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II. Der Sensualismus der Sophisten und Aristipps ethischer Materialismus.

Wie in der äusseren Natur der Stoff oder die Materie, so verhält sich im inneren Leben des Menschen die Empfindung. Wenn man glaubt, dass Bewusstsein ohne Empfindung sein könne, so liegt dabei eine feine Täuschung zu Grunde. Man kann ein sehr lebhaftes Bewusstsein haben, das sich mit den höchsten und wichtigsten Dingen beschäftigt und dabei nur Empfindungen von verschwindender sinnlicher Stärke. Immer aber sind Empfindungen vorhanden, aus deren Verhältniss und Harmonie oder Disharmonie sich Inhalt und Bedeutung des Bewusstseins aufbaut, wie der Dom aus dem rohen Stein, die inhaltvolle Zeichnung aus feinen materiellen Linien oder die Blume aus dem organischen Stoff. – Wie nun der Materialist, in die äussere Natur blickend, die Formen der Dinge aus ihren Stoffen ableitet und diese zur Grundlage seiner Weltanschauungen macht, so leitet der Sensualist das ganze Bewusstsein aus den Empfindungen ab.

Sensualismus und Materialismus betonen also im Grunde beide den Stoff im Gegensatz zur Form; es fragt sich nun, wie sie sich unter sich auseinandersetzen.

Offenbar nicht blos durch einen Vertrag, nach dem man ohne weiteres im inneren Leben Sensualist, im äusseren Materialist sein könnte. Dieser Standpunkt ist zwar in der inconsequenten Praxis der häufigste, aber er ist kein philosophischer.

Vielmehr wird der consequente Materialist leugnen, dass Empfindung vom Stoff getrennt vorhanden sei, er wird daher auch in den Vorgängen des Bewusstseins nur Wirkungen gewöhnlicher stofflicher Veränderungen finden und diese mit den übrigen stofflichen Vorgängen der äusseren Natur unter gemeinsamem Gesichtspunkte betrachten; der Sensualist wird dagegen leugnen müssen, dass wir von Stoffen wie von Dingen der Aussenwelt überhaupt etwas wissen, da wir doch nur unsere Wahrnehmung von den Dingen haben und nicht wissen können, wie sich diese zu den Dingen an sich verhält. Die Empfindung ist ihm nicht nur der Stoff aller Vorgänge des Bewusstseins, sondern auch der einzige unmittelbar gegebene Stoff, da wir alle Dinge der Aussenwelt nur in unseren Empfindungen haben und kennen.

Nun muss wegen der unleugbaren Richtigkeit dieses Satzes, der zugleich dem gewöhnlichen Bewusstsein ferner liegt und eine einheitliche Weltanschauung bereits voraussetzt, der Sensualismus als eine natürliche Fortbildung des Materialismus erscheinen. Diese Fortbildung geschah bei den Griechen durch diejenige Schule, welche überhaupt in das antike Leben entwickelnd und wieder zersetzend am tiefsten eingriff: durch die Sophisten.

Man erzählte im Alterthum, dass der weise Demokrit in seiner Vaterstadt Abdera einst einen Lastträger gesehen habe, der in einer besonders geschickten Weise die Holzstücke, welche er zu tragen hatte, zusammenlegte. Demokrit liess sich mit dem Manne ein und machte ihn schliesslich zu seinem Schreiber. Dieser Schüler und Schreiber Demokrits, der darauf noch Dorfschulmeister gewesen sein soll, wurde der Mann, der zu einem grossen Umschwung in der Weltstellung der Philosophie Veranlassung gab: er trat für Geld als Lehrer der Weisheit auf: Protagoras, der erste der Sophisten.

Hippias, Prodikos, Gorgias und eine grosse Reihe minder berühmter Männer, meist aus Plato's Schriften sehr bekannt, durchzogen bald die Städte Griechenlands lehrend und disputirend und gewannen zum Theil grosse Reichtümer. Allenthalben zogen sie die talentvollsten jungen Leute an sich, ihr Ruhm verbreitete sich mit unglaublicher Schnelligkeit, ihr Einfluss war unermesslich.

Dies war neu in Hellas und nicht nur die alten Marathonkämpfer, die Veteranen der Befreiungskriege, schüttelten mit conservativem Bedenken das Haupt: die Anhänger der Sophisten selbst standen zu diesen in ihrer Bewunderung nicht viel anders, als heutzutage die Gönner eines berühmten Opernsängers; die meisten hätten sich inmitten ihrer Bewunderung geschämt das Gleiche zu werden. Sokrates pflegte sie am meisten in Verlegenheit zu setzen durch die schlichte Frage nach dem Gegenstand der Profession ihrer Lehrer: wie man vom Phideas das Bildhauen, von Hippokrates die Heilkunst lernen könne; was denn von Protagoras?

Stolz und Prachtliebe der Sophisten vermochten die edle, reservirte Stellung der alten Philosophen nicht zu ersetzen. Der aristokratische Dilettantismus in der Weisheit wurde höher geachtet als ihr fachmässiger Betrieb.

Die Zeit liegt noch nicht fern, in der man von der Sophistik nur die Schattenseiten kannte. Der Spott des Aristophanes und der sittliche Ernst Platos haben sich vereinigt mit den zahllosen Philosophen-Anekdoten späterer Zeit, um schliesslich alles auf den Namen der Sophistik zu concentriren, was man nur fand an frivoler Rabulisterei, feiler Dialektik und systematisirter Unsittlichkeit. Sophist ist das Stichwort für jede Afterphilosophie geworden, und längst schon war die Ehrenrettung Epikurs und der Epikuräer eine zum Gemeingut der Gebildeten gewordene Thatsache, als noch jede Schmach auf dem Namen der Sophisten haftete, und das unbegreiflichste Räthsel blieb, wie ein Aristophanes Sokrates als den Obersten der Sophisten darstellen konnte.

Es ist das Verdienst Hegels und seiner Schule von der einen Seite, der neueren deutschen Philologie von der anderen, auch hier der Wahrheit und Gerechtigkeit eine Bahn gemacht und Licht und Schatten in ihr richtiges Verhältniss gestellt zu haben.

Protagoras, der Sophist, ist der erste, der vom Object, von der Natur, den entscheidenden Schritt that zum Ausgang vom denkenden Subject. Hatte Demokrit den Materialismus durch die Theorie der Atomistik zur Vollendung gebracht, so liess Protagoras diese Theorie als etwas Gleichgültiges fallen, ohne die Hauptresultate des Materialismus aufzugeben.

Er lehrte: in der Materie seien die Gründe aller Erscheinungen vorhanden, so dass die Materie, soviel an ihr liege, alles das sein könne, was sie einem jeden scheine.

Diesen Satz kann man als den Angelpunkt des Uebergangs vom Materialismus zum Sensualismus betrachten. Auch in ihm sind, wie in den Grundsätzen Demokrits, Wahrheiten anticipirt, die erst die heutige Wissenschaft entwickelt und beweist.

Entschieden ist sodann der sensualistische Standpunkt in folgenden Sätzen:

  1. Der Mensch ist das Maass aller Dinge; der Seienden, dass sie sind; der nicht Seienden, dass sie nicht sind.

  2. Entgegengesetzte Behauptungen sind gleich wahr.

  3. Alles Denken beruht auf Empfindung.

  4. Die Lustempfindung ist Beweggrund des Handelns.

Von diesen Sätzen ist der zweite der auffallendste und zugleich derjenige, welcher an die gewissenlose Rabulisterei, die man nur zu häufig für das eigentliche Wesen der alten Sophistik hält, am entschiedensten erinnert.

Er gewinnt jedoch einen tieferen Sinn, sobald man ihn aus dem ersten Satze, welcher den Kern der Lehren des Protagoras enthält, erklärt. Der Mensch ist das Maass der Dinge, d. h. es hängt von unseren Empfindungen ab, wie die Dinge uns erscheinen und dieser Schein ist das allein Gegebene. Protagoras war sonach auf einem Standpunkt, wo ihn nur der Sprung zu einem »Ding an sich« vor den Consequenzen eines einseitigen Subjectivismus retten konnte. Das Alterthum entwickelte diesen Kant'schen Glaubens-Artikel nicht, und so kam es, dass bei den Sophisten der Materialismus nicht sowohl überwunden wurde, als vielmehr einfach in sein Gegentheil umschlug. Die Materie bestimmt nicht mehr Alles, sondern sie wird bestimmt und zwar durch die menschliche Auffassung. Der sensualistische Ausgangspunkt entwickelt sich zu einem System, welches das einzelne Subject und seine Empfindungen zum Prinzip der ganzen Weltanschauung erhebt. In der neueren Zeit werden wir ähnliche Vorgänge, jedoch in weit unvollkommnerer Ausbildung kennen lernen. Schon Demokrit hatte behauptet, dass die Namen der Dinge durch Convenienz entstanden seien: ein Satz, der der Platonischen Ideenlehre in seinen Consequenzen diametral entgegen steht.

Diesen Satz dehnten die Sophisten mit einer staunenswerthen Verwegenheit der Theorie auf alle Begriffe aus und es ergab sich ihnen als letzte Consequenz:

»dass auch der Unterschied von Recht und Unrecht nur conventionell sei; dass es daher ein absolut Gutes nicht gebe: gut sei das, was dem erkennenden Subject jedesmal zusage

Betrachten wir nun gleichzeitig von den oben angeführten Fundamentalsätzen den vierten, nach welchem die Lustempfindung als Beweggrund des Handelns angeführt wird, so ist klar, dass der ganze Grund der Cyrenaischen Lustlehre schon durch den Sensualismus des Protagoras gelegt ist. Die specielle Ausbildung einer auf die Lustempfindung begründeten Ethik durch Aristipp steht daher, obwohl Aristipp von der ernsten physikalischen Forschung des Materialismus weit entfernt ist, doch mit diesem in einem Zusammenhange, der uns später bei Epikur, welcher die ethische und physikalische Seite des Materialismus gleichmässig umfasst, noch verständlicher werden wird.

Wenn man aber bedenkt, dass die Geschichte philosophischer Lehren nicht nur eine reine Fortentwickelung der Gedanken ist, sondern dass in diese stets mächtig die Persönlichkeit ihrer Träger eingreift, so wird man es begreiflich finden, dass Aristipp in keiner Weise mit der grossartigen Persönlichkeit Demokrits kann verglichen werden, dass er auch hinter seinem späteren Gesinnungsgenossen Epikur an sittlicher Würde weit zurückbleibt.

An der heissen Nordküste von Afrika lag die griechische Handels-Colonie Cyrene: hier vereinigte sich orientalische Ueppigkeit mit der Feinheit hellenischer Bildung. Einem reichen Kaufmannshause dieser Stadt entstammt, in weltlicher Gesinnung und weltmännischer Bildung aufgewachsen, kam der junge Aristipp nach Athen, gelockt durch den Ruf des Sokrates.

Schön von Gestalt und begabt mit dem Zauber des feinsten Benehmens und der geistreichsten Unterhaltung wusste Aristipp jedes Herz zu gewinnen. Er schloss sich an Sokrates an und man liess ihn als Sokratiker gelten, so verschieden auch die Wendung, welche seine Lehre nahm, von dem Wesen der Sokratischen war. Seine persönliche Neigung zu einem Leben in Lust und Glanz und der mächtige Einfluss der Sophisten wirkten auf die Entstehung seiner Lehre, dass die Lust der Zweck des Daseins sei. Aristoteles nennt ihn einen Sophisten; dennoch ist auch der Einfluss Sokratischer Lehre bei ihm unverkennbar. Sokrates fand das höchste Glück in der Tugend und lehrte, dass die Tugend mit der wahren Kenntniss zusammenfalle. Aristipp lehrte, dass Selbstbeherrschung und Besonnenheit, also die ächten Sokratischen Tugenden, allein genussfähig machen und genussfähig erhalten; nur der Weise könne wahrhaft glücklich sein. Das Glück selbst ist ihm aber freilich nur der Genuss.

Er unterschied zwei Formen der Empfindung: eine, welche durch sanfte Bewegung entsteht, die andere, welche durch rauhe, hastige Bewegung entsteht: jenes ist Lust, dieses Schmerz oder Unlust.

Da nun die sinnliche Lust offenbar eine lebhaftere Empfindung hervorbringt, als geistige, so war es lediglich eine Folge der unerbittlichen Consequenz hellenischen Denkens, wenn Aristipp daraus ableitete, dass die körperliche Lust besser sei als geistige; der körperliche Schmerz schlimmer als geistiger; Epikur suchte sich hier schon durch ein Sophisma zu helfen.

Endlich lehrte Aristipp ausdrücklich, dass der wahre Zweck nicht die Glückseligkeit sei, die sich als bleibendes Resultat vieler einzelnen Lustempfindungen ergebe, sondern die einzelne sinnliche concrete Lust selber. Jene Glückseligkeit sei freilich gut, aber sie müsse sich von selber ergeben, sie sei daher nicht der Zweck.

Consequenter als Aristipp war kein sensualistischer Ethiker des Alterthums oder der Neuzeit, und sein Leben bildet den besten Commentar seiner Lehre.

Mit ihm schliesst die Entwickelung des voraristotelischen Materialismus ab, um der Entwickelung des Idealismus und Formalismus, in Plato und Aristoteles Raum zu geben. Erst gegen hundert Jahre später trat Epikuros auf, um die Hauptpunkte der Lehre des Demokrit und des Aristipp in ein grosses System zusammenzufassen. Die Zeit, in welche jene beiden ersten Stufen des Materialismus fallen, ist im Ganzen das fünfte Jahrhundert vor Christo, die eigentliche Blüthenperiode griechischen Lebens.


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