Selma Lagerlöf
Im Heiligen Lande
Selma Lagerlöf

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Heimkehr von der Wallfahrt

Jetzt müssen wir erzählen wie es Barbro Svenstochter ergangen war, nachdem Ingmar nach Jerusalem gereist war. Als Ingmar ungefähr einen Monat fortgewesen war, begann die alte Lisa auf dem Ingmarshofe zu bemerken, daß eine wunderliche Unruhe und Rastlosigkeit über Barbro gekommen war. »Es ist doch sonderbar, wie wild sie aus den Augen sieht«, dachte die Alte. »Es sollte mich nicht wundern, wenn sie eines schönen Tages den Verstand verlöre.«

Eines Abends entschloß sie sich, Barbro auszufragen, »Ich kann nicht begreifen, was dir fehlt«, sagte sie. »Als ich jung war, sah ich in einem Winter die Frau auf dem Ingmarshofe mit eben solchen Augen umhergehen wie du sie jetzt hast.« »War das die, die das Kind umbrachte?« fragte Barbro schnell. »Ja,« sagte die Alte, »und nun fange ich an zu glauben, daß auch du dich mit dergleichen Gedanken trägst.«

Barbro gab keine rechte Antwort hierauf. »Jedesmal, wenn ich die Geschichte habe erzählen hören,« sagte sie, »habe ich mich immer über eins wundern müssen.« Die alte Lisa fragte, was das sei. »Daß sie sich selbst nicht auch gleich umgebracht hat.«

Die alte Lisa hatte dagesessen und gesponnen. Sie legte jetzt die Hand auf das Rad, um es anzuhalten, und richtete die Augen auf Barbro. »Niemand kann sich darüber wundern, daß du so bedrückt bist, falls du nun was Kleines haben solltest, jetzt, wo dein Mann fortgereist ist«, sagte sie langsam. »Er hat wohl nichts davon gewußt, als er abreiste?« »Niemand von uns hat davon gewußt, weder er noch ich«, sagte Barbro mit leiser Stimme, als bedrücke sie ein schwerer Kummer, weil sie nicht reden konnte. »Aber jetzt schreibst du es ihm wohl?« »Nein,« sagte Barbro, »der einzige Trost, den ich habe, ist, daß er fort ist.« Die Alte ließ die Hände sinken und sah entsetzt aus. »Ist das ein Trost?« rief sie aus. Barbro stand am Fenster und starrte vor sich hin. »Weißt du nicht, daß ein Fluch auf mir ruht?« fragte sie, und bemühte sich, ihre Stimme so ruhig wie möglich zu machen. »Ach ja, man kann wohl nicht so viele Jahre hier im Hause aus- und eingehen, ohne allerlei zu hören,« sagte die Alt«. »Ich habe ja gehört, daß du aus der Familie vom Trauerhügel abstammen sollst.«

Nun wurde eine Weile nicht mehr gesprochen. Die alte Lisa saß da und ließ das Rad schnurren, während sie hin und wieder einen Blick zu Barbro hinüberwarf, die noch immer am Fenster stand und mehrmals wie im Fieberschauer zitterte. Als fünf Minuten vergangen waren, hielt die Alte mit ihrer Arbeit inne und ging nach der Tür. »Wo willst du hin?« fragte Barbro. »Das kann ich dir gern sagen. Ich will hin und sehen, ob ich nicht jemand finden kann, der an Ingmar schreibt.« Barbro stellte sich ihr schnell in den Weg. »Das sollst du nachlassen«, sagte sie. »Ehe der Brief geschrieben ist, liege ich im Gießbach.«

Sie standen eine Weile da und sahen sich an. Barbro war groß und stark, die alte Lisa glaubte, daß sie sie mit Gewalt zurückhalten würde. Aber auf einmal brach Barbro in ein Gelächter aus und trat auf die Seite. »Schreib du nur,« sagte sie, »mir kann es einerlei sein. Es kommt nichts weiter dabei heraus, als daß ich dem ganzen ein wenig früher ein Ende machen muß, als ich gedacht hatte.« »Nein«, sagte die Alte, die begriff, daß sie vorsichtig mit Barbro umgehen müsse, solange sie sich in einer solchen Gemütsverfassung befand. »Ich kann das Schreiben ja nachlassen. Ich will dich nicht zu einem verzweifelten Schritt verleiten.« »Ja, schreib du nur«, sagte Barbro. »Mir macht es nichts aus. Du kannst wohl begreifen, daß ich mir doch das Leben nehmen muß. Man kann es wirklich nicht verantworten, solch ein Elend weiter gehen zu lassen.«

Die Alte kehrte an ihren Spinnrocken zurück, und setzte sich wieder an die Arbeit. »Willst du nicht gehen und den Brief schreiben lassen?« sagte Barbro und trat zu ihr heran. »Ich weiß nicht, ob ich ein vernünftiges Wort mit dir sprechen darf?« sagte die alte Lisa. »Ach ja,« sagte Barbro, »das kannst du gern tun.«

»Ich sitze hier und denke daran,« sagte die Alte, »daß ich dir versprechen will, dies alles geheim zu halten, dafür sollst du mir dann aber auch versprechen, daß du weder dir noch dem Kinde ein Leid antust, ehe wir sicher sind, daß es so kommt, wie du es erwartest.« Barbro stand da und überlegte. »Versprichst du mir, daß du mir hinterher freie Hand läßt?« »Ja,« sagte die Alte, »hinterher kannst du tun, was du tun willst, das verspreche ich dir.« »Ich finde eigentlich, ich könnte mir doch lieber jetzt gleich das Leben nehmen«, sagte Barbro mit einem gleichgültigen; Blick. »Ich! glaubte, du könntest jetzt vor allen Dingen wünschen, daß Ingmar Gelegenheit hätte, das wieder gutzumachen, was er verkehrt gemacht hatte,« sagte die Alte, »aber daraus kann ja doch nichts werden, wenn er solche Nachricht bekommt.« Barbro griff sich nach dem Herzen. »Es soll so sein, wie du willst«, sagte sie. »Aber dies ist ein schweres Versprechen. Bedenke, was du versprochen hast und hintergehe mich nicht.«

Dies war eine Verabredung, und sie wurde gehalten. Die alte Lisa verriet nichts, und Barbro nahm sich in Zukunft auch so in acht, daß niemand ahnte, was ihr bevorstand. Das Glück wollte, daß der Frühling in diesem Jahr früh kam; der Schnee schmolz schon im März im Walde. Sobald nur ein einziger grüner Grashalm zu finden war, ließ Barbro einen Teil der Viehherde nach der Alm hinaustreiben, die hoch oben in dem einsamen Ödeland lag. Sie und die alte Lisa gingen mit hinauf, um das Vieh zu hüten.

Ende Mai wurde dann ein Kind geboren. Es war ein Junge, und er sah viel jämmerlicher aus als das Kind, das Barbro im vorhergehenden Jahr zur Welt gebracht hatte. Es war klein und mager und schrie unaufhörlich. Als die alte Lisa es Barbro brachte, lachte sie bitter: »Es war wirklich nicht wert, mich zu zwingen, um dieses Kindes willen zu leben«, sagte sie. »Man kann so einem kleinen Wesen niemals ansehen, was daraus werden wird«, sagte die Alte. »Denke jetzt an dein Versprechen, daß ich von nun an Erlaubnis habe, zu tun, was ich will«, sagte Barbro mit harter Stimme. »Ja,« sagte die Alte, »aber ich muß doch erst sicher sein, daß es blind ist.« »Willst du mir vielleicht einreden, daß du nicht sehen kannst, wie das Kind beschaffen ist?« fragte Barbro.

Barbro selbst war diesmal weit elender als das vorige Mal. Die ganze erste Woche war sie so schwach, daß sie nicht aus dem Bett herauskommen konnte, und das Kind war nicht drinnen bei ihr; die Alte hielt es in einem der kleinen Heuschuppen, die zu der Alm gehörten, versteckt. Sie war Tag und Nacht mit ihm beschäftigt, gab ihm Ziegenmilch zu trinken und hielt es mit größter Mühe am Leben. Ein paarmal am Tage kam sie damit zur Mutter. Dann drehte sich Barbro nach der Wand um, um es nicht zu sehen.

Eines Tages stand die alte Lisa an dem kleinen Fenster und dachte, was für ein jämmerlich kleines Wesen es doch sei. »Ei, sieh doch,« rief sie plötzlich aus und beugte sich vor, um besser sehen zu können, »hier kommen Leute auf das Haus zu.« Augenblicklich war sie mit dem Kinde bei Barbro. »Du mußt den Kleinen solange nehmen. Ich muß zu den Leuten hinausgehen und ihnen sagen, daß du hier krank im Hause liegst, und daß es nicht geht, daß sie hereinkommen.« Sie legte das Kind in das Bett, und Barbro ließ es liegen, ohne es anzurühren. Es schrie ununterbrochen so laut es konnte. Die alte Lisa kam gleich wieder herein. »Das Kind schreit aber auch wirklich so, daß man es durch den ganzen Wald hören kann«, sagte sie. »Kannst du es nicht zum Schweigen bringen? Es ist rein unmöglich, es den Leuten geheim zu halten, daß wir es hier haben.« Sie lief wieder hinaus, sobald sie das gesagt hatte. Barbro wußte keinen andern Rat, als das Kind an die Brust zu legen.

Die Alte blieb ziemlich lange fort. Als sie dann zurückkam, schlief das Kind, und Barbro lag da und sah es an. »Du brauchst nicht bange zu sein,« sagte die alte Lisa, »sie haben nichts gehört, sie sind einen andern Weg gegangen.« Barbro sah sie mit einem finsteren Blick an. »Du denkst wohl, daß du recht schlau gewesen bist«, sagte sie. »Glaubst du nicht, daß ich recht gut weiß, daß niemand da draußen war, und daß du mich nur ängstigen wolltest, damit ich das Kind nehmen sollte?«

»Ich kann es ja gern wieder hinausnehmen«, sagte die Alte. – »Nein, jetzt kann es hier gern liegen bleiben, bis es erwacht.«

Gegen Abend wollte die alte Lisa wieder mit dem Knaben hinausgehen. Er war jetzt still und lieb und lag da und machte die kleinen Hände auf und zu. »Was machst du des Nachts mit ihm?« fragte Barbro. »Er liegt da draußen im Heuschuppen.« »Läßt du ihn da liegen wie eine junge Katze?« »Ich glaubte, es käme nicht so genau darauf an, was ich mit dem Kinde machte. Aber er kann ja gern hier in der Stube bleiben, wenn du ihn haben willst.«

Als der Junge sechs Tage alt war, saß Barbro aufrecht im Bett und sah zu, wie die alte Lisa ihn wickelte. »Du faßt ihn auch ganz verkehrt an«, sagte Barbro. »Es ist wirklich kein Wunder, daß er so viel schreit.« »Ich habe doch schon andere Kinder gewartet«, sagte die Alte. »Ich sollte meinen, ich verstehe ebenso viel davon wie du.« Barbro antwortete nicht gleich, im stillen aber dachte sie, daß sie nie jemand so ungeschickt mit einem Kinde hatte umgehen sehen. »Du hältst ihn ja so, daß er ganz schwarzblau im Gesicht wird«, sagte sie schließlich ungeduldig. »Ich konnte ja nicht wissen, daß man den Wechselbalg so vorsichtig anfassen muß, als wenn er ein Prinz wäre«, sagte die Alte und wurde böse. »Aber wenn du nicht zufrieden mit mir bist, kannst du es ja selbst tun.« Und als sie das gesagt hatte, warf sie das Kind zu Barbro ins Bett und ging hinaus.

Barbro nahm den Kleinen. Sie wickelte ihn, und bald lag der Junge still und vergnügt in ihrem Arm. »Siehst du wohl, jetzt ist er still,« sagte sie, als sie zurückkam, und dabei sah sie ganz stolz aus. »Ich habe sonst immer gehört, daß ich ganz gut mit Kindern umzugehen weiß«, sagte die Alte wieder, und war dann längere Zeit schlechter Laune.

Von nun an besorgte Barbro das Kind regelmäßig. Eines Tages, als sie noch im Bett lag, bat sie Lisa, ihr eine reine Windel für den Kleinen zu geben. Die Alte antwortete, sie habe keine; sie habe die, die vorhanden seien, noch nicht ausgewaschen. Barbro wurde dunkelrot, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Das Kind hat es auch wirklich nicht besser, als wenn es von einer Bettlerin geboren wäre«, sagte sie heftig. »Das hättest du früher bedenken sollen«, sagte die Alte. »Ich möchte wohl wissen, was du hättest anfangen wollen, wenn ich nicht alles zusammengepackt hätte, was ich an Kinderzeug finden konnte, und es mit hier herauf genommen hätte.« Barbro dachte nach. Die finstere Verzweiflung, in der sie den ganzen Winter gelebt hatte, packte sie von neuem und machte sie hart. »Es wäre besser gewesen, wenn das Kind nie gewickelt und gepflegt wäre«, sagte sie.

Am nächsten Tag stand Barbro auf. Sie nahm Nadel und Fäden und machte sich daran, ein Bettuch zu zerschneiden, um Kinderzeug daraus zu nähen. Als sie eine Weile bei dieser Arbeit gesessen hatte, befielen die finsteren Gedanken sie wieder. »Was nützt es, daß ich dies alles für ihn zurecht mache, es wäre besser, ich ginge mit ihm in das Torfmoor; da enden wir beide doch einmal.« Sie ging nun zu der alten Lisa hinaus, die dasaß und die Kühe melkte, ehe sie in den Wald getrieben werden sollten. »Lisa,« sagte sie zu ihr, »weißt du, wie lange es noch dauern mag, bis wir ganz sicher sein können, daß das Kind nicht sehen kann?« »Ach, das mag wohl noch acht oder vierzehn Tage dauern, ehe man ganz sicher sein kann«, erwiderte die Alte.

Barbro kehrte wieder in das Haus zurück und setzte sich an die Arbeit. Aber sie führte die Schere nicht sicher, sie merkte, daß ihr die Hände zitterten. Dasselbe Zittern verbreitete sich bald über ihren ganzen Körper, und sie mußte alle Augenblicke mit der Arbeit innehalten. »Großer Gott,« dachte sie, »was habe ich nur einmal? Ist es möglich, daß ich mich so darüber gefreut habe, daß ich den Jungen noch einige Wochen behalten darf, daß ich deswegen an allen Gliedern zittere?«

Die alte Lisa hatte es recht schwer da oben auf der Alm. Sie mußte die Kühe auf die Weide treiben und das Melken ganz allein besorgen. Barbro dachte jetzt an nichts weiter als daran, den Jungen zu warten, und war nicht imstande, ihr bei irgend etwas zu helfen. »Mein Gott, Barbro, du könntest doch auch ein klein wenig mehr tun, als dasitzen und den Jungen anstarren«, sagte die Alte eines Tages, als sie ganz ermüdet war. Barbro stand auf und ging zum Hause hinaus, aber auf der Schwelle kehrte sie um. »Später wirst du schon Hilfe bekommen«, sagte sie. »Die paar Tage, die er noch zu leben hat, möchte ich nicht gern von ihm gehen.«

Je lieber nun Barbro den Jungen gewann, um so häufiger sagte sie sich selbst, daß sie ihm keine größere Barmherzigkeit erweisen könne, als ihren ersten Vorsatz auszuführen. Der Junge war noch immer schwach und kränklich. Er nahm kaum zu an Gewicht, und er war nicht viel größer als da er zur Welt kam. Und was ihr am meisten Sorge verursachte, war, daß seine Augen immer geschwollen und rot gerändert waren. Er machte kaum den Versuch, die Augenlider zu heben.

Eines Tages geschah es, daß die alte Lisa davon zu sprechen begann, wie alt das Kind jetzt sei. »Nun ist der Junge schon drei Wochen, Barbro«, sagte sie. »Nein,« sagte Barbro heftig, »morgen wird er erst drei Wochen alt.« »Na ja,« sagte die Alte, »dann habe ich mich wohl verrechnet. Aber ich sollte doch meinen, daß er an einem Mittwoch geboren wurde.«

»Ich finde wirklich, du könntest es mir gönnen, daß ich ihn noch einen Tag behalte«, sagte Barbro.

Als die alte Lisa sich am nächsten Morgen anzog, sagte sie zu Barbro: »Mit der Weide für die Kühe hier in der Nähe sieht es schlecht aus, ich glaube, ich will sie ein Stück weiter in den Wald hineintreiben, wir kommen wohl kaum vor Abend nach Hause.«

Barbro wandte sich heftig nach ihr um; es schien, als wolle sie etwas sagen, aber sie preßte die Lippen zusammen und schwieg. »Wolltest du noch etwas?« fragte die Alte. Es war ihr, als hätte Barbro sie bitten wollen, zu Hause zu bleiben. Aber daraus wurde doch nichts.

Am Abend kam die Alte langsam mit dem Vieh zurück. Sie ging dahin und lockte die Kühe, die Abstecher nach rechts und nach links machten und stehen blieben, sobald sie einen grünen Grasbüschel sahen. Die Alte wurde ungeduldig. Sie schalt auf die eigensinnigen Tiere. »Ach ja,« sagte sie schließlich, »wozu wirst du auch so eifrig, alte Lisa, du kommst doch noch früh genug zu dem, was dich erwartet.«

Als sie die Tür zu der Sennhütte öffnete, saß Barbro mit dem Jungen auf dem Schoß und sang ihm etwas vor. »Ach, mein Gott, Lisa, wo bleibst du doch nur einmal?« rief sie ihr entgegen. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Sieh nur, der Junge hat jetzt Ausschlag bekommen.« Und sie kam mit dem Kinde zu ihr hin und zeigte ihr ein paar rote Flecke an seinem Halse. Die alte Lisa war an der Tür stehen geblieben. Sie schlug die Hände vor Verwunderung zusammen und lachte laut. Barbro sah sie ganz entsetzt an. »Glaubst du denn nicht, daß es gefährlich ist mit dem Ausschlag?« fragte sie. »Das ist morgen schon wieder vorüber«, sagte die Alte und fuhr fort zu lachen. Barbro wurde immer erstaunter, aber schließlich begriff sie, mit welch einer Sorge die Alte sich gerade heute getragen hatte. »Ja, es wäre besser für uns alle gewesen, wenn ich es getan hätte«, sagte sie. »Und es war wohl auch deine Ansicht, da du heute wegbliebst.« »Ich lag über Nacht im Bett und dachte daran, was ich nur einmal tun sollte«, erwiderte die Alte. »Und da sagte mir etwas, der Junge da würde wohl am besten aufgehoben sein, wenn ich dich nur mit ihm allein ließe.«

Als alle Abendarbeit verrichtet war, und sie zu Bett gehen wollten, sagte die alte Lisa zu Barbro: »Ist es jetzt ganz sicher, daß du den Jungen am Leben lassen willst?« »Ja,« sagte Barbro, »wenn der liebe Gott ihm jetzt Gesundheit geben will, so daß ich ihn behalten darf.« »Aber wenn er nun blind wird und noch obendrein blödsinnig?« »Daß er das ist, weiß ich ja schon,« sagte Barbro, »aber ich kann ihm doch nichts antun; wie er auch ist, will ich dankbar sein, wenn ich ihn nur pflegen darf.«

Die Alte setzte sich auf die Bettkante und dachte nach. »Da es nun so gekommen ist,« sagte sie, »so willst du wohl an Ingmar schreiben?« Barbro sah sie entsetzt an. »Ich glaubte, du wolltest gern, daß das Kind leben sollte«, sagte sie. »Aber wenn du an Ingmar schreibst, dann stehe ich nicht dafür ein, was ich tue.« »Ja, dann kann ich nicht begreifen, wie du es machen willst?« sagte die Alte. »Ein jeder, der erfährt, daß du ein Kind hast, kann es ihm ja schreiben.« »Ich habe auch gedacht, ich wollte versuchen, es alles geheimzuhalten, bis sich Ingmar mit Gertrud verheiratet hat.«

Die alte Lisa saß wieder stumm da und sann lange über diese Worte nach. Sie konnte deutlich sehen, daß Barbro noch immer imstande war, sich selbst etwas anzutun, daher wagte sie nicht, ihr zu widersprechen. »Du bist sehr gut gegen uns Alten auf dem Ingmarshof gewesen«, sagte sie zögernd. »Du kannst dich nicht darüber wundern, daß ich dich gern als Hausfrau behalten möchte.« »Bin ich jemals gut gegen dich gewesen?« erwiderte Barbro, »dann kannst du mir das tausendmal vergelten, wenn du mir in dieser Sache meinen Willen läßt.«

Barbro setzte durch, was sie wollte, und der ganze Sommer verging, ohne daß irgend jemand erfuhr, daß das Kind da war. Wenn Leute auf die Alm hinaufkamen, wurde der Junge drüben im Heuschuppen versteckt. Barbros größte Sorge war, wie sie es machen sollte, ihn zu verbergen, wenn der Herbst kam, und sie ins Dorf zurückkehren mußte. Darüber sann sie jeden Tag nach.

Aber mit jeder Stunde gewann sie das Kind lieber, und mit der Liebe kehrte etwas von ihrer alten Gemütsruhe zurück. Der Junge wurde auch nach und nach kräftiger, obwohl er nur langsam wuchs und sich entwickelte. Den ganzen Sommer schrie er viel, und die Augenlider waren immer so rot und geschwollen, daß er sie kaum öffnen konnte. Barbro zweifelte keinen Augenblick daran, daß er blödsinnig war, und obwohl sie jetzt nie anders mehr dachte, als daß sie ihm das Leben lassen wollte, hatte sie doch manch eine schwere Stunde um seinetwillen. Namentlich des Nachts meldeten sich die schwermütigen Gedanken, und dann pflegte sie aufzustehen und sich vor das Kind hinzustellen und es anzusehen. Es war ein sehr häßliches Kind, mit gelblicher, bleicher Hautfarbe und dünnem, rötlichem Haar. Die Nase war zu kurz und die Unterlippe zu groß, und wenn es schlief, zog es die Augenbrauen zusammen, so daß es tiefe Runzeln in der Stirn hatte. Wenn Barbro den Jungen ansah, war es ihr, als habe er ein echtes Idiotengesicht, und sie lag da und weinte ganze Nächte darüber, daß er nun so ein armes, unglückliches Geschöpf werden sollte. Aber früh am Morgen erwachte das Kind, und wenn es dann ausgeschlafen hatte, lag es fröhlich in seinem kleinen Korb, der ihm als Wiege diente, und streckte die Arme nach Barbro aus, wenn sie mit ihm plauderte.

Dann wurde Barbro wieder still und geduldig. »Ich glaube nicht, daß andere Mütter, die gesunde, frische Kinder haben, mehr Liebe zu ihnen fühlen können, wie ich zu diesem armen Kleinen«, sagte sie zu der alten Lisa.

Die Zeit verstrich, und der Sommer ging bald zur Rüste. Barbro hatte sich noch nicht ausgedacht, was sie tun wollte, um das Kind nach der Heimkehr verborgen zu halten. Zuweilen meinte sie, es bleibe ihr nichts weiter übrig, als außer Landes zu reisen.

An einem dunklen Abend zu Anfang September war sehr schlechtes Wetter, es regnete und stürmte. Barbro und Lisa hatten Feuer auf dem Herd angemacht und saßen da und wärmten sich daran. Barbro hatte das Kind auf dem Schoß liegen, und wie gewöhnlich saß sie da, und dachte darüber nach, was sie tun sollte, damit Ingmar nichts erführe.

Sonst kommt er zu mir zurück, dachte sie. Ich weiß nicht, wie ich ihm dann begreiflich machen soll, daß ich die Last allein tragen will.

Während sie so in diese Gedanken versunken dasaß, tat sich die Tür zu der Sennhütte plötzlich auf, und ein Wanderer kam herein.

»Gott zum Gruß, allhier«, grüßte der Mann. »Welch Glück, daß ich dies Haus gefunden habe. Ich konnte in dieser Stockfinsternis nicht ins Dorf zurückfinden, aber da fiel mir ein, daß die Alm vom Ingmarshof hier in dieser Gegend liegen müsse.«

Der Mann war ein armer Tropf, der in seinen jungen Jahren als Hausierer herumgezogen war. Jetzt hatte er nichts mehr zu verkaufen, sondern ging herum und bettelte. Er war freilich nicht so arm, daß er gezwungen gewesen wäre, die Barmherzigkeit anderer in Anspruch zu nehmen, um leben zu können, aber er konnte sich nicht entschließen, seine alte Gewohnheit aufzugeben, von Hof zu Hof zu gehen und Neuigkeiten auszukramen.

Das erste, was er in der Sennhütte erblickte, war natürlich das Kind. Er machte große Augen, als er es sah.

»Wessen Kind ist das?« fragte er sogleich. Beide Frauen schwiegen einen Augenblick, dann sagte die alte Lisa kurz und bestimmt: »Es gehört Ingmar Ingmarsson.«

Der Mann sah noch erstaunter aus. Er ward auch ganz verlegen, daß er in etwas hineingeraten war, wovon er vielleicht nichts wissen wollte. In seiner Verwirrung beugte er sich über das Kind. »Wie alt mag so ein kleiner Bursche wohl sein?« sagte er. Jetzt beeilte sich Barbro zu antworten: »Er ist einen Monat alt.«

Der Mann war unverheiratet und verstand sich nicht viel auf Kinder. Er konnte nicht sehen, daß Barbro ihn betrog. Er sah sie ganz entsetzt an, während sie ganz ruhig dasaß. »Ach, ist er nicht älter als einen Monat?« fragte er. »Nein«, erwiderte Barbro, auf ihre ruhige Weise. Der Mann wurde rot und verlegen, so alt er war. Er bemerkte wohl, daß die alte Lisa Barbro warnende Zeichen gab, aber die saß mit stolz erhobenem Kopf da und achtete nicht darauf. »Die Alte schämt sich nicht zu lügen,« dachte er, »aber Barbro kann man ansehen, daß sie sich zu gut dafür hält.«

Am nächsten Morgen nahm er Barbros Hand und drückte sie vertraulich. »Ich werde schon schweigen«, sagte er. »Ja, darauf rechne ich«, sagte Barbro.

»Ich kann wirklich nicht begreifen, was dir in den Sinn kam, Barbro«, sagte die alte Lisa sogleich als er gegangen war. »Warum belogst du dich selbst?« »Mir blieb nichts anderes zu tun übrig«, sagte Barbro. »Du kannst doch begreifen, daß der Hausierer Johannes so etwas nicht verschweigt!« »Er soll es auch gar nicht verschweigen.« »Willst du denn, daß die Leute glauben sollen, daß es nicht Ingmars Kind ist?« »Ja,« sagte Barbro, »jetzt ist es ja unmöglich, es länger verborgen zu halten. Es bleibt uns jetzt nichts weiter übrig, als die Leute das glauben zu lassen.« »Und du bildest dir ein, daß ich darauf eingehen werde?« sagte die Alte. »Das wirst du wohl tun müssen, wenn du nicht willst, daß der arme Blödsinnige Erbe auf dem Ingmarshof werden soll.«

Mitte September pflegten alle, die im Sommer auf der Alm gewesen waren, mit dem Vieh heimzukehren. Barbro und Lisa zogen dann auch nach dem Ingmarshof zurück. Sie merkten sogleich, daß die Neuigkeit über Barbro sich in der ganzen Gegend verbreitet hatte. Sie versuchte jetzt auch nicht mehr, es geheimzuhalten, daß sie ein Kind hatte, aber sie war immer bange davor, daß irgend jemand es zu sehen bekäme. Sie verbarg es immer in der kleinen Kammer hinter der Braustube bei der alten Lisa. Es schien, als könne sie es nicht ertragen, daß jemand es ansehen und entdecken sollte, wie elend es war, und daß es nie werden würde wie ein anderer Mensch.

Es war nicht zu verwundern, daß Barbro in diesem Herbst viel beklatscht wurde. Die Leute machten sich nichts daraus zu verbergen, welche Gedanken sie über sie hegten, und Barbro wurde bald so menschenscheu, daß sie niemals aus dem Hause ging. Aber auch das Gesinde auf dem Hof war anders als sonst gegen sie. Die Knechte und Mägde machten gehässige Anspielungen, wenn sie es hören konnte, es war schwer für sie, sich Gehorsam zu verschaffen.

Dem wurde jedoch bald ein Ende gemacht. Der starke Ingmar war auf den Hof gezogen und hatte ihn während der Zeit bewirtschaftet, seit sich Ingmar im fremden Lande aufhielt. Er hörte eines Tages, wie einer der Knechte Barbro eine unhöfliche Antwort gab, und da versetzte er dem Kerl eine solche Ohrfeige, daß er gegen die Wand flog. »Höre ich noch ein einziges Mal so etwas, so kannst du mehr von der Sorte bekommen«, sagte der starke Ingmar.

Barbro sah ihn erstaunt an. »Ich danke dir«, sagte sie. Er wandte sich um und warf ihr einen wütenden Blick zu. »Nichts zu danken«, sagte er. »Aber so lange du Herrin auf dem Ingmarshofe bist, will ich dafür sorgen, daß dir das Gesinde den Respekt erzeigt, wie er dir zukommt.«

Späterhin im Herbst kam ein Brief aus Jerusalem, daß Ingmar und Gertrud aus der Kolonie abgereist seien. »Vielleicht sind sie schon daheim, wenn diese Zeilen zu euch kommen«, stand da im Brief. Als Barbro dies erfuhr, empfand sie es zu Anfang als große Erleichterung. Jetzt war sie sicher, daß Ingmar die Scheidung vollziehen lassen würde, und wenn er erst frei geworden war, brauchte sie nicht einen einzigen Tag mehr die schwere Last der Verachtung zu tragen, die sie jetzt niederdrückte.

Aber späterhin am Tage, als sie ihrer gewöhnlichen Beschäftigung nachging, kehrten die Tränen wieder und wieder in ihre Augen zurück. Es versetzte ihr einen Stich durch das Herz, daß jetzt alles zwischen ihr und Ingmar vorbei war. Es war so unglaublich traurig, daß sie beide nun nichts mehr miteinander zu tun haben sollten.

* * *

Eines Vormittags, spät im Herbst, gingen viele Menschen im Schulhause aus und ein. Gertrud war am vorhergehenden Tage nach Hause gekommen, und nun hatte sie einen großen Tisch in Mutter Stinas Küche aufgestellt, und darauf alle die Geschenke an die Leute im Kirchsprengel ausgebreitet, die sie aus Jerusalem mitgebracht hatte. Sie hatte durch die Schulkinder weit und breit Nachricht an alle gesandt, die Freunde und Verwandte unter den Kolonisten hatten, daß sie nach der Schule kommen sollten. Und nun kamen sie daher gewandert: Hök Matts und Ljung Björns Bruder Per, und viele, viele andere. Und Gertrud gab jedem, was er haben sollte und erzählte dabei von Jerusalem, von der Kolonie und von allem dem Wunderbaren, das den Auswanderern da drüben in dem heiligen Lande widerfahren war. Bo Maansson war auch den ganzen Vormittag im Schulhause und half Gertrud erzählen. Aber Ingmar ließ sich nicht blicken. Während der ganzen Reise hatte er geglaubt, daß das, was Karin ihm von Barbro erzählt hatte, loses Gewäsch sei, aber als er ins Dorf zurückkehrte und erfuhr, daß es Wahrheit war, meinte er erst, daß er es nicht ertragen könne, einen Menschen zu sehen. Er war bei Bos Eltern eingekehrt. Dort konnte er in Ruhe sein, so lange er wollte; niemand beachtete ihn oder sprach mit ihm.

Gegen Mittag nahm der Volksstrom nach dem Schulhause ab, und es traf sich so, daß Gertrud einen Augenblick allein in der Küche war. Da trat eine große und stattliche Frau ein. »Wer mag das sein,« dachte Gertrud, »es ist doch sonderbar, daß hier im Kirchsprengel jemand ist, den ich nicht kenne.«

Die fremde Frau kam auf Gertrud zu und reichte ihr die Hand. »Ich kann mir denken, daß du Gertrud bist«, sagte sie. »Ich wollte dich nur fragen, ob es wahr ist, was ich gehört habe, daß Ingmar sich nicht mit dir verheiraten will?« Gertrud war nahe daran, böse darüber zu werden, daß eine Unbekannte sie so ohne weiteres mit einer solchen Frage überfiel. Aber plötzlich ward es ihr klar, daß dies Barbro Sven Perssons Tochter, Ingmars Frau, sein müsse.

»Nein, Ingmar hat nicht die Absicht, sich mit mir zu verheiraten«, sagte sie. Die andere seufzte und ging auf die Tür zu. »Ich wollte es nicht glauben, ehe ich es nicht mit meinen eigenen Ohren gehört hatte«, sagte sie.

Barbro dachte nur an die Schwierigkeiten, die ihr dies bereiten würde. Hier kam nun Ingmar nach Hause, los und ledig, und wahrscheinlich trug er noch dieselbe Liebe zu ihr im Herzen, wie damals, als er abgereist war. »Jetzt glaube ich, werde ich es nie im Leben eingestehen, daß das Kind ihm gehört«, dachte sie. »Ich bin überzeugt, er würde sich der ganzen Welt gegenüber entehrt halten, wenn er mich mit dem kranken Kinde allein ließe. Er würde mich bitten, wieder seine Frau zu werden, und dazu könnte ich gewiß nicht nein sagen, und dann hätten wir dasselbe Elend von neuem wieder. Aber hart genug ist es, daß ich mein ganzes Leben hindurch eine Schande tragen soll, die ich nicht verschuldet habe.«

Als sie in der Tür stand, wandte sie sich nach Gertrud um. »Ingmar kommt jetzt wohl nicht auf den Hof zurück?« fragte sie mit leiser Stimme. »Er darf wohl nicht nach Hause kommen, so lange ihr nicht richtig geschieden seid«, sagte Gertrud. »Er würde auch doch wohl nicht nach Hause kommen«, meinte Barbro.

Gertrud ging schnell auf Barbro zu. »Ich will dir etwas sagen«, rief sie aus. »Ich glaube, daß du dich selbst belügst. Das habe ich die ganze Zeit gedacht und jetzt, wo ich dich gesehen habe, bin ich überzeugt davon.« »Wie kann ich lügen?« sagte Barbro. »Ich habe ja ein Kind.« »Du begehst ein Unrecht gegen Ingmar,« sagte Gertrud, »so wie er sich nach dir gesehnt hat. Er geht vollständig zugrunde, wenn du ihm nicht die Wahrheit sagst.« »Da ist nicht viel zu sagen«, sagte Barbro. Gertrud stand da und sah sie an, als wolle sie sie mit ihrem Blick zwingen. »Kannst du Ingmar eine Nachricht zukommen lassen?« fragte Barbro. »Freilich kann ich ihm eine Nachricht zukommen lassen.« »Dann sage ihm, daß der starke Ingmar im Sterben liegt. Er muß durchaus nach Hause kommen und Abschied von ihm nehmen. Mich braucht er ja nicht zu sehen.« »Es wäre aber das beste für euch beide, wenn ihr euch sähet«, sagte Gertrud.

Barbro ging jetzt wieder auf die Tür zu, aber als sie sie geöffnet hatte, wandte sie sich um. »Es ist doch nicht wahr, daß Ingmar blind ist?« »Er hat das eine Auge verloren, aber das andere ist jetzt wieder gesund.« »Hab Dank«, sagte Barbro. »Ich freue mich, daß ich dich gesehen habe«, fügte sie hinzu und sah Gertrud an. Bei diesen Worten schloß sie die Tür und war fort.

Es mochte wohl eine Stunde vergangen sein. Ingmar befand sich auf dem Wege nach dem Ingmarshof, um von dem starken Ingmar Abschied zu nehmen. Er ging nicht schnell; es war, als wenn jeder Schritt, den er machte, ihm Überwindung kostete. In einiger Entfernung vom Wege lag eine kleine armselige Hütte. Als Ingmar noch ziemlich weit davon entfernt war, sah er einen Mann und eine Frau aus der Tür kommen. Der Mann sah arm und zerlumpt aus, und es war Ingmar, als könne er sehen, daß die Frau ihm etwas in die Hand steckte. Sie eilte den Weg hinab und ging weiter auf den Ingmarshof zu.

Als Ingmar an der Hütte vorüberkam, stand der Mann noch auf der Türschwelle. Er hielt etwas Silbergeld in der Hand, und er war im Begriff, es nachzuzählen. Jetzt sah Ingmar, wer der Mann war. Es war Stig Börnjesson.

Stig sah nicht auf, bis Ingmar vorübergegangen war. Da begann er hinter ihm herzurufen: »Warte doch, Ingmar, warte doch! Zum Teufel auch, warte doch! Ich will mit dir reden!« Er lief den Weg hinab. Aber da Ingmar weiterging, ohne sich auch nur umzusehen, schien es, als wenn er ärgerlich würde. »Ja, dann gehe nur, meinetwegen«, rief er ihm nach. »Ich hätte dir sonst etwas erzählt, worüber du dich gefreut haben würdest.«

Einige Augenblicke später hatte Ingmar fast die Frau eingeholt, die eben aus Stig Börnjessons Hütte gekommen war. Sie hatte es offenbar sehr eilig und ging so schnell sie konnte. Als sie Schritte hinter sich hörte, glaubte sie, daß es Stig sei und sagte, ohne sich umzuwenden: »Du mußt mit dem zufrieden sein, was ich dir gegeben habe. Ich habe nicht mehr Geld.«

Ingmar sagte nichts, sondern ging noch schneller. »In der nächsten Woche sollst du mehr haben. Du darfst nur nicht mit Ingmar darüber reden«, sagte sie. Im selben Augenblick hatte Ingmar sie eingeholt und legte die Hand auf ihre Schulter. Sie riß sich los und wandte sich mit einem zornigen Ausdruck um.

Als sie sah, daß es Ingmar war und nicht Stig, der hinter ihr stand, schlug sie die Hände zusammen, wie jemand, der freudig überrascht ist. Aber als Ingmars Augen den ihren begegneten, hob er langsam den Arm in die Höhe und seine Augenbrauen zogen sich zu einer tiefen Falte zusammen. Er sah so aus, als habe er Lust, sie zu Boden zu schlagen.

Sie erschrak nicht, sie stand still und sah ihn einen Augenblick an. Dann zog sie sich ruhig zurück. »Ach nein, Ingmar,« sagte sie, »mache dich um meinetwillen nicht unglücklich.«

Ingmar ließ den Arm sinken. »Ich muß dich um Verzeihung bitten«, sagte er steif und kalt. »Ich konnte es nicht ertragen, dich mit Stig zusammen zu sehen.« Barbro antwortete ganz ruhig: »Glaub' mir, Ingmar, ich würde jedem dankbar sein, der mich von dem Leben befreit.«

Ohne noch ein Wort zu sagen, ging Ingmar auf die andere Seite des Weges hinüber und wanderte schweigend weiter. Auch Barbro sprach nicht. Wieder und wieder traten ihr Tränen in die Augen. »Wenn ich denke, daß er nicht einmal mit mir reden will, nachdem wir uns so lange Zeit nicht gesehen haben! Ach, daß wir beide so unglücklich sein müssen!«

»Es wird gewiß besser sein, wenn ich ihm die Wahrheit erzähle«, dachte sie. »Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß er mich verachtet. Es ist besser, wenn ich ihm die ganze Wahrheit erzähle und mir dann das Leben nehme.«

Plötzlich begann sie, mit ihm zu reden. »Du fragst gar nicht, wie es mit dem starken Ingmar steht?« »Ich bin ja bald zu Hause, dann werde ich es selbst sehen«, sagte Ingmar mürrisch.

»Er kam heute morgen zu mir,« sagte Barbro, »und erzählte mir, daß er über Nacht Botschaft erhalten habe, daß er heute sterben solle.« »Ist er denn nicht krank?« fragte Ingmar. »Er ist das ganze Jahr von Gicht geplagt gewesen, und hat oft darüber geklagt, daß du nicht zurückkämst, damit er sterben könne. Er sagte, er könne nicht von hier fort, ehe du von der Wallfahrt heimkehrtest.« »Aber ist denn heute nicht etwas Besonderes mit ihm vorgegangen?« »Nein, er ist nicht mehr krank als sonst. Aber er glaubt steif und fest, daß er sterben soll, und er hat sich in das Bett in der Kammer gelegt. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, daß er es alles genau so haben will, wie dein Vater es gehabt hat, als er starb. Wir mußten zum Pfarrer und zum Doktor schicken, wie sie zu dem großen Ingmar geholt worden waren. Er fragte auch nach der hübschen Decke, die über des großen Ingmars Bett gebreitet war, aber die war nicht mehr auf dem Hofe. Sie war auf der Auktion verkauft.« »Ja, auf der Auktion ist viel verkauft worden«, fiel Ingmar ein. »Eins von den Mägden meinte, sie könne sich entsinnen, daß Stig Börnjesson die Decke gekauft habe. Und da dachte ich, ich müßte sie zur Stelle schaffen, damit der starke Ingmar es so haben könne, wie er es wünschte. Und es traf sich so glücklich, daß ich sie zurückkaufen konnte. Hier habe ich sie«, sagte sie und zeigte auf ein Bündel, das sie in der Hand trug.

»Du bist immer gut gegen den Alten gewesen«, sagte Ingmar. Seine Stimme war sehr kalt und hart, obwohl die Worte freundlich sein sollten. Dann sagte er nichts mehr, sondern versank wieder in Schweigen. Barbro sah mit sehnsuchtsvollem Blick vor sich hin. »Wie entsetzlich lang doch der Heimweg ist«, dachte sie. »In der ersten halben Stunde erreichen wir den Hof nicht. Und während der ganzen Zeit muß ich hier gehen und mit ansehen, wie unglücklich er ist. Und ich weiß keine Hilfe für ihn. Es würde nur noch schlimmer werden, wenn ich ihm die Wahrheit sagte. Dann würde er ja sein Leben wieder an das meine knüpfen. Aber nie, nie im Leben ist mir etwas so Schweres widerfahren.«

Sie versuchte schneller zu gehen, aber der Weg war lang für sie und Ingmar. Die schweren Gedanken klammerten sich an sie fest und hemmten ihre Schritte.

Endlich waren sie so weit gekommen, daß sie durch das Tor auf den Hofplatz gehen mußten. Hier stellte sich Ingmar Barbro in den Weg.

»Ich will jetzt die Gelegenheit benutzen und dich nach etwas fragen, was ich für uns beide ersonnen habe«, sagte er. »Und wenn du nicht darauf eingehst, dann sehen wir uns vielleicht nie wieder. Mein Vorschlag geht da hinaus, daß wir die Scheidung zurückgehen lassen.«

Ingmars Stimme war kühl und hart, und sein Blick ruhte nicht auf Barbro, sondern auf dem alten Hof, der vor ihm lag. Er nickte den Scheunen zu, die ihn mit ernsten Augen aus Luken und offenen Fenstern anzusehen schienen. »Ja, die haben die Augen jetzt auf mich gerichtet«, murmelte er. »Sie wollen wohl sehen, ob ich jetzt endlich gelernt habe, Gottes Wege zu gehen.«

»Ich habe den ganzen Tag viel über die Zukunft nachgedacht«, sagte Ingmar laut. »Ich kann einen Menschen wie Barbro nicht zugrunde gehen lassen, habe ich zu mir selbst gesagt. Es ist meine Pflicht, mich ihrer anzunehmen. Aber wie Mann und Frau auf gewöhnliche Weise können wir nicht leben. Und nun wollte ich dich fragen, ob du nicht Lust hättest, mit mir nach Jerusalem zu gehen, dann könnten wir beide in die Kolonie eintreten. Es sind gute Menschen und viele von unseren Angehörigen darunter, und du würdest dich dort bald heimisch fühlen.« Er machte eine kleine Pause um zu hören, was sie sagen würde.

»Würdest du den Hof um meinetwillen verlassen?« »Ich will nur das tun, was recht ist.«

Seine Stimme war so kühl, daß es sie durchschauerte. »Du hast schon dein eines Auge da drüben verloren, und ich habe gehört, daß du nach Hause reisen mußtest, um nicht ganz zu erblinden.« »Daran darfst du nicht denken,« sagte Ingmar, »alles wird schon gehen, wenn man nur tut, was recht ist.«

Barbro dachte wieder, daß es ein wahres Werk der Barmherzigkeit sein würde, wenn sie Ingmar die Wahrheit sagte. In ihr stritt und kämpfte es, aber sie hatte doch Kraft genug zu schweigen. »Nein, ich will nicht ein so großes Unglück über ihn bringen«, dachte sie. »Es ist am besten, daß sich unsere Wege trennen, sonst weiß ich, daß ich mir das Leben nehmen muß.«

Als sie schwieg, sagte Ingmar: »Jetzt wird die Trennung zwischen uns lang, Barbro.« »Ja«, sagte sie. Sie reichte ihm die Hand, und er nahm sie, und als er sie in der seinen hielt, lief ein Zittern durch seinen Körper. Einen Augenblick sah es so aus, als wolle er Barbro in einer leidenschaftlichen Umarmung an sich ziehen. »Ich will hineingehen und dem starken Ingmar erzählen, daß du gekommen bist«, sagte sie. »Ja, tue du das«, sagte Ingmar und ließ schnell ihre Hand los.

* * *

Der starke Ingmar lag in der Kammer im Bett. Er hatte keine Schmerzen, aber das Herz schlug schwach, und mit jedem Augenblick, der verging, wurde ihm das Atmen schwerer. »Jetzt bin ich überzeugt, daß ich heute sterben werde«, dachte er.

Solange er allein lag, hatte er die Violine neben sich. Von Zeit zu Zeit klimperte er ganz leise auf den Saiten, und dann war es ihm, als wenn er eine von den alten Melodien wieder höre. Als der Pfarrer und der Doktor kamen, legte er die Violine weg und redete mit ihnen über alles, was ihm im Leben an merkwürdigen Dingen widerfahren war. Am meisten aber sprach er von dem großen Ingmar, und von den Wichtelmännern im Walde, die lange Zeit hindurch seine Freunde gewesen waren. Aber von dem Augenblick an, als Hellgum den Rosenbusch vor seiner Hütte abgehauen hatte, war es für ihn nicht mehr so gut in dieser Welt gewesen. Die Wichtelmänner hatten ganz aufgehört, ihm beizustehen, und er war von allen möglichen Krankheiten heimgesucht worden. »Der Herr Pfarrer kann nicht glauben, wie ich mich freute,« sagte er, »als der große Ingmar über Nacht zu mir kam und sagte, daß ich seinen Hof nicht länger zu bewirtschaften brauchte, sondern mich zur Ruhe begeben könne.«

Er war sehr feierlich, und es war leicht zu sehen, daß er fest überzeugt war, daß er sterben müsse. Der Pfarrer sagte ein paar Worte, daß er ja gar nicht so krank aussehe, aber der Doktor, der ihn untersucht und seinem Herzschlag gelauscht hatte, sagte ganz ernsthaft: »Nein, nein, der starke Ingmar weiß wohl, was er sagt. Er liegt hier nicht umsonst und wartet auf den Tod.«

Als Barbro hineinkam und ihm die prächtige Decke über sein Bett breitete, erbleichte er ein wenig. »Jetzt ist es wohl bald mit mir zu Ende«, sagte er. Er nahm Barbros Hand und streichelte sie. »Hab Dank hierfür und Dank für alles. Und dann mußt du mir verzeihen, wenn ich in der letzten Zeit hart gegen dich gewesen bin.« Barbro schluchzte. Es hatte sich zu viel Kummer und Trauer in ihrem Herzen angesammelt, daß es ihr jetzt nicht leicht wurde, das Weinen zurückzuhalten. Der Alte streichelte ihre Hand noch einmal und lächelte ihr zu: »Nun können wir Ingmar wohl bald zurückerwarten«, sagte er. »Er ist gekommen«, sagte Barbro. »Ich wollte nur vorausgehen, und es dir erzählen.«

Als Ingmar eintrat, richtete sich der Alte mit Mühe im Bett auf und streckte die Hand nach ihm aus. »Sei mir willkommen«, sagte er. Ingmar wurde betrübt als er ihn sah. »Nie hätte ich geglaubt, daß du mir den Kummer antun würdest, dich an dem Tage meiner Heimkehr zum Sterben zu legen.« »Du mußt mir deswegen nicht zürnen«, sagte der Alte, gleichsam entschuldigend. »Du weißt wohl noch, daß mir der große Ingmar versprach, daß ich zu ihm kommen sollte, sobald du von der Wallfahrt heimgekehrt seist.«

Ingmar setzte sich auf den Rand des Bettes. Der Alte lag da und streichelte ihm die Hand, aber er sagte lange Zeit hindurch nichts. Man konnte sehen, daß der Tod herankam, und er wurde immer bleicher, und der Atem ging in ein schweres Stöhnen über.

Da verließ Barbro die Stube, und nun fing er an, Ingmar auszufragen. »Hast du eine gute Heimkehr gehabt?« fragte er und sah ihn scharf an. »Ja«, sagte Ingmar ruhig und streichelte ihm die Hand. »Es war eine gute Reise.« »Man hatte hier erzählt, du würdest Gertrud mit zurückbringen?« »Ja,« sagte Ingmar, »sie ist mit zurückgekommen, und nun wird sie sich mit Bo Maansson, meinem Vetter, verheiraten.« »Freust du dich darüber, Ingmar?« »Ich freue mich sehr darüber«, sagte Ingmar mit fester Stimme.

Der Alte sah ihn forschend an. Er schüttelte den Kopf. Es schien, als sei hier vielerlei, was er nicht verstünde. »Wie geht es mit deinen Augen?« fragte er. »Eins habe ich drüben in Jerusalem verloren«, erwiderte Ingmar. »Freust du dich darüber auch?« fragte der Alte. »Du weißt wohl, starker Ingmar, daß der liebe Gott ein Pfand von dem haben will, dem er ein so großes Glück schenkt.« »Hast du denn ein so großes Glück empfangen?« »Ja,« sagte Ingmar, »mir ist die Gnade zuteil geworden, daß ich das wieder gut machen konnte, was ich gesündigt hatte.«

Der Sterbende begann jetzt, sich im Bett zu drehen und zu wenden. »Hast du jetzt Schmerzen?« fragte Ingmar. »Nein, aber ich habe Sorgen«, sagte der Alte. »Kannst du mir nicht erzählen, was es ist?« »Du belügst mich wohl nicht, Ingmar, damit ich einen ruhigen Tod haben kann?« fragte der Alte mit großer Zärtlichkeit. Ingmar wurde überrumpelt, er verlor ganz die angenommene Ruhe und brach in ein schluchzendes Weinen aus.

»Sage du lieber die Wahrheit«, sagte der Alte. Ingmar wurde gleich wieder still und ruhig. »Ich muß wohl weinen, wenn ich einen solchen Freund verliere, wie du es mir gewesen bist.«

Nun wurde der Alte immer unruhiger, und der kalte Schweiß perlte ihm von der Stirn. »Du bist erst ganz kürzlich hierher ins Land gekommen«, sagte er schließlich. »Da weiß ich nicht, ob du die Neuigkeiten hier auf dem Hof gehört hast?« »Ja,« sagte Ingmar, »das, woran du denkst, erfuhr ich schon in Jerusalem.« »Ich hätte besser auf das acht geben sollen, was dein war«, sagte der Alte. »Ich will dir etwas sagen, starker Ingmar, du tust großes Unrecht, falls du schlecht von Barbro denkst.« »Tue ich unrecht?« fragte der Alte. »Ja«, sagte Ingmar mit erhobener Stimme. »Es ist gut, daß ich nach Hause gekommen bin, da hat sie doch jemand, der sie verteidigen kann.«

Der Alte wollte antworten; aber Barbro, die in die gute Stube gegangen war, um das Kaffeebrett für die Fremden herzurichten, hatte die ganze Unterredung durch die halbgeöffnete Tür gehört. Sie ging jetzt schnell in die Kammer und trat an Ingmar heran, als wolle sie etwas sagen. Aber im letzten Augenblick schien sie auf andere Gedanken zu kommen. Sie beugte sich statt dessen über den Alten nieder und fragte ihn, wie es ihm jetzt gehe. »Ja, jetzt geht es mir besser, nachdem ich mit Ingmar geredet habe.« »Ja, mit ihm ist gut zu reden«, sagte Barbro still, und trat an das Fenster und setzte sich.

Jetzt ward es allen klar, daß der starke Ingmar sich auf den Heimgang vorbereitete. Er lag mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen da. Alle verhielten sich ganz stille, um ihn nicht zu stören.

Aber die Gedanken des starken Ingmar kehrten immer wieder zu dem Tage zurück, als der große Ingmar starb. Er sah die Stube vor sich, so wie sie war, als er kam, um ihm Lebewohl zu sagen. Er erinnerte sich der kleinen Kinder, die sein Herr gerettet hatte, und die bei ihm auf dem Bette saßen, als er starb. Während er hieran dachte, wurde ihm sehr weich ums Herz. »Siehst du, großer Ingmar, du bist mir weit voraus,« flüsterte er, denn er verstand wohl, daß sein Jugendfreund in diesem Augenblick nicht fern von ihm war. »Der Pfarrer und der Doktor sind hier, und deine Decke liegt jetzt über mein Bett gebreitet, aber ein kleines Kind, das ich an das Fußende des Bettes setzen könnte, kann ich nicht bekommen.«

Kaum war dies gesagt, als er eine Stimme sagen hörte: »Hier ist ein kleines Kind im Hause, dem du in deiner letzten Stunde eine Wohltat erweisen könntest.«

Als der starke Ingmar dies hörte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Es war ihm gleich, als wenn er verstehe, was er zu tun habe. Mit einer Stimme, die jetzt sehr schwach geworden, aber trotzdem noch ganz verständlich war, begann er, sich zu beklagen, daß der Pfarrer und der Doktor so lange auf seinen Tod warten müßten. »Aber da der Herr Pfarrer nun doch einmal hier sind,« sagte er, »so will ich ihm doch erzählen, daß hier im Hause ein ungetauftes Kind ist, und ich möchte den Herrn Pfarrer gern bitten, ob er nicht so gut sein will, und es taufen, während er wartet.«

Es war still im Zimmer gewesen, bevor dies gesagt wurde, aber noch stiller wurde es hinterher. Dann aber sagte der Pfarrer: »Es ist gut, daß du daran dachtest, starker Ingmar, dafür hätten wir andern schon lange sorgen sollen.«

Barbro erhob sich ganz entsetzt. »Ach nein, das wollen wir jetzt wohl doch nicht tun«, sagte sie. Sie hatte immer gedacht, daß, wenn der Junge getauft werden sollte, sie ja erzählen müßte, wer der Vater war, und aus diesem Grunde hatte sie die Taufe hinausgeschoben. »Wenn ich erst wirklich von Ingmar geschieden bin, will ich ihn taufen lassen«, hatte sie gedacht. Nun war sie so erschrocken, so daß sie nicht wußte, wonach sie greifen sollte. »Du könntest mir gern die Freude gönnen, mich in meiner letzten Stunde ein gutes Werk tun zu lassen«, sagte der starke Ingmar, und wiederholte die Worte, die er schon einmal zu hören gemeint hatte. »Nein, das kann nicht geschehen«, sagte Barbro.

Nun kam auch der Doktor und legte ein Wort dafür ein, daß der Alte seinen Willen haben solle. »Ich bin überzeugt, der starke Ingmar wird leichter atmen können, wenn er an etwas anderes zu denken hat, als daß er nun bald sterben muß.« Barbro hatte ein Gefühl, als sei sie mit eisernen Ketten gebunden, weil sie sie hierum in einem Zimmer baten, wo ein Mensch in seinen letzten Zügen lag. Leise jammernd sagte sie: »Ihr könnt doch begreifen, daß es sich nicht machen läßt.« Der Pfarrer trat zu Barbro hin und sagte ernsthaft: »Du wirst wohl einsehen, Barbro, daß dein Kind getauft werden muß.« »Ja, aber es ist zu schwer für mich heute«, flüsterte sie. »Ich will morgen mit dem Kind ins Pfarrhaus kommen. Es kann doch nicht angehen, es jetzt zu taufen, während der starke Ingmar im Sterben liegt.« »Aber du hörst ja, daß es dem starken Ingmar eine Freude sein würde«, sagte der Pfarrer.

Ingmar hatte bisher stumm und unbeweglich dagesessen. Aber sein Herz war in heftige Erregung geraten, als er sah, wie demütig und unglücklich Barbro sich fühlte. »Dies ist entsetzlich schwer für jemand, der so stolz ist wie sie«, und er konnte es nicht ertragen, daß der Mensch, den er mehr geliebt hatte als irgendeinen andern, der Schande und Entehrung ausgesetzt werden sollte.

»Du mußt diese Forderung zurücknehmen«, sagte er zu dem starken Ingmar. »Es ist zu hart für Barbro.« »Wir wollen es Barbro schon leicht machen, wenn sie nur das Kind holen will«, sagte der Pfarrer. »Sie braucht nur auf ein Stück Papier zu schreiben, was sie hierüber zu sagen hat, dann trage ich es in das Kirchenbuch ein, wenn ich nach Hause komme.« »Ach nein, ach nein, es ist unmöglich«, sagte Barbro und dachte nur daran, was sie ersinnen könne, um die Taufe hinauszuschieben.

Der starke Ingmar setzte sich jetzt aufrecht im Bett hin und sagte mit großem Ausdruck in den Worten: »Es wird dir schwer auf dem Herzen liegen, Ingmar, wenn du nicht dafür sorgst, daß mein letzter Wunsch erfüllt wird.«

Ingmar erhob sich sogleich. Er trat an Barbro heran, beugte sich über sie und sagte: »Du weißt wohl, Barbro, daß eine verheiratete Frau keinen andern als Vater ihres Kindes anzugeben braucht, als ihren Mann.« Dann sagte er laut: »Jetzt gehe ich hinaus und sage ihnen, daß sie mit dem Kinde hereinkommen sollen.« Er sah Barbro an, ein Zittern lief durch ihren Körper, aber sie erwiderte kein Wort. »Gott gebe, daß sie nicht den Verstand verliert«, dachte er.

Er ging hinaus, und die kleinen Vorbereitungen waren schnell getan. Der Talar und die Bibel wurden aus der kleinen Reisetasche herausgenommen, die der Pfarrer immer mit sich führte, und eine kleine Schale mit Wasser wurde auf den Tisch gestellt. Dann kam die alte Lisa mit dem Kinde.

Der Pfarrer stand da und band den breiten Kragen um den Hals. »Vor allen Dingen muß ich wissen, wie das Kind heißen soll«, sagte er. »Barbro wird wohl selbst den Namen bestimmen«, schlug der Doktor vor. Alle sahen Barbro an. Sie bewegte die Lippen ein paarmal; aber kein Laut drang hervor. Es schien, als ob die Wartezeit unendlich werden sollte.

Als Ingmar dies sah, sagte er zu sich selbst: »Jetzt denkt sie daran, welchen Namen er nun hätte haben sollen, wenn alles so wäre, wie es sein sollte. Die Schande bewirkt, daß sie nicht reden kann.« Er empfand so großes Mitleid mit ihr, daß sein Zorn ganz vorüberging, und die große Liebe, die er zu seiner Frau hegte, gewann Überhand über alle die andern Gefühle. »Ihr Kind kann ja gern Ingmar getauft werden, was geht das mich an? Wir wollen uns ja doch scheiden lassen. Das beste würde sein, wenn wir auf irgendeine Weise den Leuten einbilden könnten, daß es mein Kind ist, damit sie ihren guten Namen und ihren guten Ruf wiedergewinnt.« Aber da er das nicht gerade hinaussagen wollte, sagte er: »Ich meine, da der starke Ingmar die Taufe ins Werk gesetzt hat, so ist es nicht mehr als natürlich, daß er dem Jungen seinen Namen gibt.« Er sah seine Frau an als er das sagte, um zu sehen, ob sie seine Absicht verstehe.

Aber kaum hatte Ingmar diese Worte gesagt, als sich Barbro aufrichtete. Sie ging langsam durch die Stube bis sie gerade vor dem Pfarrer stand. Darauf sagte sie mit fester Stimme: »Ingmar ist jetzt so gut gegen mich gewesen, daß ich es nicht länger ertragen kann, ihn zu quälen. Da will ich denn lieber gestehen, daß es sein Kind ist. Aber Ingmar soll der Junge nicht heißen, denn er ist blödsinnig und blind.«

Im selben Augenblick, als diese Worte ihrem Munde entschlüpft waren, überkam sie ein Gefühl unendlicher Bitterkeit, weil das Geheimnis, auf dem ihr Leben beruhte, ihr jetzt entrissen war. Sie brach in heftiges Weinen aus, und als sie fühlte, daß sie sich nicht zu beherrschen vermochte, eilte sie aus der Stube hinaus, um den Sterbenden nicht zu stören.

Draußen in der guten Stube warf sie sich über den großen Tisch und schluchzte laut.

Nach einer Weile erhob sie den Kopf wieder und lauschte, was sich in der Kammer zutrug. Sie hörte jemand mit halblauter Stimme reden. Es war die alte Lisa, die erzählte, wie es ihnen in der Sennhütte ergangen war.

Wieder empfand sie die ganze Bitterkeit, daß sie ihr Geheimnis verraten hatte, und wieder überkam sie das heftige Weinen. Was für eine Macht war es nur, die sie gezwungen hatte, zu reden, gerade als Ingmar alles für sie zurechtgelegt hatte, so daß sie sehr wohl noch ein paar Wochen hätte schweigen können, bis die Scheidung vollzogen war. Jetzt muß ich mir das Leben nehmen, dachte sie. Ich kann nicht länger leben.

Darauf lauschte sie wieder. Jetzt verlas der Pfarrer die Taufformel. Er sprach so deutlich, daß sie jedes Wort hören konnte, was er sagte. Endlich kam er so weit, daß er dem Kinde den Namen geben mußte. Er sprach den Namen mit stärkerer Stimme aus als alles übrige. Er lautete Ingmar.

Als sie das hörte, brach sie in ihrer Machtlosigkeit von neuem in Tränen aus.

Gleich darauf tat sich die Tür auf, und Ingmar trat heraus. Sie richtete sich auf und bezwang das Weinen und kam ihm entgegen. »Du siehst wohl ein, daß zwischen uns beiden alles so werden muß, wie es bestimmt war, als du fortreistest«, sagte sie. Ingmar streichelte ihr sanft das Haar. »Ich will dich zu nichts zwingen; nachdem, was du eben getan hast, weiß ich ja, daß du mich mehr liebst als dein eigenes Leben.«

Sie erfaßte seine eine Hand und preßte sie hart. »Versprichst du mir, daß ich allein für das Kind sorgen darf?« »Ja,« sagte Ingmar, »du sollst alles so haben, wie du es haben willst. Die alte Lisa hat uns erzählt, wie du um das Kind gekämpft hast. Niemand kann es über das Herz bringen, es dir zu nehmen.«

Sie sah ihn verwundert an. Sie konnte nicht recht fassen, daß alles, wovor sie sich so gefürchtet hatte, sich auf einmal in nichts aufgelöst hatte. »Ich glaubte, du würdest ganz halsstarrig werden, wenn du die Wahrheit erführst«, sagte sie. »Aber ich bin dir dankbarer, als ich es zu sagen vermag. Ich freue mich, daß wir in Freundschaft voneinander gehen, so daß wir freundlich miteinander reden können, wenn wir uns einmal wieder begegnen.«

Da huschte ein Lächeln über Ingmars Antlitz. »Solltest du nicht doch Lust haben, mit mir nach Jerusalem zu kommen, Barbro?« fragte er.

Als Barbro sah, daß er lächelte, wurde sie aufmerksam Sie hatte Ingmar nie so gesehen, das ganze Gesicht war verwandelt. Es war ihr, als liege etwas Verklärtes über den groben Zügen, so daß er gleichsam schön anzusehen war. »Was hast du nur, Ingmar?« fragte sie. »Was hast du vor? Ich hörte, daß du den Jungen Ingmar nanntest. Was ist deine Absicht damit?« »Jetzt sollst du etwas Wunderliches hören, Barbro«, sagte Ingmar und ergriff ihre beiden Hände. »Sobald die alte Lisa uns erzählt hatte, wie es euch dort oben auf der Alm ergangen war, bat ich den Doktor, das Kind zu untersuchen. Und der Doktor sagt, daß dem Kinde gar nichts fehlt. Er sagt, daß es klein für sein Alter ist, aber daß es ein frisches und gesundes Kind ist, und einen ebenso guten Verstand hat wie alle andern.«

»Findet der Doktor denn nicht, daß es häßlich und wunderlich aussieht?« sagte Barbro atemlos.

»Ich fürchte, daß die Kinder aus unserer Familie nicht schöner zu sein pflegen«, sagte Ingmar.

»Glaubt er denn nicht, daß der Junge blind ist?«

»Der Doktor sagt, er wird über dich lachen, so lange er lebt, Barbro, weil du dir so etwas einbilden kannst. Er sagt, morgen will er dir eine Flasche Augenwasser schicken, womit du den Knaben waschen kannst, und in einer Woche wird seinen Augen nichts mehr fehlen.«

Barbro ging schnell auf die Kammer zu, Ingmar winkte sie zurück. »Jetzt kannst du das Kind nicht sehen«, sagte er. »Der starke Ingmar bat, es auf sein Bett zu legen, und nun, sagt er, hat er es ebenso gut wie mein Vater. Ich glaube, er wird sich nicht von dem Kinde trennen, ehe er tot ist.«

»Ich will ihm den Jungen auch nicht wegnehmen«, sagte Barbro. »Aber ich möchte gern mit dem Doktor selbst sprechen.« Als sie zurückkam, ging sie an Ingmar vorüber und blieb am Fenster stehen. »Ich habe den Doktor gefragt, und ich weiß nun, daß es wahr ist.« Sie streckte die Arme gen Himmel empor. Es war, als habe ein gefangener Vogel seine Freiheit wiedererhalten und erhebe die Schwingen. »Ingmar, Ingmar, du weißt nicht, was Unglück ist,« sagte sie, »niemand weiß es.«

»Barbro,« sagte Ingmar, »darf ich jetzt mit dir über unsere Zukunft reden?« Sie hörte ihn nicht. Sie hatte ihre Hände gefaltet und brach in ein Dankgebet gegen Gott aus. Sie sprach mit leiser und bewegter Stimme. Aber Ingmar konnte jedes ihrer Worte hören. All den Schmerz, den sie über das Mißgeschick ihres Kindes empfunden hatte, vertraute sie jetzt Gott an, und sie dankte ihm, weil ihr Kind jetzt so würde wie alle andern Kinder, weil es herumlaufen und spielen, weil es in die Schule gehen und lernen sollte, weil es ein kräftiger Bursche werden würde, der die Axt schwingen und den Pflug führen könnte, weil er einmal im Laufe der Zeit eine Frau heimführen, und als Herr auf Ingmarshof wohnen würde.

Als sie Gott für das alles gedankt hatte, trat sie an Ingmar heran und sagte mit strahlendem Antlitz: »Ich weiß jetzt, warum Vater sagte, daß die Ingmarssöhne die besten Leute im Kirchsprengel seien.«

»Das kommt daher, weil Gott größere Barmherzigkeit mit uns hat als mit allen andern«, sagte Ingmar. »Aber jetzt, Barbro, möchte ich gern mit dir darüber reden «

Barbro unterbrach ihn.

»Nein, es kommt daher, weil ihr euch niemals beruhigt, ehe ihr euch mit dem lieben Gott ausgesöhnt habt«, sagte sie. »Du lieber Gott, was würde aus meinem Jungen geworden sein, wenn er nicht dich zum Vater gehabt hätte?«

»Ich habe ihm nicht viel helfen können«, sagte Ingmar. »Um deinetwillen ist der Fluch von ihm genommen«, sagte Barbro mit Innigkeit. »Weil du diese Wallfahrt machtest, ist alles gut gegangen. Das war das einzige, was mich diesen Winter aufrecht hielt, daß ich zuweilen hoffte, Gott werde gnädig gegen das Kind und mich sein, weil du nach Jerusalem gereist warst.«

Ingmar senkte den Kopf. »Ich weiß nur, Barbro, daß ich mein Leben lang ein großer Sünder gewesen bin«, sagte er und sah so mißmutig aus wie vor einer Stunde.

»Weißt du, was sie da draußen vorhin in der Kammer gesagt haben?« fragte sie. »Der Pfarrer sagte, daß die Leute dich in Zukunft den großen Ingmar nennen würden, weil du dich so gut mit dem lieben Gott stehst, daß der Fluch, der auf meiner Familie gelegen hat, jetzt um deinetwillen aufgehoben ist.«

Sie saßen nebeneinander auf der Kistenbank. Barbro schmiegte sich innig an Ingmar, aber Ingmars Arm hing schlaff herab, und sein Antlitz wurde finsterer und finsterer.

»Jetzt fange ich an zu glauben, daß du böse auf mich bist«, sagte Barbro. »Du hast gewiß daran gedacht, wie hart ich da draußen auf der Landstraße gegen dich war. Aber das mußt du wissen, eine entsetzlichere Stunde habe ich niemals erlebt.«

»Wie kann ich froh sein«, sagte Ingmar. »Ich weiß ja noch nicht einmal, wie es mit uns ergehen wird. Du sagst so viel schönes zu mir. Aber du antwortest mir nicht darauf, ob du den Mut hast, als meine Frau bei mir zu bleiben?«

»Habe ich dir nicht darauf geantwortet?« sagte Barbro mit einem Lächeln. Im selben Augenblick überkam sie etwas von der alten Furcht, und sie schauderte. Aber als sie sich umsah, da umfaßte sie mit ihrem Blick die alte Stube, das lange, niedrige Fenster, die Bänke und den Feuerherd.

Und dies alles umgab sie mit einer Sicherheit, und sie fühlte, daß es sie beschützen und bewahren würde.

»Nie will ich anderswo leben als unter deinem Dach und in deinem Heim«, sagte sie.

Gleich darauf öffnete der Pfarrer die Tür zu der Kammer und winkte ihnen, hineinzukommen. »Jetzt sieht der starke Ingmar den ganzen Himmel offen«, sagte er, als sie an ihm vorübergingen.

 


 


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