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II. Die aristotelische Philosophie und die Scholastik in ihrem Verhältniss zum Materialismus.

Der Materialismus steht in der geschichtlichen Entwickelung sämmtlichen anderen Systemen der Philosophie in einer schrofferen Weise gegenüber, als diese unter sich zu einander stehen. Denn die geschichtliche Entwickelung kennt keine vollkommene Symmetrie in der Bedeutung und gegenseitigen Stellung dessen, was nach logischer Eintheilung einander einfach beigeordnet ist. So ist es denn auch nicht der extreme Spiritualismus, auch nicht der schwärmerische oder tiefsinnige Idealismus, der faktisch den entscheidenden Gegensatz gegen den Materialismus gebildet hat, sondern dies ist der Formalismus des Aristoteles und der Scholastiker. Bei der ungeheueren Breite, welche diese Richtung in dem Gebiet der Geschichte einnimmt, bei der intensiven Macht, welche im Mittelalter der aristotelischen Philosophie durch ihre Verbindung mit der Kirche und ihren Dogmen zukam, kann man wohl sagen, dass die Durchführung einer materialistischen Ansicht in neuerer Zeit zusammenfallen musste mit einer Bekämpfung des Aristoteles.

Es wäre daher überhaupt von Wichtigkeit für die Geschichte des Materialismus, auch diesen seinen kräftigsten Gegner eingehend zu würdigen; doch wird sich das Interesse dieser Aufgabe concentriren auf eine Prüfung derjenigen Begriffe des aristotelischen Systems, welche im materialistischen Streit eine besondere Rolle spielen. Der Begriff der Substanz und der der Materie, um deren Zusammenfallen oder Nichtzusammenfallen sich alle Fragen auf diesem Gebiete drehen, müssen dabei in den Vordergrund treten; jener mit seinem Gegensatz, dem Accidens, diese mit ihrem Gegensatze, der Form, im aristotelischen Sinne. Der Begriff der Seele, des Zweckes und andere hängen mit diesem letzteren nahe zusammen.

Dies wären nun im eigentlichsten Sinne des Wortes metaphysische Untersuchungen, und es könnte scheinen, als würde damit der Sache schlecht gedient, da ja unsere heutigen Materialisten einmüthig die Metaphysik verabscheuen und durchaus keine Gemeinschaft mit ihr haben wollen. Allein bei Lichte besehen muss man in diesem Begehren eine blosse Selbsttäuschung erblicken, da es gar nicht möglich ist, ein Erklärungsprincip aller Dinge durchzuführen, ohne dabei die Metaphysik zu berühren.

Der Begriff der Materie selbst ist und bleibt ein Gegenstand der Metaphysik, und wenn man glaubt ihr zu entrinnen, so entrinnt man im Grunde nur den consequenten und scharfen Begriffsbestimmungen der Philosophen, um sich der Metaphysik des gemeinen Mannes hinzugeben, oder Sätze anzunehmen, welche empirisch scheinen, weil sie aus früheren Jahrhunderten stammen und sich mit dem empirischen Denken der halbgebildeten Kreise verschmolzen haben.

Es soll jedoch hiermit keineswegs geleugnet werden, dass die Metaphysik einer Reform bedarf, die zum Theil schon eingetreten ist: dass sie mehr und mehr ihre Aufgabe erkenne in der blossen historisch-kritischen, logischen und psychologischen Bearbeitung der zu jedem wissenschaftlichen Denken unentbehrlichen Begriffe: eine Reform, die von Kant begonnen wurde, aber bei weitem noch nicht in voller Klarheit und Strenge durchgeführt ist.

Die Metaphysik, welche ihren sinnlosen Namen von der zufälligen Stellung der betreffenden Bücher unter den Werken des Aristoteles später erhielt, hiess eigentlich die erste Philosophie, d. h. nach Analogie des aristotelischen Sprachgebrauches, die allgemeine, sich noch nicht auf einen besonderen Zweig beziehende Philosophie. Dass eine solche nothwendig sei, hatte zuerst Aristoteles klar genug erkannt, und in der That, wenn man die mannichfachen Missverständnisse betrachtet, welche lediglich aus Mangel an Verständigung über die unentbehrlichen Begriffe hereinzubrechen pflegen, wird man in unserer Zeit, statt dieselbe abzuschaffen und »zur Astrologie in die Rumpelkammer zu werfen«, vielmehr bald ein erhöhtes Bedürfniss nach ihr empfinden.

Allein auf der anderen Seite hat auch die Opposition gegen die Anmassungen der Metaphysik ihre Berechtigung, und zwar schon gegen die Fassung, welche Aristoteles derselben gab, indem er als ihre Aufgabe die Erforschung der ersten Ursachen alles Seienden bestimmte. Hieran hat sich der unvertilgbar scheinende Wahn geknüpft, als könne man mittelst dieser Wissenschaft die natürliche empirische Kenntniss objectiver Sachverhältnisse um einen ungeheueren Schritt erweitern. Man müsste dann z. B. im Stande sein, in ähnlicher Weise wie die Astronomie uns nach langen Vorbereitungen und mühsamen Untersuchungen eine bestimmte Art von Bewegung gegebener Körper nach ihren Gesetzen und den jedesmal wirkenden Umständen sicher erkennen lehrt, so nun auch mittelst der Metaphysik die letzten Gründe aller Bewegung, die Ursache warum sich überhaupt etwas bewegt, und wie dies vorgeht, in objectiver, der Natur der Dinge entsprechender Weise zu erkennen. Dies ist denn freilich nichts mehr und nichts weniger als ein durch sein Alter ehrwürdig gewordener Wahn, in den selbst die, welche ihn principiell bekämpfen, nach dem Gesetz der Vorstellungsreproductionen, beständig zurückzufallen geneigt sind. Und es ist nur die negative Form dieses Rückfalles, wenn man glaubt, die Metaphysik ganz ausrotten zu müssen, während doch bereits seit Kant eine Form derselben ausgebildet ist, welche ihr Grenzen steckt, innerhalb deren sie eine bleibende Aufgabe und eine durch Nichts zu ersetzende Bedeutung hat.

Aristoteles geht bei der Untersuchung der Gründe des Seins aus von der Unterscheidung des Wesentlichen und des Zufälligen. Alles Seiende, sagt er, ist entweder durch sich, ϰαϑ' αὑτό, lateinisch per se, oder es ist ϰατὰ συμβεβηϰός, per accidens, d. h. durch Zufall. Das was für sich ist, ist die Grundlage, auf der allein das Zufällige ein Sein haben kann. Daher ist das für sich Seiende auch das ὑποϰείμενον, subjectum: im metaphysischen Sinne die Grundlage, auf und an welcher das accidens, der zufällige Zustand erscheint: im grammatischen Sinne das Subject, von dem der zufällige Zustand als Prädicat ausgesagt werden kann.

Wenn wir ein nasses Tuch haben, so ist das Tuch die Substanz, die Nässe das Accidens; denn das Nasswerden ist nur zufällig eingetroffen, während das Tuch dasselbe blieb. Fragt man nun, was denn eigentlich dasselbe blieb, so ist dies die Frage nach dem Wesen oder der Substanz des Dinges (οὐσία = substantia), das Ens per se oder das Subject selbst ist also die Substanz. Bleiben wir hierbei einen Augenblick stehen, so ergiebt sich schon, dass dieser Begriff der Substanz etwas ganz anderes ist, als was sich heutzutage die Masse auch der Gebildeten, unter dem Worte Substanz zu denken pflegt.

In der Regel identificirt man Substanz mit Stoff oder Materie, indem man dabei an ein allgemeines Substrat alles Körperlichen denkt. Bei Aristoteles ist die Substanz nichts Allgemeines, sondern ein einzelnes Ding oder das Wesen desselben.

Wenn daher unsere heutigen Materialisten sich gegen die »Seelensubstanz« ereifern, als gegen ein Unding, weil dieselbe doch nur auf eine immaterielle Materie hinauslaufe, so haben sie solchen Faseleien wie denen R. Wagners gegenüber, nach denen diese Substanz ein ätherähnlicher Stoff sein soll, vollkommen Recht; allein mit Aristoteles und den von ihm ausgehenden Distinctionen steht es anders.

Während nämlich Aristoteles unter Substanz sich das einzelne Ding denkt, sofern es nothwendig so ist, wie es ist, also abgesehen von allen zufälligen Eigenschaften und wandelbaren Vorgängen, nimmt er eine andere Reihe von Begriffen als Grundlage seiner Anschauungsweise, welche er als die ersten Ursachen (die Principien) bezeichnet, und unter diesen ist denn auch die Materie, der Stoff, den sich Aristoteles als an sich ganz bestimmungslos denkt, aber mit der Möglichkeit begabt, Alles zu werden, was durch den Hinzutritt der Form verwirklicht wird. Wir wollen uns mit der so äusserst wichtigen Kritik dieser Begriffe nicht übereilen und zunächst die Elemente des aristotelischen Zauberkreises so einfach als möglich hinstellen.

Die vier Principien sind: der Stoff (ὕλη, materia), die Form (εἶδος, forma), die bewegende Ursache und der Zweck. – Wenn Aristoteles statt der Form im Anfange der Metaphysik die Substanz hinstellt, so beruht das darauf, dass er das wahre Wesen, die Substanz des Dinges, hauptsächlich in der Form findet. In der späteren genaueren Entwickelung dieser Begriffe stellt sich folgendes Verhältniss heraus.

Man kann zwar in gewissem Sinne auch den Stoff eine Substanz nennen; allein in viel höherem Sinne kommt der Form diese Bezeichnung zu. Ohne die Form kann das Ding gar nicht sein, was es ist, durch die Form wird das Ding erst das, was es ist, in Wirklichkeit, während früher nur die Möglichkeit dieses Dinges durch den Stoff gegeben war. Der Stoff hat aber für sich schon auch eine Form, jedoch eine niedrige, und eine solche, die in Beziehung auf das Ding, welches werden soll, ganz gleichgültig ist.

Das Erz einer Statue ist z. B. der Stoff; die Idee der Bildsäule die Form, und nun wird aus beiden die wirkliche Bildsäule. Allein das Erz war nicht der Stoff als dieses bestimmte Erz (denn als solches hatte es ja wieder eine Form, die mit der Bildsäule nichts zu thun hatte), sondern als Erz im Allgemeinen, d. h. als etwas, das an sich nicht wirklich ist, sondern nur etwas werden »kann«. Daher ist auch die Materie nur der Möglichkeit nach seiend (δυνάμει ὄν); die Form der Wirklichkeit nach, oder in der Verwirklichung seiend (ἐνεϱγείᾳ ὄν oder ἐντελεχείᾳ). Der Uebergang des Möglichen in die Wirklichkeit ist das Werden, dies ist also die Gestaltung des Stoffes durch die Form.

In diesem Sinne nennt auch Aristoteles die Seele die erste Verwirklichung eines organischen Wesens, d. h. die Form desselben; so ist bei Aristoteles die Seele eine Substanz, während von einer allgemeinen Seelensubstanz, einem Stoff, aus dem man Seelen macht, gar keine Rede ist.

Ausser der Materie und der Form betrachtet Aristoteles nun auch noch die bewegenden Ursachen und den Zweck als Gründe alles Seins, von denen letzterer der Natur der Sache nach mit der Form zusammenfällt. Wie die Form der Zweck der Bildsäule ist, so betrachtet Aristoteles auch in der Natur die in der Materie sich verwirklichende Form als den Zweck oder die Endursache, in der das Werden seinen natürlichen Abschluss findet.

Während nun diese ganze Betrachtungsweise consequent genug ist und trotz mancher Schwankungen in den verwendeten Ausdrücken ein ziemlich klares Bild giebt, so wurde doch dabei völlig übersehen, dass alle die verwandten Begriffe von vorn herein solcher Natur sind, dass sie ohne Fehler zu ergeben nicht für wirklich erkannte Eigenschaften der objectiven Welt genommen werden dürfen, während sie ein wohlgegliedertes System subjectiver Betrachtung gewähren können. Es ist um so wichtiger, dies sich klar zu machen, da im Grunde nur wenige der scharfsinnigsten Denker, ein Leibnitz, Kant und Herbart diese Klippe völlig vermieden haben, so einfach auch die Sache an sich ist.

Der Grundirrthum steckt darin, dass der Begriff des Möglichen, des δυνάμει ὄν, das doch seiner Natur nach eine blosse subjective Annahme ist, in die Dinge hineingetragen wird.

Dass Materie und Form zwei Seiten sind, nach denen wir das Wesen der Dinge betrachten können, ist unleugbar; auch war Aristoteles vorsichtig genug, nicht zu sagen, dass aus diesen beiden das Wesen zusammengesetzt sei, wie aus zwei trennbaren Theilen; allein wenn nun aus der Durchdringung von Materie und Form, von Möglichkeit und Verwirklichung das Werden, das wirkliche Geschehen abgeleitet wird, so wird der eben vermiedene Fehler auf diesem Punkte mit doppeltem Gewichte begangen.

Es muss vielmehr unerlässlich geschlossen werden; wenn es keine ungeformte Materie giebt, wenn dieselbe nur angenommen, nicht einmal vorgestellt werden kann, so giebt es auch in den Dingen keine Möglichkeit. Das δυνάμει ὄν, das Seiende der Möglichkeit nach, ist, sobald man den Boden der Fiction verlässt, ein reines Unding, gar nicht mehr vorhanden. In der äusseren Natur giebt es nur Wirklichkeit, keine Möglichkeit.

Aristoteles sieht z. B. den Feldherrn, der eine Schlacht gewonnen hat, als wirklichen Sieger an. Dieser wirkliche Sieger war aber schon vor der Schlacht Sieger, jedoch nur δυνάμει, potentia, d. h. der Möglichkeit nach. – So viel ist unbedenklich zuzugeben, dass schon vor der Schlacht in seiner Person, in der Stärke, Aufstellung des Heeres u. s. w. Bedingungen lagen, welche seinen Sieg herbeiführten, sein Sieg war »möglich«; aber diese ganze Verwendung des Begriffes »möglich« beruht nur darauf, dass wir Menschen stets nur einen Theil der wirkenden Ursachen übersehen können; übersähen wir sie alle, so würden wir finden, dass der Sieg nicht möglich, sondern nothwendig ist; denn auch die zufälligen und von aussen mitwirkenden Umstände stehen ja in ihrem festen Causalzusammenhang, der schon jetzt so geordnet ist, dass ein bestimmter Erfolg eintreten wird und kein anderer.

Man könnte nun einwenden, das stimme erst recht mit den Annahmen des Aristoteles; denn der Feldherr, der nothwendig Sieger wird, ist gewissermassen schon der Sieger, aber er ist es doch noch nicht wirklich, eben nur »potentia«.

Hier wäre nun ein recht deutliches Beispiel der Verwechselung von Begriffen und Gegenständen. Ob ich den Feldherrn Sieger nenne oder nicht, so ist er doch was er ist; ein wirkliches Wesen, stehend in einem gewissen Zeitpunkt des Verlaufes innerer und äusserer Eigenschaften und Vorgänge. Die noch nicht eingetretenen Umstände sind für ihn auch noch gar nicht da; er hat nur einen gewissen Plan in seinen Vorstellungen; eine gewisse Kraft seines Armes, seiner Stimme; gewisse sittliche Beziehungen zu seiner Armee; gewisse Gefühle von Hoffnung oder Befürchtung; kurz, er ist nach allen Seiten bestimmt. Dass aus diesen Bestimmtheiten im Verhältniss zu anderen Bestimmtheiten seines Gegners, des Bodens, der Heere, der Witterung, sein Sieg folgen wird, ist eine Beziehung, die, wenn sie von unserem Denken aufgefasst wird, den Begriff der Möglichkeit oder auch den der Nothwendigkeit eines Erfolges erzeugt, ohne daher von ihm etwas ab oder zuzuthun.

Es kommt auch zu dieser gedachten Möglichkeit nichts hinzu, um Wirklichkeit daraus zu machen, ausser in unserem Denken.

»Hundert wirkliche Thaler,« sagt Kant, »enthalten nicht das Mindeste mehr als hundert mögliche.«

Dieser Satz könnte einem Geldspeculanten zweifelhaft, wo nicht unsinnig scheinen. Wenige Jahre nach Kants Tode (Juli 1808) gab man in Königsberg für einen Tresorschein von 100 Thalern kaum 25. 100 wirkliche Thaler galten also in der Vaterstadt des grossen Philosophen mehr als 400 bloss mögliche Thaler, und es könnte scheinen, als sei Aristoteles mit allen Scholastikern bis auf Wolff und Baumgarten glänzend gerechtfertigt. Der Tresorschein, der für 25 wirkliche Thaler zu haben ist, stellt 100 mögliche Thaler dar. Sehen wir aber genauer zu, so wird freilich die sehr gefährdete Aussicht auf einstige baare Auszahlung der 100 Thaler für 25 hingegeben; dies ist daher der wirkliche Werth der betreffenden Aussicht, und daher auch der wirkliche Werth des Scheines, welcher die Aussicht verleiht. Der Gegenstand dieser Aussicht bleiben aber nach wie vor die vollen 100 Thaler des Nominalwerthes. Dieser Nominalwerth stellt den Betrag dessen dar, was als möglich, mit einer Wahrscheinlichkeit von ¼, erwartet wird. Der wirkliche Werth hat mit dem Betrage des Möglichen nichts zu thun. Sonach hätte Kant vollständig recht.

Kant wollte aber mit diesem Beispiel noch etwas mehr sagen, und auch darin hat er recht. Als nämlich unserem Speculanten nach dem 13. Januar 1816 seine hundert Thaler baar ausbezahlt wurden, da kam zu der Möglichkeit nicht noch etwas hinzu, so dass sie nun Wirklichkeit wurde. Die Möglichkeit, als das bloss Gedachte, kann nun und nimmer in Wirklichkeit übergehen, sondern die Wirklichkeit ergiebt sich aus vorhergehenden wirklichen Umständen mit voller Bestimmtheit. Neben der Herstellung des Staatskredits und anderen Verhältnissen gehört dazu auch die Präsentation eines wirklichen Tresorscheines – nicht der » möglichen« hundert Thaler; denn diese sind nur im Gehirn desjenigen, der sich einen Theil der Umstände, welche auf die Auswechselung des Papierstücks für Silber Einfluss haben, vorstellt, und diese Vorstellung zum Ausgangspunkt seiner Hoffnungen, Befürchtungen und Reflexionen macht.

Vielleicht wird man uns die Breite dieser Erörterungen verzeihen, wenn wir um so kürzer noch einmal darauf hinweisen, dass der Begriff der Möglichkeit die Quelle der meisten und schlimmsten metaphysischen Irrthümer ist. Aristoteles ist freilich nicht schuld daran, da der Grundirrthum tief in unserer Organisation begründet ist; dieser musste jedoch in einem Systeme, welches mehr als irgend ein früheres die Methaphysik auf dialectische Erörterungen stützte, doppelt verderblich werden, und die hohe Geltung, welche Aristoteles gerade durch sein in anderer Beziehung so fruchtbares Verfahren gewann, schien diesen Schaden fast verewigen zu wollen.

Da Aristoteles nun auf so unglückliche Art aus der bloss möglichen Materie und der sich verwirklichenden Form das Werden, und überhaupt die Bewegung ableitete, so musste auch ganz consequent die Form oder der Zweck der Dinge die wahre Quelle der Bewegung sein, und wie die Seele den Körper bewegt, so ist Gott, als Form und Zweck der Welt, die erste Ursache aller Bewegung. Man konnte nicht erwarten, dass Aristoteles die Materie als an sich bewegt ansehe, da er ihr ja überhaupt nur die negative Bestimmung der Möglichkeit Alles zu werden zuschreibt.

Dieselbe falsche Vorstellung vom Möglichen, welche jenen störenden Einfluss auf den Begriff der Materie ausübt, finden wir nun wieder im Verhältnisse des bleibenden Dinges zu seinen wechselnden Zuständen, oder um in der Sprache des Systems zu bleiben, in dem Verhältnisse von Substanz und Accidens. Die Substanz ist das für sich bestehende Wesen des Dinges, das Accidens eine zufällige Eigenschaft, welche in der Substanz nur »der Möglichkeit nach« vorhanden ist. Nun giebt es aber in den Dingen keinen Zufall, obwohl ich einige derselben aus Unkenntniss der Gründe als zufällig bezeichnen muss.

Ebensowenig kann in einem Dinge die Möglichkeit irgend einer Eigenschaft oder eines Zustandes stecken. Diese ist nur ein Gegenstand unserer combinirenden Vorstellung. Auch kann keine Eigenschaft in den Dingen »der Möglichkeit nach« sein, da dies gar keine Existenzform ist, sondern eine Denkform. Das Saatkorn ist kein möglicher Halm, sondern ein Saatkorn. Wenn ein Tuch nass ist, so ist in dem Augenblick, in dem es das ist, diese Nässe ebenso nothwendig nach allgemeinen Gesetzen da, als jede andere Eigenschaft des Tuches, und wenn sie vorher als möglich gedacht wird, so hat doch das Tuch, welches ich später ins Wasser tauchen will, in sich durchaus keine andere Eigenschaften, als ein anderes Tuch, dem kein solches Experiment bevorsteht.

Geht man also einmal dazu über, statt Substanz und Accidens behufs praktischer Zwecke nur begrifflich zu trennen, sich auf das Wesen der Dinge einzulassen, so muss man auch erkennen, dass alsdann der Unterschied zwischen Substanz und Accidens ebenfalls schwindet. Zwar hat ein Ding gewisse Eigenschaften, die in einem dauerhafteren Zusammenhang stehen als andere; allein absolut dauerhaft ist ja keine, und im Grunde sind alle in beständigem Wechsel. Fasst man nun einmal die Substanz als Einzelwesen, nicht als Gattung oder als ein allgemeines stoffliches Substrat, so muss man, um dessen Form ganz zu bestimmen, auch seine Betrachtung auf einen gewissen Zeitabschnitt beschränken, und innerhalb dessen alle Eigenschaften in ihrer Durchdringung als die substantielle Form und diese als das einzige Wesen des Dinges betrachten.

Spricht man dagegen mit Aristoteles von dem Begrifflichen (τὸ τί ἦν εἶναι) in den Dingen als ihrer wahren Substanz, so befindet man sich bereits auf dem Boden der Abstraction, denn es ist im Grunde logisch in gleicher Weise zu abstrahiren, ob man nun aus der Kenntniss von einem Dutzend Katzen den Artbegriff entnimmt, oder ob man seine eigene Hauskatze durch alle ihre Lebensstufen, Wandlungen und Stellungen hindurch, als ein und dasselbe Wesen betrachtet. Nur auf dem Gebiete der Abstraction hat der Gegensatz von Substanz und Accidens seine Bedeutung. Zu unserer Orientirung und für die praktische Behandlung der Dinge wird man die von Aristoteles mit meisterhafter Schärfe ausgeprägten Gegensätze des Möglichen und Wirklichen, der Form und des Stoffes, der Substanz und des Accidens wohl niemals entbehren können. Ebenso sicher ist aber, dass man in der positiven Forschung von diesen Begriffen immer irre geführt wird, und dass sie daher auch nicht dienen können, unseren Blick in das objective Wesen der Dinge zu erweitern.

Der Standpunkt des gewöhnlichen empirischen Denkens, bei welchem der Materialismus heutzutage gewöhnlich stehen bleibt, ist von diesen Fehlern des aristotelischen Systems keineswegs frei, da er den falschen Gegensatz in umgekehrter Form wo möglich noch fester und eingewurzelter festhält. Man schreibt dem Stoff, der Materie, die doch jedenfalls auch nur einen durch Abstraction gewonnenen Begriff vorstellt, das wahre Wesen zu; man ist geneigt, den Stoff der Dinge für ihre Substanz und die Form für ein blosses Accidens zu halten. Der Block, aus dem eine Statue werden soll, gilt jedem als wirklich; die Form, welche er erhalten soll, als bloss möglich. Und doch ist hier leicht zu sehen, dass dies nur wahr ist, insofern der Block eine Form hat, die ich nicht weiter beachte, nämlich die Form, in welcher er aus dem Steinbruche kam. Der Block als Stoff der Statue dagegen ist nur ein gedachter, während die Idee der Statue, insofern sie von einem Künstler vorgestellt wird, wenigstens als Vorstellung eine Art von Wirklichkeit hat. Soweit hätte also Aristoteles gegenüber dem gewöhnlichen Empirismus recht. Sein Fehler besteht nur darin, dass er die wirkliche Vorstellung eines denkenden Wesens in einen fremden, der Behandlung dieses Wesens unterliegenden Gegenstand versetzt, als eine »der Möglichkeit nach« vorhandene Eigenschaft desselben.

Da nun aber die Form in der Regel das ist, was den Dingen in unseren Augen ihren Werth und ihre Bedeutung giebt, so begreift man, warum Aristoteles die Wirklichkeit in die Form verlegte.

Die Principien des Zweckes und der bewegenden Ursache scheinen sich bei Aristoteles ganz ähnlich zu verhalten, wie diejenigen von Form und Stoff. Soll ein Haus gebaut werden, so ist der Baumeister die bewegende Ursache; die Idee des Hauses, der Begriff desselben, ist der Zweck. Dieser Zweck muss vor allen Dingen da sein. Der Begriff eines bestimmten Hauses als Zweck der Bauthätigkeit ist aber in der Seele des Baumeisters ursprünglich nicht vorhanden; Aristoteles würde sagen, er ist »der Möglichkeit nach« vorhanden, mit der uns nun schon bekannten Verwechselung. So wird also auch die bewegende Ursache erst zur wirklichen Ursache der Bewegung – im Beispiel der Bauthätigkeit – wenn der Zweckbegriff sie in derselben Weise bestimmt hat, wie die Form den Stoff bestimmt.

Es ist daher begreiflich, dass Aristoteles Form und Zweck vielfach als gleichbedeutend gebraucht. Die Ausdrücke Begriff, Form, Zweck bezeichnen einmal die Vorstellung eines lebenden Wesens, welches durch seine Vorstellung zur bewegenden Kraft wird und als bewegende Kraft das Ding herstellt; sie bezeichnen sodann aber auch das unveränderliche, dem reinen Begriff entsprechende Wesen des Dinges, d. h. seine Substanz.

Hier zeigt sich denn auch ganz klar der Ursprung unserer Teleologie, die recht eigentlich von Aristoteles ausgegangen ist, obwohl sie, namentlich in den neueren Jahrhunderten, vielfache Umgestaltungen erlitten hat. Die Teleologie ist es besonders, was den grossen hellenischen Philosophen gleichsam zum Rang eines vorchristlichen Kirchenvaters erhob; und schon wegen des scharfen Gegensatzes dieser Denkweise zum Materialismus müssen wir auf den Punkt hinweisen, auf den es hier ankommt.

In den Beispielen, wo ein lebendes Wesen nach bewusstem Plane arbeitet, ist der Zweckbegriff nicht nur nach seiner subjectiven Seite vollkommen klar, sondern man kann es sich auch gefallen lassen, ihn als den Inbegriff des Wesentlichen in das Ding selbst versetzt zu sehen. Wie ist es aber bei den Naturgegenständen, welche ohne Mitwirkung menschlicher Intelligenz werden und vergehen? Hier kann der Zweck nur entweder unbewusst in den Dingen liegen, d. h. als rein objectives zweckmässiges Wesen, und dann ist nicht abzusehen, wie der Form, der Verwirklichung die Priorität gewahrt werden soll, welche Aristoteles ihr zuschreibt; oder der Zweck, und damit auch die Form muss in ein ausserhalb jeder Erfahrung liegendes Wesen versetzt werden.

Vergeblich wird man bei Aristoteles über dies Entweder Oder eine vollkommen klare Entscheidung suchen. Die ganze Lehre von Form und Stoff stellt sich hier als ein mangelhafter Versuch heraus, die platonische Ideenlehre in bessere Uebereinstimmung mit dem gesunden Menschenverstände zu bringen. Von Plato stammen die urbildlichen reinen Formen her, die in ewiger Vollendung eine Welt für sich bilden; er weiss diese Welt aber nur im Mythus mit der uns umgebenden Erscheinungswelt in Verbindung zu bringen. Aristoteles geht von der letzteren aus und weiss deshalb seine Formen nicht unterzubringen. Das Saatkorn enthält die Pflanze der Möglichkeit nach. Was hilft es anzunehmen, dass in der Lebensfähigkeit desselben zugleich schon die Verwirklichungskraft (ἐνέϱγεια), die »Energie« der Pflanze als thätig angenommen wird? Der Ort, das Substrat für die vollendete Form, für den Zweck der Pflanze, von welchem die Energie herstammen soll, ist nicht vorhanden. Wie und von wo aus soll die Form wirken? ist sie im Stoffe selbst? Das würde das System erheblich modificiren und es im Grunde plötzlich in sein Gegentheil übergehen lassen. Man findet Stellen bei Aristoteles, die sich so deuten lassen, und Strato scheint dieser Ansicht gewesen zu sein. Eine besondere Ideenwelt will Aristoteles nicht. So bleibt ihm denn nichts übrig als ein vollendeter Widerspruch: die Annahme einer Urform, aus der alle Formen stammen, einer reinen Form ohne jede Materie, eines absoluten Wesens, dem gegenüber die reine Materie ohne alle Form ein Unwesen wird. Diese eine Urform aller mannichfaltigen Formen ist nun natürlich auch der absolute Zweck, also auch das absolut Gute, Anfang und Ende aller Bewegung und doch selbst unbewegt, weil eben die Bewegung nur in und an der Materie stattfinden kann. Dieses Urwesen nennt Aristoteles gelegentlich Gott. Der Zeichnung desselben fehlt es nicht an Kraft und Feuer; ebensowenig an den für die Mystik unerlässlichen Grundlagen der mannichfachsten, absoluten Widersprüche – des Anfangs ohne Anfang, der Bewegung ohne Bewegung, des Zweckes ohne Zweck. Wie aber in ihm alle Zwecke des Universums beschlossen sind, so ist der Mensch der Zweck der Erde, also die höchste uns sichtbare Form: man könnte fast sagen das Ebenbild Gottes. Die Anknüpfungen für das Christenthum sind hier ebenso offenbar, wie die Mängel in der consequenten Durchführung des Grundgedankens.

Die aristotelischen Definitionen der Substanz, der Form, der Materie u. s. w. galten, so weit man sie verstand, so lange als nur die Scholastik herrschte, d. h. in unserm deutschen Vaterlande noch bis über Cartesius hinaus.

Wenn jedoch schon Aristoteles die Materie etwas geringschätzig behandelt und ihr namentlich alle eigene Bewegung abspricht, so musste nach dem im vorhergehenden Abschnitte geschilderten Einflusse des Christenthums diese Geringschätzung gegen die Materie zunehmen. Dass alles das, wodurch die Materie etwas Bestimmtes, also z. B. böse, sündlich sein kann, im aristotelischen Sinne Formen sein müssen, bedachte man nicht; man veränderte zwar das System nicht so weit, dass man etwa die Materie geradezu als das Böse, das Uebel, bezeichnet hätte, allein man gefiel sich doch in der Ausmalung ihrer absoluten Passivität; man stellte dieselbe als eine Unvollkommenheit dar, ohne zu bedenken, dass die Vollkommenheit eines jeden Wesens darin besteht, dass es seinem Zweck entspricht, dass es also, wenn man einmal kindisch genug ist, den letzten Gründen alles Seins Censuren ertheilen zu wollen, vielmehr der Materie zum Lobe gereichen müsste, dass sie sich so hübsch ruhig verhält Als nun gar später Wolff der Materie die vis inertiae zuschrieb, und die Physiker empirisch die Eigenschaften der Schwere und der Undurchdringlichkeit auf die Materie übertrugen, während diese an sich Formen sein mussten, war bald das Schauergemälde fertig:

»Die Materie ist eine dunkle, träge, starre und absolut passive Substanz.«

»Und diese Substanz soll denken?« sagt die eine Partei, während die Anderen sich darüber aufhalten, dass es immaterielle Substanzen geben solle, weil unterdessen der Begriff der Substanz im alltäglichen Sprachgebrauch sich mit dem der Materie identificirt hat.

Gerade auf demjenigen speciellen Gebiete, für welches die Fragen des Materialismus besonders entscheidende Bedeutung haben, auf dem Gebiete der Psychologie blieb die aristotelische Anschauung am längsten und vergleichsweise am lautersten erhalten. Das Fundament dieser Seelenlehre beruht wieder auf dem bekannten Irrwahn von Möglichkeit und Wirklichkeit. Aristoteles definirt nämlich die Seele als Verwirklichung eines organischen Körpers, welcher »der Möglichkeit nach« Leben hat. Dieser Ausdruck ist an sich weder so räthselhaft, noch so vieldeutig, wie Manche ihn gefunden haben; er enthält aber eine nichtssagende Formel, die mit dem mannichfachsten Inhalt erfüllt werden kann. »Verwirklichung« oder »Erfüllung« ist durch den Ausdruck ἐντελέχεια gegeben, und es ist schwer zu sagen, was man Alles in diesen Ausdruck hinein getragen hat Bei Aristoteles bedeutet er den bekannten Gegensatz gegen δύναμις; was er etwa weiter bedeutet, ist erschlichen. Der organische Körper hat das Leben nur der Möglichkeit nach. Nun kommt die Verwirklichung dieser Möglichkeit von Aussen herein. Das ist Alles. Die innere Unwahrheit der ganzen Anschauung ist durchaus dieselbe, wie bei der Ansicht von dem Verhältnisse der Form zum Stoff. Das Mittelalter konnte aber diese Anschauung sehr gut verwenden und wusste sie in trefflichen Einklang mit der Dogmatik zu bringen. Weit mehr Werth hat die tiefsinnige Lehre des Philosophen von Stagira, dass der Mensch, als höchstes Gebilde der Schöpfung, die Natur aller niederen Stufen mit in sich trage. Die Aufgabe der Pflanze ist, sich zu nähren und zu gedeihen; das Wesen der Pflanzenseele ist daher auch das des Vegetirens. Im Thiere regt sich ausserdem Empfindung, Bewegung und Begehrungsvermögen; das vegetative Leben tritt hier in den Dienst des höheren, des sensitiven. Im Menschen tritt nun das höchste Princip, das des Geistes (νοῦς) hinzu und beherrscht die übrigen. Durch eine gewisse Mechanisirung, zu der die Scholastik neigte, wurden aus diesen Elementen des menschlichen Wesens drei fast völlig von einander getrennte Seelen gemacht, die anima vegetativa, die anima sensitiva und die anima rationalis, von denen der Mensch die erste mit Thier und Pflanze, die zweite wenigstens mit dem Thier gemein hat, während die letzte allein unsterblich und göttlichen Ursprunges ist und alle höheren, den Thieren versagten Geisteskräfte umfasst. Aus dieser Unterscheidung ging die bei christlichen Dogmatikern so beliebte Scheidung zwischen Seele und Geist, den beiden höheren Kräften, hervor, während die niederste, die anima vegetativa, Grundlage der späteren Lehre von der Lebenskraft wurde.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass Aristoteles diese Kräfte beim Menschen nur begrifflich trennte. Wie der Menschenleib seine thierische Natur nicht neben der specifisch menschlichen Natur hat, sondern in ihr, wie er ganz Thierkörper edelster Art, und doch in der besonderen Gestaltung desselben durch und durch eigenthümlich menschlich ist: so ist nach ihm auch das Verhältniss der Seelenstufen zu denken. Die menschliche Form schliesst das geistige Wesen in sich in völliger Durchdringung mit dem Empfindungs- und Begehrungsvermögen, wie dieses wieder, schon beim Thiere, mit dem blossen Lebensprincip eins und dasselbe ist. Diese Einheit, nach welcher die Form des Menschen, alle niedere Formen in sich vereinigend, seine Seele ist, rissen die Scholastiker aus einander. Sie konnten sich dabei auf manche Aeusserung des grossen Philosophen stützen, der allenthalben in seinem System schärfste Consequenz in gewissen Grundzügen, aber häufiges Schwanken in der Ausführung verräth. So namentlich auch bei der Unsterblichkeitslehre, welche, gleich der Gotteslehre, dem System nur lose angefügt ist und ihm in manchen Punkten widerspricht. Die Scholastiker halten sich natürlich im Ganzen an diejenigen Aeusserungen, welche ihnen bequemer, und zugänglicher waren, und sobald daher die Autorität des Aristoteles sich völlig festgestellt hatte, galt es als Ketzerei daran zu zweifeln, dass er die Unsterblichkeit der Seele, d. h. die Trennbarkeit der anima rationalis vom Körper und von den niederen Seelenkräften, gelehrt habe.

Aus der aristotelischen Philosophie erklären sich denn auch so manche Annahmen der älteren Metaphysik, welche die Materialisten gern als einfach unsinnig verwerfen. Hieher gehört die Behauptung, dass die Seele nicht nur im ganzen Körper verbreitet, sondern auch in jedem Theile desselben ganz gegenwärtig sei. Thomas von Aquino lehrte ausdrücklich, dass sie nicht nur der Möglichkeit, sondern der Wirklichkeit nach in jedem Theile des Körpers mit ihrem einheitlichen und untheilbaren Wesen gegenwärtig sei. Wie sich diese Auffassung mit dem sonstigen System des Doctor angelicus reimt, unterlassen wir zu untersuchen. Bei Aristoteles aber hat sie mindestens ebenso guten Sinn, als wenn man sagt, das Princip des Kreises, ausgedrückt durch den einen und untheilbaren Satz x 2 + y 2 = r 2, sei in jedem beliebigen Abschnitte eines gegebenen Kreises vom Radius r, dessen Mittelpunkt in den Anfangspunkt der Coordinaten fällt, vollständig verwirklicht.

Man vergleiche das Formprincip des Menschenleibes mit der Gleichung des Kreises, und man wird den Grundgedanken des Stagiriten vielleicht reiner und schärfer erfasst haben, als er selbst ihn darzustellen vermochte. Die Frage nach dem Sitz der bewussten Funktionen, des Empfindens und Begehrens, ist davon völlig verschieden. Diese verlegt Aristoteles in das Herz; die Scholastiker, durch Galen belehrt, in das Gehirn. Aristoteles lässt aber diesen Funktionen consequenter Weise ihre physische Natur und stimmt daher in einem sehr wichtigen Punkte genau genommen mit den Materialisten überein. Hierin vermochten ihm freilich die Scholastiker nicht zu folgen, und es ist nicht zu leugnen, dass die spätere Metaphysik vielfach eine mystische Verwirrung in jene an sich einfachen und verständlichen Formeln brachte, die dem vollendeten Unsinn näher hegt, als dem klaren Denken.

Soll aber der Gegensatz des Materialismus gegen die Metaphysik auch hier an der Wurzel gefasst werden, so ist lediglich wieder zurückzugehen auf jene Verwechselung von Sein und Denken, welche sich bei dem Begriff der »Möglichkeit« so folgenschwer gezeigt hat. Wir halten streng daran fest, dass diese Verwechselung ursprünglich nur den Charakter des gewöhnlichen Irrthums hat. Erst neueren Philosophen blieb es vorbehalten, aus der Unfähigkeit sich von Jahrtausende alten Fesseln zu befreien, eine Tugend zu machen und gerade die unbewiesene Identität von Sein und Denken zum Princip zu erheben.

Wenn ich behufs einer mathematischen Construction einen Kreis mit Kreide beschreibe, so ist allerdings die Form der räumlichen Anordnung der Kreidetheilchen zuerst als Zweck im Geiste vorhanden. Der Zweck wird zur bewegenden Ursache, die Form zur Verwirklichung des Princips in den stofflichen Theilen. Wo ist nun aber das Princip? In der Kreide? Offenbar nicht in den einzelnen Theilchen. Auch nicht in ihrer Summe. Wohl aber in ihrer »Anordnung« d. h. in einer Abstraction. Das Princip ist und bleibt im menschlichen Gedanken. Wer giebt uns nun vollends das Recht, ein solches voraus existirendes Princip in diejenigen Dinge zu versetzen, welche nicht durch Menschenwitz zu Stande kommen, wie z. B. die Form des Menschenleibes? Ist diese Form etwas? In unserer Auffassung gewiss. Es ist die Erscheinungsweise des Stoffes, d. h. die Art, wie er uns erscheint. Aber kann dieser Erscheinungsweise des Dinges vor dem Dinge selbst sein? Kann sie von ihm getrennt sein?

Diese Fragen, welche wir hier nur aufweisen, um den Angelpunkt des Streites zwischen Metaphysik und Materialismus zu zeigen, hängen aufs engste zusammen mit der Frage nach der Wesenhaftigkeit des Allgemeinen (der universalia), welche in dem Streit der Nominalisten und Realisten das ganze Mittelalter in Bewegung setzte. Die platonische Idee ist die gemeinsame Mutter des logischen Gattungsbegriffes und der metaphysischen Substanz. Hat die Form ein vom Stoff unabhängiges Dasein in den Dingen und vor den Dingen, dann giebt es auch immaterielle Substanzen, und der Gattungsbegriff ist nicht bloss im denkenden Geiste vorhanden – geschweige denn ein leerer Name – er hat vielmehr ein objectives Wesen. Der Hegelianer isst mit jeder Birne oder Pflaume zugleich »Obst als solches«; das Dreieck ist doch kein leerer Wahn und der Engländer Occam hat Unrecht.

Tiefer auf den Streit der Nominalisten und Realisten einzugehen, würde unerlässlich sein, wenn nicht die Macht der Kirche und das mangelhafte Verständniss des Aristoteles die mittelalterlichen Nominalisten verhindert hätte, den Materialismus auszubilden, der in ihrem Princip im Keime enthalten ist Allein wenn man auch in Occam eine gewisse Geistesverwandtschaft mit seinen grossen Landsleuten Baco, Hobbes und Locke nicht verkennen kann, so findet er doch in der Geschichte des Materialismus kaum eine Stelle; es sei denn, dass in einer ungleich umfassenderen Arbeit als die unsere alle die tausend feinen Fäden culturhistorisch verfolgt würden, welche den Nominalismus des Mittelalters, der schon in der alexandrinischen Zeit sein Vorspiel hatte, mit der gegenwärtigen Opposition der Physik gegen die Metaphysik verbinden.


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