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Dreizehntes Kapitel.
Wetterbeobachtungen

Am Mittwoch änderte sich das Wetter und der Frost, den Georg schon lange vorher prophezeit hatte, stellte sich ein. Als Karl zum zweiten Frühstücke kam, hatte er die Befriedigung, Mia ein dickes Stück Eis zeigen zu können und von Frau Dalton gescholten zu werden, weil das Eis schmolz und das Wasser auf den Teppich tröpfelte. – Das große Interesse, das alle Knaben an dem Wetter nahmen, vereinigte sie zum ersten Male. Während des ganzen Nachmittags wurde Karl beständig hinausgeschickt, um Wetterbeobachtungen zu machen und jedes Mal kehrte er mit feurigen Berichten zurück. Nach seiner Ansicht mußte der Fluß morgen dick zugefroren sein. – Er wurde jedes Mal mit großem Jubel von Richard und Horaz begrüßt und mit einigen Bemerkungen über seine nassen Füße von Mademoiselle. – Luise, die sich für das Eis gar nicht interessirte, saß fröstelnd mit einem Buche in der Hand und sah verzagt nach der Thüre, die Karl natürlich jedes Mal weit offen ließ. – Mia erwartete jeden Augenblick, daß sie einige Bemerkungen über den Zug und das Zuwerfen der Hausthüre machen würde, aber zum Glück schwieg Luise. –

Herr Harley und Frau Dalton waren zum Abend ausgebeten, und Mademoiselle ging nach dem Thee aus dem Zimmer und somit waren die Kinder sich selbst überlassen. Mia winkte Karl zu, denn sie fand, daß einer ihrer alten Träume sich beinahe erfüllte. Sie waren mit Kindern, die Schulen besuchten, ungestört zusammen und konnten nun einmal hören, wie es eigentlich in Schulen zuging. –

Luise berührte den erwünschten Gegenstand zuerst und erzählte einige Anekdoten aus ihrer vorletzten Schule, von dem Thun und Treiben dort, von den Rügen, die sie bekommen, wenn sie ihre Noten hatte umherliegen lassen oder wenn ihr ein Wort bei ihrer Lektion gefehlt hatte. – Vor Allem erzählte sie von der schrecklichen Strenge der ersten Lehrerin, die aus Murray's Grammatik eine Menge Regeln auswendig zu lernen gäbe, wenn man bei Tische gesprochen oder auf der Treppe gelacht hatte. – Mia hätte immer mehr hören mögen, aber Horaz und Richard wollten Nichts mehr davon wissen und sprachen mit grenzenloser Geringschätzung von den Rügen und Strafen in Mädchenschulen. – Sie hatten ganz andere Dinge in ihren Schulen erlebt. – Bei dem bloßen Berichte davon sträubte sich Mia's Haar und Karl's Augen wurden immer glänzender und runder. – Das ganz Außerordentliche in all' diesen Erzählungen war, daß die Lehrer immer Unrecht und die Schulknaben immer Recht hatten. – Mia konnte sich nicht genug darüber verwundern, daß es in einer Schule solch' eine Menge dummer, unwissender und ungerechter Lehrer gäbe, die immer Dummheiten sagten und begingen und immer angeführt wurden, und solch' eine Menge kluger Jungen, die sie übersahen und sich ganz und gar Nichts aus den Strafen machten, welche nichtsdestoweniger von unerhörter Strenge waren. Sie wagte zuletzt eine Bemerkung darüber und bekam von Horaz die Antwort, daß es weltbekannt sei, daß alle Lehrer dumm und langweilig wären. –

Richard fügte hinzu: »Und alle Mädchen läppisch.«

Aber hier widersprach Horaz. »Nicht alle,« – sagte er, – »nur einige, z. B. Luise, Mia nicht! – Ich wollte, Alle wären wie sie, sie ist mehr werth, als zwanzig andere Mädchen.« –

Hier warf Louis das Buch zur Erde, in dem er, beiläufig gesagt, nicht gelesen hatte und sagte etwas heftig: »Was weißt Du davon? – Und was geht es Dich an? – Bitte!« – Und Horaz antwortete: »Ich werde hoffentlich meine Meinung äußern und sagen dürfen, wen ich leiden kann und wen nicht? – Bitte!« –

Mia wurde ganz angst. – Sie hatte gedacht, daß Louis sie gern mochte, er war den ganzen Tag über so freundlich gegen sie gewesen, sie konnte es sich gar nicht erklären, warum er mit einem Male so ungezogen war. Sie gab sich Mühe, die Unterhaltung wieder auf den alten Gegenstand zu lenken und Alles wieder in's Geleis zu bringen. – Vergebens! – Der gemüthliche Abend war gestört! – Luise zog ihren Stuhl aus dem Kreise und verbarg nicht, daß sie sich sehr beleidigt fühlte, Louis nahm wieder sein Buch vor und schien eifrig zu lesen, und die andern Knaben gingen hinaus, um wieder Wetterbeobachtungen zu machen. – Der Bericht lautete günstig und der erste Blick aus dem Fenster, am Donnerstag Morgen, nahm jede Besorgniß fort. – Der Boden war mit einer dünnen Schneedecke belegt, die Sonne schien, und dabei fror es so stark, als man es sich nur wünschen konnte. Selbst Herr Harley, der, wie Karl Mia vertraute, die allerabsurdesten Ansichten über Eis hatte, – selbst Herr Harley meinte, daß das Eis stark genug sei, um Schlittschuh zu laufen und fragte Karl, ob er wisse, auf welcher Stelle das Schlittschuhlaufen am ungefährlichsten wäre? –

Karl kannte zwanzig Stellen, von denen jede noch viel sichrer war, als die andre, die auch ganz sicher war. – Die Unterhaltung darüber dauerte während des ganzen Frühstücks, denn Horaz und Richard waren mit keinem seiner Vorschläge zufrieden. Zuletzt bemerkte er ganz zufällig, daß der See in Silberthal gewiß auch zugefroren sei und darauf erklärten die Knaben, daß sie nach Silberthal gehen wollten, daß das von allen der beste Platz für's Schlittschuhlaufen sei. – Karl war so erfreut, die schwierige Frage endlich entschieden zu sehen, daß Mia die Bemerkung, die sie eben machen wollte, unterdrückte, die nämlich: daß Silberthal zu entfernt für einen Spaziergang sei, daß der See nicht sehr sicher und daß der Ort von allen, die Karl genannt, der wenigst hübscheste sei. –

Horaz und Richard mußten ihre eigenen Gründe haben, um nach Silberthal gehen zu wollen, denn sie gaben sich während der ganzen Unterredung Zeichen unter dem Tische. – Als es endlich entschieden war, daß dahin gegangen werden sollte, schienen Alle, Louis ausgenommen, befriedigt. Er fror, wollte nicht vom Feuer fort, sah schläfrig und – Mia war genöthigt, es zuzugeben – verdrießlich aus. – Aber er kämpfte sichtlich mit seiner bösen Laune und würde sie schneller überwunden haben, hätte Herr Harley weniger sorgenvoll und ängstlich ausgesehen, und hätte Frau Dalton nicht so viel von seiner Gesundheit und seinem Appetite gesprochen und ihm nicht mit so vielen Redensarten Allerlei zu essen angeboten, das er nicht essen konnte. – Zuletzt willigte er mit ziemlich liebenswürdiger Art ein, die Schlittschuhlaufenden zu begleiten, denn Herr Harley, der für einige Tage verreiste, erklärte, nur unter der Bedingung die Erlaubniß zum Schlittschuhlaufen zu geben.

Mia entdeckte bald, daß Louis' Einwilligung auch ihr ein Vergnügen verschaffen sollte, denn Frau Dalton sagte, daß, da Louis nicht so weit gehen könne, der Wagen angespannt werden müsse und Herr Harley willigte darin ein, indem er anordnete, daß die Mädchen auch mitfahren sollten, um ihre Brüder auf dem Eise zu sehen.

Unter allen angenehmen Dingen auf der Welt fand Mia eine Spazierfahrt an einem sonnigen Morgen das allerangenehmste, deshalb lief sie sehr fröhlich und leichtfüßig die Treppe hinauf, um sich fertig zu machen und hörte mit Vergnügen Karl's fröhliches Pfeifen im Hausflur. Louis stand neben ihm, daher war von Frau Dalton weniger zu fürchten.

Als der Wagen vor der Thüre stand und man einsteigen wollte, bemerkte Frau Dalton, daß sie gar nicht an Mia gedacht habe, und daß sie nicht begriffe, wie fünf Personen in dem Wagen sitzen sollten. – Louis sagte, es wäre Platz genug da, aber Frau Dalton sah unschlüssig einmal den Wagen und dann Mia an. –

»Es sei,« – sagte sie, »ganz unmöglich, daß Louis rückwärts sitze, es würde ihm Kopfweh machen und Mademoiselle würde nicht gern mit zwei Kindern auf dem schmalen Gesäße sitzen, Luise müsse aber mit, sie wäre hübsch angezogen und könne sie, Frau Dalton, – zu Lady Wentlock begleiten.« –

»Wenn Sie einen Besuch bei Lady Wentlock machen wollen,« – sagte Mia, – »so bleibe ich lieber zu Hause.« –

»Weßhalb?« – fragte Louis. –

»Mama hat es nicht gern, daß wir dort Besuch machen und mit den Kindern spielen.« –

Mia hatte den Satz noch kaum beendet, als sie an Frau Dalton's Gesicht sah, daß sie Etwas gesagt hatte, was sie lieber hätte verschweigen sollen.

»Steigen Sie schnell ein, Fräulein Merton, weßhalb lassen Sie die Pferde so lange warten? – Da, neben Luise; nehmen Sie so wenig Raum ein, als möglich. Was Ihren Besuch bei Lady Wentlock betrifft, so sollten Sie wissen, daß nirgends Gefahr für Sie ist, wohin Sie mit mir gehen. – Sie müssen Ihre Mutter falsch verstanden haben, sie kann unmöglich Etwas gegen einen Besuch bei Lady Wentlock haben. – Lady Wentlock ist eine sehr angenehme Dame und ihre Familie ist die älteste in der Grafschaft.« –

Diese letzte Bemerkung machte Mia stutzig und sie wollte schon erwiedern, daß Frau Thorold's Familie älter, als die der Lady wäre, denn Frau Thorold's Kinder wären sämmtlich erwachsen und Lady Wentlock's Sohn sei in Karl's Alter, als ihr einfiel, daß ihre Mama ihr oft gesagt hatte, sie solle still schweigen, wenn sie einen Verweis bekommen. Sie wunderte sich aber im Stillen, daß Frau Dalton plötzlich für ihr Mitfahren gestimmt, als Mia den Wunsch, zu Hause bleiben zu wollen, äußerte.

Die angenehme Bewegung des schnellen Fahrens vertrieb jedoch bald alle unangenehmen Gedanken. Mia verlangte nach keiner Unterhaltung, so lange sie den Anblick der in ihrem Winterkleide geschmückten Felder, der zugefrornen Teiche, der glitschenden Knaben und des hellen Feuers, das durch die Fenster der Hütten schien, sammt den Zügen der wilden Enten, die den Sümpfen zuflogen, genoß. – Es hätte ganz entzückend sein können, hätte Frau Dalton nur nicht jede Bewegung, die man im Wagen machte, gerügt, und da Mia nur den äußersten Rand des Gesäßes zwischen Mademoiselle und Luise einnahm, so war es wirklich schwer für sie, ganz fest zu sitzen. – Einmal warf sie ein jäher Ruck auf Frau Dalton's Schooß, und Mia wagte zehn Minuten nachher noch nicht aufzusehen, denn sie fürchtete, in Frau Dalton's Augen zu lesen, daß sie sich eine große Freiheit herausgenommen habe. –


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