Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III. Von Gassendi und Hobbes bis auf De la Mettrie und das système de la nature.

Fast ein volles Jahrhundert liegt zwischen der Ausbildung materialistischer Systeme auf dem Boden der Neuzeit und zwischen jener rücksichtslosen Schriftstellerei eines De la Mettrie, der mit besonderem Wohlgefallen gerade jene Seiten des Materialismus hervorhob, welche der christlichen Welt ein Aergerniss geben mussten. Allerdings hatten auch Gassendi und Hobbes sich den ethischen Consequenzen ihrer Systeme nicht völlig entzogen; allein beide hatten auf einem Umwege ihren Frieden mit der Kirche gemacht: Gassendi durch Oberflächlichkeit, Hobbes durch eine eigensinnige und unnatürliche Consequenz. Liegt schon hierin ein durchgreifender Unterschied zwischen den Materialisten des siebzehnten und denen des achtzehnten Jahrhunderts, so ist doch die Kluft, ganz abgesehen vom specifisch Kirchlichen, in der Ethik weitaus am grössten. Während De la Mettrie, ganz in der Weise der philosophischen Dilettanten des alten Rom, die Lust als das Princip des Lebens mit frivolem Behagen hervorhob und durch seine niedrige Auffassung das Andenken Epikurs noch nach Jahrtausenden befleckte, hatte Gassendi durchaus die ernstere und tiefere Seite der Ethik Epikurs hervorgehoben; Hobbes billigte, wenn auch nach sonderbaren Winkelzügen, doch schliesslich die gewöhnliche christlich-bürgerliche Tugendlehre, die ihm zwar als Beschränktheit galt, aber als berechtigte Beschränktheit. Beide diese Männer lebten selbst einfach und rechtschaffen nach den gewöhnlichen Begriffen ihrer Zeit.

Trotz dieses grossen Unterschiedes gehört der Materialismus des siebzehnten Jahrhunderts mit den verwandten Bestrebungen bis auf das Systeme de la nature hin in eine gemeinsame Kette, während die Gegenwart, obwohl auch zwischen De la Mettrie und Vogt oder Moleschott wieder gerade ein Jahrhundert liegt, durchaus einer gesonderten Betrachtung bedarf. Kants Philosophie und noch mehr die grossen naturwissenschaftlichen Errungenschaften der letzten Jahrzehnde fordern diese gesonderte Betrachtung, ja eine ganz verschiedene Behandlungsweise, ebenso entschieden vom Standpunkt der theoretischen Wissenschaft, als anderseits ein Blick in die materiellen Lebensverhältnisse und in die culturgeschichtlichen Zustände uns dazu veranlassen muss, die ganze Periode bis zur französischen Revolution hin in ihrer innern Einheit aufzufassen.

Wenden wir zunächst unsern Blick auf den Staat und die bürgerliche Gesellschaft, so zeigt sich eine Analogie zwischen jenen beiden vergangenen Perioden, welche dieselben streng von der gegenwärtigen scheidet. Hobbes und Gassendi lebten an den Höfen oder in den aristokratischen Kreisen Englands und Frankreichs. De la Mettrie beschützt von Friedrich dem Grossen. Der Materialismus beider vergangenen Jahrhunderte fand seine Stütze in der weltlichen Aristokratie und seine verschiedene Stellung zur Kirche ist zum Theil bedingt durch die verschiedene Stellung, welche die weltliche Aristokratie und die Höfe der Kirche gegenüber einnahmen. Der Materialismus unsrer Zeit hat dagegen eine durchaus volksthümliche Tendenz; er stützt sich auf nichts, als auf sein gutes Recht der Aussprechung einer Ueberzeugung und auf die Empfänglichkeit eines grossen Publicums, dem die Resultate der Wissenschaft, vielfach vermengt mit materialistischen Lehren in möglichst handgreiflicher Form zugänglich gemacht werden. Um daher den immerhin bedeutungsvollen Uebergang von dem Materialismus des siebzehnten auf den des achtzehnten Jahrhundertes zu verstehen, müssen wir die Verhältnisse der höheren Schichten der Gesellschaft und die Veränderungen, welche in denselben um diese Zeit vorgingen, ins Auge fassen.

Am auffallendsten war die eigentümliche Wendung aller Bestrebungen, welche in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahhunderts eintrat, in England. Nach der Wiedereinsetzung des Königthums erfolgte dort gegen die excentrische und heuchlerische Strenge des Puritanismus, welcher die Zeit der Revolution beherrscht hatte, ein gewaltiger Rückschlag.

Begünstigung des Katholicismus ging am Hofe Karls II. Hand in Hand mit weltlicher Ausgelassenheit. Macaulay nennt die Immoralität der Staatsmänner jener Zeit epidemisch und mehrere der englischen Minister zeichneten sich in dieser Richtung vor ganz Europa aus.

Der Charakter der Frivolität in Religion und Sitten war der Charakter der Höfe. Zwar ging Frankreich mit dem tonangebenden Beispiele voran; allein Frankreich erlebte um diese Zeit die Blüthe seiner sogenannten classischen Literatur, und der Glanz des auswärtigen Einflusses auf literarischem wie auf politischem Gebiete vereinigte sich in dem Zeitalter Ludwigs XIV., um den Bestrebungen der Nation wie des Hofes einen gewissen Schwung und eine Würde zu geben, die von der materialistischen Richtung auf das Nützliche weit abführten, während doch die zerstreuten Elemente des Epikureismus fortwucherten und die innere Zersetzung unter der glänzenden Hülle beförderten. In Frankreich wie in England fand der Materialismus Boden; allein in Frankreich entnahm man ihm nur seine negativen Elemente, während man in England begann, seine Grundsätze in immer grossartigerem Maassstabe auf die Oekonomie des ganzen Volkslebens anzuwenden. Der Materialismus Frankreichs lässt sich daher mit dem der römischen Kaiserzeit vergleichen; man nahm ihn an, um ihn zu verderben. Ganz anders in England. Auch hier herrschte unter den Grossen der Ton der Frivolität. Man konnte gläubig oder ungläubig sein, weil man für keine Richtung Principien hatte, und man war im Grunde Beides, ja nachdem es den Leidenschaften besseren Vorschub leistete. Allein Carl II. hatte von Hobbes ausser der Doktrin von seiner eignen Omnipotenz doch auch noch etwas Besseres gelernt. Er war ein eifriger Physiker und besass selbst ein Laboratorium. Seinem Beispiele folgte die gesammte Aristokratie. Selbst ein Buckingham liess sich auf Chemie ein, die damals freilich von dem mystischen Reiz der Alchymie, des Suchens nach dem Stein der Weisen noch nicht befreit war. Lords, Prälaten und Juristen widmeten ihre Mussestunden Untersuchungen über Hydrostatik. Man verfertigte Barometer und optische Instrumente für den mannigfachsten Gebrauch; elegante Damen der Aristokratie fuhren bei den Laboratorien vor, und liessen sich die Kunststücke magnetischer und electrischer Anziehung zeigen. Planlose Neugier und eitler Dilettantismus der Grossen vereinigten sich mit dem ernsten und gediegenen Studium der Fachmänner, und England gerieth auf eine Bahn des Fortschrittes in den Naturwissenschaften, die als die Erfüllung der Prophezeiungen Bacos erscheint! Hier war ein echt materialistischer Geist nach allen Seiten rege, der, weit entfernt davon, zerstörend aufzutreten, vielmehr um dieselbe Zeit dies Land einer nie gesehenen Blüthe entgegen führte, zu welcher in Frankreich die Splitter des erneuerten Epikureismus sich mit wachsender Bigotterie vereinigten, um jenen Mangel aller Grundsätze herbeizuführen, der die Zeiten vor dem Auftreten Voltaires charakterisirt. Hier musste daher der Geist der Frivolität mehr und mehr zunehmen; während er in England eine Durchgangserscheinung bildete, die beim ersten Uebergang von den spiritualistischen Grundsätzen der Revolution zu den materialistischen der grossen mercantilen Epoche hervortrat.

»Der Krieg zwischen Witz und Puritanismus,« schreibt Macaulay von jener Zeit, »wurde bald ein Krieg zwischen Witz und Sittlichkeit. Was nur immer die heuchlerischen Puritaner mit Ehrfurcht betrachtet hatten, wurde verhöhnt; was sie verpönt hatten, wurde begünstigt. Wie jene den Mund nicht ohne eine Bibelstelle vorzubringen geöffnet hatten, so that man es jetzt nicht ohne die derbsten Flüche. In der Poesie trat Drydens üppiger Stil an die Stelle Shakespeares, nachdem in der Zwischenzeit eine puritanische Feindschaft gegen die weltliche Poesie überhaupt alle Talente unterdrückt hatte.«

Um jene Zeit begann man die weiblichen Rollen auf dem Theater, die früher von Jünglingen gespielt wurden, den Schauspielerinnen zu überlassen; die Anforderungen an die Licenz derselben stiegen immer höher und das Theater wurde ein Mittelpunkt der Immoralität. Allein die steigende Vergrösserungssucht ging mit dem steigenden Erwerbstrieb Hand in Hand, und Verkehr und Industrie erhoben sich gleichzeitig auf eine Höhe, die frühere Zeiten nicht hatten ahnen können. Die Verkehrsmittel wurden verbessert, längst verlassene Schachte wieder eröffnet, alles mit jener Energie, welche den Epochen materieller Schöpfungen eigen ist, und die stets, wo sie mächtig angeregt ist, auf Energie und Unternehmungsgeist in andern Beziehungen günstig zurückwirkt. Damals begannen die ungeheuren Städte Englands theils aus dem Boden hervorzuwachsen, theils sich in jenem riesigen Massstabe zu vergrössern, der binnen weniger als zwei Jahrhunderten England zum reichsten Land der Erde machte.

In England schoss die materialistische Philosophie ins Kraut; es ist keine Frage, dass der ungeheure Aufschwung des Landes mit den Thaten der Philosophen und Naturforscher von Baco und Hobbes bis auf Newton eben so innig zusammenhängt, als die französische Revolution mit dem Auftreten Voltaires. Eben so leicht lässt sich aber übersehen, dass die Philosophie, die ins Leben aufgegangen war, sich selbst eben damit aufgegeben hatte. Die Vollendung des Materialismus in Hobbes liess im Grunde keine weitere Vervollständigung der Lehre zu.

Die speculative Philosophie dankte ab und liess den praktischen Bestrebungen das Feld. Epikur wollte dem Einzelnen nützen, und zwar durch seine Philosophie selbst; Hobbes suchte die ganze Gesellschaft zu fördern, aber nicht durch seine Philosophie selbst, sondern durch die aus ihr abgeleiteten Resultate. Bei Epikur ist die Beseitigung der Religion der wesentlichste Zweck; Hobbes braucht die Religion, und im Grunde müssen ihm diejenigen Bürger besser scheinen, welche dem öffentlichen Aberglauben von Natur huldigen, als diejenigen, welche dazu eine philosophische Vermittelung brauchen. Der Zweck des Glaubens wird für die Masse besser und billiger erreicht, wenn der Glaube sich einfach von Generation zu Generation fortpflanzt, als wenn die einzelnen Individuen erst durch Respekt vor der Autorität und Einsicht in die Nothwendigkeit derselben zur Regelung ihrer religiösen Vorstellungen gelangen sollen.

Weiterhin ist aber auch die Philosophie für die gesammte Oeconomie des bürgerlichen Lebens überflüssig, sobald die Bürger das, was das Resultat derselben ist, auch ohne die Philosophie ausüben, d. h. sobald sie sich der Staatsgewalt in der Regel fügen, nur dann revoltiren, wenn sie Aussicht auf Erfolg haben, und in gewöhnlichen Zeiten ihre ganze Kraft und Thätigkeit auf materielle Verbesserung ihrer Lage, auf Erzeugung neuer Güter und Vervollkommnung bestehender Einrichtungen verwenden. Da die Philosophie nur dazu dient, dieses Verhalten als das beste und vorteilhafteste zu befördern, so wird es offenbar lediglich ersparte Arbeitskraft sein, wenn es gelingt, die Völker zu solchem Verhalten zu bewegen, ohne jedem Einzelnen die Lehren der Philosophie mitzutheilen. Nur für die Könige und ihre Rathgeber oder für die Spitzen der Aristokratie wird die Philosophie von Werth sein, da diese dafür sorgen müssen, das Ganze in seiner Richtung zu erhalten.

Diese zwingenden Folgerungen aus der Lehre unsres Hobbes sehen in der That aus, als ob sie aus der neueren Culturgeschichte Englands einfach abstrahirt wären, so genau hat sich im Ganzen die Nation nach dem von Hobbes vorgezeichneten Bilde entfaltet. Die höhere Aristokratie hat sich persönliche Freigeisterei, verbunden mit aufrichtiger (sollen wir sagen aufrichtig gewordener?) Hochachtung gegen die kirchlichen Institutionen vorbehalten. Geschäftsleute betrachten jeden Zweifel an den Wahrheiten der Religion als »unpraktisch«; für das Für und Wider ihrer theoretischen Begründung scheinen sie gar keinen Sinn zu haben, und wenn sie den »Germanism« perhorresciren, so geschieht das weit mehr mit Bezug auf die feste Ordnung des diesseitigen, als mit Rücksicht auf die Erwartung des jenseitigen Lebens. Frauen, Kinder und Gemüthsmenschen sind der Religion unbedingt hingegeben. In den untersten Schichten der Gesellschaft aber, für deren Niederhaltung das verfeinerte Gemüthsleben nicht eben erforderlich scheint, besteht wieder von der ganzen Religion fast nur die Furcht vor Gott und den Geistlichen. Die speculative Philosophie gilt als überflüssig, wo nicht gar schädlich. Der Begriff der Naturphilosophie ist in den der Physik (natural philosophy) übergegangen, und ein gemässigter Egoismus, der sich mit dem Christenthum trefflich abgefunden hat, ist in allen Schichten der Gesellschaft als einzige Grundlage der Moral für den Einzelnen wie für den Staat vollständig anerkannt.

Wir sind weit entfernt, diese ganze originelle, aber in ihrer Art mustergültige Entwickelungsweise des neueren England auf den Einfluss eines Hobbes zurückzuführen; vielmehr ist es der lebendige Grundzug der Natur dieses Volkes in dieser Entwickelungsstufe, es ist der Inbegriff aller geschichtlichen und materiellen Verhältnisse, woraus beides, die Philosophie des Hobbes und die nachfolgende Wendung des Volkscharakters herzuleiten ist. Jedenfalls dürfen wir aber Hobbes in einem höheren Lichte erblicken, wenn wir so in seiner Lehre die späteren Phänomene des englischen Volkslebens gleichsam prophetisch vorgebildet sehen. Die Wirklichkeit ist leicht paradoxer als irgend ein philosophisches System, und das thatsächliche Verfahren der Menschen birgt mehr Widersprüche in sich, als ein Denker selbst mit Kunst zusammenhäufen könnte. Dafür bietet uns das orthodox-materialistische England ein schlagendes Beispiel.

Wie es kam, dass die materialistische Denkweise in Frankreich zersetzend, in England consolidirend wirkte, ist allerdings schwer völlig zu erklären, allein die Sache ist jedenfalls nicht unnatürlicher, als die verschiedene chemische Wirkung eines und desselben Reagens auf verschiedene Lösungen. Gerade in den Berührungspunkten des geistigen Lebens beider Nationen wird der Unterschied am deutlichsten. Die Aristokraten Englands, welche zur Feder griffen, waren in dieser Uebergangszeit fast alle mehr oder weniger Materialisten. Ein Shaftesbury, ein Bolingbroke, ein Chesterfield schrieb aber nicht für die Massen, sondern für Seinesgleichen. Frankreich hatte keine Männer dieses Schlages. Wie idealistisch und ernsthaft erscheint ihnen gegenüber Montesquieu! Er hat trotz des persischen Gewandes seiner Figuren weder die Ironie eines Shaftesbury, noch die Frivolität eines Bolingbroke, geschweige denn den glatten Egoismus eines Chesterfield. Sein Ziel ist auf Verwirklichung eines Ideals – »auf den Umsturz« nennt man das oft – mit grösster Anspannung gerichtet; und als er aus England kühler und conservativer zurückkehrte, schuf er eine Theorie, die den Staatsmännern auf lange Zeit hinaus zu denken gab, die aber auf die nächste Gegenwart wenig wirkte. In Frankreich musste ein Mann aus dem Volke kommen, Voltaire, der bei aller Buhlerei mit Aristokraten und Fürsten doch seiner ganzen Richtung und Wirkung nach Volksmann blieb, der auf die Massen wirkte, weil er auf sie wirken wollte. Frankreich stand vor seiner grossen Revolution, England hatte sie hinter sich. In England gedieh daher, namentlich erst recht nach der zweiten Revolution, Alles zum Positiven; in Frankreich wurde von jedem System eigentlich nur der negative Theil wirksam. Populäre Schriftsteller von praktischer Tendenz, wie Voltaire, blieben daher ganz naturgemäss in der Negation stecken; das philosophische System, welches dem Frankreich von 1650 bis 1750 am besten zusagte, war durchaus nicht das materialistische; es war vielmehr die Skepsis. Schon Montaigne hatte im sechzehnten Jahrhundert in dieser Richtung gewirkt. Ein Zeitgenosse Gassendis war La Mothe le Vayer, ein Mitglied des Staatsrathes unter Ludwig XIV., der mit der Skepsis seiner »fünf Dialoge« gewiss weit mehr Einfluss auf die Denkweise der höheren Stände übte, als Gassendi und selbst Descartes. Diese gehörten mehr der Schule an; jener dem Leben. Den Gipfel des französischen Skepticismus bezeichnet aber Pierre Bayle († 1706, erst 32 Jahre alt), dessen grosses historisch-kritisches Wörterbuch in alle Bibliotheken vornehmer Familien überging und bei der pikanten und gefälligen, oft skandalsüchtigen, nicht selten paradoxen Behandlungsweise wissenschaftlicher Gegenstände den Schwarm oberflächlicher Leser fesselte und einen ausgedehnten Einfluss übte. Bayle diente der Oberflächlichkeit, ohne persönlich den Vorwurf derselben zu verdienen. Als Mann von grossem Scharfsinn begnügte er sich nicht, den Satz aufzustellen, dass die Vernunft nur zur Zerstörung von Irrthümern da sei, sondern er handhabte auch diese Waffe gegen Aberglauben und Vorurtheil mit grossem Erfolg. Von seinen Behauptungen gehören besonders zwei ganz in den Kreis der Zeitkämpfe: dass der Unglaube immer noch besser sei als der Aberglaube, und dass ein Staat von Menschen denkbar sei, der ohne Glauben an Gott und die Unsterblichkeit der Seele bestände.

Der consequenteste und bedeutendste aller Skeptiker, David Hume, gehört freilich nicht Frankreich, sondern England an. Auch hier lässt sich bemerken, wie der Engländer mehr seine Thätigkeit der vollen, ruhigen Durchbildung seines Systems widmet, während bei dem Franzosen das Unfertige, Gährende und daher Zersetzende in der Wirkung auf die Zeit mehr hervortritt, als der reine Grundgedanke des Systems. Uebrigens ist Hume einer späteren Periode, dem Uebergang auf Kant, zuzuzählen, und wenn wir in die Zeit zwischen Hobbes und De la Mettrie zurückgreifen, so finden wir in England vorwiegend Fortbildner der materialistischen und sensualistischen Richtung.

Unter diesen ist vor Allen John Locke zu nennen, ein Mann, der auf den Charakter der beiden letzten Jahrhunderte einen tief greifenden Einfluss geübt hat. Für die Geschichte des Materialismus ist er nicht Epoche machend. Er erscheint hier als Mittelglied zwischen der strengen Systematik eines Gassendi und Hobbes und der volkstümlichen, auf die unmittelbare Wirkung berechneten Thätigkeit der französischen Encycloplädisten. Wenn man ihn dennoch vielfach gerade als den Urheber des neueren Materialismus bezeichnen hört, so beruht das theils auf der Verwechselung dieser Richtung mit dem empirischen Sensualismus, den Locke ausbildete, theils darauf, dass der Einfluss, welchen Locke übte, in der That in mancher Beziehung dem neueren Materialismus mächtig vorarbeitete.

Wie Hobbes, so wurde Locke auf der Universität zu Oxford in die Philosophie eingeweiht; allein der Hass gegen die Scholastik, welcher bei Hobbes erst spät zum Durchbruch kam, bemächtigte sich seiner sofort. Er wandte sich der Medicin zu, und harmonirte in diesem Studium trefflich mit Sydenham, der damals eine ähnliche Reform der verwilderten Heilkunde von England aus anbahnte, wie später Boerhaave von den Niederlanden her. Schon hier zeigt er sich als der Mann von gesundem Menschenverstand, dem Aberglauben und der Metaphysik gleich abgeneigt. Bald sehen wir ihn auch in die Politik verwickelt, für die er sein ganzes Leben hindurch thätig blieb. Stand Hobbes auf der Seite des Absolutismus, so gehörte Locke der liberalen Richtung an; ja man hat ihn vielleicht nicht mit Unrecht als den Vater des neueren Constitutionalismus bezeichnet. Der Grundsatz von der Trennung der gesetzgebenden und der ausübenden Gewalt welcher gerade während der Lebenszeit Lockes in England sich praktische Geltung verschaffte, wurde von ihm zuerst in theoretischer Bestimmtheit entwickelt. Mit seinem Freunde und Beschützer Lord Shaftesbury wurde Locke, nachdem er eine kurze Zeit lang eine Stelle im Ministerium des Handels bekleidet hatte, in den Strudel der Opposition fortgerissen. Lange Jahre lebte er auf dem Continent, theils in freiwilliger Verbannung, theils geradezu von der Regierung verfolgt. In dieser Schule stählte sich sein Eifer für die Toleranz und die bürgerliche Freiheit. Das Anerbieten mächtiger Freunde, die ihm die Verzeihung des Hofes erwirken wollten, schlug er mit Berufung auf seine Schuldlosigkeit aus, und erst die Revolution von 1688 gab ihn seinem Vaterlande wieder.

Schon im ersten Beginn seiner politischen Thätigkeit, im Jahre 1669, arbeitete Locke eine Constitution für die Provinz Carolina in Nord-Amerika aus, die sich jedoch schlecht bewährte und dem späteren gereiften Liberalismus Lockes wenig entspricht. Um so vorzüglicher sind dagegen seine Abhandlungen über das Münzwesen, welche nicht nur dazu beitrugen, einen thatsächlichen grossen Uebelstand des englischen Staatshaushaltes zu beseitigen, sondern auch für die richtige volkswirtschaftliche Behandlung des Münzwesens geradezu grundlegend genannt werden können.

Wir haben hier also wieder einen jener englischen Philosophen vor uns, die, mitten im Leben stehend und mit reicher Weltkenntniss ausgerüstet, sich der Lösung abstrakter Fragen zuwandten. Locke entwarf sein berühmtes Werk über die menschliche Erkenntniss schon im Jahre 1670, und erst zwanzig Jahre später wurde es in seinem vollen Umfange veröffentlicht. Wirkte auch hierauf die Abwesenheit des Verfassers von seinem Vaterlande, so ist es doch keinem Zweifel unterworfen, dass Locke sich beständig mit dem einmal erfassten Gedanken beschäftigte und seinem Werke immer grössere Vollkommenheit zu geben suchte.

Wie er durch einen einfachen Anlass – durch einen resultatlosen Streit einiger Freunde – auf die Frage nach dem Ursprung und den Grenzen der menschlichen Erkenntniss gekommen sein will, so bedient er sich auch allenthalben einfacher, aber durchschlagender Gesichtspunkte bei seinen Untersuchungen. Wir haben in Deutschland noch heutzutage sogenannte Philosophen, welche in einer Art von metaphysischer Tölpelhaftigkeit grosse Abhandlungen über die Vorstellungsbildung schreiben – wohl gar noch mit dem Anspruch auf »exacte Beobachtung mittelst des inneren Sinns« – ohne auch nur daran zu denken, dass es, vielleicht in ihrem eignen Hause, Kinderstuben giebt, in welchen man wenigstens die Symptome der Vorstellungsbildung mit seinen Augen und Ohren beobachten kann. Dergleichen Unkraut kommt in England nicht auf. Locke beruft sich in seinem Kampf gegen die angebornen Vorstellungen auf Kinder und Idioten. Alle Ungebildeten und ohne Ahnung von unsern abstracten Sätzen, und doch sollen diese angeboren sein? Der Einwand, dass jene Vorstellungen zwar im Verstande seien, aber ohne dessen Wissen, bezeichnet er als widersinnig. Eben das wird ja gewusst, was im Verstande ist. Auch kann man nicht sagen, dass die allgemeinen Sätze gleich mit dem Beginn des Verstandesgebrauches zum Bewusstsein kämen. Vielmehr ist die Erkenntniss des Speciellen früher. Längst bevor das Kind den logischen Satz des Widerspruchs kennt, weiss es, dass süss nicht bitter ist.

Locke zeigt, dass der wirkliche Weg der Verstandesbildung der umgekehrte ist. Es finden sich nicht zuerst gewisse allgemeine Sätze im Bewusstsein ein, die sich sodann durch die Erfahrung mit speciellem Inhalte erfüllen, sondern die Erfahrung, und zwar die sinnliche Erfahrung ist der erste Ursprung unsrer Erkenntnisse. Zuerst geben uns die Sinne gewisse einfache Ideen, ein Ausdruck, der bei Locke ganz allgemein ist und etwa das besagt, was die Herbatianer »Vorstellungen« nennen. Solche einfache Ideen sind die Töne, die Farben, das Widerstandsgefühl des Tastsinnes, die Vorstellungen der Ausdehnung und der Bewegung. Wenn die Sinne solche einfache Ideen häufig gegeben haben, so entsteht die Zusammenfassung des Gleichartigen und dadurch die Bildung der abstracten Vorstellungen. Zur Empfindung (Sensation) gesellt sich die innere Wahrnehmung (Reflexion) und dies sind »die einzigen Fenster«, durch welche das Dunkel des ungebildeten Verstandes erhellt wird. Auch die innere Wahrnehmung ist sinnlicher Natur; denn der Satz nihil est in intellectu quod non fuerit in senu hat für Locke fundamentale Geltung. Die Ideen der Substanzen, der wechselnden Eigenschaften und der Verhältnisse sind zusammengesetzte Ideen. Wir kennen von den Substanzen im Grunde nur ihre Attribute, welche aus einfachen Sinneseindrücken, als Tönen, Farben u. s. w. entnommen werden. Nur dadurch, dass diese Attribute sich häufig in einer gewissen Verbindung zeigen, kommen wir dazu uns die zusammengesetzte Idee einer Substanz, welche den wechselnden Erscheinungen zu Grunde liegt, zu bilden. Selbst Gefühle und Affecte entspringen aus der Wiederholung und mannigfachen Verbindung der einfachen, durch die Sinne vermittelten Empfindungen.

Indem nun der menschliche Geist, der sich den Sinneseindrücken und auch der Bildung zusammengesetzter Ideen gegenüber bloss receptiv verhält, dazu fortschreitet, die gewonnenen abstracten Ideen durch Worte zu fixiren und diese Worte nun willkürlich zu Gedanken zu verbinden, geräth er auf die Bahn, wo die Sicherheit der natürlichen Erfahrung aufhört. Je weiter sich der Mensch vom Sinnlichen entfernt, desto mehr unterliegt er dem Irrthum, und die Sprache ist die wichtigste Trägerin desselben. Sobald die Worte als adäquate Bilder von Dingen genommen, oder mit wirklichen anschaulichen Dingen verwechselt werden, während sie doch nur willkürliche, mit Vorsicht zu gebrauchende Zeichen für gewisse Ideen sind, ist das Feld zahlloser Irrthümer erschlossen. Lockes Vernunftkritik läuft daher in eine Kritik der Sprache aus, die ihrem Grandgedanken nach wohl von höherem Werth ist, als irgend ein andrer Theil des Systems. In der That ist die wichtige Unterscheidung des rein logischen und des psychologisch-historischen Elementes in der Sprache von Locke angebahnt, aber, von den Vorarbeiten der Linguistiker abgesehen, bisher kaum wesentlich gefördert worden. Und doch sind weit aus die meisten Schlüsse, welche in den philosophischen Wissenschaften überhaupt angewandt werden, logische Vierfüsser, weil Begriff und Wort beständig verwechselt werden. – Die alte materialistische Ansicht von der bloss conventionellen Geltung der Worte verwandelt sich also bei Locke in das Streben, die Worte bloss conventionell zu machen, weil sie nur in dieser Beschränkung einen sichern Sinn haben.

Von grossem Einfluss waren ferner Lockes Briefe über die Toleranz (1685-1692), die Gedanken über die Erziehung (1693), die Abhandlung über die Regierung (1689) und das vernunftmässige Christenthum (1695); doch gehören alle diese Schriften nicht in die Geschichte des Materialismus. Mit sicherm Blick hatte Locke den Punkt erkannt, wo die vererbten mittelalterlichen Institutionen faul waren: die Vermischung der Politik und der Religion und die Verwendung der Staatsgewalt zur Behauptung oder Vertilgung von Ansichten und Meinungen. Es ist selbstverständlich, dass mit Erreichung der Ziele, welche Locke erstrebte, mit der Trennung der Kirche vom Staat und mit der Einführung allgemeiner Toleranz in Sachen der Lehrmeinungen, auch die Stellung des Materialismus eine andre werden musste. Das frühere Versteckenspielen mit der eignen Ansicht, welches sich bis tief in das achtzehnte Jahrhundert hinein fortsetzte, musste allmählig schwinden. Der Deckmantel einfacher Anonymität wurde am längsten beibehalten; allein auch dieser schwand, als anfangs die Niederlande, später der Staat Friedrichs des Grossen den Freidenkern sicheres Asyl boten, bis endlich die französische Revolution dem alten System den Todesstoss versetzte.

Es wird eine mühsame aber nicht unfruchtbare Aufgabe zukünftiger Kritik sein, bei den Freidenkern dieser Zeiten annähernd festzustellen, wie weit in ihren Schriften ihre wahren und klaren Ansichten enthalten sind, wie weit dagegen Concessionen an das Bestehende oder auch subjective Unklarheiten vorwalten. So viel steht fest, dass eine grosse Zahl der englischen »Deisten« ebenso gut den Namen der Materialisten tragen könnte, und dass bei den Materialisten von mehr oder weniger theologischer Färbung, wie Cudworth, Coward, Hartley, Priestley und andern die biblische Auffassung gewiss nicht durchgängig echt ist. Während aber die Verfolgung dieser Verzweigungen der materialistischen Strömung ausserhalb unseres Planes liegt, können wir doch nicht umhin, eines Mannes specieller zu gedenken, der nicht nur in seiner Lehre alle Stufen vom Standpunkt der vernunftgemässen Religion bis zum offenen Materialismus vertritt, sondern der auch den allgemein bestehenden Unterschied zwischen den öffentlichen Aeusserungen und der wirklichen Meinung der Freidenker gradezu als berechtigt und nothwendig hinstellt.

John Toland, der als eines der Häupter der englischen Deisten betrachtet wird, giebt in seinem Tetradymus (London 1720) eine Abhandlung, deren Titel schon Enthüllungen verspricht. Er nennt sie Clidophorus, d. h. den Schlüsselträger. Nachdem er die Sitte der alten Philosophen erwähnt hat, die Lehre in eine exoterische und esoterische zu unterscheiden, von denen die erstere für das grosse Publicum, die letztere aber nur für den eingeweihten Schülerkreis galt, schaltet er im dreizehnten Kapitel der Abhandlung folgende Mittheilung ein: »Mehr als einmal habe ich angedeutet, dass die äussere und innere Lehre jetzt so gebräuchlich sind als je, obwohl die Unterscheidung nicht so offen und ausdrücklich anerkannt wird, wie bei den Alten. Dies erinnert mich daran, was mir ein naher Verwandter von Lord Shaftesbury erzählte. Als der letztere sich eines Tages mit Major Wildmann über die mancherlei Religionen in der Welt unterhielt, kamen sie zuletzt zu dem Schluss, dass ungeachtet jener unzähligen, durch das Interesse der Priester und die Unwissenheit der Völker geschaffenen Theilungen doch alle weisen Männer der nämlichen Religion angehörten. Da that eine Dame, die bisher mehr auf ihre Handarbeit als auf die Unterhaltung zu achten schien, mit einiger Bekümmerniss die Frage, welche Religion das sei? worauf Lord Shaftesbury rasch zur Antwort gab: »Madame, das sagen die weisen Männer niemals.« – Toland billigt dies Verfahren, glaubt aber ein unfehlbares Mittel zur Verallgemeinerung der Wahrheit angeben zu können: »Man lasse jedermann seine Gedanken frei aussprechen, ohne dass er jemals gebrandmarkt oder gestraft wird, ausser für gottlose Handlungen, indem man speculative Ansichten von jedem der will, billigen oder widerlegen lässt: dann seid ihr sicher die ganze Wahrheit zu hören; bis dann aber nur sehr kümmerlich oder dunkel, wenn überhaupt.«

Toland selbst hat seine esoterische Lehre in dem anonym erschienenen Pantheistikon (»Kosmopolis 1720«) offen genug dargelegt. Er verlangt darin unter gänzlicher Beseitigung der Offenbarungen und des Volksglaubens eine neue Religion, welche mit der Philosophie übereinstimmt. Sein Gott ist das All, aus dem Alles geboren wird, und zu dem Alles zurückkehrt. Sein Cultus gilt der Wahrheit, Freiheit und Gesundheit, den drei höchsten Gütern des Weisen. Seine Heiligen und Kirchenväter sind die erhabenen Geister und die vorzüglichsten Schriftsteller aller Zeiten, besonders des classischen Alterthums; aber auch diese bilden keine Autorität, welche den freien Geist des Menschen fesseln dürfte. In der Sokratischen Liturgie ruft der Vorsteher: »Schwöret auf keines Meisters Worte!« Und die Antwort schallt ihm aus der Gemeinde entgegen: »Selbst nicht auf die Worte des Sokrates.«

Der Materialismus steht dem idealistischen Pantheismus eines Spinoza fern; mit dem realistischen Pantheismus eines Giordano Bruno harmonirt er leicht, und dies ist denn auch der Standpunkt unsres Toland. Allerdings kann der Materialismus sich auch mit jeder andern Religionsform verbinden, sobald diese Form offen als Mythus genommen wird. Hobbes nimmt die Religion als zweckmässigen Aberglauben auf; der Zukunft ist es vielleicht vorbehalten, sie als eine dem innersten Wesen des Menschen entspriessende wohlthätige Poesie zu fassen: für Tolands unhistorische und prosaisch nüchterne Zeitgenossen musste gerade jene pantheistische Form als der einzig befriedigende Versuch einer Religion des Materialismus erscheinen. Die Uebereinstimmung der Wissenschaft und des Cultus – ein Problem, welches die Alten sich niemals ernsthaft stellten, an dem jedoch das ganze christliche Mittelalter sich vergeblich zerarbeitete – das ist auch Tolands Standpunkt, und von diesem Standpunkt aus betrachtet bleibt sein Pantheistikon eins der bemerkenswerthesten und bedeutendsten Denkmäler jener Zeit.

Tolands materialistische Naturphilosophie ist schon in zwei Briefen an einen Spinozisten in Holland niedergelegt, welche den Letters to Serena (London 1704) angehängt sind. Serena, deren Namen die Briefsammlung trägt, ist Sophie Charlotte, Königin von Preussen, deren Freundschaft mit Leibnitz bekannt ist, und die auch unsern Toland, der längere Zeit in Deutschland lebte, huldreich aufgenommen und seine Ansichten mit Interesse gehört hatte. Die drei ersten, an Serena gerichteten Briefe der Sammlung sind allgemeineren Inhaltes; doch bemerkt Toland in der Vorrede ausdrücklich, dass er mit der erlauchten Dame auch über andere, weit interessantere Gegenstände correspondirt habe, dass er aber von diesen Briefen keine Reinschrift besitze und deshalb die beiden andern Briefe anfüge. Der erste derselben enthielt eine Widerlegung Spinozas, welche von der Unmöglichkeit ausgeht, nach Spinozas System die Bewegung und innere Mannigfaltigkeit der Welt und ihrer Theile zu erklären. Der zweite Brief trifft den Kernpunkt der ganzen materialistischen Frage. Er könnte die Ueberschrift »Kraft und Stoff« tragen, wenn man nicht die wirkliche Ueberschrift »Bewegung als wesentliche Eigenschaft der Materie« (Motion essential to matter) noch deutlicher nennen müsste.

Wiederholt haben wir gesehen, wie tief der alte Begriff der Materie als einer todten, starren und trägen Substanz in alle metaphysischen Fragen eingreift. Diesem Begriff gegenüber hat der Materialismus einfach recht. Es handelt sich hier nicht um verschiedene gleich wohl begründete Standpunkte, sondern um verschiedene Grade der wissenschaftlichen Erkenntniss. Wenn auch die materialistische Weltanschauung noch einer ferneren Läuterung bedarf, so wird diese doch niemals rückwärts führen können. Als Toland seine Briefe schrieb, hatte man sich bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert an die Atomistik Gassendis gewöhnt; die Undulationstheorie von Huyghens hatte einen tiefen Blick in das Leben der kleinsten Theile eröffnet, und wenn auch erst siebzig Jahre später durch Priestleys Entdeckung des Sauerstoffs das erste Glied der endlosen Kette der chemischen Vorgänge erfasst wurde, so war doch das Leben der Materie bis in die kleinsten Theile erfahrungsmässig festgestellt. Newton, der von Toland stets mit grösster Hochachtung erwähnt wird, hatte zwar durch die Annahme des ursprünglichen Stosses und durch die Schwachheit, mit der er eine zeitweise Nachhülfe des Schöpfers für den Gang seiner Weltenmaschine in Anspruch nahm, der Materie eine gewisse Passivität gelassen; allein Newton hatte doch einmal den Gedanken des grossen Kepler, dass die Himmelskörper sich nach denselben Gesetzen bewegen, welche den irdischen Fall regieren und so im Grossen und Kleinen durch das Weltall walten, durch sein unvergleichliches mathematisches Genie bestätigt und zur Evidenz gebracht, und dieser Gedanke emancipirte sich bald selbst von dem eitlen Flickwerk, das der theologisch befangene Sinn Newtons ihm angehängt hatte. Die Welt der Gravitation lebte in sich, und es ist nicht zu verwundern, dass die Freigeister des achtzehnten Jahrhunderts, Voltaire an der Spitze, sich als die Apostel der Newtonschen Naturphilosophie betrachteten.

Toland geht, gestützt auf Andeutungen Newtons, zu der Behauptung über, dass kein Körper in absoluter Ruhe ist; ja, in tiefsinniger Anwendung des altenglischen Nominalismus, der diesem Volk für die Naturphilosophie einen so grossen Vorsprung verlieh, erklärt er schon Activität und Passivität, Ruhe und Bewegung für bloss relative Begriffe, während die ewige innere Thätigkeit der Materie in gleicher Kraft walte, wenn sie einen Körper andern Kräften gegenüber vergleichsweise in Ruhe hält, als wenn sie ihm eine beschleunigte Bewegung verleiht.

»Jede Bewegung ist passiv in Beziehung auf den Körper, welcher sie giebt und activ in Beziehung auf den Körper, welchen sie demnächst bestimmt. Nur der Umstand, dass man die relative Bedeutung solcher Wörter in eine absolute verwandelt, hat die meisten Irrthümer und Streitigkeiten über diesen Gegenstand veranlasst.« Unhistorisch, wie seine meisten Zeitgenossen, verkennt Toland, dass die absoluten Begriffe naturwüchsig sind, die relativen dagegen erst ein Product der Bildung und der Wissenschaft. »Die Bestimmungen der Bewegung in den Theilen der festen und ausgedehnten Materie bildet das, was wir die Naturerscheinungen nannten, denen wir Namen geben und Zwecke, Vollkommenheit oder Unvollkommenheit zuschreiben, je nachdem sie unsre Sinne afficiren, unserm Körper Schmerz oder Lust verursachen und zu unserer Erhaltung oder Zerstörung beitragen; allein wir benennen sie nicht immer nach ihren wirklichen Ursachen oder nach der Art, wie sie einander hervorbringen, wie die Elasticität, die Härte, Weichheit, Flüssigkeit, Quantität, Figur und Verhältnisse besonderer Körper. Im Gegentheil schreiben wir häufig manche Besonderheiten der Bewegung gar keiner Ursache zu, wie die willkürlichen Bewegungen der Thiere. Denn wiewohl diese Bewegungen vom Gedanken begleitet sein mögen, so haben sie doch, als Bewegungen betrachtet, ihre physischen Ursachen. Wenn ein Hund einen Hasen verfolgt, so wirkt die Gestalt des äusseren Objectes mit ihrer ganzen Gewalt von Stoss oder Anziehung auf die Nerven, welche so mit den Muskeln, Gelenken und andern Theilen geordnet sind, dass sie mannigfache Bewegungen in der thierischen Maschine möglich machen. Und jeder, der auch nur einigermassen die Wechselwirkung der Körper aufeinander durch unmittelbare Berührung oder durch die unbemerklichen Theilchen, die beständig von ihnen ausströmen, versteht, und mit dieser Kenntniss diejenige der Mechanik, Hydrostatik und Anatomie verbindet, wird überzeugt sein, dass alle die Bewegungen des Sitzens, Stehens, Liegens, Aufstehens, Laufens, Gehens und dergleichen mehr ihre eigenthümliche, äusserliche, materielle und verhältnissmässige Bestimmung haben.«

Eine grössere Deutlichkeit kann Niemand verlangen. Toland betrachtet offenbar den Gedanken als eine den materiellen Bewegungen im Nervensystem inhärirende begleitende Erscheinung, wie etwa das Leuchten in Folge eines galvanischen Stromes. Die willkürlichen Bewegungen sind Bewegungen des Stoffes, welche nach denselben Gesetzen entstehen, wie alle, andern, nur in complicirteren Apparaten.

Wenn Toland sich demnächst noch hinter eine weit allgemeiner gehaltene Aeusserung Newtons verschanzt und endlich sich dagegen ausdrücklich verwahrt, dass sein System die Annahme einer regierenden Vernunft überflüssig mache, so können wir nicht umhin, dabei uns an seine Unterscheidung der exoterischen und esoterischen Lehre zu erinnern. Das anonym erschienene und daher wohl als esoterisch zu betrachtende Pantheistikon verehrt keinen transcendenten Weltgeist irgend welcher Art, sondern nur das All, in unabänderlicher Einheit von Geist und Materie. So viel aber dürfen wir jedenfalls aus der Schlussbetrachtung des merkwürdigen Briefes entnehmen, dass Toland die gegenwärtige Welt nicht gleich den Materialisten des Alterthums als nach unzähligen unvollkommenen Versuchen zufällig geworden betrachtet, sondern eine grossartige, dem All unabänderlich inwohnende Zweckmässigkeit annimmt.

Toland gehört zu jenen wohlthuenden Erscheinungen, bei denen wir eine bedeutende Persönlichkeit in voller Harmonie aller Seiten des menschlichen Wesens vor uns sehen. Nach einem vielbewegten Leben genoss er in heiterer Seelenruhe die abgeschiedene Stille des Landlebens. Kaum ein Fünfziger wurde er von einer Krankheit ergriffen, die er mit der Ruhe eines Weisen ertrug. Wenige Tage vor seinem Tode verfasste er seine Grabschrift; er nahm Abschied von seinen Freunden und entschlummerte in ungetrübtem Frieden des Geistes.

Während in Frankreich durch Montaigne, la Mothe le Vayer und Bayle der Skepticismus, in England durch Baeo, Hobbes, Locke der Materialismus und Sensualismus gewissermassen zum Rang einer Nationalphilosophie erhoben wurden, blieb Deutschland der Stammsitz pedantischer Scholastik. Die Rohheit des Adels, die schon Erasmus durch den Spottnamen der »Centauren« treffend bezeichnete, liess eine durchgebildete Philosophie auf der Grundlage weltmännischer Bildung, wie sie in England eine so grosse Rolle spielte, durchaus nicht aufkommen. Das unruhig gährende Element, welches in Frankreich immer schärfer hervortrat, wurde durch das Vorwalten religiöser Gesichtspunkte vielfach in sonderbar verschlungene, gleichsam unterirdische Bahnen gelenkt, und die confessionelle Spaltung verzehrte die besten Kräfte der Nation in endlosen Kämpfen ohne irgend ein sichtbares Resultat. Auf den Universitäten nahm ein immer roheres Geschlecht Catheder und Bänke ein. Melanchthons Reaction für den geläuterten Aristoteles führte unter diesen Epigonen zu einer Intoleranz, die an die finstersten Zeiten des Mittelalters erinnerte. Die Philosophie Descartes' fand fast nur in dem kleinen Duisburg, das einen Hauch niederländischer Geistesfreiheit genoss und von Preussens aufgeklärtem Herrscherhause geschirmt wurde, eine sichere Pflegestätte; und selbst jene zweideutige Art bestreitender Verteidigung, deren Bedeutung wir mehrfach kennen gelernt haben, fand noch gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts Anwendung auf die cartesische Lehre. Vielleicht verbreitete sie sich deshalb nur um so gründlicher; wie denn überhaupt neben der Vorliebe für das Ausländische, die Hettner mit Recht als ein befreiendes Element betrachtet, eine gewisse demokratische Natur der höheren Bildung sich in Deutschland schon frühe geltend macht Das Land, welches schon mitten zwischen den eifrigsten Confessionsstreitigkeiten des sechzehnten Jahrhunderts den ganz unbekannt gebliebenen Verfasser des Buches »Von den drei Betrügern« hervorbrachte, gab den Gedanken der Engländer, die zu Hause auf exclusive Kreise beschränkt blieben, eine breite Basis in der zahlreichen Schicht der Deutschen, welche zwar durchaus keine Weltbildung, wohl aber eine vergleichsweise sehr tüchtige Schulbildung erlangt hatten. Ein merkwürdiges Zeugniss für diese geheime Vorgeschichte der deutschen Geistesfreiheit liefert uns denn auch ein Werkchen, welches ganz in die Geschichte des Materialismus fällt, und das wir um so lieber hier mit einiger Ausführlichkeit behandeln, da es selbst von den neuesten Literarhistorikern noch nicht gewürdigt und den meisten wohl kaum recht bekannt geworden ist.

Es ist dies der seiner Zeit so viel besprochene Briefwechsel vom Wesen der Seele, der seit 1713 in einer Reihe von Auflagen erschien, in Gegenschriften und Recensionen bekämpft wurde, und sogar einen Jenenser Professor veranlasste, das winzige Büchlein in einer eigens dazu angesetzten Vorlesung zu bekämpfen. Es besteht aus drei, dem Anschein nach von zwei verschiedenen Autoren verfassten Briefen, wozu in der dem Verfasser bekannt gewordenen Ausgabe von 1723 noch ein ausführliches Vorwort eines Dritten kommt, der diese Auflage als die vierte bezeichnet und beiläufig der allgemeinen Verwunderung darüber Ausdruck giebt, dass die früheren Auflagen nicht confiscirt worden seien. Weller nennt in seinem Wörterbuch der Pseudonymen J. C. Westphal, einen Arzt aus Delitzsch, und J. D. Hocheisel (Hocheisen, Adjunkt der philosophischen Facultät zu Wittenberg?) als die Verfasser dieses Briefwechsels. Im vorigen Jahrhundert hielt man sonderbarer Weise die beiden Theologen Röschel und Bucher für die Verfasser, von denen der letztere ein leidenschaftlicher Orthodoxe war, der sich gewiss nicht mit einem »Atheisten« – so nannte man damals auch Cartesianer, Spinozisten, Deisten u. s. w. – auf einen Briefwechsel eingelassen hätte. Röschel, der zugleich Physiker war, könnte, wenn man innern Gründen folgen will, den zweiten (antimaterialistischen) Brief wohl geschrieben haben. Wer aber der eigentliche Materialist war (Verfasser des ersten und dritten Briefes) bleibt danach noch immer zweifelhaft. Das Schriftchen ist, der traurigen Zeit seiner Abfassung entsprechend, in entsetzlichem Stil, deutsch mit lateinischen und französischen Brocken vermengt, geschrieben, und verräth einen witzigen Geist und gründliches Denken. Dieselben Gedanken in einer classischen Form und unter einer Nation von geschlossenem Selbstvertrauen würden vielleicht ein ähnliches Aufsehen erregt haben, wie die Schriften eines Voltaire; allein die Form bezeichnet hier gerade den Nullpunkt des Werthes der deutschen Prosa, die Zeit der Abfassung war eine solche, wo alle vornehmeren Freidenker ihre Weisheit ans dem französischen Bayle holten, und nach einigen begierig gelesenen Ausgaben verhallte die Stimme des Deutschen. Der Verfasser war sich dieser Lage der Sache wohl bewusst, denn er bemerkt: »Dass ich diese Briefe teutsch concipiret, solches wird man mir nicht vor übel halten, weil ich sie nicht Aeternitati gewidmet wissen wollte.« Der Verfasser hat den Hobbes, jedoch, wie er sagt, »in einer andern Absicht« gelesen; von den französischen Aufklärern konnte er noch nichts wissen. Im Jahre 1713, als das Büchlein erschien, wurde Diderot geboren, und Voltaire wanderte als neunzehnjähriger junger Mensch zum erstenmale wegen satirischer Gedichte gegen die Regierung in die Bastille. Nachdem der Herausgeber der Ausgabe von 1723 in einer Einleitung zu seinen Briefen die Irrthümlichkeit aller älteren Philosophie mit sammt der Cartesischen hervorgehoben und gezeigt hat, wie die Physik neuerdings der Metaphysik den Rang abgelaufen, erwägt er die allgemeine Controverse, ob man nun noch ferner mit der alten überlebten Autorität alle neuen Ideen solle zu Bojden schlagen, oder widersprechen. »Etliche rathen, man solle sich juxta captum vulgi erronei richten und Peter Squentzen mit spielen. Andere aber protestiren sollenniter, und wollen par tout Märtyrer vor ihre eingebildete Wahrheiten werden. Ich bin zu ungeschickt, das Wagezünglein in dieser Controvers zu sein; doch meinem Bedünken nach schiene es probabel, dass durch tägliche Abmahnung der gemeine Mann allgemach würde klüger werden; denn nicht vi, sed saepe cadendo (Experientia teste) cavat gutta lapidem; dabei ich auch nicht leugnen kann, dass die praejudicia nicht nur beim Laico, sondern auch wohl bei den so genannten Gelehrten ziemlich schwer wiegen, und sollte es noch viele Mühe kosten, diese tief eingefressene Wurzel aus der Leute Köpffen zu graben, weil das Pythagorische αὐτὸς ἔφα ein zum Faullentzen herrliches Mittel, ja ein vortrefflicher Mantel, womit mancher Philosophus den Ignoranten bis auf die Klauen bedecken kann. Sed manum de tabula. Genug ists, dass wir in allen unsern Auctionibus hessliche, ja sclavische Praejudicia Autoritatis hegen.

»Dass ich aber unter tausenden eines erwehne, so kann es unsere Seele sein. Was hat das gute Mensch nicht schon für Fata gehabt, wie offt hat sie müssen in dem menschlichen Leibe herum marschieren. Und wie viel wunderliche judicia von ihrem Wesen haben sich in der Welt ausgebreitet. Bald setzet sie einer in cerebrum, da setzen sie ihm viele andere nach. Bald setzet sie einer in die glandulam pinealem, und dem folgen auch nicht wenige. Wieder andern scheint dieser Sitz zu enge, und gar recht Sie könnte nicht, wie sie, bei einer Kanne Coffée l'ombre spielen. Darum postieren sie sie in quamvis Corporis partem gantz, und in toto Corpore gantz: und ob gleich die Vernunft leicht begreifft, dass so viele Seelen in einem Menschen sein müssten, als Puncta an ihm sind, so finden sich doch viel Affen, die es auch so machen, quia αὐτὸς, ihr seliger Herr Präceptor, der 75 Jahr alt, und 20 Jahr Rector scholae dignissimus, diss vor die probabelste Sentenz hielt.

»Noch andre setzen sie ins Hertze und lassen sie sich im Blute herum schwemmen; bei andern muss sie ins Ventriculum kriechen; ja bei einem andern muss sie gar ein barmhertziger Thürhüter des unruhigen Hinter-Castells abgeben, wie die Aspectio der Bücher sattsam zeiget.

»Noch thümmer aber ists, wenn sie von dem Wesen der Seele reden; ich mag nicht sagen, was ich vor Gedanken habe, wenn ich die unreiffe Geburt beym Herrn Commenio, salvo honore, Orbe picto, aus lauter Puncten bestehend sehe, ich dancke Gott, dass ich nicht mit spiele, und so viel Unrath im Leibe habe.«

Dr. Aristoteles würde im examen rigorosum Baccalaureale selbst nicht wissen, wie er seine Entelechie zu erklären habe, und Hermolaus Barbarus würde nicht wissen, ob er seine rectihabea mit einer Berlinischen Nachtlaterne oder einer Leipziger Wächterschnurre verdeutschen sollte. Andre, die sich mit dem heidnischen Wort ἐντελέχεια keine Würm' ins Gewissen setzen wollen, lassen die Seele, um doch auch etwas zu sagen, ein qualitas occulta sein. »Weil nun ihre Seele eine qualitas occulta, so wollen wir ihnen selbe occultam lassen, weil ihre Definition nicht zu verachten, massen sie die Kraft hat, sich selbst zu remitieren.«

»Wir wenden uns vielmehr zu denen, die Christlicher zu reden, und mit der Bibel einzustimmen gedenken. Bei diesen geistreichen Leuten nun heisst die Seele ein Geist. Das heist, die Seele heisst etwas, was wir nicht wissen, oder was vielleicht nichts ist.«

Der materialistische Verfasser des ersten Briefes erklärt uns hinlänglich, wie er zu seinem Gedankengang gekommen sei. Weil er sah, dass die Physiologen und mit ihnen die Philosophen, die verwickelteren Functionen des Menschen auf die Seele schieben, als ob man der ohne Weiteres Alles zutrauen dürfte, so begann er, um hinter die Natur solcher Functionen zu kommen, die Handlungen der Thiere mit denen der Menschen zu vergleichen. »Da nun,« sagt er, »die Aenlichkeit in denen affectionibus animalium et brutorum etliche neue Philosophos auf die Meinung gebracht, dass die bruta gleichfalls eine animam immaterialem hätten, so gerieth ich auf den Gedanken, dass, da die neuen Philosophen zu diesem Entschluss gekommen sind, die alten aber ohne dergleichen Seele die actiones brutorum expliciret hätten, ob es nicht auch angehen könnte, dass man die actiones hominis ohne einige Seele zu Werke richten könne.« Er zeigt darauf, dass im Grunde fast alle alten Philosophen die Seele nicht in unserem Sinne für eine materielle Substanz gehalten hätten; die forma der Aristotelischen Philosophie definiere Melanchthon ganz richtig als ipsam rei exaedificationem, Cicero habe sie als eine beständige Bewegung (ἐνδελέχεια) gefasst, » welche Bewegung aus der disponierten und aptierten Leibesstructur folget, und also ein wesentlich Stücke hominis viventis, nicht realiter, sondern nur in mente concipientis divisa est.« Auch die heilige Schrift, die Kirchenväter und verschiedene Secten werden herangezogen. Unter Andern eine 1568 zu Krakau gedruckte Thesis der Wiedertäufer: »Wir läugnen, dass irgend eine Seele nach dem Tode bleibe.« Seine eignen Ansichten sind etwa folgende.

Die Functionen der Seele, Einsicht und Wille, welche gewöhnlich unorganisch (d. h. nicht organisch) genannt werden, gründen sich auf Empfindung. Der »processus intelligendi« geschieht folgendermassen: Wenn das organum sensus, sonderlich visus und auditus auf das objectum gerichtet wird, so geschehen unterschiedne Bewegungen der Fasern des Gehirnes, die ja allemal in einem Sinnesorgan endigen. Diese Bewegung im Gehirn ist mit der, durch welche Strahlen auf das Blatt einer camera obscura fallen und ein gewisses Bild formiren, einerlei, da doch jenes Bild nicht in Wirklichkeit auf dem Blatte ist, sondern im Auge entsteht. Wie nun die Fasern der Netzhaut erregt werden, so pflanzt sich diese Bewegung im Gehirn fort, und bildet dort die Vorstellung. Die Combination dieser Vorstellungen aber geschieht durch Bewegung der feinen Hirnfasern, auf dieselbe Art, wie durch die Bewegungen der Zunge ein Wort gebildet wird. Bei dieser Entstehung der Vorstellungen hat das Princip statt: Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu. Es würde ein Mensch nichts wissen, wenn ihm nicht seine Hirnfasern durch die Sinne zurecht gerückt würden. Und dieses geschieht durch Unterricht, Uebung und Gewohnheit. Wie der Mensch in seinen äusseren Gliedern Aehnlichkeit mit seinen Eltern zeigt, so muss man sich dies auch hinsichtlich der inneren Theile vorstellen.

Der Verfasser, der sich über die Theologen oft unverholen lustig macht, hütet sich dennoch bei seinen ganz materialistischen Ansichten vom Menschen mit der Theologie in einen gar zu schroffen Conflict zu gerathen. Er philosophirt daher über das Universum und sein Verhältniss zu Gott durchaus nicht. Da er an verschiedenen Stellen den Begriff einer immateriellen Substanz offen genug verwirft, so liegt ein Widerspruch darin, dass er auf eine Ausdehnung seines Princips auf die ganze Natur nicht bedacht war. Ob dies nun wirkliche Inkonsequenz ist, oder nach dem Princip »gutta cavat lapidem« so gehalten, wissen wir nicht. Er folgt in seinen theologischen Ansichten angeblich dem Engländer Cudworth, d. h. er nimmt eine Erweckung der Seele mit sammt dem Leibe am jüngsten Tage an, um dem Kirchenglauben gerecht zu werden. So erklärt er denn auch Gott für den Urheber einer vollendeten Gehirnconstruction der ersten Menschen, die durch den Sündenfall eben so verdorben wurde, wie wenn einer durch eine Krankheit sein Gedächtniss verliert.

Der Ausschlag des Willens beim Handeln folgt allemal dem stärkeren Antrieb und die Lehre von der Willensfreiheit taugt gar nichts. Die Willensantriebe sind zurückzufuhren auf die Affecte und auf das Gesetz. Man könnte vielleicht denken, dass so viele Bewegungen im Gehirn nothwendig Confusion hervorbringen müssen, allein man bedenke doch, wie viele Aetherstrahlen sich durchkreuzen müssen, um uns die Bilder zuzuführen, und wie doch die zusammengehörigen allezeit einander finden. Wenn unsre Zunge unzählige Wörter aussprechen und Reden formiren kann, warum sollen die Gehirnfasern nicht noch mehr Bewegungen machen können? Dass Alles auf diese ankömmt, sieht man insbesondere aus den Delirien. So lange das Blut tumultuirt und die Fasern daher ungleich und confus bewegt werden, ist das Rasen da; geschieht aber eine solche confuse Bewegung ohne Fieber, so entsteht Manie. Dass sogar durch das Blut fixe Ideen eingeführt werden können, wird bewiesen aus der Hundswuth, dem Tarantelstich u. s. w.

Von den beiden Hauptrichtungen des Materialismus, die wir wohl unter der Bezeichnung des Stratonischen und des Epikureischen schon aus dem Alterthum herleiten dürfen, huldigt der Ungenannte entschieden der ersteren. Ueberhaupt schwindet die Annahme einer materiellen, aus feinen körperlichen Atomen bestehenden Seele in dieser Zeit immer mehr. Während Gassendi in dieser Beziehung noch ganz auf dem Standpunkte Epikurs steht, brachten die Engländer mehr die tiefere Anschauung auf, dass die Besonderheit des Seelenwesens nicht sowohl in der Beschaffenheit der einzelnen Atome, als vielmehr in der Mannigfaltigkeit ihrer Bewegungen zu suchen sei. Spuren dieser verschiednen Richtungen sind auch in den verwaschenen Formen des heutigen Materialismus noch aufzufinden, insofern die Einen einen besondern »Seelenäther« für wahrscheinlich halten, während Andere dem chemischen Stoffwechsel im Gehirn und Nervensystem die bewussten Functionen direct zuschreiben. – Der Urheber der materialistischen Briefe, welcher nun einmal überhaupt von einer Seele nichts wissen will, verwirft den Epikureischen Standpunkt in folgenden Worten:

»Dass ich die Animam hominis vor ein materielles Wesen hätte halten sollen, darzu habe ich niemahlen können gebracht werden, ob ich gleich viele Disputes deswegen mit angehöret. Ich könte niemahls begreiffen, was vor Vortheil die Physic in hoc materia durch Annehmung dieser Opinion hätte; am allerwenigsten aber wolte es sich in meinem Kopfe reimen, dass, da gleichwohl die andern Geschöpfe also erschaffen, dass man den Effect, den sie von sich spüren lassen ihrer von Gott darzu adaptirten Materie zuschreibet, der Mensch allein dieser Wohlthat sich nicht zu rühmen, sondern ganz iners, mortuus, inefficax u. s. f. sey, und dass man noch nöthig habe, etwas in den Menschen hinein zu stecken, welches nicht nur die Actiones, die den Menschen von andern Geschöpfen unterscheiden, zu verrichten capable wäre, sondern auch sogar das Leben mittheilen müsste.«

Dessenungeachtet hält der Verfasser es für zweckmässig, sich gegen den Vorwurf, er sei ein » Mechanicus«, d. h. ein Materialist zu vertheidigen. »Ich rede von keinem andern Mechanismo oder Dispositione materiae, als demjenigen, der die formas Peripateticorum einführet; und zwar, damit es nicht scheinet, als wenn ich eine neue Philosophie aushecken wollte, so will ich mich hier lieber des Praejudicii autoritatis beschuldigen lassen, und bekennen, dass mich Melanchthon (!) dazu bewogen hat, welcher sich des Wortes exaedificationis materiae (zur Erklärung der Form, d. h. für den Menschen der Seele) bedient« Es ist nun, bei genauer Vergegenwärtigung des aristotelischen Standpunktes leicht zu sehen, dass der Ausdruck exaedificatio materiae oder genauer ipsius rei exaedificatio noch ganz unentschieden lässt, ob die bauende Kraft aus der Materie komme, oder der Form als einem eignen, höheren und für sich bestehenden Princip, das dann ganz wohl als »Seele« bezeichnet werden dürfte, zuzuschreiben sei. Offenbar hat unser Briefsteller sich hier entweder hinter die Autorität Melanchthons verschanzen, oder die Theologen ärgern wollen; vielleicht beides. Wenn er dagegen beiläufig sich zur Annahme der Atome Demokrits bekennt, so ist das mit seinem sonstigen Standpunkte wohl zu vereinigen.

Das merkwürdige Schriftchen, welches wir eben besprachen, hätte um so mehr Beachtung verdient, da es als Denkmal deutscher Geisteskämpfe und als Beweis dafür, dass der neuere Materialismus – von Gassendi abgesehen – in Deutschland älter ist als in Frankreich, keineswegs vereinzelt steht. Wer kennt heutzutage den wackern Mediciner Pancratius Wolff, der schon 1697, wie er selbst sagt, in seinen »Cogitationibus Medico-Legalibus« dem Judicio und Censur der gelehrten Welt vorlegte: Dass die Gedanken nicht actiones der immaterialischen Seele, sondern des menschlichen Leibes, und in specie des Gehirns, Mechanismi wären.« Im Jahre 1726 gab Wolff, der inzwischen wenig erfreuliche Erfahrungen gemacht haben mochte, ein Flugblatt heraus, in welchem er seine alte Ansicht »von allen unchristlichen Folgerungen, dass dadurch die speciale providenz Gottes, das liberum Arbitrium, und alle Moralität geläugnet würde, entlediget« darstellt. Wolff ist durch eigne Beobachtung bei Fieber-Delirien – also in ähnlicher Weise wie De la Mettrie von sich vorgiebt – auf seine Ansichten gekommen. Jedenfalls bleibt es eine Aufgabe der deutschen Culturgeschichte, dem Wirken von Männern, wie Westphal, Hocheisen, Wolff, Ettmüller, Sonner und andern mehr oder weniger materialistischen Aerzten und Physikern nachzuspüren und namentlich auch das Verhältniss derselben zur Verbreitung der rationelleren Medicin näher festzustellen.

Bekannter sind die Spinozisten, welche in Deutschland dieser philosophischen Richtung eine möglichst materialistische Wendung gaben, ein Matthias Knuzen, Ludwig Lau, und vor Allen Friedrich Wilhelm Stosch, der Verfasser der Concordia rationis et fidei (1692) welche seiner Zeit grosses Aufsehen und Aergerniss erregte und deren heimlicher Besitz in Berlin mit einer Strafe von fünfhundert Thalern bedroht wurde. Stosch läugnet kurzweg nicht nur die Immaterialität, sondern auch die Unsterblichkeit der Seele. »Die Seele des Menschen besteht in der richtigen Mischung des Blutes und der Säfte, welche gehörig durch unverletzte Canäle strömen und die mannigfachen willkürlichen und unwillkürlichen Handlungen hervorbringen.«

Bereits sind wir in unsrer Darstellung mit einigen Schritten auf den Boden des achtzehnten Jahrhunderts hinübergetreten. Der grosse materialistische Streit jedoch, welcher, von französischen Stimmführern angeregt, allgemein zu den charakteristischen Erscheinungen des Jahrhunderts der Revolution gerechnet wird, trägt einen durchaus eigenthümlichen Charakter und muss im folgenden Abschnitt gesondert betrachtet werden.


 << zurück weiter >>