Selma Lagerlöf
Im Heiligen Lande
Selma Lagerlöf

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Auf den Flügeln der Morgenröte

An dem Tage, als Gunhild vom Sonnenstich getroffen war, befand sich Gertrud in einer der breiten Straßen in der westlichen Vorstadt. Sie war ausgegangen, um etwas Band und einige Knöpfe zu kaufen, die sie zu ihrer Näharbeit nötig hatte, aber da sie da draußen nicht bekannt war, mußte sie ziemlich lange gehen, ehe sie fand, was sie suchte. Sie beeilte sich auch nicht weiter; es machte ihr Vergnügen, im Freien umherzuwandeln. Gertrud hatte noch nicht viel von Jerusalem gesehen. Sie hatte so wenig Kleider von Hause mitgenommen, daß sie fast die ganze Zeit gezwungen gewesen war, drinnen zu sitzen und zu nähen, um etwas zum Anziehen zu haben.

Wie immer, wenn sie auf die Straße hinauskam, trat ein froher Ausdruck in ihr Gesicht. Sie empfand ja freilich die schreckliche Hitze und den scharfen Sonnenschein, aber sie litt nicht darunter, so wie die andern. Bei jedem Schritt, den sie tat, dachte sie daran, daß Jesus auf derselben Erde gewandelt haben mußte, die sie betrat. Sie war sicher, daß sein Blick auf dem Hügel geruht hatte, den sie in der Ferne am Ende der Straße sah. Staub und Hitze hatten ihn geplagt, wie sie jetzt sie plagten. Und wenn sie an das alles dachte, trat er ihr so nahe, daß sie kein anderes Gefühl als eine überwältigende Freude empfand.

Was Gertrud nach der Ankunft in Palästina so unendlich beglückte, war gerade das, daß sie Jesus viel näher gekommen war als bisher. Hier dachte sie nie daran, daß ein paar tausend Jahre vergangen waren, seit er hier in diesem Lande mit seinen Jüngern umherging, sondern sie bewegte sich in der glücklichen Vorstellung, daß er noch vor ganz kurzem hier gelebt hatte. Sie sah seine Fußspuren auf der Erde, und sie hörte den Schall seiner Schritte in den Straßen Jerusalems.

Als Gertrud den steilen Hügel hinabging, der zum Jaffator führt, kam ein Zug von ein paar hundert russischen Pilgern die Straße herauf. Sie waren mehrere Stunden umhergegangen, um heilige Stätten außerhalb Jerusalems zu besuchen, und waren so müde und ermattet von der Wanderung in der starken Sonnenhitze, daß es aussah, als hätten sie kaum Kräfte genug, um sich bis an das russische Gasthaus auf dem Gipfel des Hügels zu schleppen.

Gertrud blieb stehen und sah sie an, während sie vorüberzogen. Es waren alles Bauern, und sie wunderte sich zu sehen, wie sehr sie den Leuten daheim glichen, wie sie in ihren Friesröcken und wattierten Jacken dahergewandert kamen. »Es ist sicher ein ganzes Dorf, das sich auf einmal auf den Weg nach Jerusalem gemacht hat«, dachte sie, wie sie dastand und sie ansah. »Der da mit der Brille auf der Nase ist der Schulmeister, und der da mit dem dicken Stock hat einen großen Hof und regiert das ganze Kirchspiel. Der, der so steif und aufrecht dahingeht, ist ein alter Soldat. Und das kleine Männchen mit den schmalen Schultern und den langen Händen ist der Dorfschneider.« In guter Laune stand sie da und dichtete nach alter Gewohnheit kleine Geschichten nach dem, was sie sah. »Die alte Frau dort mit dem seidenen Tuch um den Kopf ist reich«, dachte sie. »Aber sie hat erst auf ihre alten Tage von Hause fortkommen können, denn erst mußte sie ihren Sohn und ihre Töchter verheiratet und versorgt, und ihre Enkel erzogen wissen. Und die andere alte Frau, die neben ihr geht und ein ganz kleines Bündel in der Hand hat, ist sehr arm. Sie ist eine von denen, die ihr ganzes Leben lang hat arbeiten und sparen müssen, um das Geld zu der Jerusalemreise zusammenzubringen.«

Es bedurfte nicht mehr als diese Pilger daherwandern zu sehen, um sie liebzugewinnen. Obwohl sie so staubig und erhitzt waren, sahen sie froh und zufrieden aus; man sah keine mißvergnügte Miene in einem einzigen Gesicht. »Wie fromm und geduldig sie doch sein müssen,« dachte Gertrud, »und wie innig sie Jesus lieben müssen, da sie so glücklich darüber sind, in seinem Lande zu wandern, daß sie keine Qual empfinden.«

Am Schluß des Zuges kamen einige, die ganz ermattet waren und sich kaum weiterzuschleppen vermochten. Es war rührend, ihre Verwandten und Freunde umwenden und sie unter den Arm nehmen zu sehen, um ihnen den Hügel hinaufzuhelfen. Aber die, die am allerelendsten aussahen, gingen allein, sie waren offenbar so mitgenommen, daß niemand genug Kraft zu haben glaubte, um ihnen zu helfen.

Den Beschluß der Schar bildete ein junges Mädchen von siebzehn Jahren. Dieses war ungefähr das einzige, das jung war; die übrigen waren zum größten Teil alt oder in mittleren Jahren.

Sobald Gertrud es erblickte, sagte sie zu sich selbst, das junge Mädchen müsse von einem großen Unglück betroffen sein, da das Leben daheim ihr unerträglich geworden sei. Vielleicht hatte auch sie Jesus im Walde auf sich zukommen sehen, und er hatte ihr geraten, nach Palästina zu ziehen.

Das junge Mädchen sah sehr krank und leidend aus. Es war zart gebaut, und die schweren, dicken Kleider, und namentlich die plumpen Stiefel, die es, wie alle andern Frauen, anhatte, beschwerten es offenbar sehr. Es schwankte einige Schritte vorwärts, dann blieb es stehen, um Atem zu schöpfen. Es lag eine große Gefahr vor, daß es von einem Kamel umgerissen oder von einem Wagen überfahren würde, so wie es dort unbeweglich auf der Straße stand.

Gertrud empfand einen unwiderstehlichen Drang, ihm zu helfen. Sie besann sich nicht lange, sondern trat zu der Kranken heran, legte den Arm um ihre Taille und zeigte, wie sie sich über ihre Schultern lehnen sollte, um Stütze zu finden. Das junge Mädchen sah mit einem stumpfen Blick auf. Halb unbewußt nahm es die Hilfe an und ließ sich einige Schritte von Gertrud weiterschleppen.

Aber im selben Augenblick wandte sich eine der älteren Frauen um, sie sah Gertrud scharf an und rief der Kranken mit strenger Stimme ein paar Worte zu. Das junge Mädchen schien sehr erschreckt zu sein; es richtete sich auf, stieß Gertrud zur Seite und versuchte, allein weiterzugehen, blieb aber gleich wieder stehen.

Gertrud konnte nicht begreifen, warum das Mädchen ihre Hilfe nicht annehmen wollte. Sie glaubte, es sei, weil die Russen zurückhaltend waren und keine Hilfe von einer Fremden annehmen wollten. Sie eilte wieder zu der Kranken hin und legte von neuem den Arm um sie. Da verzerrte sich das Gesicht der Fremden in großer Angst und in Abscheu. Nicht genug damit, daß sie sich von Gertrud losriß, sie schlug nach ihr und versuchte zu laufen, um ihr zu entkommen.

Nun sah Gertrud schließlich, daß der anderen wirklich bange vor ihr war. Es ward ihr sofort klar, daß dies von nichts weiter als von den schändlichen Verleumdungen kommen konnte, die über die Gordonisten ausgebreitet waren. Gertrud war zornig und betrübt. Das einzige, was sie für die Arme tun konnte, war, sie ganz in Ruhe zu lassen, um sie nicht noch mehr zu erschrecken. Aber während sie stillstand und ihr mit den Augen folgte, sah sie, daß das Mädchen, indem es vor ihr floh, in seinem Schrecken und seiner Verwirrung gerade einem Wagen entgegenlief, der in voller Fahrt den Hügel hinabfuhr. Gertrud sah mit Entsetzen, daß die Fremde unfehlbar verloren war und getötet werden würde.

Gertrud wollte die Augen schließen, um sich vor diesem schrecklichen Anblick zu bewahren, aber sie hatte gänzlich die Herrschaft über sich selbst verloren, sie war nicht einmal imstande, die Augen niederzuschlagen. Sie stand mit weit geöffneten Augen da und sah die Pferde geradeswegs auf die Kranke zukommen und sie umreißen. Aber im selben Augenblick standen die prächtigen, klugen Tiere von selbst still. Sie wichen zurück, stemmten die Vorderbeine hart gegen die Erde, um das ganze Gewicht des hinabrollenden Wagens auf sich zu nehmen, warfen sich geschmeidig auf die Seite und setzten die Fahrt fort, ohne daß ein Huf oder ein Rad die Gefallene berührt hatte.

Gertrud glaubte schon, daß alle Gefahr vorbei sei. Die junge Russin blieb an der Erde liegen, ohne sich zu rühren, aber das war wohl nur, weil sie vor Schrecken ohnmächtig geworden war. Von allen Seiten stürzten nun Leute herbei, um der Verunglückten zu helfen. Gertrud war die erste, die zu ihr gelangte. Sie bückte sich, um ihr aufzuhelfen. Da sah sie, daß aus ihrem Kopf Blut in den Kies hinablief, und daß ihr Gesicht, das aufwärts gewendet war, sonderbar starr geworden war. »Sie ist tot«, dachte Gertrud, »und ich habe sie in den Tod getrieben.«

Im selben Augenblick packte ein Mann Gertrud zornig und warf sie zur Seite. Er brüllte ihr einige Worte zu, die, wie sie verstehen konnte, bedeuteten, daß ein so verrufenes Geschöpf wie sie nicht wert sei, die fromme, junge Pilgerin anzurühren. Im nächsten Augenblick ertönten rings um sie her dieselben Worte aus vielen Mündern. Drohende Hände wurden gegen sie erhoben, und sie wurde gestoßen und gepufft, bis sie sich außerhalb der dichten Schar befand, die sich um die Verunglückte gesammelt hatte.

Einen Augenblick wurde Gertrud so erzürnt über diese Behandlung, daß sie die Hände ballte. Sie wollte sich verteidigen, sie wollte wieder zu dem russischen Mädchen hin, sie mußte doch wissen, ob es wirklich tot war. »Nicht ich bin unwürdig, ihr zu nahe zu kommen!« rief sie laut auf Schwedisch aus. »Ihr, ihr habt sie getötet. Eure schändlichen Verleumdungen haben sie in den Tod gejagt!« Niemand verstand sie, und Gertruds Zorn wich bald einer tödlichen Angst. Wenn nun jemand gesehen hatte, wie sich das Ganze zugetragen hatte, und es den Pilgern wiedererzählte! Dann würden alle diese Menschen sich ohne Schonung über sie stürzen und sie totschlagen.

Schleunigst flüchtete sie von dem Platze fort, lief, so schnell sie konnte, obwohl niemand sie verfolgte. Sie hielt nicht an, bis sie die öde Strecke auf der Nordseite Jerusalems erreicht hatte.

Hier blieb sie stehen, strich sich über die Stirn und preßte die gefalteten Hände hart gegen die Stirn.

»O Gott, o Gott!« rief sie. »Bin ich jetzt eine Mörderin? Trage ich die Schuld an dem Tode eines Menschen?«

Im nächsten Augenblick wandte sie sich der Stadt zu, deren hohe, finstere Mauer in ihrer Nähe aufragte. »Nicht ich bin es, du bist es!« rief sie, »nicht ich bin es, sondern du!« Schaudernd wandte sie sich von der Stadt ab, um nach der Kolonie hinüberzusehen, deren Dächer sie in der Entfernung sah. Aber einmal über das andere blieb sie stehen, während sie versuchte, nur einigermaßen all die Gedanken zu verlieren, die auf sie einstürmten.

– – Als Gertrud nach Palästina gekommen war, hatte sie gedacht: »Hier bin ich in dem Lande meines Herrn und Königs. Jetzt stehe ich unter seiner besonderen Obhut, hier kann mich nichts Böses treffen.« Und sie hatte sich in den Glauben eingelullt, daß Christus ihr befohlen hatte, in sein heiliges Land zu reisen, weil er gesehen hatte, daß sie ein so schweres Leid erlitt, daß sie nicht mehr in diesem Leben zu leiden brauchte, sondern in Zukunft in Frieden und Ruhe leben sollte.

Aber jetzt war Gertrud zumute wie jemand, der in einer stark befestigten Stadt wohnt und plötzlich die schirmenden Türme und Mauern einstürzen sieht. Sie sah, daß sie wehrlos war. Zwischen ihr und dem Bösen, das auf sie eindrang, war kein Schutz. Im Gegenteil sah es so aus, als ob das Unglück sie hier schlimmer treffen könne als anderswo.

Mutig wies sie den Gedanken zurück, daß sie die Schuld an dem Tode der jungen Russin trage, sie wollte sich keine Gewissensbisse über so etwas machen. Aber sie empfand eine dunkle Angst vor dem Schaden, den dies Erlebnis ihr bereiten könne. »Nun sehe ich wohl immerfort vor meinen Augen die Pferde auf sie zulaufen«, klagte sie. »Ich werde gewiß keinen frohen Tag mehr haben.«

In ihr erhob sich eine Frage, die sie einen Augenblick niederzuhalten strebte, die aber wieder und wieder aufstieg. Sie fing an, darüber nachzudenken, warum Christus sie in dies Land geschickt hatte. Es war eine große Sünde, diese Frage zu stellen, aber sie konnte es nicht unterlassen. Was war Christi Absicht, als er sie in dies Land sandte?

»Ach Gott«, sagte sie in ihrer großen Verzweiflung. »Ich glaubte, du liebtest mich und wolltest alles für mich zum Besten kehren. Ach Gott, ich war so glücklich, als ich glaubte, daß du mich beschütztest.«

Als Gertrud nach der Kolonie zurückkehrte, klang ihr eine wunderliche Stille und Feierlichkeit entgegen. Der Junge, der das Tor öffnete, war ungewöhnlich ernsthaft. Und als sie in den Garten trat, fiel es ihr auf, wie still sie alle über das Pflaster hinschritten, und daß niemand laut sprach. »Hier ist der Tod eingekehrt«, dachte sie, ehe noch jemand ein Wort zu ihr gesagt hatte.

Bald erfuhr sie, daß man Gunhild tot auf der Straße gefunden hatte. Sie war schon heimgebracht und auf eine Bahre in der Waschküche im Keller gelegt. Gertrud wußte wohl, daß die Toten im Morgenlande sehr schnell begraben werden müssen. Aber sie war doch entsetzt darüber, daß die Vorbereitungen zu dem Begräbnis schon im vollen Gange waren. Tims Halvor und Ljung Björn zimmerten an einem Sarge, und ein paar von den Frauen waren damit beschäftigt, die Leiche anzukleiden. Mrs. Gordon war zu dem Vorsteher einer der amerikanischen Missionsanstalten gegangen, um die Erlaubnis zu erbitten, Gunhild auf dem amerikanischen Friedhof zu beerdigen. Bo und Gabriel standen draußen auf dem Hof, jeder mit seinem Spaten in der Hand, und warteten nur auf Mrs. Gordons Rückkehr, um hinzugehen und das Grab zu graben.

Gertrud ging in die Waschküche hinab. Sie stand lange da und betrachtete Gunhild und brach in heftiges Weinen aus. Sie hatte sie immer sehr geliebt, sie, die jetzt dalag und tot war. Aber während sie dastand und Gunhild ansah, ward es ihr klar, daß weder sie, Gertrud, noch irgendein anderer Mensch Gunhild so viel Liebe erwiesen hatte, wie sie es verdiente. Sie hatten ja alle zusammen gewußt, daß sie ehrlich und gut und wahrheitsliebend war. Aber sie hatte sich selbst und andern das Leben schwer gemacht, indem sie zu viel Wert auf Kleinigkeiten legte. Und das hatte die Menschen von ihr zurückgestoßen. Jedesmal, wenn Gertrud hieran dachte, tat es ihr wirklich leid um Gunhild. Ihre Tränen rannen von neuem.

Aber plötzlich hörte Gertrud auf zu weinen und sah Gunhild mit Unruhe und Schrecken an. Sie hatte bemerkt, daß Gunhild mit einem Ausdruck in ihrem Gesicht dalag, wie sie ihn im Leben gehabt hatte, wenn sie über etwas nachgrübelte, das schwierig oder verwickelt war. Es war sonderbar, sie mit der tiefen Falte zwischen den Augenbrauen und den vorgeschobenen Lippen liegen und grübeln zu sehen.

Gertrud entfernte sich langsam von der Toten. Als sie den fremden Ausdruck in Gunhilds Antlitz gesehen hatte, war sie an ihr eigenes Leid erinnert worden. Es war ihr, als liege auch Gunhild da und frage, warum Jesus sie hierher in dieses Land gesandt habe. »Warum sollte ich hierher ziehen, wenn es nur war, um zu sterben?« schien sie zu fragen.

Als Gertrud wieder auf den Hof hinaustrat, kam ihr Bo entgegen. Er bat sie, zu kommen und ein wenig mit Hök Gabriel Mattsson zu reden. Gertrud stand ganz verwirrt da und sah Bo an. Sie war so in ihre eigenen Gedanken versunken, daß sie nicht einmal auffassen konnte, was er sagte. – »Gabriel hat Gunhild am Wege gefunden«, sagte Bo als Erklärung.

Gertrud hörte ihn nicht an, sie stand da und dachte daran, warum Gunhild diesen Ausdruck in ihrem Antlitz habe. – »Es war schrecklich für Gabriel, sie so tot auf dem Wege zu finden, während er daherkam und nichts Böses ahnte«, sagte Bo, und als Gertrud noch immer verständnislos dastand, fügte er mit tiefbewegter Stimme hinzu: »Wenn es jemand hier aus der Kolonie gewesen wäre, den ich lieb gehabt hätte, und den ich dann tot auf der Landstraße gefunden hätte, so weiß ich nicht, was aus mir werden sollte.«

Gertrud sah sich um, als fahre sie aus dem Schlaf auf. Ja, das ist wahr, sie wußte ja aus alten Zeiten, daß Gabriel Gunhild geliebt hatte. Sie hätten sich ja verheiratet, wenn nicht die Jerusalemreise dazwischengekommen wäre. Aber die beiden waren sich einig darin, daß sie nach Palästina ziehen wollten, selbst wenn sie dann niemals Mann und Frau werden konnten. Und nun hatte Gabriel Gunhild tot auf der Straße gefunden!

Gertrud ging auf Gabriel zu, der regungslos am Tor stand und ihr keinen Schritt entgegenkam. Mit zusammengepreßten Lippen und starrem Blick stand er da und bohrte den Spaten zwischen die Steine. Als Gertrud vor ihm stehen blieb, bewegte er die Lippen, aber es kam kein Laut hervor.

»Es würde Gabriel gut tun, wenn er nur weinen könnte«, flüsterte Bo Gertrud zu.

Schweigend reichte Gertrud Gabriel die Hand, wie man es bei einem Begräbnis den nächsten Angehörigen gegenüber zu tun pflegt. Gabriels Hand lag schlaff und kalt in der ihren.

»Bo hat mir erzählt, daß du sie gefunden hast«, sagte Gertrud. Gabriel stand noch immer regungslos da. – »Das war schwer für dich«, fuhr sie fort, während Gabriel wie ein Steinbild dastand. Sie begriff, wie entsetzlich dies für ihn gewesen war. – »Aber ich glaube, Gunhild würde sich gefreut haben, daß du es warst, der sie fand«, sagte sie.

Da zuckte Gabriel zusammen; er erhob die Augen und sah Gertrud an. »Glaubst du, daß sie sich darüber gefreut hätte?« – »Ja,« antwortete Gertrud, »ich kann begreifen, daß es schwer für dich war, aber ich glaube, sie würde am liebsten gesehen haben, daß du sie finden solltest.« – »Ich wich nicht einen Augenblick von ihr,« sagte Gabriel leise, »bis Leute kamen, die mir helfen konnten. Ich habe sie sanft und vorsichtig hierher getragen.« – »Ja, davon bin ich überzeugt«, sagte Gertrud.

Gabriels Lippen bebten, und plötzlich stürzten ihm Tränen aus den Augen. Bo und Gertrud standen still neben ihm und ließen ihn weinen. Gabriel preßte die Hand gegen den Türpfosten, er schluchzte heftig.

Nach einer Weile wurde er ruhiger. Er trat auf Gertrud zu und reichte ihr die Hand. »Hab' vielen Dank«, sagte er. Seine Stimme war jetzt sanft und mild, es klang fast, als wenn sein Vater, der alte Hök Matts, spräche. »Jetzt will ich dir etwas zeigen, was ich eigentlich keinem Menschen zeigen wollte«, fuhr er fort. »Als ich Gunhild fand, lag sie da mit einem Brief in der Hand, der war von ihrem Vater. Ich nahm ihn, ich meinte, ich sei der Nächste dazu, ihn zu lesen. Nun denke ich, daß du auch alte Eltern daheim hast, und ich will ihn dir zeigen, weil du mich zum Weinen gebracht hast.«

Gertrud nahm den Brief und las ihn. Dann sah sie Gabriel an. »Also deswegen ist sie gestorben«, sagte sie. Gabriel nickte. – »Ich glaube, es war deswegen«, sagte er. Gertrud schrie fast: »Jerusalem, Jerusalem, du bringst uns alle um. Ich glaube, Gott hat uns verlassen.«

Im selben Augenblick trat Mrs. Gordon zum Tor hinein. Sie schickte Gabriel und Bo gleich nach dem Begräbnisplatz. Gertrud ging in die kleine Kammer, wo sie mit Gunhild zusammen gewohnt hatte. Dort saß sie den ganzen Abend allein, in einer so starken und unüberwindlichen Angst, als sei sie von Gespensterfurcht überfallen.

Es war ihr, als müsse noch mehr Schreckliches an diesem Tage geschehen, sie ängstigte sich davor, als läge es in einem Winkel und laure auf sie. Und gleichzeitig ward sie von Zweifeln gequält. »Ich weiß nicht, warum Christus uns hierher gesandt hat«, dachte sie. »Wir bringen ja Unglück über uns selbst und über die andern.« Für eine Weile gelang es ihr, den Zweifel in die Flucht zu jagen, aber gleich darauf ertappte sie sich dabei, daß sie dasaß und alle die aufzählte, die infolge der Auswanderung ins Unglück geraten waren. Nichts konnte ja sicherer und gewisser erscheinen, als daß Gott wollte, daß sie nach Palästina reisen sollte. Wie konnte es da sein, daß dies nur Elend zur Folge hatte?

Sie hatte Feder und Papier hervorgeholt, um an ihre Eltern zu schreiben, aber sie war nicht dazu imstande. »Was soll ich schreiben, damit sie mir glauben?« rief sie aus. »Falls ich mich hinlegte und stürbe, so wie Gunhild, so würden sie mir vielleicht glauben, daß wir unschuldig sind.«

Der Tag schleppte sich langsam hin, und die Nacht kam. Gertrud war so unglücklich, daß sie nicht schlafen konnte. Sie sah Gunhilds Antlitz vor sich und konnte nicht umhin, sich wieder und wieder zu fragen, worüber die Tote nachgegrübelt habe. Schließlich ward es ihr zur Gewißheit, daß Gunhild mit derselben Frage auf den Lippen gestorben war, mit der sie stritt.

Noch ehe der Tag graute, stand Gertrud auf und kleidete sich an, um auszugehen.

An diesem letzten Tage und in dieser Nacht war sie so weit von Christus weggekommen, daß sie nicht begreifen konnte, wie sie wieder zu ihm zurückfinden sollte. Jetzt, als es Morgen wurde, erfaßte sie eine Sehnsucht, die Stätte aufzusuchen, von der sie ganz gewiß wußte, daß er sie betreten hatte. Und diese einzige Stätte, deren Lage niemals jemand bestritten hatte, war der Ölberg. Sie dachte, daß, wenn sie nun dahin ginge, sie ihm wieder nahekommen würde, sie sich von seiner Liebe überschattet fühlen und seine Absicht mit ihr verstehen würde.

Gleich, als sie in die finstere Nacht hinauskam, erfaßte sie eine noch größere Angst. Wieder und wieder durchlebte sie all das Unglück und die Ungerechtigkeit, die dieser eine Tag gebracht hatte.

Aber je höher sie auf den Berg hinaufkam, je mehr fühlte sie, daß es wunderlich licht in ihr ward. Die drückende Last wurde von ihren Schultern genommen. Sie fing an, eine Erklärung zu ahnen.

Dies ist ja die einzige Möglichkeit, dachte sie, wenn solche Ungerechtigkeit ihren Gang gehen durfte, so mußte man die letzten Tage der Welt erreicht haben. Das war die einzige Art und Weise, wie man verstehen konnte, daß Recht Unrecht wurde, daß Gott nicht die Macht besaß, das Böse zu hindern, daß die Heiligen verfolgt wurden, daß die Lüge unwidersprochen gedieh.

Sie blieb stehen und grübelte. Ja, wahrlich, das war es, die Wiederkehr des Herrn stand bevor, und sie würde ihn bald aus den Wolken des Himmels herabkommen sehen.

Und verhielt es sich so, dann konnte sie begreifen, warum sie alle nach Jerusalem gerufen waren. Aus Gottes Gnade waren sie und ihre Freunde dort hinabgesandt, um Jesus zu begegnen. Sie schlug die Hände vor Verwunderung und Freude zusammen, als sie daran dachte, wie unendlich groß dies war.

Schnellen Schrittes ging sie den Berg hinauf, bis sie den höchsten Punkt erreichte, von wo aus Jesus gen Himmel aufgefahren war. Sie konnte nicht auf den umfriedigten Platz selbst gelangen, aber sie blieb davor stehen und sah zu dem Himmel empor, der jetzt in dem plötzlich hervorbrechenden Tagesschimmer erstrahlte.

»Vielleicht kommt er schon heute«, dachte sie. Sie faltete die Hände und sah empor zu dem Morgenhimmel, der mit federleichten Wolken bedeckt war.

Im selben Augenblick färbten sie sich rot, und es sah so aus, als ob ein Widerschein von ihnen auf Gertruds Gesicht erglühte. »Er kommt,« sagte sie, »er kommt gewiß.«

Sie starrte die Morgenröte an, als sähe sie sie zum erstenmal. Es war ihr, als könne sie tief in den Himmel hineinsehen. Gerade nach Osten zu erblickte sie eine tiefe Wölbung mit einer hohen und breiten Pforte, und sie erwartete nur, zu sehen, wie die Torflügel zur Seite wichen, so daß Christus und alle seine Engel hinausziehen konnten.

Nach einer Weile öffnete sich wirklich die Pforte des Ostens, und die Sonne schritt über den Himmel dahin. Gertrud blieb unbeweglich und erwartungsvoll stehen, während die Sonne ihren Glanz über das Bergtal westlich von Jerusalem warf, dort, wo eine Reihe von Felsgipfeln wie Wellen aus einem Meer auftauchten. Sie stand still da und wartete, bis die Sonne so hoch gestiegen war, daß ihre Strahlen das Kreuz auf der Kuppel der Grabeskirche beschienen.

Es war Gertrud, als habe sie einmal gehört, daß Christus bei Sonnenaufgang auf den Flügeln der Morgenröte kommen sollte. Da ward es ihr klar, daß sie ihn nur diese eine Stunde des Tages erwarten könne. Und doch fühlte sie sich so bedrückt und unruhig. »Dann kommt er morgen«, sagte sie sich mit der größten Zuversicht.

Sie stieg den Berg hinab und kam mit freudestrahlendem Antlitz in die Kolonie zurück. Aber sie sprach mit niemand von der großen, frohen Gewißheit, die sie erfüllte. Den ganzen Tag saß sie bei ihrer Arbeit wie gewöhnlich und sprach über gleichgültige Dinge.

Am nächsten Morgen bei Tagesanbruch stand sie wieder auf dem Ölberg.

Und Morgen für Morgen ging sie da hinaus, denn sie wollte die erste von allen Menschen sein, die Christus in der Herrlichkeit des Morgens kommen sah.

Gertruds Morgenwanderungen erregten bald Aufmerksamkeit in der Kolonie, und man bat sie, zu Hause zu bleiben. Die Kolonisten hielten ihr vor, daß es ihnen schaden könne, wenn Leute sie jeden Morgen auf dem Ölberge knien und Christi Kommen erwarten sahen. Wenn sie so fortfuhr, würde man bald von ihnen sagen, daß sie wahnsinnig seien.

Gertrud versuchte, zu gehorchen und zu Hause zu bleiben. Aber in der frühen Morgenstunde erwachte sie. Dann stand es ganz klar vor ihrer Seele, daß gerade heute Jesus kommen würde, und da konnte nichts sie daran hindern, aufzustehen und hinauszueilen, um ihren Herrn und Heiland zu empfangen.

Diese Erwartung war ihr zur zweiten Natur geworden. Sie konnte ihr nicht widerstehen, konnte sich nicht davon befreien, in allem andern war sie ganz wie früher. Es war keine Unklarheit in ihrem Gehirn, sie war nur insofern verändert, als sie froher und sanfter war denn zuvor.

Nach und nach gewöhnte man sich an ihre Morgenwanderungen, und ließ sie kommen und gehen, ohne sich darum zu kümmern. Aber wenn sie am Morgen hinausging, sah sie einen dunklen Schatten an der Tür stehen und warten. Während sie den Berg hinaufstieg, hörte sie Schritte von eisenbeschlagenen Absätzen hinter sich. Sie sprach niemals mit diesem Schatten, aber sie hatte ein Gefühl von Sicherheit, wenn die schweren Schritte ihr folgten.

Zuweilen, wenn sie vom Berge hinabkam, lief sie gerade auf Bo zu, der an eine Mauer gelehnt stand und mit einem Ausdruck hündischer Treue in den Augen auf sie wartete. Bo errötete und sah nach der andern Seite, und Gertrud tat, als habe sie ihn nicht gesehen, und ging weiter.



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