Selma Lagerlöf
Im Heiligen Lande
Selma Lagerlöf

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Gottes heilige Stadt Jerusalem.

Es verhält sich wirklich so, daß nicht alle Menschen stark genug sind, um das Leben in Jerusalem aushalten zu können. Selbst wenn sie das Klima ertragen können und nicht von den Krankheiten angesteckt werden, so kann es doch geschehen, daß sie unterliegen. Die heilige Stadt macht sie schwermütig oder wahnsinnig, ja, sie kann sie geradezu umbringen. Man kann dort nicht zwei Wochen wohnen, ohne die Leute von diesem oder jenem, der plötzlich gestorben ist, sagen zu hören: »Den hat Jerusalem getötet.«

Wer das hört, kann nicht umhin, sich höchlich zu verwundern. »Wie kann das nur möglich sein?« fragt man sich selbst. »Wie kann eine Stadt töten? Die Menschen denken sich wohl nichts bei dem, was sie sagen.«

Und während man dann in Jerusalem hierhin und dorthin wandert, kann man sich nicht des Gedankens erwehren: »Ich möchte doch wohl wissen, was die Leute damit meinen, daß Jerusalem tötet. Ich möchte wirklich wissen, wo das Jerusalem ist, das den Menschen den Tod bringt.«

Es kann ja z. B. geschehen, daß man sich entschließt, eine Wanderung rund um Jerusalem zu unternehmen. Man geht dann durch das Jaffator, biegt dann links ab, vorüber an dem mächtigen, viereckigen Davidsturm, und setzt den Weg auf dem schmalen Pfade fort, der neben der Stadtmauer hinläuft, auf das Zionstor zu.

Hart unter der Mauer liegt eine türkische Kaserne, wo man Waffenlärm und kriegerische Musik vernimmt. Dann kommt man an dem großen armenischen Kloster vorüber, das ebenfalls eine Festung ist, mit starken Mauern und Toren mit Schlössern und Riegeln davor. Eine Strecke weiterhin stößt man auf das schwere, graue Gebäude, das Davidsgrab genannt wird, und wenn man das sieht, fällt einem plötzlich ein, daß man auf dem heiligen Zion steht, auf dem Berge der Könige.

Da kann man nicht umhin, zu denken, daß der Berg unter einem ein großes Gewölbe ist, in dem König David in seinem goldenen Mantel auf einem Thron von Feuer sitzt und noch heutzutage das Zepter über Jerusalem und Palästina führt. Man muß daran denken, daß die Mauerreste, die die Erde bedecken, Ruinen gefallener Königsburgen sind, daß der Berggipfel gerade vor ihnen, der Berg des Ärgernisses ist, auf dem Salomo sündigte, daß das Tal, in das man hinabsieht, das tiefe Tal Hinnom, einstmals bis an den Rand mit den Leichen der Menschen angefüllt war, die in Jerusalem getötet wurden, damals, als es von den Römern zerstört wurde.

Es ist ein ganz wunderliches Gefühl, dort zu gehen. Man meint Kriegslärm zu hören, große Heere ziehen zum Angriff gegen die Mauern, Könige kommen auf ihren Streitwagen dahergefahren. Dies ist das Jerusalem des Krieges und der Macht und der Gewaltherrschaft, denkt man, und man entsetzt sich bei dem Gedanken an all die Untaten und Schrecken, die sich vor dem Blick aufrollen.

Da kann es wohl geschehen, daß einem einen Augenblick der Gedanke kommt, ob dies wohl das Jerusalem sein sollte, das Menschen tötet. Aber im nächsten Augenblick zuckt man die Achseln und sagt: »Das ist unmöglich, es ist zu lange her, seit das klirrende Waffengetöse erklang und das rote Blut strömte.«

Und man wandert weiter.

Aber sobald man um die Ecke der Mauer gebogen ist, und den östlichen Teil der Stadt erreicht hat, begegnet einem ein ganz anderer Anblick. Jetzt gelangt man in den heiligen Stadtteil. Hier denkt man nur an die alten Hohenpriester und Tempeldiener. An der Mauer liegt der Klageplatz der Juden, wo die Rabbiner in langen, roten oder blauen Samtkaftanen stehen und über Gottes Strafgericht weinen. Hier erhebt sich der Berg Moria mit dem herrlichen Tempelplatz. Vor der Mauer fällt das Erdreich langsam ab, bis ins Tal Josaphat mit allen seinen Gräbern. Und auf der andern Seite des Tales sieht man Gethsemane und den Ölberg, von wo aus Christus gen Himmel fuhr. Und hier sieht man auch den Pfeiler in der Mauer, an dem Christus an dem Tage des jüngsten Gerichtes stehen und das eine Ende eines langen Fadens halten soll, der so fein ist wie ein Haar, während Mohammed auf dem Ölberg steht und das andere Ende festhält. Aber die Toten sollen gezwungen werden, auf diesem Faden durch das Tal Josaphat hinzuwandeln, und die Gerechten sollen auf die andere Seite des Tales gelangen, während die Ungerechten in das Feuer Gehennas hinabgestürzt werden.

Wenn man hier geht, denkt man: »Ja, dies ist das Jerusalem des Todes und des Gerichts, hier öffnen der Himmel und die Hölle ihre Pforten.«

Aber gleich darauf sagt man: »Nein, auch dies ist nicht das Jerusalem, das tötet. Die Posaunen des Gerichts sind weit entfernt, und das Feuer Gehennas brennt nicht mehr.«

Wieder setzt man seinen Weg an der Ringmauer entlang fort und erreicht schließlich die Nordseite der Stadt. Wo man jetzt geht, ist es einförmig, öde und einsam. Hier liegt der kahle Hügel, der möglicherweise das wirkliche Golgatha ist, hier liegt die Grotte, in der Jeremias seine Klagelieder dichtete. Hier findet man neben der Mauer den Teich Bethesda, hier schlingt sich die Via Dolorosa unter düsteren Halbbögen hin. Hier ist das Jerusalem der Trostlosigkeit, des Leidens, der Qual und der Versöhnung.

Man steht einen Augenblick still und starrt grübelnd diese strenge, ernste Finsternis an. Aber auch dies ist nicht das Jerusalem, das Menschen tötet, denkt man, und wandert weiter.

Geht man dann aber nach Nordwesten und Westen weiter, welch eine Veränderung! Hier in dem neuen Teil der Stadt, die außerhalb der Mauern emporgeschossen ist, erheben sich die stattlichen Missionspaläste und die großen Hotels. Hier liegt der umfangreiche Häuserbezirk der Russen, die Kirche und das Krankenhaus und das ungeheure Gasthaus, das zwanzigtausend Pilgern Obdach gewährt. Hier liegen die eleganten Villen des Konsuls und des Priesters, hier wandern Pilger zwischen Läden umher, in denen lauter heilige Sachen verkauft werden. Hier findet man Anlagen und helle, breite Straßen, hier fahren Wagen, hier liegen Banken und Reisebureaus.

Auf der anderen Seite breiten sich die ansehnlichen jüdischen und deutschen landwirtschaftlichen Kolonien aus, die großen Klöster, die mannigfaltigen Wohltätigkeitsanstalten. Hier wimmelt es von Mönchen und Nonnen, von Krankenpflegerinnen und Diakonissen, von Popen und Missionaren. Hier wohnen Gelehrte, die die Vergangenheit Jerusalems studieren, und alte englische Damen, die nirgends anders leben können.

Hier findet man die prächtigen Missionsschulen, die ihren Schülern unentgeltlichen Unterricht, Wohnung, Kost und Kleidung geben, um Gelegenheit zu haben, ihre Seelen zu gewinnen; hier liegen die Missionshospitäler, wo man die Kranken anfleht, zu kommen und sich pflegen zu lassen, um sie bekehren zu können. Hier werden Gottesdienste und Gebetsversammlungen abgehalten, in denen man um Seelen kämpft.

Hier redet der Katholik schlecht von dem Protestanten, der Methodist von dem Quäker, der Lutheraner von dem Reformierten, der Russe von dem Armenier. Hier schleicht der Neid umher, hier sieht der Schwärmer den Wundertäter scheel an, hier streitet der Orthodoxe mit dem Ketzer, hier wird keine Barmherzigkeit geübt, hier haßt man zu Gottes Ehren seine Mitmenschen.

Und hier findet man das, was man sucht. Hier ist das Jerusalem der Seelenjagd, hier ist das Jerusalem der bösen Zungen, das Jerusalem der Lügen, der Verleumdung und Lästerung. Hier verfolgt man, ohne zu ermüden, hier mordet man ohne Waffen. Dies ist das Jerusalem, das Menschen tötet.

* * *

Von dem Tage an, wo die schwedischen Brüder in die heilige Stadt gekommen waren, spürten alle Mitglieder der Gordonkolonie eine große Veränderung in der Art und Weise, wie sich die Leute gegen sie benahmen.

Zu Anfang waren es nur Kleinigkeiten. Es war nur z. B., daß der englische Methodistenprediger es vermied, sie zu grüßen, oder daß die frommen Zionschwestern, die im Kloster am Ecce-Homo-Bogen wohnten, auf die andere Seite der Straße hinüberschlichen, wenn sie ihnen begegneten, als fürchteten sie, von etwas Bösem angesteckt zu werden, wenn sie in ihre Nähe kamen.

Es fiel keinem der Kolonisten ein, sich dies zu Herzen zu nehmen, es focht sie auch nicht weiter an, daß einige reisende Amerikaner, die die Kolonie besucht und einen ganzen Abend bei ihnen gesessen und mit ihren Landsleuten geplaudert hatten, am nächsten Tag nicht wieder kamen, wie sie verabredet hatten, und Mrs. Gordon und Miß Young, als sie ihnen später auf der Straße begegneten, nicht wieder zu erkennen schienen.

Eine ernstere Sache aber war es, daß, als die jungen Frauen von der Kolonie in einen der großen Läden am Jaffator kamen, die griechischen Kaufleute sich erlaubten, ihnen Worte zuzurufen, die sie freilich nicht verstanden, die aber in einem Ton und mit einer Miene gesagt wurden, daß ihnen die Schamröte in die Wangen trieb.

Die Kolonisten wollten sich gern überreden, daß dies nur auf einem Zufall beruhe. »Man hat dort oben in den christlichen Stadtteilen vielleicht eine Verleumdung über uns verbreitet«, sagten sie. »Aber das wird sich schon geben.« Die alten Gordonisten erinnerten sich, daß schon mehrmals böse Gerüchte über sie im Umlauf gewesen waren. Man hatte von ihnen gesagt, daß sie ihren Kindern keine ordentliche Erziehung zuteil werden ließen, daß sie auf Kosten einer alten, reichen Witwe lebten und sie vollständig ausplünderten, daß sie ihre Kranken ohne Pflege daliegen und sterben ließen, weil sie Gott nicht in die Zügel greifen wollten, daß sie ein Leben in Üppigkeit und Trägheit führten, daß sie sich aber den Anschein geben, als arbeiteten sie daran, das wahre Christentum einzuführen.

»Etwas von all diesem wiederholt sich jetzt«, sagten sie. »Aber die Verleumdung wird hinsterben, wie sie es das letztemal getan hat, weil sie kein Körnchen Wahrheit enthält.«

Da aber geschah es, daß die bethlehemitische Frau, die jeden Tag kam und ihnen Obst und Gemüse verkaufte, plötzlich wegblieb. Sie suchten sie auf, um sie zu bewegen, wiederzukommen, aber sie erklärte ganz bestimmt, daß sie ihnen nie wieder Kräuter oder Bohnen verkaufen werde.

Das war ein deutliches Zeichen. Sie begriffen jetzt, daß etwas Ehrenrühriges über sie erzählt wurde, es war etwas, das ihnen allen galt, und es war in allen Volksschichten ausgebreitet.

Es währte nicht lange, bis sie eine neue Bestätigung erhielten. Einige von den Schweden standen eines Tages in der heiligen Grabeskirche, als eine Schar russischer Pilgrime dahinein kam. Die gutmütigen Russen lächelten und nickten ihnen zu; sie konnten sehen, daß sie Bauern waren, gerade so wie sie selbst. Aber im selben Augenblick kam ein griechischer Priester vorüber, und er sagte ein paar Worte zu den Pilgern. Augenblicklich bekreuzigten sich diese und drohten den Schweden mit geballten Fäusten; es sah so aus, als wollten sie sie aus der Kirche hinausjagen.

Ganz in der Nähe von Jerusalem liegt eine Kolonie deutscher Bauern, die Sektierer sind. Schon vor vielen Jahren sind sie in das heilige Land gezogen. Daheim in ihrem Vaterlande wie auch hier in Palästina sind sie Gegenstand vieler Verfolgungen gewesen. Man hatte versucht, sie gänzlich auszurotten. Trotz alledem war es ihnen so gut ergangen, daß sie jetzt große, prächtige Kolonien in Caifa und ganz Jaffa besaßen, außer denen, die sie in Jerusalem selbst angelegt hatten.

Einer von diesen Deutschen kam eines Tages zu Mrs. Gordon und sagte ihr ganz aufrichtig, er habe böse Gerüchte über sie und ihre Leute gehört. »Die Missionare da drüben«, sagte er und zeigte nach dem westlichen Teil der Stadt hinüber, »verleumden Euch. Hätte ich es nicht selbst erfahren, daß man ganz unschuldig an dem sein kann, weswegen man verfolgt wird, so würde ich Euch weder Fleisch noch Milch verkaufen. Aber ich verstehe ja, daß sie es nicht haben ertragen können, mitanzusehen, daß Ihr in der letzten Zeit so viele Anhänger gewonnen habt.«

Mrs. Gordon fragte, wessen man sie denn beschuldige.

»Sie sagen von Euch, daß Ihr ein lasterhaftes Leben hier in der Kolonie führt. Ihr gestattet Euren Leuten nicht, in den Stand der heiligen Ehe zu treten, wie Gott es befohlen hat, deswegen behauptet man, daß bei Euch nicht alles so zugeht, wie es zugehen sollte.«

Die Kolonisten wollten ihm anfänglich nicht glauben. Aber sie merkten bald, daß er die Wahrheit geredet hatte, und daß alle Menschen in Jerusalem von ihnen glaubten, daß sie einen schändlichen Lebenswandel führten. Keiner von den Christen in Jerusalem wollte etwas mit ihnen zu schaffen haben. In den Gasthäusern wurden die Reisenden gewarnt, sie zu besuchen. Einige von den Fremden wagten sich freilich hin und wieder noch nach der Kolonie hinaus. Wenn sie von dort zurückkehrten, schüttelten sie geheimnisvoll den Kopf und sagten, sie hätten nichts Anstößiges bemerkt; aber sie meinten allerdings, es könne ja allerlei dort betrieben werden, was man nicht zu sehen bekomme.

Die Amerikaner, von dem Konsul bis herab zu der geringsten Krankenpflegerin, waren am allergehässigsten gegen die Gordonisten. »Es ist eine Schande für uns alle, daß es Amerikaner sind,« sagten sie, »daß solche Menschen nicht aus Jerusalem hinausgejagt werden können.«

* * *

Die Kolonisten waren natürlich klug genug, um sich selbst zu sagen, daß hierbei nichts zu machen sei, daß sie die Leute reden lassen mußten. Ihre Widersacher würden wohl einsehen, daß sie unrecht hatten. »Wir können doch nicht von Haus zu Haus gehen und erzählen, daß wir unschuldig sind«, sagten sie. Sie trösteten sich damit, daß sie ja einander hatten, und daß sie einig und glücklich seien. »Die Armen und die Kranken in Jerusalem haben noch nicht angefangen uns zu scheuen«, sagten sie. »Wir müssen dies vorüberziehen lassen; es ist eine Prüfung, die Gott uns schickt.«

Gleich im Anfang ertrugen alle Schweden die häßlichen Verleumdungen mit großer Ruhe. »Sind sie hier draußen so verblendet,« sagten sie, »daß sie glauben, wir armen Bauern haben gerade diese Stadt aufgesucht, in der unser Heiland starb, um ein schändliches Leben zu führen, dann ist ihr Urteil nicht viel wert, und dann ist es ganz gleichgültig, was sie meinen.«

Und als die Leute fortfuhren, sie mit Verachtung zu behandeln, war es ihnen eine Freude, zu denken, daß Gott sie würdig erachtete, Verfolgung und Verhöhnung in derselben Stadt zu erleiden, wo man Christus verspottet und gekreuzigt hatte.

Aber als es Oktober geworden war, kam eines Tages ein Brief an des Gemeindevorstehers Gunhild. Er war von ihrem Vater. Er schrieb, um ihr zu erzählen, daß ihre Mutter gestorben sei. Der Vater machte ihr keine Vorwürfe, er schrieb nur von der Krankheit und dem Begräbnis. Man konnte wohl merken, daß der alte Gemeindevorsteher bei sich gedacht hatte: »Ich will ihr schonend schreiben, sie wird ohnedies schon unglücklich sein.«

Er hatte den ganzen Brief in derselben milden Gemütsstimmung geschrieben, bis er seinen Namen darunterschrieb. Aber da hatte der zurückgehaltene Zorn ihn plötzlich übermannt. Er hatte die Feder schnell und tief in das Tintenfaß getaucht, und mit großen, eckigen Buchstaben hatte er ganz unten an den Rand des Briefes geschrieben:

»Deine Mutter hätte den Kummer über Deine Abreise vielleicht überwinden können, aber sie nahm ihren Tod über das, was im Missionsblatt stand, daß Ihr da drüben in Jerusalem ein schändliches Leben führtet. So etwas hatte niemand hier erwartet, weder von Dir noch von denen, in deren Gesellschaft du fortgereist bist.«

Gunhild steckte den Brief in die Tasche; sie ging den ganzen Tag damit herum, ohne mit jemand darüber zu reden.

Sie zweifelte nicht daran, daß der Vater die Wahrheit geschrieben hatte in bezug auf das, was den Tod der Mutter verursacht hatte. Die Eltern waren immer sehr ehrliebend gewesen und sehr genau in bezug auf ihren guten Ruf. Sie hatte auch etwas davon, niemand in der ganzen Kolonie hatte so sehr darunter gelitten, Gegenstand der Verachtung zu sein. Ihr half es nichts, daß sie selbst wußte, sie war unschuldig; sie fühlte sich doch beschimpft, und es war ihr, als könne sie sich nicht unter Menschen sehen lassen. Schon seit langer Zeit hatte sie sich gegrämt und sich von den bösen Zungen gepeinigt gefühlt, wie von brennenden Wunden. Und nun hatten sie ihrer Mutter das Leben genommen.

Gertrud und Gunhild bewohnten dasselbe Zimmer. Sie waren immer die besten Freundinnen gewesen; aber Gunhild sprach nicht einmal mit Gertrud über das, was der Vater ihr geschrieben hatte. Sie fand es unrecht, Gertruds Freude zu stören, die sie darüber empfand, hier in Jerusalem zu sein, wo alles mögliche ihr die Erinnerung an ihren Heiland nahe brachte.

Aber den ganzen Tag hindurch nahm Gunhild den Brief wieder und wieder hervor. Sie wagte nicht, ihn zu lesen; nur wenn sie ihn ansah, zog sich schon ihr Herz zusammen in beißendem Kummer. »Ach, könnte ich doch sterben,« dachte sie, »ich werde ja nie wieder glücklich. Ach, könnte ich doch sterben!«

Sie saß da und betrachtete den Brief. Sie fühlte, daß er ein Gift enthielt, das sie töten würde. Sie hoffte nur, daß es schnell gehen und bald vorüber sein möge.

Am nächsten Tage kam Gunhild durch das Damaskustor gegangen. Sie war in der Stadt gewesen und wollte jetzt nach Hause, nach der Kolonie.

Es war ein außerordentlich warmer Tag, was gegen Ende Oktober, ehe der Herbstregen noch begonnen hat, häufig der Fall ist. Als Gunhild aus der finsteren Stadt herauskam, wo Häuser und Bögen Schutz gegen die Sonne gewährt hatten, war es ihr, als wenn der blendende Sonnenschein sie wie ein Stoß traf, und sie hatte die größte Lust, in den kühlen Schatten des Torgewölbes zurückzulaufen. Sie fand, daß der sonnenbeschienene Weg, der vor ihr lag, so unheimlich aussah. Es war, als solle man eine Schießbahn entlanggehen, in der die Soldaten nach der Scheibe schossen.

Gunhild wollte indessen um des bißchen Sonnenscheins willen nicht umkehren. Sie hatte freilich gehört, daß es gefährlich sein könne, aber sie glaubte nicht recht daran. Statt dessen tat sie, was man zu tun pflegt, wenn man in einen starken Regenschauer hinauskommt, sie zog den Kopf zwischen die Schultern, schob das Tuch, das sie um den Hals hatte, höher in den Nacken hinauf und eilte, so schnell sie konnte, vorwärts.

Während sie ging, hatte sie ein Gefühl, als wenn die Sonne mit einem Feuerbogen in der Hand dasäße und einen glühenden Pfeil nach dem andern auf sie abschösse, und daß sie die ganze Zeit nach ihr ziele. Die Sonne hatte gar nichts weiter zu tun, als sie als Zielscheibe zu betrachten. Das Feuer hagelte auf sie herab, und nicht nur vom Himmel herunter kam es. Alles um sie her glühte und stach sie in die Augen. Kleine, scharfe Pfeile kamen aus den Glimmerkörnern in den Steinen des Weges herausgeschossen. Die grünen Fensterscheiben eines Klosters, an dem sie vorüberkam, blitzten, so daß sie den Blick nicht dahin zu wenden wagte. Der stählerne Schlüssel in einer Tür sandte ihr einen kleinen, boshaften Strahl nach. Und ebenso die blanken Blätter einer Rizinuspflanze, die den Sommer nur deswegen überlebt zu haben schien, um hier zu stehen und sie zu peinigen.

Wohin sie auch den Blick wandte, am Himmel und auf der Erde schimmerte und glitzerte es. Es war eigentlich nicht die Hitze, die sie quälte, obwohl die stark genug war, sondern vielmehr das fürchterliche weiße Sonnenlicht, das hinter die Augen hineindrang, und das sich in das Gehirn hineinbrannte.

Gunhild fühlte sich so voll von Haß und Zorn gegen die Sonne wie ein armes, gejagtes Tier gegen den, der ihm nach dem Leben trachtet. Es überkam sie eine wunderliche Lust, umzukehren und ihrem Verfolger gerade ins Gesicht zu sehen. Lange widerstand sie, aber zuletzt wandte sie sich um und sah zum Himmel empor. Ja, da saß die Sonne oben wie eine große, blauweiße Flamme. Während Gunhild da hinaufsah, wurde der Himmel ganz schwarz, aber die Sonne kroch hinein, und es war ihr, als könne sie sehen, daß sie sich von ihrem Platz am Himmel loslöste und herabgefahren kam, um sie in den Nacken zu treffen und zu töten.

Gunhild stieß einen Schrei aus. Sie hielt die eine Hand empor, um den Nacken zu beschützen, und fing an zu laufen.

Als sie eine ganze Strecke auf dem Wege weitergelaufen war, wurde der weiße Kalkstaub in einer erstickenden Wolke um sie aufgewirbelt, und sie gewahrte einen großen Haufen Steine. Es waren die Ruinen eines eingestürzten Hauses. Sie eilte dorthin und war so glücklich, eine Öffnung zu finden, die in den Keller hinabführte.

Gunhild gelangte in ein kühles, wohltuendes Dunkel. Sie konnte nicht zwei Schritt vor sich sehen.

Sie stellte sich mit dem Rücken gegen den Eingang und ließ die Augen im Dunkeln ausruhen. Hier war nichts, was schimmerte, nichts, was glitzerte. Sie begriff jetzt, wie einem armen Fuchs zumute sein muß, wenn er in seine Höhle hineingeschlüpft ist, während die Jäger hinter ihm her sind. Jetzt standen die Hitze und der Staub und das Licht und der Sonnenschein wie gefoppte Jäger draußen vor ihrer Zufluchtsstätte. Die ganze Schar stand mit ihren glühenden Spießen da und wartete, sie aber war hier drinnen in Sicherheit.

Gunhild gewöhnte allmählich ihre Augen an die Dunkelheit; sie entdeckte einen Stein und setzte sich darauf, um zu warten. Sie glaubte, sie würde sich wohl stundenlang nicht aus ihrer Höhle hinauswagen dürfen. Nicht, ehe die Sonne so weit im Westen gesunken war, daß sie ihre Macht am Himmel verloren hatte.

Aber sie hatte nur eine ganz kurze Zeit da drinnen in der Dunkelheit gesessen, als tausend Sonnen vor ihren Augen zu sprühen begannen und in ihrem armen, erhitzten Gehirn alles herumwirbelte. Ein heftiger Schwindel ergriff sie, es war ihr, als drehten sich die Winde des Kellers in einem unaufhörlichen Rundtanz. Ihr war so schwindlig, daß sie sich an die Wand lehnen mußte, um nicht zu fallen.

»Ach Gott, auch hier drinnen werde ich verfolgt!« rief sie aus.

»Ich muß wohl etwas Böses getan haben, da die Sonne mich nicht mehr sehen mag«, fuhr sie fort.

Im selben Augenblick fiel ihr der Brief ein und der Tod der Mutter, und ihr großer Kummer und ihr Wunsch zu sterben. Das alles war ganz aus ihren Gedanken entschwunden gewesen, während sie sich in wirklicher Lebensgefahr befunden hatte; da hatte sie nur daran gedacht, sich zu retten.

Schnell holte sie den Brief hervor, öffnete ihn und trat an den Eingang, um ihn lesen zu können. Ja – da standen die Worte, genau so, wie sie sie in der Erinnerung hatte, und sie stöhnte.

Aber gleich darauf kam ein Gedanke, der ihr beruhigend und tröstend erschien.

»Verstehst du nicht, daß es Gottes Absicht ist, dich von dem Leben zu erlösen?«

Dies erschien ihr so schön und eine große Gnade von Gott. Sie konnte es sich selbst nicht recht klarmachen, denn sie war nicht ganz bei Besinnung. Der Schwindel war wiedergekehrt, der ganze Keller drehte sich rund herum. Oben über ihrem einen Auge tanzte ein glitzernder Feuerstrahl.

Aber sie hielt doch fest an dem Gedanken, daß Gott ihr anbot, aus dem Leben zu scheiden und zu ihrer Mutter im Himmel hinaufzukommen und all ihrem Kummer zu entrinnen.

Sie erhob sich, faltete erst die Hände im Nacken, zog sie aber wieder zurück und ging dann in den Sonnenschein hinaus, ganz ruhig, als ginge sie in einer Kirche durch den Mittelgang.

Sie war jetzt etwas abgekühlt, und gleich als sie hinauskam, spürte sie nichts von Jägern oder Spießen oder glühenden Pfeilen.

Aber sie hatte nur wenige Schritte gemacht, als es alles wieder über sie herfiel, als wenn es sich aus einem Hinterhalt auf sie losstürze. Alles auf der Erde schimmerte und glitzerte, und die Sonne kam sausend hinter ihr drein wie ein scharfer Feuerfunke und traf sie im Nacken.

Sie machte noch ein paar Schritte. Dann stürzte sie zu Boden, wie vom Blitz getroffen.

Leute aus der Kolonie fanden sie einige Stunden später. Sie lag da, die eine Hand gegen das Herz gepreßt, die andere war ausgestreckt und umklammerte den Brief, wie um zu zeigen, was sie getötet hatte.



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