Selma Lagerlöf
Die Silbergrube und andere Erzählungen
Selma Lagerlöf

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Rede, gehalten bei dem Ökumenischen Konzil in Stockholm 1925

Darf ich dem Ökumenischen Konzil ein Ereignis berichten, das sich vor etwa fünfzig Jahren zugetragen hat?

Es war eine neblige Nacht auf dem Atlantischen Ozean. Zwei große Fahrzeuge waren zusammengestoßen, und das eine von ihnen, ein mächtiger Postdampfer, auf dem Wege von Neuyork nach Le Havre, hatte ein Leck mittschiffs bekommen und war untergegangen. Das andere Fahrzeug, ein ungeheures Segelschiff, war im Nebel verschwunden, ohne einen Versuch zu machen, den zahlreichen Passagieren des Postdampfers zu Hilfe zu kommen.

Unter diesen Schiffbrüchigen befand sich eine junge Amerikanerin, die zu jener Zeit in Chikago lebte. Sie war vermögend, schön und begabt, mit einem guten, hervorragenden Manne verheiratet, Mutter von vier kleinen entzückenden Mädchen. Sie hatte die Reise unternommen, um ihre alten Eltern, die in Paris lebten, zu besuchen und ihnen ihre Kinder zu zeigen; deshalb hatte sie alle vier Töchterchen an Bord. Als der Zusammenstoß erfolgte war auf dem sinkenden Dampfer eine schreckliche Verwirrung entstanden. Man hatte allerdings Boote ausgeworfen, aber weder sie noch eines der Kinder hatten darin Platz gefunden. Als das Schiff schließlich gesunken war, waren sie alle fünf in das Meer hinausgespült worden.

Sie wurde zuerst von der Sturzwelle tief hinab in die unendliche Tiefe gezogen, aber dann wieder auf den Meeresspiegel hinaufgeschleudert. Ihre Kinder waren da von ihr losgerissen und sie begriff, daß sie ertrunken sein mußten. Sie selbst konnte nicht schwimmen. Im nächsten Augenblick mußte sie wieder in die Tiefe gezogen werden, und das bedeutete dann den sicheren Tod.

Da, in ihrem letzten Stündlein, dachte sie nicht mehr an Mann und Kinder. Sie dachte nur daran, ihre Seele zu Gott zu erheben.

Sie war unmittelbar vorher Zeuge von entsetzlichen Szenen gewesen. Angesichts des unvermeidlichen Untergangs hatten die Schiffbrüchigen völlig die Besinnung verloren. Ein wilder Kampf um die Boote war entbrannt, die die fünfhundert Passagiere keinesfalls fassen konnten. Gesunde kräftige Männer und Frauen hatten sich mit Stockhieben und Schlägen den Weg gebahnt. Die Schwachen und Kranken waren zurückgestoßen, niedergetreten oder geradezu ins Meer geschleudert worden. Derselbe grausige Kampf ums Leben tobte noch rings um sie auf dem Meeresspiegel.

Einige schwerbeladene Boote strichen in der Nähe vorbei, und in diesen saßen Menschen, die die Messer gezückt hatten, um die Schwimmenden fernzuhalten, die sich näherten und sich an den Bootsrand anklammern wollten. Grausige Schreie und Flüche waren von allen Seiten zu hören. Aber aus all diesen Szenen der Grausamkeit und Wirrnis, der unbarmherzigen Wildheit und jämmerlichen Todesfurcht befreite sie ihre Seele, um sie zu Gott zu erheben.

Und ihre Seele schwang sich auf wie eine freigelassene Gefangene. Sie fühlte, wie ihre Seele sich freute, die schweren Fesseln des irdischen Lebens abzustreifen, wie sie sich mit Jubel anschickte, zu ihrer wahren Heimat emporzusteigen.

»Ist es so leicht, zu sterben?« dachte sie.

Da hörte sie, wie eine mächtige Stimme, eine Stimme aus der anderen Welt, ihr Ohr mit einer dröhnenden Antwort erfüllte:

»Wohl ist es wahr, daß es leicht ist, zu sterben. Was schwer ist, das ist zu leben.«

Es dünkte sie, daß dies die größte Wahrheit war, und sie stimmte freudig ein:

»Ja, ja, das ist wahr, es ist schwer, zu leben.«

Und mit einem Gefühl des Mitleids mit jenen, die noch weiterleben mußten, dachte sie: Warum muß es so sein? Ließe sich das Leben auf Erden nicht so gestalten, daß es ebenso leicht wäre, zu leben, wie es jetzt ist, zu sterben?

Da vernahm sie abermals die mächtige Stimme, die ihr antwortete:

»Was not tut, damit es leicht wird, auf Erden zu leben, das ist Einigkeit, Einigkeit, Einigkeit!«

Während diese Worte noch in ihren Ohren widerhallten, wurde sie gerettet. Es war der große Segler, der zurückgekehrt war und Rettungsboote herabgelassen hatte. Sie wurde in eines derselben gehoben und dann mit etwa achtzig anderen Schiffbrüchigen in einem europäischen Hafen ans Land gesetzt.

Dieses Ereignis, dieser Zuruf kam mir in den Sinn, als ich zum erstenmal vom ökumenischen Konzil sprechen hörte. Ich stellte mir vor, daß nach dem großen Zusammenprall, nach dem furchtbaren Schiffbruch, der die Christenheit betroffen hat, viele ihrer besten Angehörigen das Gefühl haben mußten, in eine bodenlose Tiefe gestürzt zu sein, das Liebste verloren zu haben; sie mußten von Groll gegen das Leben beseelt sein, bereit, die drohende Vernichtung als Befreiung aufzunehmen. Aber in diesem Abgrund der Angst sind dann zu diesen Verzweifelten Stimmen aus einer anderen Welt gedrungen. Auch sie haben mitten in dem wilden Getümmel, mitten in dem Blutvergießen den Ruf nach Einigkeit, Einigkeit, Einigkeit vernommen; und darum sind sie nun von den vier Enden der Welt hierhergeströmt, um den Frieden und Zusammenhalt zu schaffen, den die Völker durch Jahrtausende ersehnt haben und der das Leben sicherlich leichter zu leben machen würde.

Dies war der erste Gedanke, der sich bei der Nachricht von dem Ökumenischen Kongreß einstellte. Der zweite war der, daß ich gerne mit dabei sein wollte, die Konferenz willkommen zu heißen. Denn wie der Versuch auch ablaufen mochte, so war doch der Gedanke groß und kühn und wohl wert, als ein Vorbote hellerer Zeiten begrüßt zu werden.

Möge mir die Versammlung gestatten, noch weiter von dem Leben und Wirken der schiffbrüchigen Frau zu erzählen. Das Problem, das sie zu lösen hatte, war ja dasselbe wie das der Konferenz, wenn auch in anderem Maßstab. Und ich muß es gestehen, als ich ihr Leben durchdachte, erbebte mein Herz. Ich glaubte eine Schrift zu sehen, von Gottes eigenem Finger geschrieben, eine Schrift zur Führung, zur Erweckung, zur Tröstung, eine Schrift, die gerade von dieser Versammlung gelesen werden sollte.

Lassen Sie mich also vorerst sagen, daß die junge Amerikanerin, Anne Spafford, die Botschaft, die ihr in der Unglücksnacht erklungen war, als ein wahres Gotteswort aufnahm. Dennoch vergingen mehrere Jahre, ehe sie einen ernsten Versuch machte. Sie war vom Schmerz über die verlorenen Kinder allzusehr gebrochen. Zwei neue Töchterchen wuchsen im Hause auf, aber die Trauer ließ nicht nach. Endlich sah sie ein, daß ihr nicht früher Hilfe und Trost zuteil werden würde, ehe sie nicht ihr Leben der Aufgabe widmete, Einigkeit in die zersplitterte Welt zu bringen.

Einigkeit! Doch was ist Einigkeit? Wie kann sie erreicht werden? Wie kann man in Einigkeit leben mit Menschen, wie sie nun einmal sind: egoistisch, selbstgerecht, unwahr, liederlich, frevelhaft? Möge man sich in die große Schwierigkeit hineindenken! Ist es hierzu eigentlich nicht erforderlich, daß, ehe Einigkeit auf Erden walten kann, alle vollkommen werden müssen? Wenn ein Mensch allein es versuchen wollte, in Einigkeit mit seinesgleichen zu leben, würde er nicht verhöhnt werden, ja niedergetreten, gekreuzigt?

Anne Spafford griff zu dem üblichen Ausweg. Sie, ihr Mann und etwa zwanzig ihrer Freunde gründeten eine Gemeinschaft, deren Mitglieder sich verpflichteten, in Einigkeit miteinander zu leben und der übrigen Menschheit zu helfen und zu dienen.

Diese Chikagoer suchten keineswegs eine neue Religion einzuführen. Sie waren alle warme, bewährte Christen, und sie vertieften sich in das Studium der Apostelgeschichte, um in der Lebensweise der ersten Christen eine Richtschnur für ihren Wandel zu finden. Nach deren Vorbild zogen sie in einen einzigen großen Haushalt zusammen. Sie führten Gütergemeinschaft ein, sie dienten einander ohne Entgelt, und sie staunten über die Geborgenheit und Leichtigkeit, die damit in ihr Leben kam.

Während sie so versuchten, Jesu ersten Bekennern nachzufolgen, deren Leben in Jerusalem stets in ihren Gedanken waren, drang die Nachricht zu ihnen, daß Not und Krankheiten in der heiligen Stadt wüteten. Hierdurch wurde unter ihnen der Wunsch rege, ihre Tätigkeit dorthin zu verlegen, und dies kam auch zur Ausführung. Mehrere andre Ursachen dürften hier wohl zusammengewirkt haben. Lebten sie doch in der Glut der ersten Begeisterung und Hoffnungsfülle. Die Botschaft, welche Anne Spafford zuteil geworden war, schien ihnen die Vollendung des Christentums darzustellen, und sie hielten dafür, daß diese sich von derselben Stelle ausbreiten müßte, von der unsre Religion ihren ersten Ausgangspunkt genommen hatte.

Im Jahre 1881 langten Glieder der Gemeinschaft in Jerusalem an. Sie mieteten sich in einem schönen Häuschen dicht bei der Stadtmauer ein, wo man von den Dachterrassen hinaus auf den Kranz von schönen Hügeln schauen kann, der die Landschaft umrahmt. Ihre Tätigkeit bestand darin, die Kranken in den engen Gäßchen der heiligen Stadt aufzusuchen, die Hungrigen zu speisen und elternlose Kinder aufzunehmen und zu betreuen. Allen, die sie besuchten, erzählten sie von der göttlichen Botschaft, die der Schiffbrüchigen erklungen war, und sagten, daß sie durch ihre Lebensführung die Wahrheit derselben bezeugen wollten.

Muß es nicht wunderbar erscheinen, daß diese Gemeinschaft, die Einigkeit in der Welt verbreiten wollte, eine Verkündigung durch die Tat wählte? Sie wollte – gleich dieser Versammlung – christliche Gemeinschaft im Leben und Wirken schaffen. Es kam auch vor, daß der eine oder andere, wenn er den Frieden, den Zusammenhalt und die stille Freudigkeit sah, die in dem kleinen Kreise herrschte, dadurch überzeugt wurde, daß dies der rechte Weg war, und bat, sich der amerikanischen Kolonie anschließen zu dürfen. Es waren einige Syrier aus den Küstenstädten Palästinas darunter, einige getaufte Juden, einige Reisende aus Europa und anderen Weltteilen, aber die Morgenländer waren der überwiegende Teil der Neuhinzugekommenen. Die Gemeinschaft wurde dadurch um etwa vierzig neue Mitglieder vermehrt. An und für sich eine geringe Zahl. Aber wenn man bedenkt, daß von den Neuhinzugekommenen verlangt wurde, ihr altes Leben aufzugeben, sich der Kolonie in Jerusalem anzuschließen, dieser alles Eigentum zu überlassen und sich einer strengen Lebensweise zu unterwerfen, ist man fast versucht, sich über einen so großen Zustrom zu verwundern.

Das größte Kontingent zu der amerikanischen Kolonie stellte jedoch nicht Palästina, sondern eigentümlicherweise Schweden. Im Kirchspiel Nås in Dalekarlien hatte eine Schar Bauern einen religiösen Zusammenschluß ähnlicher Art gebildet. Durch Landsleute, die nach Chikago ausgewandert waren, hörten die Bauern von den Amerikanern, die nach Jerusalem gezogen waren, um dort in Einigkeit und Vollkommenheit das Leben der ersten Christen zu führen. Sie wurden von der Sehnsucht ergriffen, sich mit ihnen zu vereinigen. Sie verkauften ihre Bauernhöfe, verließen Heim und Vaterland und zogen nach Jerusalem. Dies begab sich im Jahre 1896, als die Amerikaner etwa fünfzehn Jahre in Jerusalem gewohnt hatten. Die schwedischen Auswanderer waren etwa vierzig an der Zahl, aber unter ihnen befanden sich mehrere Minderjährige.

Muß man nicht wiederum staunen, wenn man darüber nachdenkt? Die Kolonie in Jerusalem bestand also hauptsächlich aus denselben Völkerschaften, die sich hier zur Konferenz versammelt haben. Kleine Menschenhäuflein strebten vom fernen Westen, vom hohen Norden dorthin, um im Verein mit einer Handvoll Morgenländer für die Einigkeit zu wirken. Dort wie hier begegnet sich angelsächsische Tatkraft mit morgenländischer Mystik und germanischer Innerlichkeit. Hier tritt uns auch die gallische Klarheit entgegen. Dort wie hier lauschen Reformierte, Lutheraner und Orthodoxe dem Rufe nach Einigkeit, während die Völker des Südens still sitzenblieben. Ist das nicht gleichsam ein Zeichen, daß von denen, die hier zusammengekommen sind, der Anfang gemacht werden soll mit dem großen Zusammenschluß, Brudergefühle zu wecken unter den christlichen Völkern zur Gemeinsamkeit im christlichen Handeln?

Von allem Anfang an hatte die Kolonie eine Sonderstellung unter den vielen christlichen Gemeinden in Jerusalem eingenommen. Ihre Mitglieder hatten es immer als eine Pflicht empfunden, auch der morgenländischen Umgebung gegenüber eine christliche Gesinnung zu zeigen und an dem Prinzip der Einigkeit festzuhalten. Sie hatten der Juden hohnvolle Klagen über die ständigen Streitigkeiten gemerkt, welche die Christen scheiden, und wollten ihnen ein besseres Beispiel geben. Die Kolonisten, die gebildete, rechtschaffne, friedliche Leute waren, haben auch immer das größte Ansehen unter der einheimischen Bevölkerung der Stadt genossen, und das nicht nur bei den Armen. Was es an vornehmen arabischen und jüdischen Familien in der Stadt gab, suchte die Kolonisten auf und befreundete sich mit ihnen.

Aber für viele christliche Gemeinden in Jerusalem und im ganzen Morgenland war die Kolonie vom ersten Augenblick an ein Stein des Anstoßes. Man beschuldigte sie, ein unsittliches Leben zu führen, man suchte ihr zu schaden. Man trachtete, ihr den Aufenthalt im Morgenland unmöglich zu machen.

Ist unter den hier Anwesenden einer, der zweifelt, daß dem Kongreß dasselbe Schicksal beschieden sein wird? Ist es nicht sicher, daß die besten unter den Nichtchristen eine Versammlung wie diese mit Freude begrüßen und sie mit Segenswünschen begleiten werden? Und ist es nicht ebenso sicher, daß ihre ärgsten Widersacher von christlicher Seite kommen werden, daß sich von dort die Stimmen erheben werden, die ihre Absichten mißdeuten und ihre Beschlüsse zu vereiteln suchen werden?

Ich brauchte dies kaum zu sagen. Es wird ohnehin jedem klar sein, daß die Kolonie in Jerusalem nicht in ungestörtem Frieden leben konnte, sondern von ernsten inneren Konflikten erschüttert wurde. Die gefährlichsten entstanden dadurch, daß man rein aszetische Lebensregeln angenommen hatte, wie zu arbeiten, ohne Lohn zu erhalten, auch nicht für Verrichtungen, die für außenstehende vermögende Leute geleistet wurden. Ebenso wurde in der Frage des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern größte Enthaltsamkeit verlangt. Die Folge war Verarmung, Unzufriedenheit und eine Menge überflüssiger Konflikte, namentlich als die Kinder der Kolonie zu Jünglingen und Jungfrauen heranzuwachsen begannen. Doch kam die Leitung der Kolonie allmählich zu der Einsicht, daß dieser aszetische Einschlag für die Einigkeit nicht nötig sei, und man stand auch davon ab.

Ein rechtschaffenes und liebevolles Leben wird von den Kolonisten verlangt, aber man erlegt ihnen keine der menschlichen Natur widerstreitenden Vorschriften auf. Sie dürfen Lohn empfangen, und eine fröhliche Arbeitsamkeit herrscht seither in jedem Winkel der Kolonie. Sie dürfen heiraten und in eigenen Heimen außerhalb des großen palastartigen Hauptgebäudes der Kolonie wohnen. Seit diese Fragen gelöst wurden, ist das Ansehen und der Wohlstand der Kolonie in stetem Aufschwung begriffen. Viele Schweden, darunter auch ich, haben im Laufe der Zeit die Kolonie besucht und sie dann mit Bewunderung und Interesse geschildert. Alle bezeugen den warmen christlichen Geist, die ungebrochene Einigkeit, das im Grunde tiefernste, aber doch so reiche und glückliche Zusammenleben.

Und mich dünkt, die Konferenz dürfte es nicht unterlassen, hiervon eine Warnung mitzunehmen. Die Konferenz will christliche Gesetze im Verhältnis der Völker zueinander einführen. Die Konferenz soll das tun in der besonnenen Erwägung, daß die Staaten lebendige Wesen sind, deren Natur nicht geändert werden kann, und sie soll nicht unnötige Bande auferlegen, sondern einzig das, was erforderlich ist zur Aufrechterhaltung der Einigkeit und zur Schaffung von Sicherheit.

Die Stifterin der Gemeinschaft starb vor zwei Jahren, einundachtzig Jahre alt, nachdem sie ihr ganzes Leben dafür eingesetzt hatte, sie zu leiten und ihr zu dienen. Sie wurde nie gewaltig und weltumspannend, wie die Gründerin vielleicht ursprünglich gehofft hatte, sie zählt nicht einmal hundert Mitglieder. Aber auf ihrem Totenbette konnte Anne Spafford sich sagen, daß die göttliche Stimme ihr den richtigen Weg gewiesen hatte. Die Einigkeit hatte ihr Leben gleich einer schützenden Mauer umschlossen.

Sorgen waren nicht ausgeblieben; wurden sie aber von vielen treuen und teilnehmenden Herzen mitgetragen, verloren sie ihre Schärfe. Und die Macht, zu helfen, andrer Lasten zu erleichtern, war auf eine bewundernswerte Weise gesteigert worden.

Sie konnte sich sagen, daß ihre Kolonie dem armen Jerusalem zum größten Segen gereicht hatte. Sie konnte denken an die jüdischen Flüchtlingsscharen, welche die Kolonie gerettet hatte, an in Not geratene Pilger, denen sie in Lebensgefahr beigesprungen war, an die fünfhundert Hungernden, die in der Notzeit täglich in der Kolonie gespeist worden waren. Es dünkte sie, daß die Menschen, die innerhalb der Kolonie erzogen worden waren, freimütig, reinherzig, heiter, mild, glücklich im Dienen waren.

Sie konnte sich mit Freude sagen, daß die amerikanische Hilfe im Kriege zum großen Teil auf ihre Initiative zurückzuführen war.

Sicher war sie weit davon entfernt, auf ihrem Sterbebette sich weltlicher Erfolge zu rühmen; aber sie dachte wohl doch daran, daß Gott auch durch so etwas zeigen wollte, daß Einigkeit des Menschenlebens Segen sei. Die Kolonie besaß nun einen großen Palast, vor dem Damaskustor gelegen, samt sechs kleineren Baulichkeiten. Sie besaß Dromedare und Pferde, Kühe und Ziegen, Wirtschaftsgebäude und Felder, Oliven- und Feigenbäume, Läden und Werkstätten. Palästinaphotographien aus ihrem Atelier verkaufte man über die ganze Welt hin, auch rüstete sie Karawanen aus, welche Reisende weit umher durch Palästina und Syrien führten.

Ihre einstmals so verachtete Kolonie war ein Ruheplatz, ein Ort des Friedens in der heiligen Stadt geworden. Friedensgedanken gingen in der hoffnungslosen Dunkelheit von dort aus. Einigkeit ist möglich, Einigkeit läßt sich zwischen Menschen verschiedener Nationen erreichen, Einigkeit kann auch zwischen Ländern und Völkern walten.

Aber liegt nicht in dem Gedeihen, welches dem geringen Vorgänger beschieden war, die schönste Prophezeiung für den mächtigen Nachfolger? Fühlt man nicht, wie Gott auf diese Weise seinen Segen verheißt der Arbeit für Einigkeit unter Menschen, Einigkeit zwischen Völkern? Will er uns nicht sagen, daß im Zeichen der Einigkeit die Menschheit eine schönere Entwicklung erreichen wird, daß in ihrem Zeichen der Wohlstand vermehrt, die Macht zu helfen und glücklich zu machen vermannigfaltigt, die Sorgen, die das Menschenleben bedrohen, auf vielfältige Weise verringert werden?

Lasset uns hören! Lasset uns lauschen! Er, dessen Stimme durch des Weltkriegs Donnergrollen uns Einigkeit zurief, redet auch zu uns durch seiner geringen Dienerin demütige Schöpfung. »Einigkeit« ruft er uns zu, »Einigkeit« zwischen Reformiert und Lutherisch, Einigkeit zwischen Protestant und Grieche, zwischen Grieche und Katholik, Einigkeit zwischen Christen und Nichtchristen, Einigkeit, Einigkeit, Einigkeit zwischen allen Völkern der Erde!

 


 


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