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IV. Der ethisch-physikalische Materialismus: Epikur.

Seit Hegel gelehrt hat, dass die Begriffe sich in Gegensätzen entwickeln, ist man aufmerksam geworden auf die Erscheinung des Wechsels in den Weltanschauungen und Grundsätzen, welche die kulturgeschichtliche Entwickelung der Menschheit beherrschen. Nach Abstreifung des falschen metaphysischen Ausdruckes beginnt man in jenem oft überraschend regelmässigen Wechsel ein Naturgesetz menschlichen Geisteslebens zu sehen, und man ist damit im Verständniss aller Geschichte einen guten Schritt weiter gekommen. Ueberblickt man die Geschichte der griechischen Philosophie im Grossen und Ganzen, so zeigt sich auch eine solche Entwickelung in Gegensätzen. Materialistische Denkweise beherrschte die Philosophie des fünften Jahrhunderts vor Christo, das Zeitalter eines Demokrit und Hippokrates. Erst gegen Ende dieses Jahrhunderts wurde durch Sokrates eine spiritualistische Richtung angebahnt, die, mannichfach modificirt, in den Systemen des Plato und Aristoteles das folgende Jahrhundert beherrscht.

Aber aus der eigenen Schule des Aristoteles gingen wieder Männer hervor, wie Dicäarch und Aristoxenus, welche die Substanzialität der Seele läugneten; endlich der berühmte Physiker Strato aus Lampsakus, dessen Lehre, so viel sich aus den spärlichen Ueberlieferungen entnehmen lässt, von einer rein materialistischen sich kaum unterscheidet.

Den νοῦς des Aristoteles betrachtete Strato nur noch als das auf Empfindung beruhende Bewusstsein. Die Thätigkeit der Seele fasste er als wirkliche Bewegung. Alles Sein und Leben leitete er her aus den der Materie innewohnenden Naturkräften.

Wenn wir jedoch finden, dass das ganze dritte Jahrhundert wieder durch eine neue Hebung materialistischer Denkweise bezeichnet ist, so macht Strato's Reform der peripatetischen Schule hier nur eine vermittelnde Richtung geltend. Entscheidend ist das System und die Schule Epikurs. Ja, selbst die grossen Gegner dieses Mannes, die Stoiker, neigen auf dem Gebiete der Physik entschieden zu materialistischer Auffassungsweise.

Wir gehen nun hier in unserer Darstellung mit einem Sprung über fast zwei Jahrhunderte sofort zu Epikur über. Wenn wir in einem späteren Abschnitte auf Aristoteles zurückgreifen, so geschieht dies wegen des Einflusses dieses Philosophen auf das Mittelalter und die Neuzeit. Hier handelt es sich nämlich nicht mehr blos um den principiellen Gegensatz, den Aristoteles gegen den Materialismus bildet, und der uns an und für sich nicht veranlassen konnte, auf sein System hier ausführlicher einzugehen; es handelt sich vielmehr gradezu um das Verständniss fast aller an den Materialismus sich anknüpfenden Streitfragen, weil aristotelische und pseudoaristotelische Anschauungen und Begriffs-Bezeichnungen während der Jahrhunderte langen Alleinherrschaft dieses Philosophen so tief eingewurzelt sind, dass man ohne Auseinandersetzung mit ihnen in keiner Weise fertig wird. Einen solchen Einfluss übte Aristoteles auf sein eigenes Zeitalter nicht aus, und wir können daher nach diesen Vorbemerkungen Epikur ruhig an Demokrit, Aristipp und die Sophisten anknüpfen. Anders würde es sich freilich stellen, wenn uns von den philosophischen Schriften eines Dicäarch und Strato Wesentliches erhalten wäre; den Verlust Strato's namentlich glauben wir den schmerzlichsten Lücken der griechischen Literatur an die Seite stellen zu dürfen.

Epikur wurde in einer attischen Gemeinde, Gargettos, im Jahre 342 v. Chr. geboren. Seine armen Eltern erloosten einen Kolonie-Antheil auf der Insel Samos, und dort wurde nun Epikur erzogen. In seinem 14. Jahre, erzählt man, las er in der Schule Hesiods Kosmogonie, und da alle Dinge aus dem Chaos abgeleitet wurden, fragte er, woher denn das Chaos sei? Hierauf konnten seine Lehrer nichts antworten, das ihm genügt hätte, und von Stund an begann der junge Epikur auf eigene Faust zu philosophiren.

In der That ist auch Epikur als Autodidakt zu betrachten, obgleich die wesentlichsten Gedanken, die er in seinem System vereinigte, einzeln bereits allgemein bekannt waren. Er schloss sich keiner der damals herrschenden Schulen an, studirte aber um so fleissiger die Werke Demokrits, die ihm das Fundament seiner Weltanschauung, die Lehre von den Atomen zuführten.

Bei alledem kann man nicht annehmen, dass Epikur aus Unkenntnis anderer Systeme seinen Weg als Autodidakt genommen habe; denn schon als Jüngling von 18 Jahren kam er nach Athen und hörte Xenokrates, den Schüler Plato's, während Aristoteles, der Gottlosigkeit angeklagt, zu Chalcis seinem Lebensende entgegensah.

Wie ganz anders war damals die Lage Griechenlands, als vor hundert Jahren, da Protagoras noch lehrte! Damals war der Gipfel äusserer Macht von Athen, der Stadt freier Bildung, erreicht. Kunst und Literatur standen in höchster Blüthe; die Philosophie war beseelt von übermüthiger Jugendkraft. – Epikurs Studium in Athen fiel in die Zeit des Unterganges der Freiheit.

Theben war zerstört und Demosthenes lebte in der Verbannung. Aus Asien schallten die Siegesbotschaften des Macedoniers Alexander herüber; die Wunder des Orients erschlossen sich, und der erweiterte Gesichtskreis liess mehr und mehr das hellenische Vaterland mit seiner glorreichen Vergangenheit als die abgeschlossene Vorstufe neuer Entwickelungen erscheinen, deren Woher und Wohin noch Niemand kannte.

Alexander starb plötzlich zu Babylon; die letzte Zuckung der Freiheit erfolgte, um von Antipator grausam unterdrückt zu werden. Unter diesen Wirren verliess auch Epikur wieder Athen, um nach dem ionischen Wohnsitze seiner Eltern zurückzukehren. In Kolophon, gegenüber der Insel Samos, lag er ferneren Studien ob und sammelte allmählig Anhänger. Erst als gereifter Mann kehrte er nach Athen zurück. Dort kaufte er einen Garten, in dem er mit seinen Anhängern lebte. Dieser Garten soll die Aufschrift getragen haben: »Fremdling, hier wird dir's wohl sein; hier ist das höchste Gut die Lust.«

Mässig und einfach lebte hier Epikur mit seinen Schülern in einträchtigem Streben, in herzlicher Freundschaft, wie in einer friedvollen Familie. In seinem Testament vermachte er den Garten seiner Schule, die noch lange dort ihren Mittelpunkt fand. Das ganze Alterthum kannte kein Beispiel eines schöneren und reineren Zusammenlebens, als das Epikurs und seiner Schule.

Bei dem Zerfall und Sinken der Staaten wie der Religion suchte in dieser Zeit der Einzelne seinen Halt an einem philosophischen Princip. Man suchte das höchste Gut; in diesem hatte der Philosoph sein Genügen, und wenn er es gefunden, ging ihn die Aussenwelt mit ihrem Thun und Treiben nichts mehr an. In diesem Punkte, wie in manchen anderen, standen die Epikureer in voller Harmonie mit ihren Gegnern, den Stoikern. Epikur verwaltete nie ein öffentliches Amt; doch soll er sein Vaterland geliebt haben. Er kam nie in Conflikt mit der Religion, denn er verehrte die Götter fleissig in der herkömmlichen Weise, ohne deshalb eine Ansicht von ihnen zu heucheln, die nicht die seinige war.

Das Dasein der Götter begründete er auf die klare subjective Erkenntniss, die wir von ihnen haben; aber nicht der sei gottlos, lehrte er, der die Götter der Menge leugnet, sondern vielmehr der, welcher den Meinungen der Menge von den Göttern anhängt. Man hat sie als ewige, unsterbliche Wesen zu betrachten, deren Seligkeit jeden Gedanken an eine Sorge oder ein Geschäft ausschliesst; daher gehen die Ereignisse der Natur ihren Gang nach ewigen Gesetzen und niemals greifen die Götter ein, deren Hoheit man beleidigt, wenn man glaubt, dass sie sich um uns kümmern; wir müssen sie aber verehren um ihrer Vollkommenheit willen. Es ist besser noch der Fabel von den Göttern anzuhängen, als sich der Schicksalsidee der Physiker hinzugeben.

Fasst man alle diese zum Theil widersprechend scheinenden Aeusserungen zusammen, so ist wohl kein Zweifel, dass Epikur in Wahrheit die Vorstellung von den Göttern als ein Element edlen menschlichen Wesens verehrte und nicht die Götter selbst als äussere Wesen. Unter diesem Gesichtspunkte einer subjectiven, das Gemüth zu harmonischer Stimmung bringenden Gottesverehrung allein lassen sich die Widersprüche lösen, in welche uns sonst das System Epikurs verwickelt bleiben müsste.

Denn wenn die Götter sind, aber nicht wirken, so würde das der gläubigen Frivolität der Massen gerade genügen, um sie zu glauben aber nicht zu verehren, und Epikur that im Grunde das Umgekehrte. Er verehrt die Götter um ihrer Vollkommenheit willen; dies konnte er thun, gleichviel, ob diese Vollkommenheit sich in ihren äusseren Wirkungen zeigt, oder ob sie nur in unseren Gedanken als Ideal sich entfaltet; und letzteres scheint sein Standpunkt gewesen zu sein.

In diesem Sinne dürfen wir auch nicht denken, dass seine Verehrung der Götter lediglich Heuchelei gewesen sei, um sich mit der Masse des Volkes und mit der gefährlichen Priesterschaft auf gutem Fusse zu erhalten; sie kam ihm gewiss von Herzen, da seine sorglosen und schmerzenlosen Götter in der That das wirkliche Ideal seiner Philosophie gleichsam verkörpert darstellten. Es war höchstens eine Concession an das Bestehende und gewiss eine süsse Jugendgewohnheit zugleich, wenn er sich hier den Formen anschloss, die allerdings von seinem Standpunkt aus mindestens als willkürlich und in ihren Besonderheiten gleichgültig erscheinen mussten.

So konnte Epikur gleichzeitig durch weise Frömmigkeit sein Leben würzen und dennoch das Bestreben in den Mittelpunkt seiner Philosophie setzen, jene Beruhigung zu gewinnen, die allein auf Befreiung von thörichtem Aberglauben ihre unerschütterliche Grundlage findet.

So lehrte denn Epikur ausdrücklich, dass auch die Bewegung der Himmelskörper nicht auf Wunsch oder Antrieb eines göttlichen Wesens erfolge; auch seien die Himmelskörper nicht selbst göttliche Wesen, sondern alles sei durch eine ewige Ordnung geregelt, nach der Entstehen und Vergehen wechseln müsse.

Den Grund dieser ewigen Ordnung zu erforschen ist das Geschäft der Naturforscher, und in dieser Erkenntniss finden die vergänglichen Wesen ihre Glückseligkeit.

Die blosse historische Kenntniss der Naturvorgänge ohne Wissen um die Gründe hat keinen Werth; denn sie befreit nicht von Furcht und erhebt nicht über den Aberglauben. Je mehr Ursachen der Veränderung wir gefunden haben, destomehr erhalten wir die Ruhe der Betrachtung, und man darf nicht glauben, dass diese Forschung ohne Einfluss auf die Glückseligkeit sei. Denn die vornehmste Unruhe entsteht dem menschlichen Herzen daraus, dass man diese irdischen Dinge als unvergänglich und beseeligend ansieht, und alsdann vor jeder Veränderung, die dennoch eintritt, zittern muss. Wer den Wechsel der Dinge als nothwendig zu ihrem Wesen gehörig ansieht, ist offenbar frei von dieser Noth.

Andere fürchten nach den alten Mythen eine ewige unglückliche Zukunft, oder wenn sie zu klug sind dieses zu glauben, so fürchten sie wenigstens die Beraubung alles Gefühls, welche der Tod mit sich bringt, als ein Uebel, gleichsam als könnte die Seele dasselbe noch fühlen.

Der Tod ist aber für uns gleichgültig, denn er beraubt uns ja eben der Empfindung. So lange wir sind, ist der Tod nicht da; wenn nun aber der Tod da ist, sind wir nicht mehr da. Man kann aber auch nicht das Herannahen eines Dinges fürchten, das an sich selbst nichts Fürchterliches hat. Noch thörichter ist es freilich, einen frühen Tod zu rühmen, den man sich ja gleich selbst geben kann. Für den ist kein Uebel mehr im Leben, der sich wahrhaft überzeugt hat, dass nicht zu leben kein Uebel mehr sei.

Jede Lust ist ein Gut, jeder Schmerz ist ein Uebel; aber deshalb ist noch nicht jede Lust zu verfolgen und jeder Schmerz zu fliehen. Bleibende Wollüste sind allein die Seelenruhe und die Schmerzlosigkeit, und diese sind daher der wahre Zweck des Daseins. –

Auf diesem Punkte weicht Epikur schroff ab von Aristipp, der die Lust in der Bewegung fand und die einzelne Lust für den wahren Zweck erklärte. Das stürmische Leben Aristipps gegenüber dem ruhigen Gartenleben Epikurs zeigt, wie dieser Gegensatz durchgeführt wurde. Unruhige Jugend und zurückgezogenes Alter der Nation wie der Philosophie scheinen sich zugleich in diesen Gegensätzen zu spiegeln.

Nicht weniger tritt Epikur dem Aristipp, von dem er so viel gelernt hatte, gegenüber, indem er die geistige Lust für höher und vorzüglicher erklärt, als die physische, denn sie umfasse nicht nur das Gegenwärtige, sondern auch das Vergangene und Zukünftige.

Bei diesem Fehlschluss scheint Epikur übersehen zu haben, dass Vergangenheit oder Zukunft nur in den Dingen sind, während der beglückende Gedanke an sie stets doch nur als ein gegenwärtiger empfunden werden kann. – Dabei war jedoch auch Epikur consequent, dass er erklärte, die Tugenden müsse man nur um der Lust willen erwählen, wie die Heilkunst um der Gesundheit willen; allein er setzte hinzu, dass die Tugend allein von der Lust unzertrennlich; alles Uebrige könne als vergänglich von ihr getrennt werden. So nahe stand Epikur logisch seinen Gegnern Zeno und Chrysippus, welche erklärten, dass die Tugend allein das Gute sei; und dennoch zufolge der Verschiedenheit des Ausgangspunktes die grösste Verschiedenheit der Systeme!

Alle Tugenden leitet Epikur aus der Weisheit ab, die uns lehre, dass man nicht glücklich sein könne, ohne weise, edel und gerecht zu sein, und dass man umgekehrt auch nicht weise, edel und gerecht sein könne, ohne wahrhaft glücklich zu sein. Die Physik tritt bei Epikur in den Dienst der Ethik, und es konnte nicht ausbleiben, dass diese untergeordnete Stellung auf seine Naturerklärung nachtheilig einwirkt. Denn da es der ganze Zweck der Naturerklärung ist, von Furcht und Unruhe zu befreien, so hört der Trieb des Forschens auf, sobald dieser Zweck erreicht ist. Er ist aber erreicht, sobald nachgewiesen ist, wie die Ereignisse aus allgemeinen Gesetzen hervorgehen können. Die Möglichkeit genügt hier, denn wenn ein Erfolg auf natürlichen Ursachen beruhen kann, so brauche ich schon nicht mehr nach übernatürlichen zu greifen. Man erkennt hier ein Princip, das der deutsche Rationalismus des vorigen Jahrhunderts nicht selten auf die Erklärung von Wundern anwandte.

Es wird darüber vergessen zu fragen, ob und wie wir beweisen können, was der wirkliche Grund der Ereignisse sei, und dieser Mangel an Entscheidung rächt sich; denn auf die Dauer beruhigen doch nur diejenigen Erklärungen, in denen sich ein Zusammenhang und ein einheitliches Princip ausspricht.

So nahm Epikur hinsichtlich des Mondes an, er könne sein eigenes Licht haben, es könne aber auch von der Sonne kommen. Wenn er sich nun plötzlich verfinstert, so kann ja ein vorübergehendes Erlöschen des Lichtes stattfinden; es kann aber auch sein, dass die Erde zwischen Sonne und Mond tritt und so durch ihren Schatten die Verfinsterung hervorruft.

Letztere Meinung scheint freilich die eigentliche Schulerklärung der Epikureer gewesen zu sein; allein sie wird auch mit der anderen so zusammengestellt, dass man sieht, die Entscheidung gilt als unwesentlich. Man kann wählen, welche Hypothese man vorzieht; nur bleibe die Erklärung natürlich.

Diese Natürlichkeit musste auf Analogien mit anderen bekannten Fällen beruhen, denn Epikur erklärt, dass das ächte Naturstudium nicht willkürlich neue Gesetze aufstellen dürfe, sondern dass es überall auf die wirklich beobachteten Vorgänge sich gründen müsse. Sobald man den Weg der Beobachtung verlässt, ist man von der Spur der Natur abgekommen und wird auf Hirngespinnste getrieben.

Im Uebrigen ist die Naturlehre Epikurs fast völlig die des Demokrit, nur ist sie uns durch ausführlichere Nachrichten erhalten. Folgende Sätze enthalten das Wichtigste:

Aus Nichts wird Nichts, denn sonst könnte aus Allem Alles werden. Alles was ist, ist Körper; unkörperlich ist nur der leere Raum.

Von den Körpern sind einige aus Verbindung entstanden; andere sind die, aus denen alle Verbindungen entstehen. Diese sind untheilbar und absolut unveränderlich.

Das Weltall ist unbegrenzt und daher muss auch die Zahl der Körper eine unendliche sein.

Die Atome sind in beständiger Bewegung, theils weit von einander entfernt, theils gerathen sie nahe zusammen und verbinden sich. Einen Anfang hiervon aber giebt es nicht. In den Atomen sind keine Qualitäten, ausser Grösse, Figur und Schwere.

Dieser Satz, der das Vorhandensein innerer Zustände im Gegensatze zu äusseren Bewegungen und Verbindungen förmlich leugnet, bildet einen der charakteristischen Punkte des Materialismus überhaupt. Mit der Annahme innerer Zustände hat man bereits das Atom zur Monade gemacht und man bewegt sich zum Idealismus oder zum pantheistischen Naturalismus hinüber.

Die Atome sind kleiner als jede messbare Grösse. Sie haben eine Grösse, aber nicht diese oder jene bestimmte, denn jede angebbare Grösse kommt ihnen nicht zu.

Ebenso ist die Zeit, in welcher sich die Atome im leeren Raume bewegen, ganz unangeblich klein; ihre Bewegung hat durchaus kein Hinderniss. Die Figuren der Atome sind begrenzt, aber von unangeblicher Mannigfaltigkeit.

In einem begrenzten Körper aber ist auch Zahl und Verschiedenheit der Atome eine endliche, es giebt daher auch keine Theilung bis ins Unendliche.

Im leeren Raume giebt es kein Oben und Unten; dennoch muss auch hier eine Richtung der Bewegung der anderen entgegengesetzt sein. Solcher Richtungen giebt es unzählige, bei denen man in Gedanken ein Oben und Unten denken kann. – Die Seele ist ein feiner, durch das ganze Aggregat des Leibes zerstreuter Körper, am ähnlichsten dem Lufthauch mit einer Beimischung von Wärme. – Hier müssen wir die Gedanken Epikurs wieder durch eine kurze Bemerkung unterbrechen.

Unseren heutigen Materialisten würde gerade die Annahme einer solchen aus feiner Materie bestehenden Seele unter allen am meisten widerstehen. Allein während man dergleichen Annahmen jetzt meist nur noch bei phantastischen Dualisten findet, stand die Sache damals, wo man von der Art der Nerventhätigkeit und den Funktionen des Gehirns nichts wusste, ganz anders.

Die materielle Seele Epikurs ist ein ächter Bestandteil des leiblichen Lebens, ein Organ, und nicht ein fremdartiges, für sich bestehendes und bei der Auflösung des Körpers für sich beharrendes Wesen.

Dies geht aus den folgenden Ausführungen deutlich hervor:

Der Leib deckt die Seele und leitet ihr die Empfindungen zu; er wird durch sie der Empfindungen mit theilhaftig, jedoch unvollständig, und er verliert diese Empfindung, wenn die Seele sich zerstreut. Löst sich der Körper auf, so muss die Seele sich mit auflösen.

Die Entstehung der Bilder im Verstande kommt her von einer beständigen Ausstrahlung feiner Theilchen von der Oberfläche der Körper. Auf diese Art gehen wirkliche Abbilder der Dinge stofflich in uns ein.

Auch das Hören geschieht durch eine Strömung, die von den tönenden Körpern ausgeht. Sobald der Schall entsteht, wird der Laut aus gewissen Schwellungen gebildet, welche eine luftähnliche Strömung erzeugen.

Interessanter als jene Hypothesen, die beim Mangel aller wahren Naturforschung nicht anders als höchst kindlich ausfallen konnten, sind solche Principien der Anschauungen, die von genauen positiven Kenntnissen unabhängiger sind. So versuchte Epikur die Entstehung der Sprache und des Wissens auf Naturgesetze zurückzuführen.

Die Benennungen der Dinge, lehrte er, sind nicht positiv entstanden, sondern indem die Menschen, je nach der Natur der Dinge, eigentümliche Laute ausstiessen. Durch Uebereinkunft befestigte sich nun der Gebrauch dieser Laute, und so entwickelten sich die verschiedenen Sprachen. Neue Gegenstände veranlassten auch neue Laute, die dann durch den Gebrauch selbst sich ausbreiteten und verständlich wurden.

Die Natur hat den Menschen mannichfach belehrt und in die Nothwendigkeit versetzt, zu handeln.

Ueber nahe gebrachte Gegenstände entsteht von selbst Nachdenken und Forschung, bei den einen rascher, bei den andern langsamer; und so läuft die Entwicklung der Begriffe durch gewisse Perioden ins Unendliche fort.

Am wenigsten bildete Epikur die Logik aus, aber mit gutem Bedacht und aus Gründen, die seinem Denken wie seinem Charakter alle Ehre machen. Wenn man bedenkt, wie die grosse Masse der griechischen Philosophen durch paradoxe Behauptungen und dialektische Kunstgriffe zu glänzen suchte und meist mehr verwirrte als erklärte, so kann man den gesunden Sinn Epikurs nur loben, der ihn die Dialektik als unnütz und sogar schädlich verwerfen liess. Er bediente sich daher auch keiner technischen Terminologie von fremdartigem Klange, sondern erklärte alles in der gewöhnlichen Sprache. Vom Redner verlangte er nichts als Deutlichkeit. Dessenungeachtet suchte er einen Kanon der Wahrheit aufzustellen.

Epikur war der fruchtbarste Schriftsteller der Alten, ausser dem Stoiker Chrysippus, der ihn hierin übertreffen wollte und übertraf; aber während die Bücher des Chrysippus von entlehnten Stellen und Citaten strotzten, citirte Epikur nie und schnitt alles aus ganzem Holze.

Unverkennbar spricht sich in dieser Verschmähung aller Citate jener Radikalismus aus, der sich nicht selten mit materialistischen Anschauungen verbindet: eine Verschmähung des historischen Princips gegenüber dem naturhistorischen. Nehmen wir diese drei Punkte zusammen: dass Epikur Autodidakt war und sich keiner herrschenden Schule anschloss, dass er ferner die Dialektik hasste und sich allgemein verständlicher Sprache bediente, endlich dass er nie citirte und die Andersdenkenden in der Regel einfach ignorirte, so haben wir hier wohl den wahren Grund des Hasses, den so manche fachmässige Philosophen auf ihn geworfen haben. Die Beschuldigung der Ungründlichkeit fliesst aus derselben Quelle, denn noch heutzutage ist nichts verbreiteter als die Neigung, in unverständlichen, durch einen Schematismus zusammenhängenden Phrasen die Gründlichkeit eines Systems zu suchen. Wenn unsere heutigen Materialisten in der Bekämpfung philosophischer Terminologie zu weit gehen und oft genug Bezeichnungen als unklar verwerfen, die einen ganz bestimmten und nur dem Anfänger nicht sofort verständlichen Sinn ergeben, so ist dies namentlich der Vernachlässigung der geschichtlich gewordenen, genauen Bedeutung der Ausdrücke zuzuschreiben. Ohne Epikur mit Bestimmtheit einen ähnlichen Vorwurf machen zu können, müssen wir doch diesem gemeinsamen Zuge des Ungeschichtlichen Beachtung schenken. Den schärfsten Gegensatz gegen den Materialismus bildet in dieser Beziehung wie in so mancher andern Aristoteles.

Es verdient Beachtung, dass die griechische Philosophie, insofern sie sich in gesunden, einheitlichen und rein intellectuell und sittlich begründeten Systemen darstellt, mit Epikur und seiner Schule abschliesst, wie sie mit den ionischen Naturphilosophen beginnt. Die weitern Entwicklungen fallen den positiven Wissenschaften zu, während die speculative Philosophie im Neuplatonismus völlig ausartet.

Als der greise Epikur zu Athen inmitten seines Schülerkreises heiter sein Leben beschloss, war bereits zu Alexandria ein neuer Schauplatz griechischen Geisteslebens eröffnet.

Die Zeit liegt noch nicht fern, in der man sich darin gefiel, alexandrinischen Geist als das Stichwort für thatenscheue Gelehrsamkeit und pedantische Wissenskrämerei zu gebrauchen. Selbst mit der Anerkennung alexandrinischer Forschungen verbindet man noch jetzt in der Regel den Gedanken, dass nur der völlige Schiffbruch eines tüchtigen nationalen Lebens dem rein theoretischen Bedürfnisse der Erkenntniss einen solchen Raum habe zugestehen können.

Diesen Ansichten gegenüber ist es auch für unsern Gegenstand von Wichtigkeit, auf den schöpferischen Geist, auf den lebendigen Funken eines grossartigen und in seinem Ziel wie in seinen Mitteln kühnen und gediegenen Strebens hinzuweisen, das uns die Gelehrtenwelt Alexandrias bei näherem Einblicke zeigt.

Denn wenn die griechische Philosophie, aus materialistischen Anfängen entsprossen, nach einem kurzen und glänzenden Kreislauf durch alle erdenklichen Standpunkte in materialistischen Systemen und materialistischen Wendungen anderer Systeme ihren Abschluss fand, so hat man ein Recht, nach dem Endresultat aller dieser Wandlungen zu fragen.

Dieses Endresultat kann man in verschiedenem Sinne aufsuchen. In philosophischen Kreisen hat eine Construction hie und da Beifall gefunden, welche den Gang der Philosophie mit dem Verlauf eines Tages von Nacht durch Morgen und Mittag und Abend wieder zur Nacht hin vergleicht. Die ionischen Naturphilosophen einerseits, der Epikureismus anderseits fallen alsdann der Nacht anheim.

Man darf aber nicht vergessen, dass der Abschluss der griechischen Philosophie mit der Rückkehr Epikurs zu den einfachsten Grundanschauungen nicht in den Zustand poesievoller Kindheit der Nation zurückführte, sondern vielmehr den natürlichen Uebergang bildete zu einem Zeitalter der fruchtbarsten Forschungen auf dem Felde der positiven Wissenschaften.

Historiker halten sich zwar gern an die Thatsache, dass in Griechenland der reissend schnelle Entwickelungsgang der Philosophie eine unheilbare Trennung zwischen dem Denken der geistigen Aristokratie und dem Dichten und Trachten des Volkes hervorbrachte; dass diese Trennung den Untergang der Nation herbeiführte. Allein man kann dies letztere zugeben und dabei wohl festhalten, dass der Untergang der einzelnen Nation den Fortschritt der Menschheit nicht aufhebt, ja, dass eben im Untergang der Nation das Resultat ihres Strebens, gleich dem Samen der hinwelkenden Pflanze, am gereiftesten und eben deshalb am vollendetsten ausgebildet ist. Sieht man dann, wie solche Resultate wirklich in späteren Zeiten zum Lebenskeim neuer ungeahnter Fortschritte werden, so wird man auch den Gang der Philosophie und der wissenschaftlichen Forschung von einem höheren culturhistorischen Standpunkte aus unbefangener betrachten. Nun lässt sich aber in Wirklichkeit nachweisen, wie die glänzende Naturforschung unserer Zeit in der Epoche ihres Entstehens überall anknüpft an die Ueberlieferungen der Alexandriner.

Weltbekannt sind die Bibliotheken und Schulen von Alexandria, die Munificenz der Könige, der Eifer der Lehrer und Lernenden. Allein alles das ist es nicht, was Alexandrias welthistorische Bedeutung macht: es ist vielmehr der Lebensnerv aller Wissenschaft, die Methode, die hier zum erstenmale in einer Weise auftrat, die für alle Folgezeit entschied; und dieser methodologische Fortschritt ist nicht beschränkt auf diese oder jene Wissenschaft, selbst nicht auf Alexandria allein, er ist vielmehr das gemeinsame Kennzeichen hellenischen Forschens nach Abschluss der spekulativen Philosophie. Die Grammatik, begründet in ihren ersten Elementen durch die Sophisten, fand in dieser Zeit einen Aristarch von Samothrake, das Vorbild der Kritiker, einen Mann, von dem die Philologie unserer Tage noch gelernt hat.

In der Geschichte begann Polybius Ursachen und Wirkungen in organischen Zusammenhang zu setzen. An Manethos chronologische Forschungen suchte in der neueren Zeit der grosse Scaliger wieder anzuknüpfen.

Euklid schuf die Methode der Geometrie und gab die Elemente, die noch in unseren Tagen dieser Wissenschaft zu Grunde liegen.

Archimedes fand in der Theorie des Hebels das Fundament der ganzen Statik: von ihm bis auf Galilei machten die mechanischen Wissenschaften keinen Fortschritt mehr.

Ganz besonders aber glänzt unter den Wissenschaften dieser Epoche die Astronomie, die seit Thales und Anaximander geruht hatte. Sehr bezeichnend spricht Whewell von der »inductiven Epoche Hipparchs«, denn in der That war es die inductive Methode in ihrer ganzen Gründlichkeit und Genialität, die zum ersten Male von Hipparch gehandhabt wurde. Die Beweiskraft der inductiven Methode beruht aber auf der Voraussetzung eben jener Gesetzmässigkeit und Notwendigkeit des Weltganges, welche Demokrit zuerst entscheidend zum Bewusstsein gebracht hatte. Hieraus erklärt sich auch der tiefgreifende Einfluss der Astronomie in den Tagen eines Kopernikus und Keppler, der wahren Wiederhersteller jener Methode, die Baco formulirte.

Die nothwendige Ergänzung der inductiven Methode, der zweite Grundpfeiler unserer heutigen Wissenschaften, ist bekanntlich das Experiment. Auch diess wurde zu Alexandria geboren, und zwar in den Schulen der Medicin.

Durch Herophilus und Erasistratus wurde die Anatomie zur Grundlage medicinischen Wissens gemacht, und selbst Vivisectionen scheinen im Gebrauch gewesen zu sein. Eine einflussreiche Schule entstand, welche die Empirie im besten Sinne des Wortes zu ihrem Princip machte und grosse Fortschritte lohnten dies Streben. Fassen wir all diese glänzenden Erscheinungen zusammen, so muss uns das alexandrinische Studium mit hoher Achtung erfüllen. Es war nicht Mangel an Lebensfähigkeit, sondern der Gang der Weltgeschichte, der diesem Streben vorläufig ein Ziel setzte, und man kann sagen, dass die Herstellung der Wissenschaften zunächst eine Herstellung der alexandrinischen Principien war.


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