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III. Der Materialismus in der Gesellschaft und sein Einfluss auf Staat und Religion.

Während Demokrit nach einigen incognito, nach anderen gar nicht nach Athen gekommen war, wurde diese Stadt nunmehr ein Mittelpunkt geistigen Lebens, in dem sich alle Strahlen sammelten. Hier war seit den Perserkriegen unter dem Einflusse der neuen Denkweise eine Veränderung vor sich gegangen, die sich durch alle Schichten der Gesellschaft erstreckte. Durch Perikles' mächtige Leitung gelangte der Staat zum Bewusstsein seiner Bestimmung. Handel und Seeherrschaft begünstigten die Erhebung der materiellen Interessen. Der Unternehmungsgeist der Athener stieg ins Grossartige. Die Zeit, da Protagoras lehrte, war nahezu dieselbe Zeit, welche die gewaltigen Bauwerke der Akropolis emporsteigen sah.

Das Steife und Altväterliche verlor sich und die Kunst erreichte im Durchgangspunkt zum Schönen jene Erhabenheit des Styls, die in den Werken eines Phidias sich aussprach. Aus Gold und Elfenbein erhuben sich die wunderbaren Bildwerke der Pallas Parthenos und des Zeus von Olympia; und während schon der Glaube in allen Schichten zu wanken begann, erreichten die Festzüge der Götter den höchsten Grad der Pracht und Herrlichkeit. Materieller und üppiger als Athen war in jeder Hinsicht Korinth; allein Korinth war nicht die Stadt der Philosophen. Hier stellte sich die geistige Apathie und die Versunkenheit in Sinnlichkeit ein, welcher die traditionellen Formen des Gottesdienstes sich nicht nur anbequemten, sondern zuvorkamen.

So zeigt sich schon im Alterthum sowohl der Zusammenhang zwischen theoretischem und praktischem Materialismus, als auch der Gegensatz beider in unverkennbarer Weise.

Denn es ist keine Frage, dass unter allen Gährungsmitteln des geistigen Lebens im Alterthum die materialistische und sensualistische Philosophie eine der wichtigsten Rollen spielt, während die bekannteren Systeme eines Sokrates, Plato und Aristoteles nicht sowohl als treibende Elemente betrachtet werden dürfen, sondern vielmehr als die Folge der Blüthezeit, als die reife Frucht und als der Gewinn jener läuternden Kämpfe. Freilich war es auch dasselbe Element, das Griechenlands höchste Blüthe herbeigeführt hatte, welches bald den Verfall herbeiführte. Die Auflösung des Glaubens durch die Wissenschaft, die Verweltlichung der Künste, die Hebung der materiellen Interessen waren Elemente, die, einmal angeregt, nicht mehr zu hemmen waren, und wie die schnelle Entfaltung einer Blüthe der sicherste Grund ihres baldigen Welkens ist: nach demselben Naturgesetz stieg und sank Griechenland.

Als im Jahre 411 Protagoras vertrieben wurde, weil er sein Buch über die Götter mit den Worten begann: »Von den Göttern weiss ich nicht, ob sie sind oder nicht sind« – da war es zu spät mit der Rettung der conservativen Interessen, für die selbst ein Aristophanes vergeblich die Kräfte der Bühne in Bewegung setzte; und selbst das Opfer eines Sokrates konnte den Zeitgeist nicht mehr hemmen.

Schon während des peloponnesischen Krieges, bald nach dem Tode des Perikles, war die grosse Revolution im ganzen Leben der Athener entschieden, deren Träger vor Allem die Sophisten waren.

Dieser rasche Auflösungsprocess steht einzig in der Geschichte da; kein Volk lebte so schnell wie das der Athener. So belehrend diese Wendung ihrer Geschichte auch sein mag, so nahe liegt auch die Gefahr, aus ihr falsche Schlüsse zu ziehen.

So lange ein Staat, wie Athen vor Perikles, in mässiger Entwickelung alte Traditionen festhält, fühlen sich alle Bürger anderen Staaten gegenüber in einseitigem Interesse zusammengehalten. Diesem gegenüber hat die Philosophie der Sophisten und die der Cyrenaiker eine kosmopolitische Färbung.

Der Denker überfliegt in wenigen Schlussfolgerungen Ergebnisse, für deren Realisirung die Weltgeschichte Jahrtausende braucht. Die kosmopolitische Idee kann daher im Allgemeinen richtig und im Besonderen verderblich sein, weil sie das Interesse der Bürger für den Staat und damit die Lebenskraft des Staates lähmt.

So lange an den Traditionen festgehalten wird, ist endlich dem Ehrgeiz und den Talenten des Einzelnen eine Schranke gesetzt. Alle diese Schranken werden durch den Grundsatz, dass jeder einzelne Mensch das Maass aller Dinge in sich habe, aufgehoben. Hiegegen sichert nur das schlechthin Gegebene, aber das Gegebene ist das Unvernünftige, weil das Denken stets zu neuen Entwicklungen treibt. Das begriffen die Athener bald, und nicht nur die Philosophen, sondern auch ihre eifrigsten Gegner lernten das Raisonniren, Kritisiren, Disputiren und Projecte machen. Die Sophisten schufen auch die Demagogik; denn sie lehrten die Redekunst mit der ausdrücklichen Angabe, zu verstehen, wie man die Menge nach seinem Sinn und seinem Interesse lenken könne.

Da entgegengesetzte Behauptungen gleich wahr sind, so kam es für Protagoras und seine Gesinnungsgenossen nur darauf an, die persönliche Ansicht geltend zu machen, und es wurde eine Art moralischen Faustrechts eingeführt. Jedenfalls besassen die Sophisten in dieser Kunst eine bedeutende Technik und tiefe psychologische Einsicht, sonst hätte man ihnen nicht ein Gehalt bezahlt, das, mit den Honoraren unserer Tage verglichen, sich mindestens wie ein Kapital zum Zins verhielt. Auch lag nicht die Idee einer Belohnung der Mühe zu Grunde, sondern die des Kaufens einer Kunst, die ihren Mann machte.

Aristipp, dessen Blüthezeit in das 4. Jahrhundert fällt, war schon ein geborner Kosmopolit. Die Höfe der Tyrannen waren sein Lieblingsaufenthalt, und bei Dionysius von Syrakus traf er nicht selten mit seinem geistigen Antipoden Plato zusammen. Dionysius schätzte ihn mehr als alle anderen Philosophen, weil er aus jedem Augenblick etwas zu machen wusste; freilich wohl auch, weil er sich allen Launen des Tyrannen fügte.

In dem Satze, dass nichts Natürliches schimpflich sei, traf Aristipp mit dem »Hunde« Diogenes zusammen; daher soll ihn auch der Witz des Volkes den »königlichen Hund« genannt haben. Dies ist nicht ein zufälliges Zusammentreffen, sondern eine Verwandtschaft der Principien, die bei aller Verschiedenheit der Folgerungen besteht. Auch Aristipp war bedürfnisslos; denn er hatte stets was er bedurfte, und fühlte sich in Lumpen umherirrend gleich sicher und glücklich als in königlicher Pracht.

Aber dem Beispiel der Philosophen, die sich's an fremden Höfen gefallen liessen und es lächerlich fanden, consequent dem spiessbürgerlichen Interesse eines einzelnen Staates zu dienen, folgten bald die politischen Gesandten Athens und anderer Republiken, und die Freiheit Griechenlands konnte kein Demosthenes mehr retten.

Was den religiösen Glauben betrifft, so verdient es Beachtung, dass gleichzeitig mit der Lockerung des Glaubens, die sich vom Theater aus durch Euripides unter dem Volke verbreitete, eine Unzahl neuer Mysterien aufkam.

Nur zu häufig hat die Geschichte bereits gezeigt, dass, wenn die Gebildeten über die Götter zu lächeln oder ihr Wesen in philosophische Abstraktionen aufzulösen beginnen, alsdann der halbgebildete Haufe, unsicher und unruhig geworden, nach jeder Thorheit greift, um sie zur Religion zu erheben.

Asiatische Kulte mit phantastischen, zum Theil unsittlichen Gebräuchen fanden den meisten Anklang. Kybele und Kotytto, Adonisdienst und orphische Weissagungen auf Grund dreist fabricirter heiliger Bücher verbreiteten sich in Athen wie im übrigen Griechenland. So wurde die grosse Religionsmischung angebahnt, welche seit dem Alexanderzuge den Orient und das Abendland verband, und die der späteren Ausbreitung des Christenthums so wesentlich vorarbeitete.

Unterdessen wurden die Philosophen zuversichtlicher in ihren Schlüssen. Aus der Schule Aristipps ging Theodorus hervor, der Erste, der es wagte, dreist und rund heraus die Götter für nicht existirend zu erklären. Ihn nannte man ἄϑεος, und er kann somit als Vater der Atheisten betrachtet werden. Aus seinem Buche über die Götter soll Epikur geschöpft haben.

Auf Kunst und Wissenschaft wirkten die sensualistischen Doctrinen nicht minder umgestaltend. Das Material der empirischen Wissenschaften wurde durch die Sophisten popularisirt. Sie selbst waren meist Männer von grosser Gelehrsamkeit, die den Schatz ihrer solid erworbenen Kenntnisse vollkommen beherrschten und stets für praktischen Gebrauch bereit hatten; allein sie waren in den Naturwissenschaften keine Forscher, sondern nur Verbreiter. Dagegen verdankt man ihren Bestrebungen die Grundlegung der Grammatik und die Ausbildung einer mustergültigen Prosa, wie die fortgeschrittene Zeit statt der engen poetischen Form sie forderte, vor allem auch die hohe Ausbildung der Redekunst. Die Poesie sank unter ihrem Einflusse allmählig von ihrer idealen Höhe herab und näherte sich in Ton und Inhalt dem Charakter des Modernen. Verwickelung, Spannung, geistreicher Witz und Rührung machten sich mehr und mehr geltend.

Keine Geschichte macht es anschaulicher als die der Hellenen, dass es durch ein Naturgesetz menschlicher Entfaltung keine starre Dauer des Guten und Schönen giebt. Es sind die Durchgangspunkte bei der geregelten Bewegung von einem Princip zum andern, die das Grösste und Schönste in sich bergen. Man hat deshalb kein Recht, von einer wurmstichigen Blüthe zu sprechen: das Gesetz des Blühens selbst ist es, was zum Welken führt, und in dieser Hinsicht stand Aristipp auf der Höhe seiner Zeit, als er lehrte, dass es der Augenblick sei, der allein beglücke.


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