Selma Lagerlöf
Im Heiligen Lande
Selma Lagerlöf

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Blumen aus Palästina

Es ist jetzt Ende Februar. Der Winterregen ist vorüber, und der Frühling ist gekommen. Aber noch ist er nicht weit vorgeschritten. Die Knospen an den Feigenbäumen haben noch nicht angefangen zu schwellen, Ranken und Blätter haben noch nicht angefangen, an den schwarzbraunen Weinstöcken hervorzusprossen, und die großen Blütenbüschel der Orangenbäume haben sich noch nicht erschlossen.

Aber die kleinen Blumen des Feldes haben sich schon zu dieser frühen Jahreszeit hervorgewagt.

Wohin man das Auge wendet, wachsen Blumen: große, brandrote Anemonen, und über alle Felder breiten sich die kleinen Wiesennelken und Tausendschönchen aus, während es in jedem feuchten Gebüsch von Krokus und Kuhblumen wimmelt.

Und so wie man in andern Ländern Beeren und Früchte sammelt, so geht man in Palästina aus, um Blumen zu ernten. Aus allen Klöstern, aus allen Missionsstationen zieht man zur Blumenernte aus. Arme jüdische Gemeindemitglieder, europäische Touristen und syrische Arbeiter treffen einander unten in den wilden Felstälern mit Blumenkörben in den Händen. Und am Abend kehren alle diese Ernteleute heim, beladen mit Anemonen und Perlhyazinthen, mit Veilchen und Tulpen, mit Narzissen und Orchideen.

Draußen auf den Höfen der vielen Klöster und Hospitäler der heiligen Stadt stehen mächtige steinerne Kübel, in denen die Frühlingsblumen in Wasser gelegt werden, und in Zellen und Stuben sind fleißige Hände eifrig beschäftigt, die Blumen auf großen Bogen Papier auszubreiten, um sie zu pressen.

Aber sobald die kleinen Anemonen und Hyazinthen gut getrocknet und gepreßt sind, werden sie zu kleinen Sträußen und zu großen Sträußen, in schönen Zusammenstellungen und in häßlichen Zusammenstellungen geordnet, und auf Karten oder in kleine Albums eingeklebt, mit Einbänden aus Olivenholz, worauf »Blumen aus Palästina« gemalt ist.

Und bald wandern alle diese Blumen von Zion, Blumen von Hebron, Blumen vom Ölberg, Blumen aus Jericho in die weite Welt hinaus. Sie werden in Läden verkauft, sie werden in Briefen fortgeschickt, werden als Erinnerungen verschenkt, gegen milde Gaben vertauscht. Weiter als die Perlen aus Indien, und die Seide aus Brussa werden diese kleinen weißen Blumen, der einzige Reichtum des armen heiligen Landes, verbreitet.

* * *

Es war an einem schönen Frühlingsmorgen. In der Gordonkolonie herrschte große Geschäftigkeit, alle machten sich bereit, auf die Blumenernte auszuziehen. Die Kinder, die den ganzen Tag Ferien haben sollten, liefen ganz ausgelassen umher und bettelten bei allen Menschen, daß sie ihnen einen Korb leihen möchten, in den sie Blumen pflücken könnten. Die Frauen waren schon seit vier Uhr des Morgens auf gewesen, um Essen zu bereiten, und sie waren noch bis zum letzten Augenblick eifrig in der Küche mit Waffeleisen und Einmachtöpfen beschäftigt. Einige von den Männern packten Butterbrot und Milchflaschen, kaltes Fleisch und Brot in die Ranzen. Andere trugen große Wasserflaschen oder Körbe mit Teekesseln und Tassen herbei. Endlich tat sich das Tor auf, die Kinder strömten zuerst heraus, und dann kamen alle die andern in großen oder kleinen Gruppen, so wie sie Lust hatten. Niemand blieb daheim, das große Haus ward ganz leer.

Bo Ingmar Maansson war an diesem Tage glücklich. Er hatte es so eingerichtet, daß er neben Gertrud daherging, und wenn sie einen Hügel hinaufstiegen, half er ihr mit allem, was sie zu tragen hatte. Gertrud hatte das Kopftuch so tief in die Stirn gezogen, daß Bo nur das Kinn und die flaumweichen Wangen sehen konnte. Er ging dahin und lächelte über sich selbst, daß er so glücklich darüber sein konnte, nur an Gertruds Seite zu gehen, obwohl er weder ihr Antlitz sehen noch mit ihr sprechen konnte.

Karin Ingmarstochter und ihre Schwester gingen dicht hinter ihnen. Sie stimmten ein Morgenlied an, das sie mit ihrer Mutter daheim auf dem Ingmarshof gesungen hatten, wenn sie in der frühen Morgenstunde am Spinnrocken saßen. Bo kannte das alte Lied:

»Der hohe Tag, der jetzt anbricht,
Den hat uns der Himmel gegeben.«

Dicht vor Bo ging der alte Korporal Fält. Er hatte, wie immer jetzt, alle Kinder um sich versammelt; sie klammerten sich an seinen Stock und hingen sich an seine Rockschöße. Bo, der sich seiner noch aus der Zeit erinnerte, wo alle Kinder weit wegliefen, wenn sie ihn nur sahen, dachte bei sich selbst: »Ich habe ihn nie so steif und barsch dreinschauen sehen wie jetzt. Er ist so stolz darauf, daß die Kinder sich zu ihm halten, daß sein schöner Bart förmlich wie Borsten aufragt, und ich glaube wahrlich, daß selbst seine Nase noch krummer geworden ist als früher.«

Mitten in der Schar erblickte Bo Hellgum, der mit seiner Frau an der einen und seiner schönen kleinen Tochter an der andern Hand dahinschritt. »Es ist doch sonderbar mit Hellgum«, dachte Bo. »Er ist ganz in den Schatten gestellt worden, seit wir uns mit den Amerikanern zusammengetan haben. Und das konnte ja nicht gut anders sein, da sie so bedeutend sind und so seltene Gaben haben, Gottes Wort auszulegen. Ich möchte wohl wissen, was er sich dabei denkt, daß sich niemand an einem Tag wie heute um ihn schart. Aber wer sich freut, ihn ganz für sich zu haben, das ist seine Frau. Das kann man ihrer Haltung und ihrer Miene ansehen. Sie ist nie in ihrem Leben so stolz und so glücklich gewesen.«

An der Spitze des Zuges ging die schöne Miß Young. Neben ihr schritt ein junger Engländer dahin, der sich der Kolonie vor ein paar Jahren angeschlossen hatte. Bo wußte ebensogut wie die andern, daß dieser junge Mann Miß Young liebte, und daß er in die Gemeinde eingetreten war in der Hoffnung, daß sie seine Frau werden würde. Das junge Mädchen hatte ihn offenbar auch lieb. Aber die Gordonisten wollten ihre strengen Gesetze ihretwegen nicht aufheben, und so hatten die beiden jungen Menschen schon ein paar Jahre in hoffnungsvollem Harren gelebt. Heute gingen sie nebeneinander, sprachen nur miteinander und hatten für niemand sonst Augen. Und wie sie hier leicht und geschmeidig allen andern voraneilten, war es, als wollten sie davonfliegen, wollten die ganze Schar zurücklassen und in die weite Welt hinausfliehen, um einmal ihr eigenes Leben leben zu dürfen.

Ganz hinten im Zuge sah Bo Gabriel. In der Kolonie befand sich ein französischer Matrose, der gleich von Anfang an mit dabei gewesen war. Er war jetzt alt und gebrechlich. Gabriel hatte ihn unter den Arm genommen und half ihm die vielen steilen Abhänge hinauf. »Jetzt denkt Gabriel sicher an seinen alten Vater«, dachte Bo bei sich.

Der Weg führte anfangs durch eine einsame und wilde Bergschlucht. Hier waren keine Blumen, die Erde war von den steilen Abhängen ganz weggespült, alles war kahl, da war nichts als kahle, gelblichgraue Felsklippen.

»Das ist doch sonderbar«, dachte Bo. »Ich habe nie einen so blauen Himmel gesehen wie den, der sich über diesen gelben Bergen wölbt. Und obwohl diese Felsen so kahl sind, erscheinen sie mir doch nicht häßlich. Wenn ich sehe, wie schön abgerundet sie sind, muß ich an die großen Kuppeln denken, die sie hierzulande über den Kirchen und Häusern errichten.«

Als die Schar ungefähr eine Stunde gewandert war, erblickte man das erste Felstal, dessen Boden mit roten Anemonen übersät war. Das war eine Freude und eine Geschäftigkeit, alle beeilten sich, mit Rufen und Lachen den Bergabhang hinabzugelangen und mit dem Pflücken zu beginnen. Und man pflückte eifrig Anemonen, bis man gleich darauf ein anderes Tal fand, das ganz mit Veilchen bedeckt war, und dann ein drittes, wo alle möglichen Frühlingsblumen bunt durcheinander wuchsen.

Anfangs pflückten die Schweden gar zu eifrig, sie rissen die Blumen gleichsam ab. Aber dann kamen die Amerikaner und zeigten ihnen, wie sie es machen müßten. Man müsse wählen und verwerfen, nicht andere Blumen nehmen, als solche, die sich zum Pressen eignen. Es sei das eine Arbeit, die mit Sorgfalt ausgeführt werden müsse.

Bo ging neben Gertrud und pflückte. Einmal richtete er sich auf, um den Rücken zu recken. Da sah er dicht neben sich ein paar von den großen Bauern daheim, die wohl seit vielen Jahren keine Blumen gesehen hatten, umhergehen und so eifrig pflücken wie alle andern. Bo konnte sich fast nicht enthalten, laut zu lachen.

Plötzlich wandte sich Bo nach Gertrud um und sagte zu ihr: »Während ich hier gehe, muß ich daran denken, was Christus wohl damit gemeint hat, als er sagte: ›Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein, so könnt ihr nicht in das Reich Gottes kommen.‹«

Gertrud erhob den Kopf und sah Bo an. Es war so ungewöhnlich, daß er sie anredete. »Es ist ein eigentümliches Wort«, sagte sie.

»Ja,« sagte Bo langsam und nachdenklich, »ich habe beobachtet, daß Kinder niemals so artig sind, als wenn sie spielen, daß sie groß sind. Man hat nie so gute Ruhe vor ihnen, als wenn sie ein Feld pflügen, das sie sich mitten auf der Landstraße gemacht haben, mit einer Peitsche aus Bindfaden knallen, und die Pferde antreiben, während sie die Steine der Landstraße mit einem Tannenzweig aufpflügen. Sie sind so lieb und drollig, wenn sie umhergehen und davon reden, daß sie mit ihrer Aussaat vor dem Nachbar fertig werden müssen, oder wenn sie darüber klagen, daß sie noch nie einen Acker gepflügt haben, der so voller Steine war.«

Gertrud ging gesenkten Kopfes und pflückte. Sie erwiderte nichts. Sie verstand nicht, worauf Bo hinaus wollte.

»Ich entsinne mich noch, wie herrlich ich mich belustigte,« fuhr Bo mit demselben Ernst fort, »als ich mir einmal einen Kuhstall aus Holzklötzen gebaut, und Tannenzapfen, die Kühe vorstellen sollten, drin aufgestellt hatte. Jeden Morgen und Abend brachte ich den Kühen pünktlich frisches Heu, und zuweilen spielte ich auch, daß es Frühling sei, und daß ich mein Vieh auf die Alm treiben müsse. Dann blies ich ins Horn und rief: ›Stern‹ und ›Goldlilie‹, so daß man es über den ganzen Hof hören konnte. Und ich ging oft umher und sprach mit meiner Mutter darüber, wieviel Milch meine Kühe gaben, und wieviel Butter ich von meiner Meierei erwarten könne. Ich sorgte auch dafür, daß der Stier ein Brett vor die Stirn bekam, und wenn Leute vorüberkamen, rief ich ihnen zu, sie sollten sich in acht nehmen, denn der Stier sei böse.«

Gertrud pflückte jetzt weniger eifrig. Sie hörte Bo aufmerksam zu und konnte nicht umhin, sich zu wundern, daß er sich auch dergleichen Gedanken und Vorstellungen machte, wie sie ihr eigenes Gehirn so oft erfüllt hatten.

»Am schönsten aber, glaube ich, war es doch, wenn wir Jungen spielten, daß wir alte Männer waren, und dasaßen und Gemeinderat abhielten«, fuhr Bo fort. »Ich entsinne mich noch, daß ich und meine Brüder und viele andere Jungen auf einen Bretterstapel hinaufzuklettern pflegten, der mehrere Jahre daheim auf dem Hofe lag. Der Vorsitzende hämmerte mit einem Holzschuh auf die Bretter, um sich Gehör zu verschaffen, und wir saßen ganz andächtig rings um ihn herum und stimmten ab, wer in der Gemeinde Unterstützungen aus der Armenkasse haben sollte, und wieviel jeder Mann in der Gemeinde an Steuern zu zahlen habe. Wir saßen da und steckten die Daumen in die Ärmellöcher der Weste und sprachen mit einer Stimme, als hätten wir den Mund voller Grütze, und wir redeten einander nie anders an, als Gemeindevorsteher, Küster, Kirchenvorsteher und Dorfschulze.«

Bo schwieg und strich sich über die Stirn, als komme er nun zu dem, was er eigentlich sagen wollte. Gertrud hatte ganz aufgehört, Blumen zu pflücken. Sie saß an der Erde, hatte ihr Kopftuch zurückgeschoben und sah jetzt zu Bo hinauf, als erwarte sie, etwas Neues und Merkwürdiges zu hören.

»Es mag ja sein,« sagte Bo, »daß ebenso, wie es gut für Kinder ist, zu spielen, daß sie erwachsen sind, es auch zuweilen für Erwachsene gut sein mag, daß sie wieder Kinder werden. Und wenn ich diese alten Männer sehe, die sonst um diese Jahreszeit gewöhnt waren, oben in den wilden Wäldern umherzugehen und sich damit abzumühen, Bäume zu fällen und Holz zu fahren, wenn ich sie jetzt hier umhergehen sehe, mit einer solchen Kinderei, wie Blumenpflücken beschäftigt, so will es mir scheinen, als wenn wir wirklich auf dem besten Wege wären, Jesu Wort zu folgen, nämlich umzukehren, und zu werden wie die Kindlein.«

Bo sah, daß Gertruds Augen strahlten. Sie verstand nun, was er sagen wollte, und der Gedanke erfreute ihn. »Ich finde, wir sind alle wie Kinder geworden, seit wir hier in dies Land gekommen sind«, sagte sie.

»Ja,« sagte Bo, »wir sind auf alle Fälle in der Beziehung wie die Kinder geworden, daß wir Unterricht in dem einen wie in dem andern haben nehmen müssen. Wir haben lernen müssen, wie wir Messer und Gabel halten, und wir haben es gelernt, Speisen zu lieben, die wir nie zuvor gekostet hatten. Und es war doch sehr kindlich, daß wir im Anfang jedesmal, wenn wir ausgingen, jemand mithaben mußten, um wieder heimfinden zu können, und daß wir vor Menschen gewarnt wurden, vor denen wir uns in acht nehmen sollten, und vor Orten, wohin wir nicht gehen sollten.«

»Wir, die wir aus Schweden kamen, waren ganz wie kleine Kinder, wir mußten ja zu allererst sprechen lernen«, sagte Gertrud. »Wir mußten nach den Namen von allen Gegenständen fragen, von Tisch und Stuhl, und Schrank und Bett. Und nun müssen wir uns wohl bald auf die Schulbank setzen, um die neue Sprache schreiben zu lernen.«

Sie wurden nun beide ganz eifrig und bemühten sich, neue Ähnlichkeitspunkte zu finden. »Ich habe Blumen und Bäume kennen lernen müssen, so wie meine Mutter es mich lehrte, als ich klein war«, sagte Bo. »Ich habe Pfirsiche von Aprikosen unterscheiden lernen, und den knolligen Feigenbaum von dem knorrigen Olivenbaum. Ich habe gelernt, daß man den Türken an seiner kurzen Jacke und den Beduinen an dem gestreiften Mantel und den Derwisch an der Filzmütze und den Juden an den kleinen Korkenzieherlocken am Ohr erkennen kann.«

»Ja,« sagte Gertrud, »das ist ganz so wie damals, als wir in unserer Kindheit die Bauern aus Floda und Gagnef an den verschiedenen Röcken und Hüten voneinander unterscheiden lernten.«

»Das allerwichtigste ist aber doch, daß wir die andern ganz für uns sorgen lassen,« sagte Bo, »und daß wir selbst gar kein Geld haben, sondern um jeden Schilling bitten müssen, den wir ausgeben. Jedesmal, wenn mir ein Fruchthändler eine Apfelsine oder eine Weintraube anbietet, muß ich daran denken, wie mir in meiner Kindheit zumute war, wenn ich auf dem Markt war und an den Honigkuchenbuden vorübergehen mußte, weil ich keinen Schilling in der Tasche hatte.«

»Ich glaube, wir sind ganz umgewandelt«, sagte Gertrud. »Wenn wir jetzt wieder nach Schweden zurückkehrten, würde uns daheim gewiß niemand mehr kennen.«

»Wir können doch nicht umhin, zu finden, daß wir wieder Kinder geworden sind, wenn wir auf einem Kartoffelfelde graben, das nicht größer ist als eine Scheunentenne,« sagte Bo, »und darauf mit einem Pflug pflügen, der aus einem Zweig gemacht ist, und einen kleinen Esel vor den Wagen spannen, wenn wir ausfahren wollen, und keine ordentliche Landwirtschaft haben, sondern nur ein klein wenig Weinbau spielen.«

Bo schloß die Augen, um besser nachdenken zu können. Es fiel Gertrud plötzlich auf, daß er Ingmar Ingmarsson auffallend glich – das ganze Gesicht wurde lauter Nachdenken und Klugheit.

»Aber das ist doch wohl nicht das wichtigste«, sagte Bo nach einer kleinen Weile. »Das wichtigste ist doch, daß wir kindliche Gedanken über die Menschen bekommen haben, daß wir glauben, daß uns alle wohl wollen, und zwar, obwohl einige von ihnen häßlich genug gegen uns sind.«

»Ja, es ist wohl die Gesinnung, an die Christus hauptsächlich dachte, als er diese Worte sagte«, meinte Gertrud.

»Aber auch unsere Gesinnung ist verändert worden«, erwiderte Bo. »Das ist sie wahrlich. Hast du nicht bemerkt, wenn wir jetzt einen schweren Kummer haben, so schleppen wir uns nicht Tage und Wochen damit herum, sondern wir lassen das Ganze im Laufe von ein paar Stunden vergessen sein.«

Gerade als Bo dies sagte, rief man nach ihnen; sie sollten kommen, und Frühstück essen. Bo war ganz verdrießlich darüber. Er wäre gern den ganzen Tag so neben Gertrud dahingegangen und hätte mit ihr reden können, ohne hungrig zu werden.

Jedenfalls lag an diesem Tage eine solche Ruhe und Befriedigung über ihm, daß er dachte, die Kolonie habe wahrlich recht: »Die Menschen brauchen nur in Frieden und Einigkeit zu leben, so wie wir es tun, um glücklich zu sein. Ich bin jetzt ganz zufrieden mit allem, so wie es ist. Ich mache mir nichts mehr daraus, Gertrud zur Frau zu bekommen; ich empfinde keine qualvolle Sehnsucht mehr wie in alten Zeiten. Ich bin ganz glücklich, wenn ich sie nur jeden Tag ein wenig sehen kann und ihr dienen und sie beschützen darf.«

Er hätte Gertrud so gern erzählt, daß er vollkommen verwandelt sei, sich auch nach dieser Richtung hin wie ein Kind fühlte; aber er war zu schüchtern, er konnte die rechten Worte nicht finden.

Auf dem ganzen Heimweg grübelte er darüber nach. Es war ihm, als müsse er Gertrud notwendigerweise ein paar Worte darüber sagen, daß er ganz verwandelt sei, damit sie sich in seiner Gesellschaft sicher fühle und ihn wie einen Bruder betrachten könne.

Sie kamen gerade um Sonnenuntergang nach Hause. Bo setzte sich unter eine alte Sykomore, die vor dem Tor des Hauses stand; er wollte so lange wie möglich im Freien bleiben. Als alle hineingegangen waren, kam Gertrud zu ihm und fragte ihn, ob er nicht auch hineingehen wolle.

»Ich sitze hier und denke an das, worüber wir heute vormittag gesprochen haben«, sagte Bo. »Ich denke daran, wie es wohl gehen würde, wenn Christus hier auf diesem Wege daherkäme, den er ja sicher zu seinen Lebzeiten unzähligemal gewandelt ist, und er sich hier unter den Baum setzte und zu mir sagte: ›Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein, so könnet ihr nicht in das Reich Gottes kommen.‹«

Bo saß da und sprach mit einem träumerischen Klang in der Stimme, als denke er laut. Gertrud saß still da und lauschte.

»Dann würde ich ihm antworten und sagen«, fuhr Bo fort: »Herr, wir helfen einander, ohne Lohn dafür zu fordern, ganz wie Kinder, und wenn wir uns miteinander erzürnen, so entsteht kein lebenslanger Haß daraus, sondern wir sind schon wieder gute Freunde, ehe noch die Sonne untergeht. Siehst du denn nicht, Herr, daß wir sind wie die Kinder?«

»Und was glaubst du, das Christus dir dann antworten wird?« fragte Gertrud mit sanfter Stimme.

»Er antwortet gar nicht«, sagte Bo. »Er sitzt ganz still da und sieht mich an und sagt wieder: ›Ihr müsset werden wie die Kindlein, wenn ihr in mein Reich kommen wollt.‹ Und ich sage zu ihm ungefähr wie vorhin: ›Herr, wir lieben alle Menschen, so wie es Kinder tun. Wir machen keinen Unterschied zwischen Juden und Armeniern, zwischen Beduinen und Türken, zwischen Weiß und Schwarz. Wir lieben Gelehrte und Ungelehrte, hoch und niedrig, und wir teilen unsere Güter gleichmäßig zwischen Christen und Mohammedaner. Sind wir denn da nicht, Herr, geworden wie die Kinder und können in dein Reich eingehen?‹«

»Was antwortet Christus dann?« fragte Gertrud ihn wieder.

»Er antwortet nichts«, sagte Bo. »Er bleibt hier unter dem Baum sitzen und sagt ganz leise: ›Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein, so könnt ihr nicht in mein Reich kommen.‹ Und nun verstehe ich, was er meint, und ich sage zu ihm: ›Herr, auch nach der Richtung hin bin ich wie ein Kind geworden, daß ich nicht länger eine solche Liebe empfinde wie in alten Zeiten; meine Geliebte ist für mich wie ein Spielkamerad und eine Schwester, mit der ich auf die Wiese hinausgehe und Blumen pflücke. Herr, bin ich da nicht – – –«

Bo unterbrach sich plötzlich. Denn im selben Augenblick, als er diese Worte aussprach, fühlte er, daß er log, und es war ihm, als stünde Christus wirklich vor ihm und sehe bis in sein Innerstes hinein. Und Bo glaubte, daß Jesus müsse sehen können, wie die Liebe sich in ihm aufbäumte und an ihm zerrte wie ein Raubtier, weil er sie in der Nähe der Geliebten verleugnete. Und in heftiger Erregung barg Bo sein Antlitz in den Händen, während er stöhnend die Worte herausbrachte: »Nein, Herr, ich bin nicht wie ein Kind, ich kann nicht in dein Reich eingehen. Vielleicht können die andern es. Aber ich kann das Feuer in meinem Innern und das Leben in meinem Herzen nicht auslöschen. Denn ich liebe und brenne in Begehren, wie nie ein Kind brennen kann. Aber ist es dein Wille, Herr, so soll mich dies Feuer bis an das Ende meines Lebens verzehren, ohne daß ich Linderung für meine Sehnsucht suche.«

Bo blieb lange unter dem Baum sitzen und weinte, überwältigt von seiner Liebe. Als er endlich aufsah, hatte Gertrud ihn verlassen. Sie war so still davongegangen, daß er es nicht bemerkt hatte.



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