Selma Lagerlöf
Die Silbergrube und andere Erzählungen
Selma Lagerlöf

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Was es kostet

Gerade jetzt, während ich in die Arbeit vertieft dasitze, flammt im Nordwesten ein feuerroter Sonnenuntergang. Der Tag war regnerisch und grau gewesen, aber eben erst zeigte sich ein schmaler Streif klaren Himmels unten am Horizont. Er kam gerade noch zur rechten Zeit, damit ich einen Schimmer des Sonnenballs erhaschen konnte, bevor er hinter den blauen Höhen versank. Jetzt benützten ihn die Sonnenstrahlen, um zu den Wolkenrücken emporzugleiten und sie mit Blut und Purpur zu umrahmen. Das ganze Firmament nimmt sich wie eine ungeheure graue Seidenbahn aus, mit Rot gerändert. Zu unterst, vor allem in der Nähe der Stelle, wo die Sonne eben versank, ist das Rot vorherrschend, da laufen die roten Streifen so dicht zusammen, daß der graue Grundton verschwindet. Höher oben wird die Moirierung spärlicher, und im Zenit sieht man nur ein paar rote Spritzerchen. Der große Pinsel, der die ganze Himmelswölbung malen zu wollen schien, ist zu verschwenderisch gewesen. Die Farbenschale ist schon geleert. Für die östliche Himmelswölbung bleibt nichts übrig.

Die Glut und der Strahlenglanz haben mich verlockt, die Feder hinzulegen und an das Fenster zu treten. Aber mit einem kleinen Seufzer kehre ich bald zum Schreibtisch zurück. Ich mußte daran denken, daß es denen, die mit Feder und Tinte arbeiten, fast nie gelingt, eine solche Herrlichkeit zu beschreiben. Man mag sein Allerbestes tun, es kommt doch äußerst selten vor, daß man das Interesse des Lesers zu fesseln vermag. Denken Sie sich, daß Sie in einem Buch auf eine lange Beschreibung eines Sonnenuntergangs, einer Abendröte stoßen. Gestehen Sie ehrlich, daß Sie sie am liebsten überspringen. So mache ich es wenigstens.

Der Fehler muß jedoch irgendwie an dem liegen, der dies schildert. Etwas so Bezauberndes wie eine Abendröte muß sich so beschreiben lassen, daß sie dasselbe Entzücken wie beim Beschauen auslöst. Es läßt sich schon machen, aber es gilt die rechte Art zu finden.

Ich erinnere mich, daß zu der Zeit, als ich als Lehrerin in Landskrona lebte – also vor etwa fünfunddreißig Jahren – im Südschwedischen Tagblatte eine Folge von Naturschilderungen erschienen, die die größte Bewunderung aller Leser erregten. Sie waren selten mehr als eine Spalte lang, überaus konzentriert und mit einer erstaunlichen Sicherheit und Eleganz geschrieben. Sie erschienen anonym, aber es war leicht zu sehen, daß der Verfasser wissenschaftliche Bildung besaß. Und doch schilderte er keine fremden Weltteile und Länder, er gab nur jede Woche eine Übersicht über die Witterung und die Vegetation eines Landstriches an der Oresundküste. Er verfolgte das Auftauchen der Wiesenblumen, er zählte sie auf, so wie sie sich im Frühling zeigten oder im Herbst verschwanden, er kündigte die Ankunft der Zugvögel an, er behielt die Kriechtiere und Insekten der Erde im Auge, sowie die Quallen, Seesterne und Krabben, die an den steinigen Strand gespült wurden. Vor allen Dingen aber beschäftigte sich der Anonymus mit der Himmelswölbung, den Wolken, den Regenbogen, den Gewittern und den Sonnenuntergängen.

Alles ließ darauf schließen, daß er sich in der Helsingborger Gegend aufhielt, also nur einige wenige Meilen nördlich von Landskrona. Man konnte sagen, daß derselbe Himmel sich über ihm wölbte wie über uns, daß dieselben Wolkenbildungen über seinem Kopfe dahinstrichen wie über unserem.

Aber dennoch griff man jedesmal eifrig nach der Zeitung, wenn einer seiner Artikel darin stand, um von Regenschauern oder Federwölkchen oder von den Farbenschattierungen der Abendröte zu lesen. Wir hatten ja genau dasselbe gesehen, aber wir hatten nicht herausgefunden, wie merkwürdig, wie interessant alles war, ehe dieser Mann uns die Augen öffnete.

Haben Sie den Sonnenuntergang an diesem und diesem Abend beobachtet, konnte er fragen, und darauf folgte ein ganzes Drama. Eine Wolke zog auf, wurde beschrieben, in Positur gestellt, dann kam eine zweite, eine dritte, eine vierte, bis der ganze Abendhimmel von einer drohenden Wolkenburg umgeben war. Wenn sie glücklich zur Stelle und geordnet waren, begann das Spiel der Strahlen, Farbe ging in Farbe über, sie kämpften und wurden besiegt. Das Wasser des Sunds und die schöne dänische Küste bekamen auch ihr Teil von den Schattierungen und Stimmungen ab, nicht eine Nuance des ganzen Schauspiels ging dem Leser verloren.

Man erkannte ja alles wieder, aber das Bild ward um so viel reicher und klarer, als unsere eigenen Sinne es zu erfassen vermocht hatten.

Man darf sich nicht denken, daß diese Schilderungen poetisch im hergebrachten Sinne waren. Der Anonymus bediente sich weder großartiger Bilder noch hoher, klingender Worte. Seine Zaubermacht bestand in etwas ganz anderem. Er zwang einen das, wovon er sprach, zu erleben. Er nahm uns mit hinaus ins Freie. Man fühlte sich von der Abendbrise umfächelt. Man hatte die Regenschauer oder die Gewitter dicht über sich. Man schaute mit seinen eigenen Augen diesen violetten oder bronzegrünen oder zitronengelben oder goldnen Sonnenuntergang.

Aber dies, daß wir sozusagen an seinen Wanderungen teilnahmen, daß wir gleichsam an seiner Seite Muscheln und Pflanzen sammelten, machte es wohl, daß wir gerne gewußt hätten, wer er war. Wir nahmen so eifrig an seinen kleinen Freuden teil, wir waren stolz auf seine Entdeckungen! Wer war er denn, dieser Mann der Wissenschaft mit der gewandten Feder, dieser Sonnenuntergangs-Anbeter, dieser Wortmaler?

Es konnte eigentlich nicht schwer sein, die Lösung des Rätsels zu finden. Nur auf ganz wenige Menschen konnte ja die Beschreibung passen: wissenschaftlich geschulter Beobachter, künstlerisch ausgebildeter Schriftsteller, auf dem Lande ansässig, in der Nähe von Helsingborg.

Aber wie wir auch nach ihm fahndeten, der Mann war nicht zu entdecken.

Da halfen wir uns selbst. Wir nahmen an, daß der Unbekannte jung war, er hatte sich noch keinen Namen machen können, deshalb konnte man ihn nicht aufspüren. Und wir dachten ihn uns als einen neuen Linné, fröhlich, schön, strahlend und genial. Wir waren überzeugt, daß wir bald von ihm reden hören würden. Wenn er fertig war, wenn er in der ihm eigenen lebensvollen Art das Ergebnis seiner Forschungen darlegte, dann würde unser Land einen neuen großen Gelehrten haben, auf den es stolz sein konnte.

So hofften wir im stillen, als auf einmal die Artikel ganz aufhörten. Einige Tage nachher erzählte das Südschwedische Tagblatt, daß der Anonymus, der die vielbeachteten Artikel aus der Helsingborger Gegend geschrieben hatte, gestorben war.

Die Zeitung brachte auch einige kurze biographische Daten. Der Mann mit der wissenschaftlichen Schulung, der eleganten Darstellungsweise war ein alter ehemaliger Student. Er hieß Frederikson und hatte wohl nie daran gedacht, daß dieser Name irgendwelche Berühmtheit erlangen könnte. Eine Zeitlang hatte er in Lund studiert, aber die Hochschule verlassen, ohne Prüfungen abzulegen. In späteren Jahren war er, wie man so sagt, menschenscheu geworden; überaus arm, wie er war, und ungeneigt, jemandes Hilfe in Anspruch zu nehmen, hatte er in der letzten Zeit in einer verlassenen Hütte irgendwo am Sund gehaust. Es sah beinahe aus, als glaubte die Zeitung, daß er Hungers gestorben war.

Also der Meister der schönen Sonnenuntergänge war kein neuer Linné. Wir hatten ihn uns als einen ruppigen, alten, verbummelten Studenten zu denken, menschenscheu und herabgekommen.

Sein einziger Umgang war die große, freie Natur gewesen, seine einzige Freude hatte darin bestanden, dem Wechsel der Jahreszeiten zu folgen. Die einzige Herrlichkeit, die er vor Augen gehabt hatte, war die der Abendröte gewesen. Ein schöner Sonnenuntergang hatte das große Ereignis in seinem armen Leben bedeutet.

Aber das ist es vielleicht, was not tut. Nur das, was höheren Wert für uns hat als irgend etwas sonst auf der Welt, kann man wohl in der richtigen Weise schildern.

 


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