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III. Die Wiederkehr materialistischer Anschauungen mit der Regeneration der Wissenschaften.

Statt positiver Errungenschaften gab die Herrschaft der Scholastik auf dem Gebiet der Wissenschaften nur ein festes, durch Jahrhunderte geheiligtes System von Begriffen und Ausdrücken, und der Fortschritt musste sogar damit beginnen, dies System, in welchem die Vorurtheile und Grundirrthümer der überlieferten Philosophie verkörpert waren, zu zertrümmern. Dennoch leisteten auch die Bande der Scholastik für ihre Zeit der geistigen Entwickelung der Menschheit einen wichtigen Dienst. Wie das Theologenlatein jener Zeit, so bildeten auch die Formeln der Scholastik ein gemeinsames Element geistigen Verkehrs für ganz Europa. Von der formalen Denkübung abgesehen, die auch in der entartetsten Form der aristotelischen Philosophie noch höchst bedeutend und wirksam blieb, war dieselbe Gemeinsamkeit, welche das alte System geschaffen hatte, bald auch ein vorzügliches Medium für die Verbreitung neuer Gedanken. Die Zeit des Wiederauflebens der Wissenschaften fand eine Verbindung unter den Gelehrten Europas vor, wie sie seitdem nie wieder dagewesen ist. Der Ruf einer Entdeckung, eines bedeutenden Buches, eines literarischen Streites verbreitete sich, wo nicht schneller, so doch allgemeiner und gründlicher als in unserer Zeit durch alle gebildeten Länder.

Rechnet man den ganzen Verlauf der Regenerationsbewegung, deren Anfang und Ende schwer zu bestimmen ist, von der Mitte des fünfzehnten bis auf die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, so lassen sich in diesem Zeitraum von zweihundert Jahren vier Epochen unterscheiden, die zwar nicht bestimmt gegen einander abgegrenzt, wohl aber in ihren Grundzügen merklich von einander verschieden sind. Die erste derselben vereinigt das Hauptinteresse Europas in der Philologie. Es war die Zeit eines Laurentius Valla, eines Angelus Pontianus und des grossen Erasmus, der den Uebergang zur theologischen Epoche bildet Die Herrschaft der Theologie wird durch die Stürme der Reformationszeit hinlänglich bezeichnet, sie unterdrückte eine Zeit lang fast jedes andere wissenschaftliche Interesse, namentlich in Deutschland. Dann erst traten die Naturwissenschaften, die seit dem Beginn der Regenerationszeit in den stillen Werkstätten der Forscher erstarkt waren, in dem glänzenden Zeitalter eines Kepler und Galilei beherrschend in den Vordergrund; in vierter Linie erst folgte die Philosophie, wenn auch der Culminationspunkt der grundlegenden Thätigkeit eines Baco und Descartes nicht viel später fällt, als die grossen Entdeckungen Keplers. Alle diese Epochen schöpferischer Arbeit waren noch in frischer Nachwirkung auf die Zeitgenossen, als die materialistische Naturphilosophie um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts durch Gassendi und Hobbes wieder systematisch ausgebildet wurde.

Niemand kann erwarten, nach dem Ablauf der ganzen Culturperiode des christlichen Mittelalters den Materialismus auf demselben Punkte wieder zu finden, wo wir ihn bei Epikur und Lucrez verliessen; die Anknüpfungen an den Materialismus der Alten sind jedoch ungleich bestimmter und bedeutender, als man sich träumen lässt, wenn man die materialistischen Lehrsätze unserer Tage ohne Weiteres als ein Produkt der neueren Naturwissenschaften hinstellt.

Das System Epikurs, so rein und erhaben es auch ausgebildet war, hatte doch in seiner Begnügung mit den möglichen Erklärungsgründen der Dinge eine erschlaffende, das rege Forschen lähmende Richtung. Die Aristoteliker des Mittelalters waren eifrige Begriffsspalter und mächtige dialectische Klopffechter, denen gegenüber Nichts festen Fuss fassen konnte, als die Thatsache. Es war daher eine Nothwendigkeit für alle strebsamen Geister, insofern sie überhaupt einen Schritt wagen wollten, diesen nicht anders zu thun, als bis sie sich selbst durch entdeckte Thatsachen dazu gezwungen hatten. In dieser Hinsicht trugen selbst die Schrecken der Inquisition dazu bei, eine fest geschlossene Verbindung der Thatsachen als Gegengewicht hervorzurufen und überhaupt ein für allemal den Grundsatz für die Methodik der Wissenschaften festzustellen, der sich jenen fürchterlichen Gegnern gegenüber am meisten bewährte: mit der Thatsache voran; dann vielleicht die Hypothese. Was die Lehre vom Menschen betrifft, die bei den eigentlich materialistischen Systemen neuerer Zeit durchaus in den Vordergrund tritt, so hatte die Lehre des Aristoteles, dass die Seele die Form des Körpers sei, doch tief genug gegriffen, um die Anschauungen des Demokrit und Epikur von einer aus feinen Atomen bestehenden Seele nicht so leicht wieder aufkommen zu lassen. Wenn auch der Ausdruck spiritus, der vielfach in der Psychologie zur Bezeichnung der »Lebensgeister« gebraucht wurde, eine materielle Deutung zulässt, so wird doch die eigentliche vernünftige Seele als immaterielle Form streng von den Lebensgeistern unterschieden. Sobald man nun Aristoteles, oder wenigstens den mittelalterlichen Aristoteles verliess, lag die Anschauung nahe, dass jene Form nur eine Function des Körpers sei, und die materialistische Ansicht vom Leben, wie die neuere Zeit sie gefasst hat, war im Keime bereits fertig. In der Psychologie griff also eine Anschauung Platz, welche sich von den rohen Vorstellungen eines Demokrit und Epikur durch Vermittelung der aristotelischen Philosophie auf einen Standpunkt grösserer Consequenz erhoben hatte. Für einstweilen blieb jedoch die ganze Entwickelung der materialistischen Psychologie höchst unvollkommen. Die Psychologie überhaupt gerieth nur in eine trübe Gährung, welche bald wieder eine reaktionäre Wendung nahm, weil auf diesem Gebiete für einstweilen jene gewaltigen Pfeiler empirischer Beobachtung mangelten, die den Wissenschaften der äusseren Natur ihre Sicherheit gaben. Immerhin aber bleibt die Bewegung, welche in jener vielbewegten Zeit auch die Seelenlehre ergriff, von grosser Wichtigkeit für unseren Gegenstand.

Der Grundzug, der damals durch alle Gebiete geistigen Lebens ging, war ein Zurückgehen auf die Quelle des Wissens, ein Fragen nach der Berechtigung der Tradition und das Streben, in allen Gebieten den Grund erst zu untersuchen oder neu zu legen, bevor man weiter baue.

Dies Streben hatte aber anfänglich einen philologisch-kritischen Charakter, und innerhalb der Philosophie war daher der erste Schritt noch keineswegs der, dass man den Aristoteles verwarf, sondern vielmehr der, dass man den wahren Aristoteles ans Licht zog und ihn den falschen aristotelischen Ueberlieferungen der Scholastiker gegenüber stellte.

In dieser Hinsicht machte das Auftreten des Italieners Petrus Pomponatius Epoche. Er verdient für uns um so mehr eine kurze Berücksichtigung, als sein Auftreten gerade solche Punkte betrifft, deren Discussion später in die materialistische Frage vornehmlich übergegangen ist.

Im Jahre 1516 erschien zu Bologna sein Buch von der Unsterblichkeit der Seele. Erst drei Jahre vorher hatte ein Concilium zu Benevent zwei Ansichten von der Unsterblichkeit verdammt, die beide auf Aristoteles fussten: die eine, dass die Seele schlechthin mit dem Körper sterbe, die andere, dass sie in das allgemeine Denken zurückkehre, aus dem beständig Individuen hervorgingen. Die erste dieser Ansichten stützte sich auf Alexander von Aphrodisias, einen Lehrer der peripatetischen Philosophie zu Rom unter Kaiser Severus, die andere auf den arabischen Commentator Averroes, denen beiden gegenüber die Scholastiker nach Thomas von Aquino die Unsterblichkeit aus ihrem Aristoteles glaubten beweisen zu können. Pomponatius ging auf den ächten Aristoteles zurück und kam zu dem Resultate, dass es nach den Begriffsbestimmungen dieses Philosophen unmöglich sei, die Unsterblichkeit der Seele zu erweisen; denn die Form sei von ihrem Körper unzertrennlich. Das Denken des Menschen bedürfe nach Aristoteles der Anschauungen, und Anschauungen seien nur durch Vermittelung der Sinne denkbar. Das menschliche Denken erkennt das Allgemeine nur im Besonderen, es ist niemals raumlos und zeitlos, da seine Vorstellungen in räumlichen Anschauungen wurzeln und zeitlich auf einander folgen. Jenes allgemeine Denken ist aber überhaupt nur eine Abstraction; ein naturloser Gott ist ebenso undenkbar als eine gottlose Natur, da beide diese Begriffe nur Abstractionen sind, während allein die Totalität das wahre volle Wesen und Leben hat. Pomponatius hielt nun zwar dieser von ihm selbst nachgewiesenen Consequenz gegenüber am kirchlichen Bekenntniss der Unsterblichkeit fest, indem er angab, dass die Offenbarung da Ruhe und Gewissheit gebe, wo die Philosophie nur ein immerwährendes Zweifeln und Streben hervorbringe.

Allein im Grunde war seine Philosophie keineswegs der Art, dass sie ihn in Zweifeln und Unruhe gelassen, aus denen die dankbar ergriffene Hand der Religion ihn sodann gerettet hätte. Er begnügte sich keineswegs damit, zu zeigen, dass man aus der Philosophie nichts über die Unsterblichkeit der Seele wissen könne, sondern er unternahm es auch in edler Freimüthigkeit den Wahn zu bekämpfen, als müsse mit dem Glauben an die Unsterblichkeit zugleich jede Grundlage der Sittlichkeit fallen.

»Die Tugend ist an sich selber herrlich und wägt ihren Lohn in sich selber, wie das Laster seine Strafe und sein Elend; ein edler Tod ist einem Leben voll Schmach und Schande vorzuziehen, und der Aussicht auf Himmel und Hölle bedürfen zur Zügelung ihrer Begierden nur diejenigen, welche die Würde der Tugend nicht erkennen. Damit wird Gott nicht zum Tyrannen, wenn es einmal einem guten Menschen äusserlich schlecht geht, während er doch die wahre Zufriedenheit in seinem Bewusstsein trägt, dagegen der Lasterhafte bei allem Prunk und Schimmer an innerem Elend leidet. Wenn der Eine ohne auf Lohn zu hoffen gut handelt, der Andere dagegen aus Rücksicht auf künftige Vergeltung, so ist die Tugend des Ersteren reiner, sein Glück wesentlicher. Als Aristoteles gefragt wurde, was er der Philosophie verdanke, gab er zur Antwort: dieses, dass ich aus Liebe zur Tugend und aus Abscheu vor dem Laster thue, was Ihr aus Hoffnung auf Lohn oder aus Furcht vor der Strafe thut.«

»Aber ist nicht die ganze Welt betrogen, wenn die Seele stirbt, da doch alle Gesetze und positive Religionen das Gegentheil annehmen? – Kein Mensch ist ganz von Irrthum frei, und weiter muss man bedenken, dass der Politiker mit Recht ein Seelenarzt heisst und darum die Menschen, welche in der Materie versunken sind, gleich Kranken und Kindern behandeln muss, und dass er deshalb unbekümmert um die Wahrheit der Sache schon um des allgemeinen Besten willen die Unsterblichkeit lehrt, damit die Schwachen und Schlechten wenigstens aus Hoffnung und Furcht auf dem rechten Wege gehen, den edle, freie Gemüther aus eigener Liebe und Lust einschlagen.«

» Denn das ist geradezu erlogen, dass nur verworfene Gelehrte die Unsterblichkeit geläugnet und alle achtbaren Weisen sie angenommen: ein Homer, Simonides, Plinius und Seneca waren ohne diese Hoffnung nicht schlecht, sondern nur frei von knechtischem Lohndienst. Endlich können Gespenstererscheinungen nichts beweisen, da sie auf Täuschung oder Betrug beruhen; aber viele Pfaffen verbreiten den Aberglauben, weil er ihnen nützt, seitdem sie die vier Cardinaltugenden in Ehrsucht, Geiz, Schwelgerei und Ueppigkeit verwandelt haben.«

Aehnlich schrieb Pomponatius über die Willensfreiheit, deren Widersprüche er offen darlegte. Man hat viel darüber gestritten, ob bei diesen Ansichten des Pomponatius seine Unterwerfung unter den Kirchenglauben mehr als eine blosse Form gewesen sei. Solche Fragen sind in diesem wie in den zahlreichen ähnlichen Fällen äusserst schwer zu entscheiden, da wir in keiner Hinsicht den Maassstab unserer Zeit anlegen dürfen. Der ungeheuere Respect vor der Kirche, dem so mancher Scheiterhaufen den gehörigen Nachdruck gegeben, genügte vollkommen, um in den Gemüthern auch der freiesten Denker das Credo mit einem heiligen Schauer zu verbinden, der die Grenze zwischen Wort und Wesen mit einem undurchdringlichen Nebel verhüllte.

Diese Zweideutigkeit im Verhältniss von Glauben und Wissen ist ein bezeichnender und sehr standhafter Zug der Uebergangszeit zur neueren Denkfreiheit. Nicht einmal die Reformation vermag sie zu beseitigen, und wir finden sie von Pomponatius und Cardanus bis auf Gassendi und Hobbes in den verschiedensten Abstufungen vom scheu verborgenen Zweifel bis zur bewussten Ironie. Im Zusammenhang damit steht die Neigung zu einer zweideutigen und die Schattenseiten mit Vorliebe hervorkehrenden Apologie des Christenthums oder einzelner Lehren, bei der wir ebenfalls neben der offenbaren Absicht vom Gegentheil zu überzeugen, wie bei Vanini, auch Fälle haben, wie in Mersenne's Commentar zur Genesis, deren eigentliche Natur schwer festzustellen ist.

In Deutschland war es Philipp Melanchthon, der das entscheidende Beispiel gab zur Reform der aristotelischen Philosophie. Er sprach es offen aus, dass er für die Philosophie durch Zurückgehen auf die ächten Schriften des Aristoteles eine ähnliche Reform beabsichtige, wie Luther sie für die Theologie durch Zurückgehen auf die Bibel bezweckte.

Allein diese melanchthonische Reform gedieh im Allgemeinen nicht zum Heile Deutschlands. Sie war einerseits nicht radical genug, da Melanchthon selbst bei aller Feinheit seines Denkens durch und durch von den Fesseln der Theologie und selbst der Astrologie gehemmt war; anderseits bewirkte das ungeheure Gewicht des Reformators und der Einfluss seiner academischen Lehrthätigkeit für Deutschland ein Zurückgehen auf den Scholasticismus, welches bis lange nach Cartesius anhielt und das Haupthemmniss der Philosophie in Deutschland bildete.

Bemerkenswerth ist jedoch, dass Melanchthon regelmässige Vorlesungen über Psychologie nach seinem eigenen Handbuche einführte. Seine Anschauungen streifen im Einzelnen oft nahe genug an Materialismus, sind aber allenthalben ohne tiefere Vermittelung durch die Lehre der Kirche in enge Grenzen gezogen. Die Seele erklärte Melanchthon nach der falschen Lesart ἐνδελέχεια statt ἐντελέχεια als die Ununterbrochene: eine Lesart, auf die sich hauptsächlich die Annahme der Unsterblichkeitslehre des Aristoteles stützte. Der Wittenberger Professor Amerbach, der eine streng aristotelische Psychologie schrieb, gerieth über diese Lesart dermaassen mit dem Reformator an einander, dass er in der Folge Wittenberg verliess und wieder katholisch wurde.

Eine dritte Schrift über Psychologie erschien ungefähr um dieselbe Zeit von der Hand des Spaniers Ludwig Vives.

Vives ist für diese Zeit als der bedeutendste Reformator der Philosophie und als ein Vorläufer des Cartesius und des Baco zu betrachten. Sein ganzes Leben war ein unausgesetzter und erfolgreicher Kampf wider die Scholastik: in Beziehung auf Aristoteles war seine Ansicht, dass die ächten Schüler seines Geistes über ihn hinaus gingen und die Natur selbst befragten, wie die Alten es auch gethan. Nicht aus der blinden Tradition oder aus spitzfindigen Hypothesen sei die Natur zu erkennen, sondern durch directe Untersuchung auf dem Wege des Experiments. Trotz dieser seltenen Klarheit über die wahren Grundlagen der Forschung greift Vives in seiner Psychologie doch nur selten in das Leben, um eigene oder fremde Beobachtungen mitzutheilen. Das Kapitel von der Unsterblichkeit der Seele ist durchaus rhetorisch gehalten und führt in der bis auf unsere Tage noch beliebten Manier mit den oberflächlichsten Gründen einen scheinbar unwiderleglichen Beweis. Und doch war Vives einer der hellsten Köpfe seines Jahrhunderts, und seine Psychologie ist, namentlich in der Lehre von den Affecten, reich an feinen Bemerkungen und treffenden Charakterzügen.

Auch der wackere Züricher Naturkundige Konrad Gessner schrieb um dieselbe Zeit eine Psychologie, die nach Inhalt und Behandlungsweise interessant ist. Nach einer äusserst gedrängten, tabellenartigen Zusammenstellung aller möglichen Ansichten über das Wesen der Seele folgt in raschem Uebergang eine ausführliche Lehre von den Sinnen. Hier fühlt Gessner sich heimisch und verweilt mit Behagen bei physiologischen Erörterungen, die zum Theil sehr eingehender Natur sind. Einen eigenthümlichen Eindruck macht es dagegen, im ersten Theil des Werkchens das furchtbare Chaos der Ansichten und Meinungen über die Seele gleichsam mit einem Blick zu überschauen. »Einige halten«, wie Gessner mit unwandelbarer Gemüthsruhe uns mittheilt, »die Seele für nichts, andere halten sie für eine Substanz.«

Nach allen Seiten sieht man so die alte aristotelische Ueberlieferung erschüttert, die Ansichten in Fluss gebracht und Zweifel erregt, die sich wahrscheinlich in der Literatur nur zum geringsten Theile kund geben. Sehr bald aber wird die Psychologie, die vom Ende des sechzehnten Jahrhunderts ab ausserordentlich zahlreiche Bearbeitungen fand, wieder systematisch, und die Gährung der Uebergangsperiode macht einer dogmatischen Scholastik Platz, deren wichtigster Gesichtspunkt bleibt, sich der Theologie anzubequemen.

Während aber die Theologie das Feld der Geisteslehre noch völlig beherrschte und wüthende Streitigkeiten die Stimme des ruhigen Urtheils übertäubten, legte im Stillen auf dem Gebiete der äusseren Natur die strenge Forschung einen unerschütterlichen Grund zu gänzlich veränderter Weltanschauung.

Im Jahre 1543 erschien, dem Pabste gewidmet, das Buch von den Bahnen der Himmelskörper von Nikolaus Kopernikus aus Thorn. In seinen letzten Lebenstagen soll der ergraute Forscher das erste Exemplar seines grossen Werkes erhalten haben und dann befriedigt aus dieser Welt geschieden sein.

Was jetzt, nach drei Jahrhunderten, jeder Elementarschüler lernen muss, dass die Erde sich um sich selbst und um die Sonne bewegt, das war damals eine grosse und trotz einzelner Vorläufer eine neue, dem allgemeinen Bewusstsein schnurstracks zuwiderlaufende Wahrheit Es war aber auch eine Wahrheit, die gegen Aristoteles verstiess und mit der die Kirche sich noch nicht abgefunden hatte. Was die Lehre des Kopernikus gegen den Hohn der conservativen Menge, gegen den Fanatismus der Schul- und Kirchenpfaffen einigermassen schützte, war die streng wissenschaftliche Form und die überwältigende Beweiskraft eines Werkes, an welchem der Verfasser in der stillen Musse seiner Domherrenstelle zu Frauenburg mit bewundernswerther Ausdauer dreiunddreissig Jahre lang gearbeitet hatte. Der Gedanke hat etwas wahrhaft Grosses, dass ein Mann, der noch im Alter des feurigsten Schaffens von einer weltbewegenden Idee ergriffen wird, sich im vollen Bewusstsein ihrer Tragweite zurückzieht, um sein ganzes übriges Leben der ruhigen Ausbildung dieses Gedankens zu widmen. Daher die Begeisterung der wenigen ersten Schüler, daher das Stutzen der Pedanten und die Zurückhaltung der Kirche.

Wie bedenklich nach dieser Seite das Unternehmen schien, zeigt der Umstand, dass der Professor Osiander, weicher den Druck des Buches besorgte, in einer nach Sitte der Zeit von ihm angeflickten Vorrede die ganze Lehre des Kopernikus als eine Hypothese darstellte. Kopernikus selbst hat keinen Theil an dieser Verhüllung. Kepler, selbst von stolzer Denkfreiheit beseelt, nennt ihn einen Mann von freiem Geiste; und in der That, nur ein solcher konnte die Riesenarbeit vollbringen.

»Die Erde bewegt sich« wurde bald der Satz, durch den der Glaube an die Wissenschaft und an die Untrüglichkeit der Vernunft sich schied vom blinden Festhalten an der Ueberlieferung; und als man nach einem Kampf von Jahrhunderten in diesem Punkte der Wissenschaft definitiv den Sieg überlassen müsste, warf das ein Gewicht zu ihren Gunsten in die Wagschale, als ob sie durch ein Wunder die bis dahin ruhende Erde erst wirklich bewegt hätte.

Einer der frühesten und entschiedensten Anhänger des neuen Weltsystems, der Italiener Giordano Bruno, ist durch und durch Philosoph, und wenn auch sein System im Ganzen als pantheistisch zu bezeichnen ist, so hat es doch zum Materialismus so viele Beziehungen, dass wir uns einer Berücksichtigung nicht entschlagen können.

Während Kopernikus an pythagoreischen Ueberlieferungen hing – bezeichnete doch später die Index-Congregation seine ganze Lehre einfach als eine doctrina Pythagorica – nahm Bruno sich Lucrez zum Muster. Die uralte epikureische Lehre von der Unendlichkeit der Welten griff er höchst glücklich auf und lehrte, indem er sie mit dem kopernikanischen System verband, dass alle Fixsterne Sonnen seien, die sich in endloser Zahl durch den Weltraum verbreiten und wieder ihre unsichtbaren Trabanten haben, die sich zu ihnen verhalten wie die Erde zur Sonne oder der Mond zur Erde: eine Anschauung, die gegenüber der alten Annahme eines geschlossenen Weltraumes fast von ebenso grosser Bedeutung ist, als die Lehre von der Bewegung der Erde.

Die Unendlichkeit von Formen, unter denen die Materie erscheint, lehrte Bruno, nimmt sie nicht von einem Andern und gleichsam nur äusserlich an, sondern sie bringt sie aus sich selbst hervor und gebiert sie aus ihrem Schoosse. Sie ist nicht jenes prope nihil, wozu einige Philosophen sie haben machen wollen und worüber diese in Widerspruch mit sich selbst gerathen sind, nicht jenes nackte, reine, leere Vermögen ohne Wirksamkeit, Vollkommenheit und That; wenn sie für sich selbst keine Form hat, so ist sie nicht davon entblösst wie das Eis von der Wärme oder wie der Abgrund von dem Licht, sondern sie gleicht der kreisenden Gebärerin, wenn sie die Frucht aus ihrem Schoosse drängt. Auch Aristoteles und seine Nachfolger lassen die Formen aus dem inneren Vermögen der Materie vielmehr hervorgehn, als auf eine gewissermassen äusserliche Weise darin erzeugt werden; aber anstatt dies wirksame Vermögen in der innerlichen Bildung der Form zu erblicken, haben sie es hauptsächlich nur in der entwickelten Wirklichkeit erkennen wollen, da doch die vollendete sinnliche und ausdrückliche Erscheinung eines Dinges nicht der hauptsächliche Grund seines Daseins, sondern nur eine Folge und Wirkung desselben ist. Die Natur bringt ihre Gegenstände nicht wie die menschliche Technik durch Wegnehmen und Zusammenfügen, sondern allein durch Scheidung und Entfaltung hervor. So lehrten die weisesten Männer unter den Griechen, und Moses, da er die Entstehung der Dinge beschreibt, führt das allgemeine wirksame Wesen also redend ein: »die Erde bringe hervor lebendige Thiere, das Wasser bringe hervor sein Lebendiges!« als ob er sagte, die Materie bringe sie hervor! Denn bei Moses ist das materielle Princip der Dinge Wasser, und deshalb sagt er, dass der wirksam bildende Verstand, den er Geist nennt, über den Wassern schwebte, und indem er diesen die hervorbringende Kraft verlieh, wurde die Schöpfung. Sie Alle wollen demnach, dass nicht durch Zusammensetzung, sondern durch Scheidung und Entwicklung die Dinge entstehen, und deshalb ist die Materie nicht ohne die Formen, vielmehr enthält sie dieselben alle; und indem sie entfaltet was sie eingehüllt in sich trägt, ist sie in Wahrheit alle Natur und die Mutter der Lebendigen.

Vergleichen wir diese Begriffsbestimmung, welche M.  Carriere als eine der grössten Thaten in der Geschichte der Philosophie bezeichnet, mit der des Aristoteles, so finden wir den grossen und durchgreifenden Unterschied, dass Bruno die Materie nicht als das Mögliche, sondern als das Wirkliche und Wirkende fasste. Auch Aristoteles lehrte, dass in den Dingen Form und Materie eins seien; allein indem er die Materie definirte als die blosse Möglichkeit, alles das zu werden, was die Form aus ihr mache, fiel letzterer allein wahre Wesenheit zu. Diese Bestimmungen kehrt Bruno um. Er macht die Materie zu dem wahren Wesen der Dinge und lässt sie alle Formen aus sich selbst hervorbringen. Dieser Satz ist materialistisch und wir hätten daher allen Grund, Bruno dem Materialismus völlig zu vindiciren, wenn nicht seine Durchbildung des Systems auf entscheidenden Punkten eine pantheistische Wendung nähme.

Zwar ist auch der Pantheismus an sich nur eine Modifikation irgend eines andern monistischen Systems. Der Materialist, welcher Gott als den Inbegriff aller an sich beseelten Materie definirt, wird damit zum Pantheisten, ohne seine materialistische Basis aufzugeben. Allein die natürliche Folge der Richtung des Geistes auf Gott und die göttlichen Dinge pflegt die zu sein, dass jener Ausgangspunkt vergessen wird, dass die Ausführung des Gegenstandes mehr und mehr wieder die Seele des All nicht als nothwendig durch die Materie selbst gesetzt auffasst, sondern als das begrifflich wenigstens vorangehende schöpferische Princip. In dieser Weise bildete auch Bruno seine Theologie aus. Mit der Bibel fand er sich so ab, dass er lehrte, da die Bibel für das Volk sei, so hätte sie sich auch dessen naturhistorischen Anschauungen anbequemen müssen, denn sonst würde sie gar keinen Glauben gefunden haben. In seiner Ausdrucksweise war Bruno poetisch, seine meisten Werke sind in poetischer Form, theils lateinisch, theils italienisch verfasst. Sein kühner, tiefsinniger Geist verlor sich gern in eine mystische Tiefe der Betrachtung, aber ebenso kühn und rückhaltlos wagte er es auch wieder, seine Meinungen mit vollkommener Klarheit auszusprechen.

Bruno war ursprünglich in den Dominikaner-Orden getreten um Musse für seine Studien zu finden. Allein wegen Ketzerei verdächtig geworden, musste er fliehen und sein Leben blieb von da an unstät und von Verfolgungen und Anfeindungen in langer Kette durchzogen. In Genf, Paris, England und Deutschland hielt er sich der Reihe nach auf, um endlich den verhängnissvollen Schritt der Rückkehr in sein Vaterland zu wagen. Im Jahre 1592 fiel er zu Venedig in die Hände der Inquisition.

Nach vieljähriger Haft wurde er ungebeugt und fest in seinen Ansichten in Rom verurtheilt. Degradirt und excommunicirt wurde er als Ketzer der weltlichen Obrigkeit übergeben, mit der Bitte, »ihn so gelinde als möglich und ohne Blutvergiessen zu bestrafen«; das hiess bekanntlich ihn zu verbrennen. Als sein Urtheil ihm verkündet wurde, sprach er: »Ihr fällt vielleicht mit grösserer Furcht das Urtheil, als ich es empfange.« Am 17. Februar 1600 ward er auf dem Campofiore zu Rom verbrannt. Seine Lehren haben unzweifelhaft auf die nächstfolgenden Entwicklungen der Philosophie mächtig eingewirkt, obwohl er nach dem Auftreten eines Descartes und Baco in den Hintergrund zurücktrat, und wie so manche grosse Männer der Uebergangszeit vergessen wurde.

Die erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts durfte erst auf dem Gebiete der Philosophie die reifen Früchte der grossen Befreiung erndten, welche die Regenerationsbewegung der Reihe nach für die verschiedensten Gebiete des menschlichen Geisteslebens herbeigeführt hatte. In den ersten Decennien des Jahrhunderts trat Baco auf, gegen die Mitte desselben Descartes, nicht lange nach diesem und zum Theil schon gleichzeitig wirkten und schrieben Gassendi und Hobbes, die wir als die eigentlichen Erneuerer einer materialistischen Weltanschauung betrachten dürfen. Allein auch die beiden berühmteren »Wiederhersteller der Philosophie«, wie man sie gewöhnlich bezeichnet, Descartes sowohl als Baco, stehen zum Materialismus in einer engen und bemerkenswerthen Beziehung.

Von Bacon insbesondere dürfte es für eine eingehende Forschung fast schwieriger werden scharf und bestimmt nachzuweisen, worin er sich vom Materialismus unterscheidet, als was er mit demselben gemein hat.

Unter allen philosophischen Systemen stellt Baco das des Demokrit am höchsten. Er rühmt, dass dessen Schule tiefer als irgend eine andere in das Wesen der Natur eingedrungen sei. Die Betrachtung der Materie in ihren mannichfachen Wandlungen führe weiter als die Abstraction. Ohne Annahme der Atome lasse sich die Natur nicht wohl erklären. Ob Zwecke in der Natur walten, lasse sich nicht bestimmt sagen; jedenfalls müsse der Forscher sich lediglich an die wirkenden Ursachen halten. – Doch es ist peinlich, nach dem vernichtenden und in der Hauptsache wohlbegründeten Strafgericht, welches der Freiherr von Liebig (München 1863) über den Lord von Verulam hat ergehen lassen, sich mit dessen schwankenden und unredlichen Aeusserungen tiefer einzulassen, als der Gegenstand es unerlässlich fordert. Nur das sei beiläufig bemerkt, dass auch der entlarvte Baco in der Geschichte der Wissenschaften eine Stelle behaupten wird. Die inductive Methode, die Baco selbst so übel anwandte, behält trotzdem ihren theoretischen Werth, und selbst der Einfluss dieses Mannes auf die positiven Wissenschaften darf deshalb nicht völlig geläugnet werden, weil die bedeutendsten Entdeckungen schon vor seine Zeit fallen. Die Geltung der Naturforschung im Leben verdankt Baco erstaunlich viel, und diese Geltung hat auf die allgemeine Pflege der empirischen Wissenschaften höchst förderlich zurück gewirkt.

Bekanntlich führt man auf Baco und Descartes zwei verschiedene Entwickelungsreihen der Philosophie zurück, deren eine von Descartes über Spinoza, Leibnitz, Kant und Fichte sich bis auf Schelling und Hegel erstreckt, während die andere von Baco durch Hobbes und Locke zu den französischen Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts läuft; indirect müssten wir also auf die letztere Linie auch unseren heutigen Materialismus zurück führen.

Und in der That ist es auch nur zufällig, dass der Name des Materialismus erst im achtzehnten Jahrhunderte aufkam; das Wesen seiner Richtung ist mit Baco gegeben, und nur der Umstand hält uns ab, Baco als den eigentlichen Wiederhersteller der materialistischen Philosophie zu bezeichnen, dass er sein Augenmerk fast ausschliesslich auf die Methode gewandt hatte und dass er über die wichtigsten Punkte sich mit zweideutiger Zurückhaltung äussert. Die abergläubische und eitle Unwissenschaftlichkeit Bacos stimmt an und für sich mit der materialistischen Philosophie zwar nicht besser aber auch nicht schlechter überein, als mit den meisten anderen Systemen. Nur was den ausgedehnten Gebrauch anlangt, welchen Baco in der Naturerklärung von den »Geistern« (spiritus) macht, sei uns eine kurze Bemerkung gestattet.

Allerdings hatte die alchymistisch-theosophische Naturanschauung der Kabbala gerade in England, und namentlich auch in den aristokratischen Kreisen so tiefen Boden gewonnen, dass Baco in solchen Dingen nichts Originelles lehrt, sondern nur innerhalb des Ideenkreises seiner Umgebung verweilt, und man darf sogar annehmen, dass Baco in seiner grenzenlosen Kriecherei gerade um des Hofes willen weit mehr von solchen Anschauungen aufnahm, als er vor sich selbst verantworten konnte. Dagegen ist aber auch wieder zu bemerken, dass die Annahme einer Beseelung der ganzen, auch der unorganischen Natur, wie namentlich Paracelsus sie lehrte, in einer eigentümlichen Wechselbeziehung zum Materialismus steht. Sie ist das entgegengesetzte Extrem, welches sich mit dem Materialismus nicht nur berührt, sondern sogar vielfach aus ihm hervorgeht, da doch schliesslich der Materie als solcher die Hervorbringung des Geistigen zugeschrieben werden muss – also doch auch wohl in unendlich vielen Abstufungen. Schon Epikur legte ja den Atomen selbst eine Art von Willensfreiheit bei. Die phantastisch personificirende Ausmalung dieser allgemeinen Beseelung der Materie, wie wir sie bei Paracelsus finden, gehört zu den Abgeschmacktheiten des Zeitalters, von denen sich Baco ziemlich frei zu erhalten wusste. Seine »spiritus« haben keine Hände und Füsse. Auffallend genug bleibt es aber, wie colossalen Missbrauch der »Wiederhersteller der Naturwissenschaften« mit seinen Geistern in der Naturerklärung treiben konnte, ohne schon von den kundigeren Zeitgenossen entlarvt zu werden. Doch das ist unsere Geschichte. Man kann anfassen wo man will, so wird man ähnliche Erscheinungen finden. Was das vielfach in Frage kommende Verhältniss des Materialismus zur Sittlichkeit betrifft, so darf man unbedenklich annehmen, dass Baco bei grösserer Reinheit und Festigkeit des Charakters durch die Eigentümlichkeit seines Denkens ohne Zweifel auf streng materialistische Grundsätze wäre geleitet worden. Nicht die unerschrockene Consequenz, sondern die wissenschaftliche Halbheit und Weichlichkeit zeigt sich hier wieder im Bunde mit sittlicher Entartung.

Von Descartes, dem Stammvater der entgegengesetzten Linie, der den Dualismus zwischen Geist und Körperwelt herstellte, und von dem berüchtigten »Cogito ergo sum« seinen Ausgangspunkt nahm, könnte es scheinen, dass er nur als Gegensatz zur materialistischen Richtung auf deren Consequenz und Klarheit zurückgewirkt habe. Allein wie wollen wir uns dann die Thatsache erklären, dass der schlimmste der französischen Materialisten, De la Mettrie, mit aller Gewalt ein Cartesianer sein wollte, und nicht ohne seine Gründe dafür zu haben? Es findet also auch hier noch ein directerer Zusammenhang statt, den wir im Folgenden erörtern wollen.

Was die Principien der Forschung betrifft, so stellen sich zunächst Baco und Descartes beide negativ gegen alle bisherige Philosophie, insbesondere gegen die aristotelische; beide beginnen mit einem Zweifel an Allem, aber Baco, um sich sodann an der Hand der äusseren Erfahrung zur Auffindung der Wahrheit leiten zu lassen, Descartes, um sie aus jenem Selbstbewusstsein, das ihm bei seinem Zweifel allein übrig geblieben war, durch deductive Schlüsse herauszuarbeiten.

Hier kann kein Zweifel sein, dass der Materialismus nur auf Seiten Baco's liegt, dass das System des Cartesius von jenen Grundgedanken consequent weiter gebildet zu einem Idealismus hätte fuhren müssen, bei dem die gesammte Aussenwelt nur als Phänomen erscheint und allein das Ich wahre Wirklichkeit hat. Der Materialismus ist empirisch und bedient sich des deductiven Weges selten und erst dann, wenn ein hinlängliches Material auf inductivem Wege gewonnen ist, aus dem man alsdann durch freies Schlussverfahren zu neuen Wahrheiten gelangen kann. Descartes begann mit Abstraction und Deduction, und das war nicht nur nicht materialistisch, sondern auch nicht zweckmässig; es leitete mit Nothwendigkeit zu jenen offenbaren Trugschlüssen, an denen unter allen grossen Philosophen vielleicht keiner so reich ist, als Descartes. Allein die deductive Methode trat einmal in den Vordergrund und damit zusammenhängend jene reinste Form aller Deduction, in der Descartes einen ehrenhaften Platz hat noch ausserhalb der Philosophie: die Mathematik. Baco mochte die Mathematik nicht wohl leiden; der Stolz der Mathematiker – vielleicht besser gesagt ihre Strenge – missfiel ihm, und er verlangte, dass diese Wissenschaft nur eine Magd der Physik sein, nicht aber sich als Herrin derselben geberden sollte.

So ging denn auch vornehmlich von Descartes jene mathematische Richtung der Naturphilosophie aus, welche an alle Erscheinungen der Natur den Massstab der Zahl und der geometrischen Figur anlegte. Es verdient Beachtung, dass man noch im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts die Materialisten, bevor diese letztere Bezeichnung allgemeiner geworden war, nicht selten als »mechanici« bezeichnete, d. h. als Leute, die von einer mechanischen Naturbetrachtung ausgingen. Diese mechanische Naturbetrachtung, welcher schon damals, namentlich auf medicinischem Gebiet, die chemische oder alchymistische gegenüberstand, dauerte bis in die letzte Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Sie wurde vorübergehend verdrängt von dem Gebiete der Philosophie durch Kant, von dem der empirischen Wissenschaften hauptsächlich durch die Fortschritte der Chemie nach Stahl und Lavoisier. Ausgegangen war sie aber von Descartes, befördert von Spinoza und nicht minder von Leibnitz, dem Erfinder der Differentialrechnung, der sich ja auch bis zu seinem Tode mit dem Plane trug, die Logik in mathematische Formen zu bringen.

Knüpft somit in der Hauptsache der Materialismus an Baco an, so war es doch Descartes, der dieser ganzen Betrachtungsweise der Dinge schliesslich jenen Stempel des Mechanismus aufdrückte, der in De la Mettrie's l'homme machine am vollständigsten hervortritt. Auf Descartes war es zurückzuführen, wenn man alle Functionen des geistigen wie des physischen Lebens schliesslich als das Product mechanischer Vorgänge betrachtete, obwohl dieser es nur in der Physik und Physiologie so gehalten hatte.

Zu einer Naturwissenschaft überhaupt hatte sich Descartes mit der leichtfertigen Folgerung verholfen, dass wir zwar an der Wirklichkeit der Dinge ausser uns zweifeln müssten, dass wir jedoch schliessen könnten, dass dieselben wirklich da seien, weil sonst Gott ein Betrüger sein müsse, da er uns die Vorstellungen von der Aussenwelt gegeben habe.

Mit diesem salto mortale ist nun Descartes auf einmal mitten in der Natur, auf einem Felde, das er mit grösserem Erfolge bearbeitete, als die Metaphysik. Was die allgemeine Grundlage der Lehre von der äusseren Natur betrifft, so war Descartes dem strengen Atomismus nicht zugethan; er leugnete die Denkbarkeit der Atome. Selbst wenn es kleinste Theilchen gebe, die auf keine Weise mehr könnten getrennt werden, so müsste doch Gott sie noch theilen können, denn ihre Theilbarkeit sei immer noch denkbar. Allein mit dieser Leugnung der Atome war er doch sehr weit entfernt davon, den aristotelischen Weg einzuschlagen oder etwa im Sinne unserer neueren Dynamiker eine stetige Ausfüllung des Raumes anzunehmen. Er setzte vielmehr an die Stelle der Atome kleine runde Körperchen, die in der That ebenso unverändert bleiben wie die Atome, und nur begrifflich oder der Möglichkeit nach theilbar sind; an die Stelle des leeren Raums, den die alten Atomistiker annahmen, setzte er äusserst feine Splitterchen, die bei der ersten Abrundung der Körperchen sich in den Zwischenräumen gebildet haben. Descartes erklärte ferner ausdrücklich die Bewegung der Theilchen wie die der Körper aus blosser Uebertragung nach den Gesetzen des mechanischen Stosses. Er nannte zwar die allgemeine Ursache aller Bewegung Gott; im Besonderen aber sind nach ihm alle Körper mit einer bestimmten Bewegung behaftet und jeder Naturvorgang besteht ohne Unterschied des Organischen und des Unorganischen nur aus Uebertragung der Bewegung eines Körpers an andere. Hier waren alle mystischen Naturerklärungen mit einem Male beseitigt, und nur in der menschlichen Seele blieb ein fremdartiges Princip, das des Geistes, zurück.

Hinsichtlich der menschlichen Seele, des Punktes, um den sich im achtzehnten Jahrhundert alle Streitigkeiten drehten, war Baco im Grunde auch Materialist. Er nahm zwar die anima rationalis an, jedoch nur aus religiösen Gründen; für begreiflich hielt er sie nicht Die anima sensitiva aber, die er allein einer wissenschaftlichen Behandlung fähig erachtete, betrachtete Baco im Sinne der Alten als einen feinen Stoff. Ueberhaupt anerkannte Baco gar nicht die Denkbarkeit einer immateriellen Substanz, und zu der Anschauung der Seele als der Form des Körpers im aristotelischen Sinne stimmte seine ganze Denkweise nicht. Auf diesem Punkte blieb er also bei jenen Lebensgeistern materieller Art stehen, die noch im ganzen achtzehnten Jahrhundert eine ausgedehnte, wenn auch vielfach bestrittene Geltung sich bewahrten.

Obwohl nun gerade hier der Punkt war, wo Descartes dem Materialismus am schroffsten gegenüber zu stehen schien, so ist es dennoch gerade auch auf diesem Gebiete, wo die Materialisten von ihm höchst folgenschwere Principien entnahmen.

Descartes machte in seiner Corpusculartheorie keinen wesentlichen Unterschied zwischen der organischen und der unorganischen Natur. Die Pflanzen waren Maschinen und selbst von den Thieren gab Descartes, wenn auch nur unter der Form einer Hypothese, zu verstehen, dass er sie in der That auch für blosse Maschinen halte.

Nun begann man aber gerade im Zeitalter des Descartes auch sich mit der Thierpsychologie zu beschäftigen. Im Jahre 1648, also in demselben Decennium mit den Hauptwerken Descartes', erschien das Werk des Hieronymus Rorarius, welches für die Thierpsychologie Epoche machte, indem es zu beweisen suchte, dass die Thiere nicht nur eine Art von Vernunft hätten, sondern auch einen weit besseren Gebrauch von derselbigen machten als die Menschen.

Dieser Satz schien dem des Descartes schnurstracks zu widersprechen, aber es fand sich die Synthesis beider, dass die Thiere Maschinen seien und doch dächten; die Synthesis musste sich um so leichter finden, da unterdessen auch Gassendi aufgetreten war und das System Epikurs in Erinnerung gebracht hatte. Der fernere Schritt vom Thier zum Menschen war alsdann selbstverständlich, um so mehr, da Descartes sein Bestes dazu beigetragen hatte, um den menschlichen Körper als Maschine auffassen zu lassen. Daher konnte denn ein De la Mettrie auftreten und bei seinem Werke über den Menschen als Maschine geradezu sich auf Descartes berufen. Es war gewiss nur ein tendentiöses Vorgeben, wenn De la Mettrie behauptete, dass Descartes ein Schlaukopf gewesen sei, der seiner vollendeten Theorie nur noch um der Pfaffen willen eine überflüssige Seele angeflickt hätte; allein es zeigt doch deutlich genug den historischen Zusammenhang zwischen Descartes und dem Materialismus.


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