Selma Lagerlöf
Im Heiligen Lande
Selma Lagerlöf

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In Tagen der Armut

Als Ingmar Ingmarsson ein paar Monate in Jerusalem gewesen war, kam er eines Tages an das Jaffator, und dort blieb er stehen. Es war ungewöhnlich schönes Wetter, viele Menschen waren auf den Beinen, und Ingmar stand da und ergötzte sich an dem bunten Menschenstrom, der durch das Tor aus und einzog.

Aber als er noch nicht lange dagestanden hatte, vergaß er ganz, wo er sich eigentlich befand. Seine Gedanken fingen an, sich mit einer Frage zu beschäftigen, die ihn jeden Tag in Anspruch nahm. »Wüßte ich nur, was ich machen soll, um Gertrud zu bewegen, daß sie die Kolonie verläßt«, dachte er. »Aber es sieht ja so aus, als wenn das ganz unmöglich ist.«

Es war ihm allmählich klar geworden, daß er Gertrud nicht in Jerusalem zurücklassen konnte, sondern daß er sie mit nach Hause nehmen mußte, wenn er je wieder Frieden in seiner Seele finden wollte. »Ach, hätte ich sie nur wieder daheim, in dem alten Schulhause«, dachte er. »Hätte ich sie doch nur aus diesem schrecklichen Land heraus, wo es so viele herzlose Menschen gibt und so viele gefährliche Krankheiten und so viele verrückte Ideen und Schwärmereien. Gertrud wieder in die Heimat nach Dalarne zurückzubringen, das ist wirklich das einzige, woran ich jetzt denken muß. Ob ich sie liebe oder ob sie mich liebt, das ist etwas, woran ich mich gar nicht kehren darf; ich muß an nichts weiter denken, als sie nach Hause zu ihren alten Eltern zurückzubringen.

Es steht wirklich gar nicht mehr so gut in der Kolonie wie damals als ich kam«, dachte Ingmar. »Hier stehen harte Zeiten bevor, schon allein das könnte ein Grund sein, Gertrud nach Hause zu bringen. Ich weiß nicht, wodurch die Kolonie auf einmal so arm geworden ist, es sieht so aus, als hätten sie gar kein Geld mehr. Nicht einer von ihnen wagt, sich ein neues Kleidungsstück anzuschaffen, niemand wagt, sich auch nur eine Apfelsine in einer Fruchtbude zu kaufen, und ich finde, es sieht fast so aus, als wenn sie glauben, daß sie sich nicht mehr bei den Mahlzeiten satt essen dürfen.«

In der letzten Zeit hatte Ingmar zu bemerken geglaubt, daß Gertrud angefangen hatte, Bo zu lieben, und er konnte sich fast vorstellen, daß sie sich mit ihm verheiraten würde, wenn sie nur glücklich daheim wären. Dies erschien Ingmar als das größte Glück, worauf er jetzt hoffen könnte. »Ich weiß ja wohl, daß ich Barbro nie zurückgewinnen kann,« sagte er zu sich selbst, »aber ich würde doch glücklich sein, wenn ich mich nur nicht mit einer andern zu verheiraten brauche. Ich könnte gut allein durch das Leben gehen.« Aber er beeilte sich stets, diese Gedanken zu verscheuchen. Er ging mit sich selbst strenge ins Gericht. »Du darfst weder an dies noch an jenes denken. Du darfst dir nichts einbilden, du hast nichts weiter zu tun, als dich zu bemühen, ausfindig zu machen, wie du Gertrud nach Hause bringen kannst.«

Während Ingmar in diese Gedanken vertieft dastand, sah er, daß einer von den Gordonisten in Gesellschaft des Konsuls aus dem Konsulatsgebäude kam. »Das ist doch sonderbar«, dachte Ingmar, er war jetzt so eingeweiht in alles, was die Kolonisten betraf, daß er wußte, daß der Konsul ihnen immer zu schaden suchte, wo er nur konnte. Es herrschte beständig eine große Feindschaft zwischen ihm und allen, die zu der Kolonie gehörten.

Der Mann, der den Konsul besucht hatte, war ein Amerikaner, namens Clifford. Als sie auf die Straße hinausgekommen waren, reichte ihm der Konsul die Hand und sagte Adieu. Es klang, als herrsche ein besonders gutes Einverständnis zwischen ihnen. »Du willst es also morgen versuchen«, sagte der Konsul. »Ja,« sagte der Mann, »ich muß sehen, mit der Sache ins klare zu kommen, solange Mrs. Gordon noch fort ist.« – »Sei nur guten Mutes«, sagte der Konsul; »wie es auch gehen mag, ich werde stets dafür sorgen, dir den Rücken zu decken.«

Im selben Augenblick fiel der Blick des Konsuls auf Ingmar. »Ist das nicht einer von ihnen, der da steht?« fragte er leise. Clifford sah sich erschreckt um, beruhigte sich jedoch als er sah, daß es Ingmar war. »Ach so, das ist der, der immer so aussieht, als wenn er den ganzen Tag schläft«, sagte er; er achtete ihn so gering, daß er nicht einmal die Stimme senkte. »Er ist erst kürzlich gekommen, ich glaube, er versteht nicht einmal englisch.«

Bei diesem Worte beruhigte sich der Konsul ebenfalls, und als er sich endlich von Clifford trennte, sagte er: »Morgen werden wir beide diese Bande also endlich los werden.« – »Ja,« sagte Clifford, aber er sah jetzt doch etwas unruhiger aus. Er blieb eine Weile stehen und sah dem Konsul nach, und da erschien es Ingmar, als zittere er, und als sei sein Gesicht aschgrau. Endlich ging er. Ingmar blieb stehen, ohne sich zu rühren. Er war jedoch sehr unruhig über das, was er eben vernommen hatte.

Ja, dachte Ingmar, er hat leider recht, daß ich nicht allzugut englisch verstehe, aber so viel kann ich doch verstehen, daß er die Absicht hat, denen da draußen in der Kolonie irgendeinen Streich zu spielen, und daß das gerade jetzt sein soll, wo Mrs. Gordon nach Jaffa gereist ist. Ich möchte wohl wissen, was er im Schilde führt. Der Konsul sah so vergnügt aus, als wenn er die ganze Kolonie schon zerstört sähe.

Soviel ich weiß, ist dieser Clifford mit der Einrichtung in der Kolonie unzufrieden gewesen, dachte Ingmar weiter. Ich habe sagen hören, er wäre einer der eifrigsten gewesen, als er kam, aber jetzt in der letzten Zeit ist er ein wenig lau geworden. Ja, wer kann wissen, ob er sich nicht in irgendein Mädchen verliebt hat, das er nicht auf andere Weise aus der Kolonie fortschaffen kann; und da denkt er vermutlich, daß die Kolonie jetzt doch nicht weiter bestehen kann, da diese Armut über sie gekommen ist, und daß es ja ebenso gut sein mag, wenn sie, je eher je lieber, aufgelöst wird. Ja, wenn ich mir die Sache recht überlege, kann ich es begreifen, daß ihn die Armut ganz beeinflußt hat. Er ist wohl schon lange umhergeschlichen, und hat versucht, alle die andern aufzuhetzen. Ich selbst habe einmal gehört, wie er dastand und Bemerkungen darüber machte, daß Miß Young feiner gekleidet sei als die andern jungen Mädchen, und einmal behauptete er, daß sie an dem Tisch, wo Mrs. Gordon selbst saß, bessere Speisen erhielten, als an allen den andern Tischen.

Gott soll mich bewahren, sagte er und trat einen Schritt auf die Straße hinaus. Er ist sicher ein gefährlicher Bursche, dieser Clifford. Es wird wohl am besten sein, wenn ich so schnell wie möglich nach Hause eile und ihnen erzähle, was ich gehört habe.

Aber im nächsten Augenblick zog Ingmar den Fuß wieder zurück, und stand wieder auf dem früheren Platz neben dem Tor. Ingmar, du sollst der Letzte sein, der den Kolonisten erzählt, was über ihrem Haupt schwebt.

Laß du den Mann nur tun, was er will, dann hast du leichte Arbeit. Standest du nicht eben noch da und grübeltest darüber nach, wie du Gertrud überreden solltest, sich von den Kolonisten zu trennen! Jetzt wird die Sache ganz von selbst gehen. Es ist klar, daß der Konsul wie auch Clifford überzeugt waren, daß es bald keine Gordonisten mehr in Jerusalem geben würde.

Ja, wenn die Sache nur so günstig liegt, daß die Kolonie aufgelöst werden könnte, dachte Ingmar. Da würde Gertrud sich auch freuen, mit nach Schweden zurückzukehren.

Im selben Augenblick als Ingmar einfiel, daß er auch bald wieder nach Hause reisen müsse, fühlte er plötzlich, wie groß seine Überraschung war. Das muß ich sagen, wenn ich daran denke, daß ich jetzt um diese Zeit im Februar eigentlich oben in den Wäldern sein und Bäume fällen müßte, so fängt es an, mir in den Armen zu zucken, und die Finger jucken mir plötzlich danach, einen Axtschaft zu umklammern. Ich kann eigentlich gar nicht begreifen, wie die Schweden es hier drüben so lange haben aushalten können, ohne im Walde oder auf dem Acker zu arbeiten. Und ich bin so fest überzeugt, daß, wenn ein Mann wie Tims Halvor nur einen Kohlenmeiler zu versorgen oder ein Feld zu pflügen gehabt hätte, er noch heutigentages am Leben sein würde.

Ingmar konnte sich vor Eifer und Sehnsucht kaum ruhig verhalten. Er ging durch das Tor hinaus und den Weg hinab, der quer durch das Tal Hinnom führt. Wieder und wieder und mit immer größerer Bestimmtheit kehrte der Gedanke zurück, daß, wenn sie nur zu Hause wären, Gertrud sich mit Bo verheiraten würde, und er, Ingmar, würde dann sein Leben in Einsamkeit leben dürfen. Wer weiß, vielleicht würde Karin mit nach Hause kommen, und Hausfrau auf dem Ingmarshof werden, dachte er. Das würde das allervernünftigste sein, und dann könnte es ja so eingerichtet werden, daß ihr Sohn einmal den Hof erben würde.

Und wenn Barbro auch in ihr Heimatdorf zurückzieht, so ist sie doch nicht weiter entfernt, als daß ich sie häufig sehen kann, dachte er, und fuhr fort, Pläne zu machen. Ich kann ja jeden Sonntag nach ihrer Kirche fahren, wenn ich es will, hin und wieder treffen wir uns dann auch einmal auf einer Hochzeit oder bei einem Begräbnis, und bei den Festen kann ich ja neben ihr sitzen und mit ihr sprechen. Wenn wir auch geschieden sind, so brauchen wir doch keine Feinde zu sein.

Einmal begann Ingmar auch darüber nachzudenken, ob es nicht eine Schande für ihn sei, daß er sich so sehr freute, daß die Kolonie wahrscheinlich aufgelöst werden würde. Aber er verteidigte sich selbst sehr eifrig. Niemand kann so lange unter diesen Kolonisten leben, wie ich es getan habe, dachte er, ohne zu sehen, daß es vorzügliche Menschen sind. Und doch kann ja niemand wünschen, daß dies ewig währt. Wieviel von ihnen sind nicht schon tot, und wieviele Verfolgungen haben sie nicht ertragen müssen, und dann die bittere Armut, die jetzt über sie gekommen ist! Ich kann es wirklich nicht besser einsehen, als daß jetzt, wo die Armut noch zu dem übrigen hinzugekommen ist, man nur wünschen kann, daß die Kolonie so schnell wie möglich aufgelöst wird.

Während Ingmar so dachte, hatte er den Heimweg fortgesetzt. Er war durch das Tal Hinnom hinausgekommen, und schritt nun auf dem Wege dahin, der aufwärts nach dem »Berge des bösen Rats« führt. Dort oben wimmelt es von palastartigen Gebäuden neben uralten Ruinen. Ingmar ging eine ganze Strecke dazwischen herum, ohne eigentlich daran zu denken, wohin er geraten war. Bald stand er still, bald ging er wieder, so wie man es tut, wenn man ganz in seine Gedanken versunken ist.

Schließlich blieb er unter einem Baum stehen. Er hatte dort schon ziemlich lange gestanden, ehe er sich daran machte, ihn zu betrachten. Er war sehr hoch und zeichnete sich in einer Beziehung von allen den andern Bäumen aus, indem er nur Zweige an der einen Seite des Stammes hatte. Nicht ein einziger von diesen Zweigen wuchs nach oben, sondern sie waren alle miteinander verwoben, und bildeten eine dichte, verfilzte Masse, die gerade nach Osten zeigte.

Als Ingmar endlich entdeckte, was für ein Baum es war, zuckte er zusammen. Er erschrak sehr. Dies ist ja der Judasbaum, dachte er. Hier war es ja, wo der Verräter sich erhängte, das ist doch sonderbar – wie bin ich nur einmal hierhergekommen?

Er ging nicht weiter; er blieb stehen und sah an dem Baum hinauf.

Jetzt möchte ich wohl wissen, ob der liebe Gott mich hierher geführt hat, weil er meint, daß ich ein Verräter gegen die Leute in der Kolonie bin.

Wieder blieb er einige Augenblicke schweigend stehen. Wie, wenn es nun vielleicht Gottes Wille ist, daß diese Kolonie weiter leben und gedeihen soll, sagte er.

Mit dem Denken ging es jetzt schwer und langsam. Und die Gedanken, die sich hervorarbeiteten, waren bitter und qualvoll.

Du kannst dich verteidigen wie du willst, es bleibt stets ein Unrecht, daß du die Kolonisten nicht warnst, wenn du weißt, daß Pläne gegen sie geschmiedet werden.

Es sieht so aus, als wenn du glaubtest, daß der liebe Gott nicht gewußt hätte, was er tat, als er deine Angehörigen und Liebsten hier hinüber in dies fremde Land führte. Aber selbst wenn du die Absicht nicht erraten kannst, so kannst du doch begreifen, daß es nicht sein Wille war, daß dies alles nicht länger als ein paar Jahre dauern sollte.

Vielleicht hat Gott auf Jerusalem hinabgesehen und auf alle die Streitigkeiten und Zänkereien, die die Stadt verheeren, und da hat er gedacht: Siehe, ich will hier eine Freistätte schaffen, wo Einigkeit wohnt, und eine Wohnung für den Frieden und die Eintracht will ich hier errichten.

Ingmar blieb auf demselben Fleck stehen und ließ die Gedanken miteinander kämpfen. Sie standen sich gegenüber wie Streiter, und rangen mächtig.

Die Hoffnung, die Ingmar beseelt hatte, daß er bald nach Hause reisen würde, hatte fest und sicher Besitz von ihm genommen, und er kämpfte lange, um sie behalten zu dürfen. Die Sonne ging unter, und es folgte schnell die Dunkelheit, Ingmar aber blieb in dem Abenddunkel stehen und kämpfte weiter.

Endlich faltete er seine Hände in innigem Gebet. «Jetzt flehe ich dich an, Gott, daß du mir hilfst, deine Wege zu gehen«, betete er.

Kaum waren diese Worte gesagt, als ein wunderbarer Friede Ingmars Herz erfüllte. Gleichzeitig aber fühlte er, daß sein ganzer Wille vollständig hinschwand, und er fing an, nach einem Willen zu handeln, der nicht sein eigener war, sondern der eines andern. Er empfand dies so deutlich, als wenn jemand ihn bei der Hand genommen und geführt hätte. – Gott leitet mich, dachte er.

Er stieg von dem »Berge des bösen Rats« hinab und ging durch das Tal Hinnom und an Jerusalem vorüber. Es war die ganze Zeit hindurch seine Absicht, sich nach der Kolonie zu begeben und denjenigen, die sie leiteten, zu erzählen, was er entdeckt hatte. Aber als er an den Kreuzweg kam, dort, wo der Weg nach Jaffa sich abzweigt, vernahm er Pferdegetrampel hinter sich. Er wandte sich um. Es war ein Dragoman, der mehrmals in der Kolonie gewesen war, und der nun mit zwei Pferden daher galoppiert kam. Er ritt auf dem einen und führte das andere am Zügel.

»Wo willst du hin?« rief Ingmar und versuchte, ihn anzuhalten, indem er vorüberritt. – »Ich will nach Jaffa«, erwiderte der Mann. – »Nach Jaffa – dahin will ich auch!« rief Ingmar aus. Im selben Augenblick kam ihm der Gedanke, daß er diese Gelegenheit benutzen, und geradeswegs zu Mrs. Gordon selber reisen müsse, statt vorher in die Kolonie zurückzukehren.

Sie einigten sich bald darüber, daß Ingmar auf dem ledigen Pferd mit nach Jaffa reiten sollte. Es war ein flottes Pferd, und Ingmar gratulierte sich zu seinem guten Einfall. Die sieben Meilen bis Jaffa kann ich wohl über Nacht reiten, dachte er. Auf diese Weise kann Mrs. Gordon morgen nachmittag wieder in der Kolonie sein. Aber als Ingmar eine Stunde geritten war, bemerkte er, daß sein Pferd anfing zu lahmen. Er stieg ab und entdeckte, daß das Pferd das eine Hufeisen verloren hatte. »Was sollen wir nun machen?« sagte er zu dem Dragoman, der neben ihm ritt. »Dabei ist nichts weiter zu machen,« erwiderte der Mann, »als daß ich nach Jerusalem zurückkehre, und es beschlagen lasse.«

So stand nun Ingmar ganz allein auf dem Wege und wußte nicht aus noch ein. Aber plötzlich beschloß er, die Reise nach Jaffa zu Fuß zu machen. Er wußte nicht, ob dies das klügste war, das er tun konnte. Aber die Macht, die Herrschaft über ihn bekommen hatte, trieb ihn vorwärts. Er hatte nicht Ruhe genug, um umzukehren.

Ingmar wanderte also mit langen Schritten den Weg entlang, er hatte große Eile. Als er eine Weile gegangen war, kamen ihm doch unruhige Gedanken. Wie in aller Welt soll ich nur erfahren, wo Mrs. Gordon wohnt? Es war eine ganz andere Sache, als ich den Dragoman bei mir hatte. Jetzt werde ich wohl gezwungen sein, von Haus zu Haus zu gehen und nach ihr zu fragen. Aber obgleich er sehr wohl die Berechtigung dieser Sorge einsah, setzte er dennoch seine Wanderung fort.

Es war eine gute, breite Landstraße, auf der er ging. Selbst wenn die Nacht dunkel gewesen wäre, hätte es keine Schwierigkeiten gemacht, darauf entlang zu gehen. Aber um acht Uhr stieg der Mond hell am Himmel auf, und alle Hügel, zwischen denen sich der Weg hindurchschlängelte, wurden weit und breit nach allen Seiten hin sichtbar.

Der Weg kletterte an diesen Hügeln empor. Sobald Ingmar über einen von ihnen gewandert war, stand ein neuer da und wartete auf ihn. Er war oft recht müde, aber die unbekannte Macht trieb ihn weiter. Er ließ sich keine Zeit, anzuhalten und auch nur eine Minute zu ruhen.

Auf diese Weise verging nun Stunde auf Stunde. Wie lange er gegangen war, wußte er nicht, aber er befand sich noch immer oben auf den Hügeln. Sobald er den Gipfel eines Berges erreichte, dachte er, daß er jetzt wohl so weit gekommen sein müsse, daß er die Ebene von Saron und das Meer sehen könnte, das sich dahinter ausbreitete. Aber er sah nichts weiter als eine Hügelreihe nach der andern, die sich alle vor ihm auftürmten.

Ingmar zog seine Uhr heraus. Der Mond schien so hell, daß er mit der größten Leichtigkeit Zahlen und Zeiger unterscheiden konnte. Es war bereits gegen elf Uhr. »Mein Gott, ist es so spät,« dachte er, »und ich wandere noch hier oben zwischen den Bergen von Judäa.«

Seine Unruhe ward immer stärker, er wagte nicht mehr, zu gehen, er mußte laufen. Er schnappte nach Luft. Das Blut pochte in seinen Schläfen, und sein Herz schlug heftig. »Ich richte mich selbst zugrunde, auf diese Weise kann ich es nicht mehr lange aushalten«, sagte er. Aber er fuhr doch fort, zu laufen.

In voller Fahrt kam er einen langen Hügel hinabgelaufen. Der Weg lag eben und gerade im Mondschein da, und er dachte an keine Gefahr. Aber unten im Tal kam er auf einmal in einen dunklen Schatten hinein. Dort konnte er den Weg nicht so klar vor sich sehen, aber er fuhr trotzdem fort, zu laufen. Da strauchelte er über einen Stein und fiel um.

Er stand gleich wieder auf, merkte aber im selben Augenblick, daß er sein Knie gestoßen hatte, so daß es ihm schwer wurde, zu gehen. Er ging hin und setzte sich an den Wegesrand. »Das geht wohl bald vorüber«, dachte er. »Aber nun werde ich mich wohl vorläufig ein wenig ausruhen müssen.«

Es war ihm indessen fast unmöglich, still zu sitzen. Er konnte sich kaum Zeit lassen, zu atmen.

»Da kann man merken, daß ich mich selbst nicht in der Gewalt habe«, sagte er. »Es ist, als zerre und schleppe mich jemand nach Jaffa.«

Er stand wieder auf. Er hatte starke Schmerzen im Knie, aber daraus machte er sich nichts, er wanderte weiter. Nach einer Weile verweigerte sein Bein vollständig den Dienst, und er blieb auf dem Wege liegen.

»So, jetzt kann ich nicht weiter«, sagte er, indem er fiel. Er sprach zu der Macht, die ihn vorwärts trieb. »Jetzt mußt du in Gottes Namen etwas ausfindig machen, was mir helfen kann.«

Als Ingmar dies sagte, hörte er in weiter Ferne das Geräusch von rollenden Rädern. Es näherte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit. Fast im selben Augenblick, als er es noch in der Ferne vernommen hatte, war es schon dicht bei ihm.

Er konnte an der Geschwindigkeit hören, daß die Pferde in wildestem Galopp den Hügel hinabkamen. Durch all den andern Lärm hindurch hörte man eine Peitsche, die unaufhörlich knallte, und die Zurufe, mit denen der Kutscher das Pferd antrieb.

Schnell machte sich Ingmar daran, sich vom Wege zu erheben, wo er lag, und schleppte sich an den Wegesrand, um nicht überfahren zu werden.

Endlich kam der Wagen den langen Hügel herab, den Ingmar vor kurzem hinabgelaufen war. Er konnte den, der gefahren kam, sehr gut sehen. Das Fuhrwerk war eine gewöhnliche einfache, grün gestrichene Karre, von der Art, wie man sie in Westdalarne zu benutzen pflegt. »Ja,« dachte Ingmar gleich, »dies geht nicht mit rechten Dingen zu. Solche Art Wagen gibt es hier in Palästina doch nicht.« Der Kutscher kam ihm noch wunderlicher vor. Auch er war von daheim, und sah aus wie ein echter Darlekarlier, mit einem kleinen schwarzen Hut und kurzgeschorenem Haar. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte er den Rock abgeworfen und stand da und fuhr in einer grünen Tuchweste mit roten Ärmeln. Es war dies die Tracht der Darlekarlier, darüber konnte niemand im Zweifel sem. Auch das Pferd war sonderbar. Er war ein prächtiges, großes und starkes Tier. Es war schwarz von Farbe und so blank und gut gepflegt, daß es förmlich glänzte. Der Mann, der fuhr, setzte sich nicht, sondern stand da und beugte sich über das Pferd und knallte mit der Peitsche über seinem Kopf, um es anzutreiben. Aber das Pferd schien die Schläge nicht zu spüren, es war auch nicht angestrengt von der furchtbaren Eile, sondern jagte dahin, als sei das Ganze nur ein Spiel.

Als der Wagen jetzt an Ingmar herangekommen war, hielt er mit einem Ruck. »Du kannst gern einsteigen, wenn du willst«, sagte der Mann. So sehr Ingmar auch darauf erpicht war, weiterzugelangen, hatte er doch keine sonderliche Lust, das Anerbieten anzunehmen. Nicht genug damit, daß er wußte, daß dies alles Spuk und Teufelskram war, sondern der Bursche hatte auch ein widerliches Gesicht voller Narben, als habe er an vielen Prügeleien teilgenommen. Über dem einen Auge hatte er obendrein einen frischen Messerhieb. »Ich fahre wohl schneller, als du es gewohnt bist,« sagte der Mann, »aber ich glaubte, du hättest Eile.« – »Hast du ein sicheres Pferd?« sagte Ingmar. – »Es ist blind, aber es ist sicher genug.« – Ingmar fing an, vom Kopf bis zum Fuß zu zittern. Der Mann beugte sich über die Karre und sah ihm ins Gesicht. – »Fahre du nur ruhig mit«, sagte er. »Du kannst doch begreifen, wer mich geschickt hat.« Als er dies sagte, war es Ingmar, als kehre sein ganzer Mut zurück. Er stieg auf den Wagen, und in wahnsinniger Eile fuhren sie hinab in die Ebene von Saron.

* * *

Mrs. Gordon war nach Jaffa gereist, um eine Freundin zu pflegen, die krank war. Sie war mit einem Missionar verheiratet, der den Kolonisten immer freundlich gesonnen gewesen war und ihnen mancherlei Hilfe geleistet hatte.

Es war nun in der Nacht, als sich Ingmar Ingmarsson auf dem Wege nach Jaffa befand. Mrs. Gordon hatte bis nach Mitternacht bei der Kranken gewacht, aber dann war sie abgelöst worden. Als sie aus dem Krankenzimmer kam, sah sie, daß die Nacht hell und klar war, mit jenem wunderbaren silberweißen Mondschein, wie man ihn niemals, außer am Meer, sieht. Sie ging hinaus und stand auf dem Altan, um über die großen Orangengärten hinabzusehen, über die alte Stadt, die sich auf ihrem steilen Felsen erhob, und über das glitzernde, unendliche Meer.

Mrs. Gordon wohnte nicht in Jaffa selbst, sondern in der deutschen Kolonie, die auf einer kleinen Anhöhe außerhalb der Stadt liegt. Gerade unterhalb ihres Altans lief die breite Landstraße dahin, die die Kolonie quer durchschnitt. In dem weißen Licht konnte sie mit bloßem Auge eine weite Strecke zwischen Häusern und Gärten verfolgen.

Mrs. Gordon sah jetzt, daß ein Mann den Weg hinabgegangen kam, sehr langsam und gleichsam unschlüssig. Es war ein großer Mann, und der Mondschein machte ihn noch größer, als er wirklich war, so daß sie meinte, er sehe fast aus wie ein Riese. Jedesmal, wenn er an einem Hause vorüberkam, blieb er stehen und sah es sich sehr genau an. Mrs. Gordon wußte nicht, woher es kam, aber sie hatte plötzlich ein Gefühl, daß etwas Unheimliches und Gespensterhaftes an dem Mann sei, wie, wenn er ein Gespenst wäre, das umherging und nach dem Hause suchte, wo es eindringen und die Ärmsten, die dort wohnten, zum Tode erschrecken könne.

Endlich erreichte der Mann das Haus, wo Mrs. Gordon stand. Dies betrachtete er noch länger als die anderen; er ging ganz rund herum, und sie hörte, daß er an die Fensterläden klopfte und versuchte, den Drücker der Haustür herumzudrehen. Mrs. Gordon beugte sich weit über den Altan vor, um zu sehen, was hieraus werden würde. Und als sie da stand, gewahrte der Mann sie.

»Mrs. Gordon,« sagte er mit leiser und vorsichtiger Stimme, »könnte ich nicht ein paar Worte mit Ihnen reden?«

Im selben Augenblick bog er den Kopf zurück, um zu ihr hinaufzusehen. Da sah sie, daß es Ingmar Ingmarsson war.

»Mrs. Gordon,« sagte Ingmar, »ich muß Ihnen vor allen Dingen sagen, daß ich auf meine eigene Verantwortung hierhergekommen bin und Sie aufgesucht habe; niemand von den Brüdern weiß davon.« – »Ist daheim etwas geschehen?« fragte Mrs. Gordon. – »Nein, geschehen ist eigentlich nichts,« sagte Ingmar, »aber es würde doch wohl am besten sein, wenn Sie nach Hause reisten.« – »Ich werde morgen kommen«, sagte Mrs. Gordon. Ingmar stand eine Weile da und dachte nach. Dann sagte er in seinem allerlangsamsten Ton: »Es wäre am besten, wenn Sie sofort abreisten.«

Mrs. Gordon wurde ein wenig ungeduldig; sie dachte daran, wie beschwerlich es sein würde, das ganze Haus zu wecken, und sie meinte auch, daß es wohl nicht so notwendig sein würde, sich nach dem zu richten, was dieser Bauer sagte. – »Wenn ich nur erfahren könnte, was da los ist«, dachte sie, und fing an, ihn auszufragen, ob jemand krank sei, oder ob es ihnen vielleicht an Geld fehle. Statt zu antworten, wandte sich Ingmar zum Gehen um. – »Wollen Sie wieder fort?« fragte Mrs. Gordon. – »Sie haben die Nachricht erhalten, jetzt können Sie tun, was Sie wollen«, erwiderte Ingmar, ohne sich umzuwenden. Da begann Mrs. Gordon zu verstehen, daß irgend etwas Ernsthaftes im Anzuge war. Es währte nicht lange, bis sie ihren Entschluß gefaßt hatte. »Wenn Sie einen Augenblick warten wollen, können Sie mit mir fahren«, rief sie Ingmar zu. – »Nein, ich danke Ihnen,« erwiderte er, »ich habe eine bessere Beförderung, als Sie mir bieten können.«

Mrs. Gordon bekam von ihrem Wirt ein Paar schnelle Pferde. Sie jagte mit fliegender Eile über die flache Ebene von Saron dahin und dann zwischen den Hügeln hinab nach dem Gebirge Judäa.

Gerade als der Morgen zu dämmern begann, kam sie die langen Hügel hinaufgefahren, die oberhalb des alten Räubernestes Abu Gosch liegen. Sie war jetzt sehr unzufrieden damit, daß sie sich so leicht hatte zur Heimreise verlocken lassen. Dieser Bauer kannte die Verhältnisse ja gar nicht, es war kein Grund, sich nach dem zu richten, was er sagte. Wieder und wieder sagte sie sich selbst, daß sie die Reise nicht fortsetzen, sondern nach Jaffa zurückkehren solle.

Sie war gerade eine lange Hügelreihe hinaufgekommen und fuhr jetzt in eine Talsenkung hinein, als sie einen Mann am Wegesrande sitzen sah. Er saß da, die Hand unter der Wange, und es sah so aus, als schlafe er. Aber als der Wagen vorüberfuhr, sah er auf, und Mrs. Gordon sah, daß es Ingmar Ingmarsson war.

»Wie ist es möglich, daß der schon so weit gekommen sein kann?« dachte sie. Sie ließ den Wagen halten und rief Ingmar an. Als Ingmar ihre Stimme hörte, wurde er über alle Maßen froh. Er erhob sich sofort und kam an den Wagen. »Fahren Sie nach der Kolonie zurück, Mrs. Gordon?« fragte er. – »Ja«, antwortete sie. – »Das ist ja ein großes Glück«, sagte Ingmar. »Ich war gerade auf dem Wege nach Jaffa, um Sie zu holen, aber da fiel ich und verletzte mir das Knie, und nun habe ich die ganze Nacht hier gesessen.«

Mrs. Gordon sah ihn entsetzt an. »Sind Sie über Nacht nicht in Jaffa gewesen, Ingmar Ingmarsson?« fragte sie ihn. – »Ach nein, ich war da nur im Traum, sobald ich ein wenig einschlief, träumte mir, daß ich in Jaffa straßauf, straßab ging, um Sie zu suchen.« Mrs. Gordon wurde ganz wunderlich zumute, es war ihr nicht möglich, ein Wort hervorzubringen. – Ingmar lächelte ein wenig verlegen, als sie nicht antwortete. – »Würden Sie mir wohl einen kleinen Platz in Ihrem Wagen einräumen, Mrs. Gordon«, sagte er. »Ich kann nicht gut gehen.« –

In einem Nu war Mrs. Gordon aus dem Wagen und half Ingmar hinauf. Aber dann blieb sie am Wagen stehen, ohne sich zu rühren. »Dies ist ganz unbegreiflich«, sagte sie zu sich selbst. – Ingmar mußte sie gleichsam wecken. »Sie müssen es mir nicht übelnehmen, aber ich glaube, es wäre am besten, wenn Sie so schnell wie möglich nach Hause führen.«

Sie stieg wieder auf den Wagen, saß aber schweigend da und grübelte. Ingmar mußte sie abermals stören. »Sie müssen verzeihen, aber ich muß Ihnen etwas erzählen. Sie haben wohl keine Nachricht von dem Mann erhalten, der Clifford heißt?« – »Nein«, sagte Mrs. Gordon. – »Ich hörte gestern, daß er mit dem amerikanischen Konsul sprach. Ich fürchte, er führt etwas im Schilde, heute, während Sie fort sind.« – »Was sagen Sie da?« rief Mrs. Gordon aus. – »Er hat, glaube ich, die Absicht, die ganze Kolonie zu vernichten.«

Jetzt hatte Mrs. Gordon endlich ihre Gedanken beisammen. Sie wandte sich nach Ingmar um und fing an, ihn genau über das auszufragen, was er gehört hatte.

Nachdem sie alles vernommen hatte, saß sie wieder eine Weile in tiefe Gedanken versunken da. Plötzlich erhob sie den Kopf und sah Ingmar an: »Es freut mich, Ingmar Ingmarsson, daß Sie die Kolonisten schon so lieb gewonnen haben«, sagte sie. Ingmar wurde dunkelrot. Er fragte, woher sie wissen könne, daß er ein Freund der Kolonisten sei. – »Das weiß ich daher, daß Sie über Nacht unten in Jaffa gewesen sind und mir Nachricht gebracht haben, daß ich nach Hause reisen müsse«, sagte sie.

Nun erzählte Mrs. Gordon, wie sie ihn über Nacht gesehen habe, und was er zu ihr gesagt habe. Als sie das Ganze erzählt hatte, sagte Ingmar, dies sei das Wunderbarste, was er je erlebt habe.

»Wenn nicht alles fehlschlägt, werden wir bis heute abend noch größere Dinge erleben«, sagte Mrs. Gordon. »Denn jetzt bin ich ganz überzeugt, daß Gott uns helfen will.«

Sie war jetzt ruhig und guten Mutes und sprach mit Ingmar, als wenn keine Gefahr im Anzuge sei.

»Nun können Sie mir erzählen, Ingmar Ingmarsson, ob sich sonst etwas daheim zugetragen hat, während ich fort gewesen bin.«

Ingmar überlegte. Dann fing er damit an, sich zu entschuldigen, daß er der Sprache nicht ganz mächtig sei. »Ach, ich werde Sie schon verstehen«, sagte sie. – »Im allgemeinen ist ja alles seinen gewohnten Gang gegangen«, sagte er schließlich. – »Etwas wird da doch wohl zu erzählen sein«, sagte Mrs. Gordon. – »Es sei denn . . . Ich weiß nicht, ob Sie schon von Baram Paschas Mühle gehört haben.« – »Nein, was ist denn damit?« fragte Mrs. Gordon. »Ich habe nicht einmal gewußt, daß Baram Pascha eine Mühle hat.«

»Ja,« sagte Ingmar, »gleich nachdem Baram Pascha Gouverneur in Jerusalem geworden war, soll er auf den Gedanken gekommen sein, daß es für die Leute hier schwer sei, daß sie nichts anderes hätten als Handmühlen, um ihr Korn zu mahlen. Da nahm er sich denn vor, eine Dampfmühle in einem der großen Täler hier in der Nähe zu bauen. Aber es ist nicht so merkwürdig, daß Sie nicht von der Mühle haben reden hören, denn sie ist eigentlich nie im Gange gewesen. Baram Pascha hat nie ordentliche Leute gehabt, die sie handhaben konnten, daher ist sie immer in Unordnung gewesen. Aber jetzt, vor einigen Tagen, schickte Baram Pascha mit der Frage zu uns, ob nicht einige von den Gordonisten die Mühle für ihn in Gang setzen könnten. Und da gingen denn ein paar von uns hin und brachten sie wieder in Ordnung.«

»Das ist eine gute Nachricht,« sagte Mrs. Gordon, »ich freue mich, daß wir Baram Pascha einen Dienst leisten konnten.« – »Baram Pascha freute sich auch sehr,« sagte Ingmar, »und er machte den Kolonisten den Vorschlag, daß sie die Mühle verwalten sollten. Er sagte, sie könnten sie gern behalten, ohne ihm eine Pachtabgabe dafür zu bezahlen.«

Mrs. Gordon wandte sich ganz nach Ingmar um. »Nun,« sagte sie, »was antworteten denn unsere Leute darauf?« – »Darauf ist nicht schwer zu antworten«, sagte Ingmar. »Sie konnten ja nichts anderes sagen, als daß sie die Mühle gern für ihn besorgen wollten, aber einen Lohn für ihre Arbeit wollten sie nicht nehmen.« – »Ja, das war vollkommen richtig«, sagte Mrs. Gordon. – »Ich weiß nicht, ob das so ganz richtig war,« sagte Ingmar, »denn jetzt wird Baram Pascha ihnen die Mühle nicht geben. Er sagt, er könne sie nicht über die Mühle verfügen lassen, wenn sie ihre Arbeit nicht bezahlt haben wollten. Es könne nicht angehen, sagte er, die Leute hier daran zu gewöhnen, daß sie glauben, sie könnten alles umsonst bekommen. Er sagte auch, daß alle die andern, die Mehl verkaufen oder Mühlen haben, sich beim Sultan über ihn beklagen würden.«

Mrs. Gordon saß schweigend da.

»Mit der Mühle wurde es also nichts«, sagte Ingmar. »Wäre die Sache in Ordnung gekommen, so hätte die Kolonie wenigstens ihr Brot für den Hausbedarf verdienen können, und es wäre auch ein großer Segen für das Volk gewesen, wenn die Mühle im Gange gewesen wäre. Aber es nützt ja nicht, über die Sache nachzudenken.«

Auch hierauf erwiderte Mrs. Gordon nichts. »Ist sonst nichts geschehen?« sagte sie, als wolle sie Ingmar veranlassen, von etwas anderem zu reden.

»Ach ja,« sagte Ingmar, »dann ist da ja auch das mit Miß Young und der Schule vorgefallen. Haben Sie auch davon nicht gehört?« – »Nein«, sagte Mrs. Gordon. – »Ja,« sagte Ingmar, »Achmed Effendi, der alle mohammedanischen Schulen unter sich hat, kam vor ein paar Tagen zu uns und sagte: ›Wir haben hier in Jerusalem eine große Volksschule für Mädchen, in der mehrere hundert Kinder jeden Tag zusammenkommen, nur um zu schreien und sich zu prügeln. Wenn man daran vorüberkommt, braust und lärmt es ärger als das Mittelmeer in dem Hafen von Jaffa. Ob die Lehrerinnen lesen und schreiben können, weiß ich nicht, das aber weiß ich, die Kinder lehren sie nichts. Und ich selbst kann nicht da hineingehen, und ich kann auch keinen andern Mann schicken, um dort Ordnung zu halten, denn unsere Religion verbietet uns, unseren Fuß in so eine Mädchenschule zu setzen. Jetzt kann ich mir nur eins denken, was der Schule helfen könnte‹, sagte Achmed Effendi, ›nämlich, wenn Miß Young sie übernehmen wollte. Ich weiß, daß Sie Kenntnisse besitzen, und ich weiß, daß Sie arabisch sprechen können. Ich will Ihnen gern geben, was Sie an Lohn verlangen, wenn Sie nur die Leitung der Schule übernehmen wollen.‹«

»Nun,« sagte Mrs. Gordon, »wie lief denn das ab?« – »Das lief genau so ab wie mit der Mühle«, sagte Ingmar. »Miß Young sagte, sie sei bereit, die Schule zu übernehmen, aber sie wollte keinen Lohn für ihre Arbeit haben. Da antwortete Achmed Effendi: ›Ich pflege immer die Leute zu bezahlen, die für mich arbeiten. Ich bin nicht gewöhnt, Gnadengeschenke anzunehmen.‹ Aber Miß Young war nicht zu bewegen, und er mußte unverrichteter Sache fortgehen. Er war sehr zornig und sagte zu Miß Young, sie müsse die Verantwortung übernehmen, daß so viel arme Kinder ohne Aufsicht und Unterricht heranwüchsen.«

Mrs. Gordon schwieg eine Weile; dann sagte sie: »Ich merke wohl, Ingmar Ingmarsson, daß Sie finden, daß wir in diesen beiden Fällen nicht richtig gehandelt haben. Es ist immer gut, die Ansicht eines klugen Mannes zu hören, und daher möchte ich Sie bitten, mir zu sagen, was Sie noch weiter an unserer Art und Weise, zu leben, auszusetzen haben.«

Ingmar saß lange da und dachte nach. Mrs. Gordon umgab eine solche Würde, daß es nicht leicht für ihn war, mit seiner Kritik zu kommen.

»Ja,« sagte Ingmar, »ich finde, Sie brauchten es nicht so einzurichten, daß Sie in so großer Armut leben müssen.« – »Wie meinen Sie denn, daß das zu vermeiden wäre?« sagte Mrs. Gordon und lächelte. – Ingmar zögerte noch länger mit der Antwort als zuvor. »Wenn Sie die Kolonisten Lohn für ihre Arbeit annehmen ließen,« sagte er endlich, »dann brauchten sie nicht in so große Not zu geraten wie jetzt.« – Mrs. Gordon wandte sich heftig nach ihm um: »Ich sollte meinen, wenn ich diese Kolonie so geleitet habe, daß wir jetzt sechzehn Jahre da in Einigkeit und Liebe haben leben können, so darf ein Neuangekommener, wie Sie, nicht mit Vorschlägen zu Änderungen kommen.« – »Jetzt werden Sie böse auf mich, und doch haben Sie selbst mich aufgefordert, zu reden«, sagte Ingmar. – »Ich verstehe wohl, daß Sie es gut meinen«, sagte Mrs. Gordon. »Und außerdem kann ich Ihnen erzählen, daß wir noch viel Vermögen besitzen, aber in der letzten Zeit hat jemand über uns falsche Nachrichten an unsere Bankiers in Amerika geschickt. Darum haben sie uns nichts senden wollen. Aber nun weiß ich, daß wir bald Geld erwarten können.« – »Was Sie da sagen, freut mich sehr zu hören«, sagte Ingmar. »Aber daheim bei uns meinen wir, daß es für die Menschen besser ist, sich auf ihre eigene Arbeit zu verlassen als auf ersparte Mittel.« Hierauf antwortete Mrs. Gordon nicht, und Ingmar begriff, daß es besser gewesen wäre, wenn er geschwiegen hätte.

Mrs. Gordon gelangte rechtzeitig nach der Kolonie zurück. Die Uhr konnte kaum mehr als halb neun sein. Die letzte halbe Stunde war sie sehr unruhig gewesen; sie war so gespannt auf das, was ihr entgegentreten würde, wenn sie nach Hause käme. Sobald sie das große Gebäude wiedersah und bemerkte, daß ringsumher alles ruhig war, seufzte sie erleichtert auf. Es war, als habe sie erwartet, daß irgendeiner von den starken Geistern, von denen in den morgenländischen Märchen so viel erzählt wird, die ganze Kolonie auf den Rücken genommen habe und damit von dannen geflogen sei.

Als sie in die Nähe des Hauses gelangte, hörte sie den Gesang geistlicher Lieder. »Es scheint dort alles so zu stehen wie sonst,« sagte Mrs. Gordon, als der Wagen vor dem Tor hielt, »ich höre, daß sie bei der Morgenandacht sind.«

Sie hatte ihren eigenen Schlüssel zu einer der Eingangspforten und öffnete damit, um keine Störung zu veranlassen. Ingmar ward es schwer, zu gehen. Sein Knie war allmählich ganz steif geworden. Mrs. Gordon schlang ihren Arm um ihn und half ihm in den inneren Hof hinein; Ingmar setzte sich gleich auf eine Bank nieder. »Gehen Sie nun hinein, und sehen Sie nach, wie es hier in der Kolonie aussieht, Mrs. Gordon«, sagte Ingmar. »Ehe ich etwas anderes tue, muß ich Ihnen einen Umschlag um Ihr Knie machen«, sagte sie. »Wir haben Zeit genug, Sie hören ja, daß sie noch bei der Morgenandacht sind.« – »Nein,« sagte Ingmar, »diesmal sollen Sie mich bestimmen lassen. Sie müssen jetzt gleich hineingehen und erfahren, ob hier irgend etwas vorgefallen ist.«

Ingmar saß jetzt da und sah Mrs. Gordon nach, während sie die Treppe hinauf und durch die offene Vorhalle in den Versammlungssaal ging. Als sie die Tür öffnete, hörte er, daß jemand da drinnen mit lauter Stimme sprach, daß die Stimme aber plötzlich schwieg. Dann ward die Tür geschlossen, und alles ward still.

Ingmar hatte kaum fünf Minuten dagesessen, als die Tür zum Versammlungssaal heftig aufgerissen wurde. Aus dem Saal heraus kamen vier Männer, die einen fünften zwischen sich trugen. Sie gingen schweigend die Treppe hinab und über den Hof, und kamen dabei dicht an Ingmar vorbei. Er beugte sich vor und sah dem, den sie trugen, ins Gesicht. Es war Clifford.

»Wo wollt ihr mit ihm hin?« fragte Ingmar.

Die Männer blieben stehen. »Wir tragen ihn ins Leichenhaus hinab, er ist tot.« – Ingmar richtete sich entsetzt auf. »Wie ist er gestorben?« fragte er. – »Keine Menschenhand hat ihn angerührt«, sagte Ljung Björn. – »Wie ist er denn gestorben?« fragte Ingmar von neuem.

»Ich will dir erzählen, wie es zuging«, sagte Ljung Björn. »Als die Morgenandacht beendet war, erhob sich dieser Mann, Clifford, um zu reden. Er bat, uns eine Botschaft bringen zu dürfen, die uns erfreuen würde, sagte er, und weiter kam er nicht. Da tat sich die Tür auf, und Mrs. Gordon trat ein. Kaum erblickte er sie, als er verstummte und aschgrau im Gesicht wurde. Erst stand er ganz steif da, aber Mrs. Gordon ging durch den Saal, und als sie näher kam, wich er ein paar Schritte zurück und hielt den Arm vor das Gesicht. Es kam uns andern so sonderbar vor, daß wir uns alle mit einem Male erhoben, und da war es, als komme Clifford wieder zur Besinnung. Er ballte die Hände fest und atmete angestrengt, wie jemand, der gegen eine schreckliche Angst ankämpft, und ging Mrs. Gordon entgegen. ›Wie sind Sie hierhergekommen?‹ sagte er zu ihr. Da sah ihn Mrs. Gordon still und ernsthaft an und sagte: ›Gott hat mir geholfen‹ – ›Das sehe ich‹, sagte er, und seine Augen standen vor Schreck weit aus dem Kopf heraus. ›Ich sehe auch, wer Sie begleitet!‹ – ›Und ich sehe auch, wer dich begleitet‹, sagte Mrs. Gordon da. ›Der Satan!‹

Da war es, als könne Clifford es nicht länger ertragen, sie anzusehen; er wich wieder zurück, den Arm vor dem Gesicht. Und Mrs. Gordon folgte ihm und streckte die Hand nach ihm aus, aber sie kam ihm nicht so nahe, daß sie ihn mit einem Finger berührte. ›Ich sehe, daß der Satan hinter dir steht‹, wiederholte sie, und jetzt war ihre Stimme stark und schrecklich.

Da war es uns allen, als könnten wir den Satan hinter ihm stehen sehen, und wir streckten die Hände aus und zeigten auf den, den wir sahen. Und wir riefen alle wie aus einem Munde: ›Satan, Satan, Satan!‹

Da schlich Clifford sich aus unserer Reihe hinaus, und obwohl nicht einer von uns sich rührte, jammerte er laut, als schössen wir oder schlügen nach ihm. Er kroch zusammen, indem er von dannen schlich, und so gelangte er bis an die Tür. Aber als er sie öffnen wollte, riefen wir alle noch einmal: ›Satan, Satan, Satan!‹ Und da sahen wir, daß er zusammenbrach und vornüberfiel, und da blieb er liegen, und als wir hingingen und ihn anrührten, war er tot.«

»Er war ein Verräter«, sagte Ingmar. »Er hat seine wohlverdiente Strafe erhalten.« – »Ja,« sagten die andern, »er hat seine wohlverdiente Strafe erhalten.«

»Aber was hatte er zu tun beabsichtigt?« sagte einer. »Das weiß niemand«, erwiderte ein anderer. – »Er wollte uns verderben.« – »Ja, aber auf welche Weise?« – »Das weiß niemand.« – »Nein, und niemand wird es wohl jemals erfahren.«

»Es ist gut, daß er tot ist«, sagte Ingmar. »Ja, es ist gut, daß er tot ist.«

Den ganzen Tag waren die Kolonisten in heftiger Erregung. Niemand wußte, was Clifford hatte tun wollen, oder ob die Gefahr durch seinen Tod abgewendet worden war. Stunde auf Stunde verbrachten sie mit Beten und Singen im Versammlungssaal. Sie fühlten sich gleichsam aus dieser Welt entrückt in dem Gefühl, daß Gott für sie gestritten hatte.

Hin und wieder im Laufe des Tages meinten sie, merken zu können, daß Volksscharen, die aus dem ärgsten Abschaum bestanden, den man in Jerusalem finden konnte, sich auf den öden Feldern um die Kolonie herumscharten und dastanden und das Haus betrachteten. Da nahmen sie an, daß Clifford einen Volksauflauf geplant habe, und daß einige wilde Scharen kommen und sie aus ihrem Heim vertreiben würden. Aber alle die Menschen verschwanden wieder, und der Tag verging, ohne daß irgend etwas geschah.

Am Abend kam Mrs. Gordon, um sich nach Ingmar Ingmarsson umzusehen, der mit einem Umschlag um sein Knie auf seinem Bett saß. Sie dankte ihm warm für seine Hilfe und erzeigte sich sehr freundlich gegen ihn. »Ingmar Ingmarsson,« sagte sie unter anderem, »jetzt will ich Ihnen sagen, daß, wenn ich Ihnen einen Gegendienst leisten kann, es mir eine große Freude sein würde. Wollen Sir mir nicht erzählen, was Ihr Herz bedrückt, damit ich Ihnen helfen kann?«

Mrs. Gordon wußte sehr wohl, was Ingmar in Jerusalem erreichen wollte. Zu keiner anderen Zeit würde sie versprochen haben, ihm in einer Sache dieser Art beizustehen. Aber jetzt waren alle in der Kolonie gleichsam ganz aus ihrem Gleichgewicht gebracht. Es war Mrs. Gordon, als gäbe es nichts in der Welt, was ihr so am Herzen liege, als Ingmar glücklich zu sehen, nachdem er ihr und allen andern einen so großen Dienst erwiesen hatte.

Gleich als sie mit ihrem Anerbieten zu ihm kam, schlug Ingmar schnell die Augen nieder. Er ließ sich reichlich Zeit zum Nachdenken, ehe er antwortete.

»Dann müssen Sie mir erst versprechen,« sagte er, »mir das, um was ich bitte, nicht übelzunehmen.« Mrs. Gordon erwiderte, daß sie ihm nicht das geringste übelnehmen werde. »Die Sache ist nämlich die,« sagte Ingmar, »daß die Angelegenheit, um derentwillen ich hier bin, sich scheinbar in die Länge ziehen wird, und daher ist es langweilig für mich, mich hier ohne solche Arbeit, wie ich sie gewöhnt bin, aufzuhalten.« – Das konnte Mrs. Gordon sehr wohl verstehen. – »Wenn Sie mir deswegen einen Dienst erweisen wollten, Mrs. Gordon,« fuhr Ingmar fort, »so würde ich Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie es so einrichten könnten, daß ich Baram Paschas Mühle übernehmen dürfte. Sie wissen wohl, daß ich nicht abgeschworen habe, Geld zu verdienen, wie die andern hier in der Kolonie, und auf die Weise bekäme ich Arbeit, die mir Freude macht.«

Mrs. Gordon sah Ingmar scharf an, der aber saß mit fast geschlossenen Augen und ganz ausdruckslosem Gesicht da. Sie war erstaunt darüber, daß er nicht um etwas anderes gebeten hatte, aber sie war gleichzeitig sehr zufrieden damit. »Ich weiß nicht, warum ich Ihnen dazu nicht verhelfen sollte«, sagte sie. »Darin kann doch kein Unrecht liegen. Wir können uns ja nur freuen, wenn wir Baram Paschas Wunsch erfüllen.« – »Ich wußte wohl, daß Sie mir helfen würden«, sagte Ingmar. Er dankte ihr, und sie waren beide sehr zufrieden miteinander, als sie sich trennten.



 << zurück weiter >>