hat die Sache ihre Kehrseite. Ist es ganz wahr, wie der Recensent Radenhausens meint, dass an die Stelle der wunderbar wirkenden Causalität nur die » Möglichkeit« glücklicher Zufalle tritt? Was wir sehen, ist nicht Möglichkeit, sondern Wirklichkeit. Der einzelne Fall ist uns nur » möglich«, er ist uns »zufällig«, weil er durch das Getriebe von Naturgesetzen geordnet wird, die in unsrer menschlichen Auffassung nichts mit dieser speciellen Folge ihres Ineinandergreifens zu schaffen haben. Im grossen Ganzen aber können wir die Nothwendigkeit erkennen. Unter den zahllosen Fällen müssen sich auch die günstigen finden; denn sie sind wirklich da und alles Wirkliche ist durch die ewigen Gesetze des Universums hervorgerufen. In der That ist damit nicht sowohl jede Teleologie beseitigt, als vielmehr ein Einblick in das objektive Wesen der Zweckmässigkeit der Erscheinungswelt gewonnen. Wir sehen deutlich, dass diese Zweckmässigkeit im Einzelnen nicht die menschliche ist, ja, dass sie auch, so weit wir die Mittel bereits erkannt haben, nicht etwa durch höhere Weisheit hergestellt wird, sondern durch Mittel, welche ihrem logischen Gehalt nach entschieden und klar die niedrigsten sind, welche wir kennen. Diese Werthschätzung selbst ist aber wieder nur auf die menschliche Natur begründet, und so bleibt der metaphysischen, der religiösen Auffassung der Dinge, welche in ihren Dichtungen diese Schranken überschreitet, immer wieder ein Spielraum zur Herstellung der Teleologie, die aus der Naturforschung und aus der kritischen Naturphilosophie einfach und definitiv zurückzuweisen ist.

Das Studium der niederen Thierwelt, welches in den letzten Decennien, besonders seit Steenstrups Entdeckungen über den Generationswechsel gewaltige Fortschritte gemacht hat, beseitigt übrigens nicht nur den alten Artbegriff, sondern es wirft auch merkwürdiges Licht auf eine ganz andre Frage, die für die Geschichte des Materialismus von höchstem Interesse ist: auf die Frage nach dem Wesen des organischen Individuums. In Verbindung mit der Zellentheorie beginnen auch hier die neueren Entdeckungen einen so tiefgreifenden Einfluss auf unsre naturwissenschaftlichen und philosophischen Anschauungen auszuüben, dass es scheint, als würden die uralten Fragen des Daseins jetzt zum ersten mal in deutlicher Form an den Forscher und Denker gerichtet. Wir haben gesehn, wie der alte Materialismus dadurch in das Gebiet des absolut Widersinnigen geräth, dass er die Atome als das allein Exißtirende betrachtet, die doch nicht Träger einer höheren Einheit sein können, weil ausser Druck und Stoss keine Berührung zwischen ihnen vorkommt. Wir haben aber auch gesehn, dass grade dieser Widerspruch von Vielheit und Einheit dem menschlichen Denken überhaupt eigen ist, und dass er nur in der Atomistik am klarsten hervortritt. Die einzige Rettung besteht auch hier darin, dass der Gegensatz von Vielheit und Einheit als eine Folge unsrer Organisation gefasst wird, dass man annimmt, er sei in der Welt der Dinge an sich auf irgend eine uns unbekannte Weise gelöst oder vielmehr gar nicht vorhanden. Damit entgehen wir denn dem innersten Grunde des Widerspruchs, der überhaupt in der Annahme absoluter Einheiten besteht, die uns nirgends gegeben sind. Fassen wir alle Einheit als relativ, sehen wir in der Einheit nur die Zusammenfassung in unserm Denken, so haben wir damit zwar nicht das innerste Wesen der Dinge erfasst, wohl aber die Consequenz der wissenschaftlichen Betrachtung möglich gemacht. Die absolute Einheit des Selbstbewusstseins fährt zwar schlecht dabei, allein es ist kein Uebelstand, wenn eine Lieblingsvorstellung einiger Jahrtausende beseitigt wird. In diesem Abschnitt halten wir uns zunächst an die allgemeineren Erscheinungen der organischen Natur.

Goethe, dessen Morphologie wir als eine der gesundesten und fruchtbarsten Arbeiten unsrer so vielfach getrübten Epoche der Naturphilosophie betrachten dürfen, hatte den Standpunkt, auf welchen uns gegenwärtig alle neueren Entdeckungen mit Macht hindrängen, schon bloss durch die denkende Vertiefung in die mannigfaltigen Formen und Wandlungen der Pflanzen- und Thierwelt gewonnen. » Jedes Lebendige«, lehrt er, » ist kein Einzelnes, sondern eine Mehrheit; selbst insofern es uns als Individuum erscheint, bleibt es doch eine Versammlung von lebendigen selbständigen Wesen, die der Idee, der Anlage nach gleich sind, in der Erscheinung aber gleich oder ähnlich, ungleich oder unähnlich werden können. Diese Wesen sind theils ursprünglich schon verbunden, theils finden und vereinigen sie sich. Sie entzweien sich und suchen sich wieder und bewirken so eine unendliche Produktion auf alle Weise und nach allen Seiten. – Je unvollkommener das Geschöpf ist, desto mehr sind diese Theile einander gleich oder ähnlich, und desto mehr gleichen sie dem Ganzen. Je vollkommener das Geschöpf wird, desto unähnlicher werden die Theile einander. In jenem Falle ist das Ganze den Theilen mehr oder weniger gleich, in diesem das Ganze den Theilen unähnlich. Je ähnlicher die Theile einander sind, desto weniger sind sie einander subordinirt. Die Subordination der Theile deutet auf ein vollkommneres Geschöpf.«

Virchow, welcher diesen Ausspruch Goethes in einem trefflichen Vortrag über Atome und Individuen benutzt hat, ist zu den Männern zu zählen, welche durch positive Forschung und scharfsinnige Theorie dazu beigetragen haben, uns über das Verhältniss der Wesen aufzuklären, deren innige Gemeinschaft das »Individuum« bildet.

Die Pathologie, bis dahin ein Feld wüster und abergläubischer Vorurtheile, wurde durch ihn aus demselben Leben der Zellen erklärt, welches in seinen normalen Erscheinungen das Gesammtleben des gesunden Individuums erzeugt. Das Individuum ist nach seiner Erklärung » eine einheitliche Gemeinschaft, in der alle Theile zu einem gleichartigen Zwecke zusammenwirken, oder, wie man es auch ausdrücken mag, nach einem bestimmten Plane thätig sind.« Diesen Zweck erklärt Virchow weiterhin als einen inneren, immanenten. »Der innere Zweck ist auch zugleich ein äusseres Maass, über welches die Entwickelung des Lebendigen nicht hinausreicht.« Das Individuum, welches seinen Zweck und sein Maass in sich trägt, ist daher eine wirkliche Einheit im Gegensatz zu der bloss gedachten Einheit des Atoms.

Hier haben wir also in der Anerkennung eines immanenten Zweckes wieder das uralte formale Element, dessen die Naturauffassung so wenig ganz entbehren kann, dass wir es selbst bei C.  Vogt anerkannt finden. Mit einer begrifflichen Schärfe, die wir bei diesem Schriftsteller sonst nicht gewohnt sind, erklärt er in seinen Bildern aus dem Thierleben, nachdem er erörtert hat, wie die ersten erkennbaren Formen des Embryo aus den Zellenhaufen des Dotters hervorgehn: »So ist denn auch hier wieder erst mit dem Auftreten der Form der Organismus als Individuum gegeben, während vorher nur der gestaltlose Stoff vorhanden war.« Diese Aeusserung rührt nahe an Aristoteles. Die Form macht das Wesen des Individuums; wenn das wahr ist, mag man sie auch als Substanz bezeichnen, selbst wenn sie mit Naturnotwendigkeit aus den Eigenschaften des Stoffes hervorgeht Diese Eigenschaften sind doch bei Licht besehen nur wieder Formen, die sich zu höheren Formen zusammenschliessen. Die Form ist auch der wahre logische Kern der Kraft, wenn man von diesem Begriff die falsche Nebenvorstellung einer zwingenden menschenähnlichen Gewalt hinwegthut. Die Form allein sehen wir, wie wir die Kraft allein empfinden. Man beachte die Form eines Dinges, so ist es Einheit; man sehe von der Form ab, so ist es Vielheit oder Stoff, wie wir in dem Kapitel von der Scholastik erörtert haben.

Vogt hebt, theoretisch reiner, den metaphysischen Begriff der Einheit hervor; Virchow hält sich an den physiologischen, an die Gemeinsamkeit des Lebenszweckes, und dieser Begriff zeigt uns die Relativität des Gegensatzes von Einheit und Vielheit ganz anschaulich. Im Pflanzenreich kann ich nicht nur die Zelle und die ganze Pflanze als Einheit betrachten, sondern auch den Ast, den Spross, das Blatt, die Knospe. Es mag sich aus praktischen Gründen empfehlen, den einzelnen Trieb, welcher als Ableger ein selbständiges Dasein führen kann, als Individuum zu betrachten; dann ist die einzelne Zelle nur ein Theil desselben und die Pflanze ist eine Kolonie. Der Unterschied ist jedoch ein relativer. Kann die einzelne Zelle einer höheren Pflanze kein selbständiges Dasein führen, ohne in der Umgebung der andern Zellen zu bleiben, so kann es auch der Ableger nicht, ohne entweder in der Pflanze, oder im Boden zu wurzeln. Alles Leben ist nur im Zusammenhange mit naturgemässer Umgebung möglich und die Idee eines selbständigen Lebens ist bei dem ganzen Eichbaum so gut eine Abstraktion, wie bei dem kleinsten Fragment eines losgerissenen Blättchens. Unsre neueren Aristoteliker legen Werth darauf, dass der organische Theil nur im Organismus entstehen und nur in diesem leben könne. Es ist aber mit der mystischen Herrschaft des Ganzen über den Theil nicht viel anzufangen. Die ausgerissene Pflanzenzelle führt ihr Zellenleben in der That weiter, wie das ausgerissene Herz des Frosches noch zuckt. Wenn der Zelle kein Saft mehr zugeführt wird, so stirbt sie, wie in demselben Falle auch der ganze Baum stirbt; die kürzere oder längere Zeitdauer ist in den Verhältnissen begründet, nicht im Wesen des Dinges. Eher wäre Werth darauf zu legen, dass sich die Pflanzen nicht äusserlich aus Zellen zusammenschaaren, dass sich die einzelnen Zellen nicht direkt aus dem Nahrungsstoff bilden und so dem Ganzen zutreten, sondern dass sie stets in andern Zellen durch Theilung derselben entstehen. In der That findet für die organische Welt der aristotelische Satz, dass das Ganze vor dem Theil sei, so weit wir sehen können, meistens Anwendung; allein der Umstand, dass die Natur in der Regel so verfährt, berechtigt uns durchaus nicht, jenem Satz eine strenge Allgemeinheit zuzuschreiben. Er kann empirisch wahr sein und metaphysisch so falsch, wie alle metaphysischen Sätze. In der That reicht schon die blosse Thatsache des Oculirens hin, ihn in die engen Schranken gewöhnlicher Erfahrungssätze zurückzuweisen. Im vorigen Jahrhundert liebte man Versuche mit der Transfusion des Blutes aus einem thierischen Körper in den andern anzustellen, welche wenigstens theilweise gelangen. In neuerer Zeit hat man gradezu organische Theile von einem Körper auf den andern übertragen und zum Leben gebracht, und doch hat das Experimentiren über diese Seite der Lebensbedingungen kaum begonnen. Ja, bei niedern Pflanzen kommt in der That die Verschmelzung zweier Zellen neben der Theilung vor und bei niederen Thieren hat man sogar auch die förmliche Verschmelzung zweier Individuen wahrgenommen. Die Strahlenfüsschen, eine Generationsfolge der Glockenthierchen (vorticella) nähern sich häufig einander, legen sich innig aneinander, und es entsteht an der Berührungsstelle zuerst Abplattung und dann vollständige Verschmelzung. Ein ähnlicher Copulationsprocess kommt bei den Gregarinen vor und selbst bei einem Wurme, dem Diplozoon, fand Siebold, dass er durch Verschmelzung zweier Diporpen entsteht.

Die relative Einheit tritt bei den niederen Thieren besonders merkwürdig hervor bei jenen Polypen, welche einen gemeinsamen Stamm besitzen, an welchem durch Knospung eine Menge von Gebilden erscheint, die in gewissem Sinne selbständig, in andrer Hinsicht dagegen nur als Organe des ganzen Stammes zu betrachten sind. Man wird auf die Annahme geführt, dass bei diesen Wesen auch die Willensregungen theils allgemeiner, theils specieller Natur sind, dass die Empfindungen aller jener halb selbständigen Stämme in Rapport stehen und doch auch ihre besondere Wirkung haben. Vogt hat ganz Recht, wenn er den Streit um die Individualität dieser Wesen einen Streit um des Kaisers Bart nennt. »Es finden allmählige Uebergänge statt. Die Individualisation nimmt nach und nach zu.«

So zeigt uns das Gebiet der kosmischen Fragen allenthalben den Sieg der Gesetzmässigkeit auf Gebieten, wo bisher ein mystisches Dunkel herrschte. Wir hätten Wolken und Winde in die Betrachtung ziehn und Doves Eroberungen auf diesem bisher so unzugänglichen Gebiete der Entdeckungen und Folgerungen unsrer Chemiker, Physiker und Physiologen anführen können, um zu zeigen, wie sich das Netz systematischer Erkenntniss über dem ganzen Bereich der Erscheinungswelt zusammenzieht. Doch was für Epikur und Lucrez ein Werk von äusserster Wichtigkeit gewesen wäre, das ist für unser Zeitalter nur die wissenschaftliche Ausführung eines längst antecipirten Gedankens. Die Götter schrecken nicht mehr mit Sturm und Sonnenbrand; das Gemüth des Wissenden ist frei. Nach dieser Seite ist die Aufgabe des Materialismus erfüllt – erfüllt in einem Augenblicke, wo es zugleich über jeden Zweifel erhaben ist, dass der Materialismus in der Betrachtung des Weltganzen nicht das letzte Wort sein kann.


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