Selma Lagerlöf
Im Heiligen Lande
Selma Lagerlöf

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2. Buch

Barbro Svenstochter

Am Tage nach Ingmars Ankunft in Jerusalem saß Karin Ingmarstochter allein in ihrer Stube, wie sie zu tun pflegte. Den ganzen vorhergehenden Abend war sie in ihrer Freude, Ingmar wiederzusehen, im Versammlungssaal geblieben und hatte teil an der Unterhaltung genommen. Aber jetzt war die Verstimmung wieder über sie gekommen, sie saß aufrecht in Halvors Lehnstuhl und starrte vor sich hin, die Hände im Schoß.

Da tat sich die Tür auf, und Ingmar trat herein. Karin bemerkte ihn nicht, ehe er dicht neben ihr stand. Sie ward verlegen darüber, daß der Bruder, als er kam, sie so ganz müßig dasitzen sah; tiefe Röte bedeckte ihr Antlitz, und sie griff eifrig nach einem Strickstrumpf.

Ingmar setzte sich auf einen Stuhl und blieb still sitzen, ohne Karin anzusehen. Ihr fiel jetzt ein, daß sie an dem vorhergehenden Abend nur mit ihm darüber geredet hatte, wie es ihnen selbst hier in Jerusalem ergangen war, und daß niemand etwas über ihn, Ingmar, erfahren hatte, oder warum er sie aufgesucht hatte. »Das will er mir jetzt wohl erzählen«, dachte sie.

Ingmar bewegte die Lippen ein paarmal, wie um eine Unterhaltung zu beginnen, aber er brachte keinen Laut hervor. Währenddessen saß Karin da und sah ihn an. »Es ist doch wirklich schrecklich, wie alt er geworden ist«, dachte sie. »Vater hatte keine tieferen Runzeln in der Stirn trotz seines Alters. Entweder muß Ingmar krank gewesen sein, oder auch er hat etwas sehr Ernstes durchgemacht, seit ich ihn zuletzt gesehen habe.«

Karin dachte darüber nach, was Ingmar wohl begegnet sein könne. Sie hatte eine unklare Erinnerung, als wenn die Schwestern einmal aus einem Brief vorgelesen hatten, was ihn betraf, aber sie war so in ihren eigenen Kummer vertieft gewesen, daß alles, was in der Außenwelt geschehen war, an ihr vorbeigegangen war, als gehe es sie nichts an.

Sie versuchte nun auf ihre vorsichtige Art, Ingmar zu bewegen, ihr zu erzählen, wie es ihm ergangen sei, und warum er nach Jerusalem gereist war.

»Es ist gut, daß du zu mir kommst, damit ich ein wenig Bescheid darüber erhalte, wie es daheim im Dorf steht«, sagte sie. – »Ja,« erwiderte Ingmar, »ich dachte wohl, daß da allerlei ist, worüber du gern Bescheid haben möchtest.« – »Es ist ja immer bei uns daheim so gewesen,« sagte Karin und sprach langsam wie jemand, der sich Mühe gibt, sich etwas ins Gedächtnis zurückzurufen, was ihm schon lange aus den Gedanken entschwunden ist, »daß sie einen haben müssen, nach dem sie sich richten können; erst war es Vater, und dann war es Halvor, und eine ganze Zeitlang war es der Schulmeister. Ich habe darüber nachgedacht, wer es jetzt wohl sein mag.« Kaum hatte Karin diese Frage an Ingmar gerichtet, als er die Augen niederschlug und sitzen blieb, ohne eine Miene zu verziehen. »Vielleicht ist der Pfarrer jetzt der Leitende bei euch geworden?« riet Karin. Ingmar saß da, steif wie ein Pfahl, und antwortete noch immer kein Wort. Aber Karin fuhr fort: »Ich habe mir gedacht, daß jetzt wohl Ljung Björns Bruder, Peter, der erste Mann im ganzen Kirchsprengel ist.« Aber auch diesmal blieb Ingmar die Antwort schuldig. »Ich weiß ja,« begann sie von neuem, »daß es Sitte war, daß sich die Leute nach dem Herrn auf dem Ingmarshofe richteten, aber man kann ja nicht verlangen, daß sie sich von jemand leiten lassen sollen, der so jung ist wie du.« Sie hielt inne, und endlich gab Ingmar eine Antwort. – »Du weißt ja, daß ich zu jung bin, um in den Gemeinderat und den Amtsrat gewählt zu werden.« – »Man kann ja auch Einfluß auf die Leute haben, ohne so viele Ehrenämter zu haben«, sagte Karin. – »Ja,« erwiderte Ingmar, »das kann man auch.«

Als Ingmar dies sagte, durchzuckte Karin ein Gefühl der Freude. »Ach,« dachte sie, »ich mache mir ja nichts mehr aus alle diesem«, aber sie konnte es doch nicht lassen, sich darüber zu freuen, daß die alte Macht und das alte Ansehen der Familie auf Ingmar übergegangen war. Sie richtete sich auf und sprach mit selbstbewußterem Ton als bisher: »Ich erwartete ja, daß die Leute vernünftig werden und einsehen würden, daß es richtig von dir war, den Hof zu übernehmen.« Ingmar sah Karin mit einem langen Blick an. Er verstand, was hinter ihren Worten lag. Sie hatte gefürchtet, daß er unter der Verachtung des Dorfes hatte leiden müssen, weil er Gertrud im Stich gelassen hatte. »Gott hat mich nicht auf die Weise gestraft«, sagte er.

»Wenn es das nicht ist, so muß es irgendein anderes schweres Unglück sein, das ihn getroffen hat«, dachte Karin, und sie mußte lange stumm dasitzen und nachgrübeln; nur mit großer Mühe arbeitete sie sich in die Gedanken und Gefühle hinein, die sie in der alten Heimat gehabt hatte.

»Ist da irgend jemand im Kirchsprengel, der an unserer Lehre festgehalten hat?« fragte Karin. – »Höchstens einer oder zwei, mehr sicher nicht.« – »Ich habe mir immer gedacht, daß noch an mehrere der Ruf Gottes ergehen würde, damit sie uns folgten«, sagte sie und sah Ingmar mit forschendem Blick an. – »Nein,« sagte Ingmar, »es sind nicht mehr berufen worden, soviel ich weiß.« – »Gestern, als ich dich sah, dachte ich, daß dir vielleicht Gottes Gnade widerfahren sei«, sagte Karin. – »Nein, aus dem Grunde bin ich nicht hierher gekommen.«

Karin schwieg eine Weile, ehe sie wieder mit ihren Fragen begann. Sie fragte jetzt zurückhaltender, gleichsam, als fürchte sie sich vor der Antwort, die sie erhalten könne. »Jetzt denkt wohl niemand daheim mehr an uns, die wir fortgezogen sind?« – Hierauf antwortete Ingmar wieder mit einer gewissen Verlegenheit. »Man trauert ja nicht mehr so sehr wie im Anfang.« – »So, hat man um uns getrauert?« sagte Karin. »Ich dachte, es wäre nur eine Erleichterung gewesen, uns loszuwerden.« – »Ja, wahrlich hat man getrauert und euch entbehrt, als ihr gereist waret«, sagte Ingmar eifriger. »Es währte lange, ehe eure Nachbarn sich an die gewöhnen konnten, die an eure Stelle eingezogen waren. Ich weiß, daß Börs Berit Perstochter, die Nachbarin von Ljung Björn, jeden Abend im Winter hinging und um das Haus herumschlich, wo er gewohnt hatte.« – Karins nächste Frage kam sehr zögernd. »Dann ist wohl Börs Berit diejenige gewesen, die am meisten von allen getrauert hat?« – »Ach nein,« erwiderte Ingmar mit harter Stimme. »Da war einer, der jeden Abend im Herbst, wenn die Dämmerung hereinbrach, den Fluß bis zum Schulhause hinaufruderte und sich auf einen Stein am Elf hinsetzte, wo Gertrud bei Sonnenuntergang zu sitzen pflegte.«

Jetzt glaubte Karin zu wissen, warum Ingmar so gealtert war, und sie beeilte sich, den Gegenstand des Gesprächs zu wechseln. »Besorgt nun deine Frau den Hof, während du fort bist?« fragte sie. – »Ja,« antwortete Ingmar. – »Ist sie eine tüchtige Hausfrau?« fuhr Karin fort. – »Ja«, antwortete Ingmar wieder. Karin strich ihre Schürze mit der Hand glatt, ehe sie von neuem sprach. Es war ihr jetzt, als entsinne sie sich, daß die Schwestern erzählt hatten, daß kein gutes Verhältnis zwischen Ingmar und seiner Frau bestehe. – »Habt ihr keine Kinder?« fragte sie zuletzt. – »Nein,« sagte Ingmar, »wir haben keine Kinder.« Nun geriet Karin ins Stocken. Sie glättete und glättete an ihrer Schürze. Sie konnte sich nicht überwinden, Ingmar geradeaus zu fragen, warum er gekommen war. So etwas war niemals Sitte auf dem Ingmarshof gewesen. Da kam ihr Ingmar selbst zur Hilfe.

»Barbro und ich wollen uns scheiden lassen«, sagte er mit harter Stimme. Karin fuhr auf; plötzlich war sie wieder ganz die Alte von daheim, als sie als Hausmutter auf dem Ingmarshof saß. Sie dachte an nichts weiter als an ihre alten Gefühle und Vorurteile. – »Gott bewahre deinen Mund«, rief sie aus. »Niemals hat sich jemand in unserer Familie scheiden lassen.« – »Es ist bereits geschehen«, sagte Ingmar. »Auf dem Herbstthing sind wir auf ein Jahr von Haus und Bett geschieden. Wenn das Jahr um ist, müssen wir um richtige Scheidung einkommen.« – »Was hast du nur gegen sie?« fragte Karin. »Du kannst doch nie eine bekommen, die wohlhabender und ansehnlicher ist.« – »Ich habe nichts gegen sie«, sagte Ingmar ausweichend. – »Will sie sich denn scheiden lassen?« – »Ja,« sagte Ingmar, »sie will sich scheiden lassen.« – »Wärst du gegen sie gewesen, wie du solltest, so hätte sie keine Scheidung verlangt«, sagte Karin heftig.

Karin umklammerte fest den Arm ihres Lehnstuhles. Sie befand sich in heftiger Gemütserregung, das konnte man namentlich daran merken, daß sie plötzlich anfing, von Halvor zu sprechen. »Es ist gut, daß Vater und Halvor tot sind, so daß sie dies nicht erleben«, sagte sie. – »Ja, es ist gut für alle die, die tot sind«, sagte Ingmar.

»Und jetzt bist du Gertruds wegen gekommen!« rief Karin aus. Ingmar erwiderte nichts, er senkte nur den Kopf. »Es wundert mich nicht, daß du dich schämst«, sagte die Schwester. – »Ich habe mich mehr an dem Tage geschämt, wo die Auktion auf dem Ingmarshofe abgehalten wurde.« – »Was meinst du, das die Leute dazu sagen werden, daß du hinausreist und um eine neue freist, ehe du richtig von der ersten geschieden bist?« – »Da war keine Zeit zu verlieren,« sagte Ingmar sanftmütig, »ich war gezwungen, hierher zu reisen, um mich Gertruds anzunehmen. Es kam ein Brief zu uns daheim, in dem stand, daß sie nahe daran wäre, den Verstand zu verlieren.« – »Darum brauchtest du dich nicht zu kümmern,« sagte Karin heftig, »hier sind Leute, die Gertrud besser in Obhut nehmen können, als du es kannst.«

Sie schwiegen beide eine Weile, dann erhob sich Ingmar. »Ich hatte einen andern Ausgang von dieser Aussprache erwartet«, sagte er. Und es lag jetzt eine solche Würde über ihm, daß Karin unwillkürlich einen ähnlichen Respekt vor ihm empfand wie einst vor dem Vater. »Ich habe Gertrud und Storms großes Leid zugefügt, Storms, die wie Vater und Mutter gegen mich gewesen sind. Jetzt glaubte ich, würdest du mir behilflich sein, mein Unrecht wieder gutzumachen.« – »Du machst es nur schlimmer, wenn du deine rechtmäßig angetraute Frau verläßt«, sagte Karin heftig. Sie suchte ihren Zorn mit bösen Worten am Leben zu erhalten, sie fing an zu befürchten, Ingmar könne sie dahin bringen, die Sache mit seinen Augen zu sehen. Ingmar antwortete nichts auf das, was sie von seiner Frau sagte, er erwiderte nur: »Ich glaubte, es sei nach deinem Sinn, wenn ich versuchte, Gottes Wege zu gehen.« – »Verlangst du von mir, daß ich sagen soll, du gehst Gottes Wege, wenn du Weib und Haus verläßt, um deiner Liebsten nachzulaufen?«

Ingmar ging still auf die Tür zu. Er sah müde und unglücklich aus, zeigte aber keinen Zorn; er sah nicht aus wie jemand, der von einer großen, unwiderstehlichen Leidenschaft getrieben wird. »Lebte Halvor jetzt, so weiß ich, daß er dir raten würde, heimzureisen und dich mit deiner Frau zu versöhnen«, sagte Karin. – »Die Zeit ist vorüber, wo ich nach dem Rat der Menschen fragte«, sagte Ingmar. Karin erhob sich jetzt auch; sie ward wieder erbost über Ingmar, weil Ingmar andeutete, daß er auf Gottes Wegen wandle. »Ich glaube nicht, daß Gertrud noch auf die Weise an dich denkt wie früher«, rief sie aus. – »Ich weiß wohl, daß niemand hier in der Kolonie an Ehe denkt«, sagte Ingmar. »Aber ich will es jetzt trotzdem versuchen.« – »Ja,« unterbrach ihn Karin, »du brauchst dir nichts daraus zu machen, was wir, die wir zu der Gemeinde gehören, einander gelobt haben, aber vielleicht wird es mehr Eindruck auf dich machen, wenn ich dir erzähle, daß Gertrud ihren Sinn jetzt wahrscheinlich einem andern zugewandt hat.«

Ingmar stand jetzt neben der Tür. Als er Karins Worte hörte, blieb er stehen und tastete, als könne er das Schloß nicht sehen; er wandte sein Gesicht nicht nach ihr um. Es währte eine Weile, dann nahm Karin ihre Worte zurück. »Gott soll mich bewahren, zu sagen, daß jemand von uns einen andern Menschen mit fleischlicher Liebe lieben könne,« sagte sie, »aber ich glaube, daß Gertrud jetzt den geringsten Bruder hier in der Kolonie mehr liebt als dich, der du außerhalb derselben stehst.«

Ingmar seufzte tief, öffnete schnell die Tür und ging von dannen.

Karin Ingmarstochter saß eine Weile in tiefem Schweigen da, dann erhob sie sich, glättete ihr Haar, band ihr Kopftuch um und ging, um mit Mrs. Gordon zu reden.

Karin erzählte ihr gerade heraus, warum Ingmar gekommen sei. Sie riet der Vorsteherin, Ingmar nicht in der Kolonie zu lassen, wenn sie sich nicht der Gefahr aussetzen wolle, eine von den Schwestern zu verlieren. Aber nun traf es sich so, daß, während Karin sprach, Mrs. Gordon am Fenster saß und in den Hof hinabsah, wo Ingmar an einer Wand gelehnt stand und hilfloser und elender aussah denn je zuvor. Da flog gleichsam ein Lächeln über Mrs. Gordons Antlitz.

Sie erwiderte Karin, daß sie sehr ungern jemand aus der Kolonie vertreiben wolle. Am allerwenigsten einen, der von so weit hergekommen war und so viele nahe Verwandte unter den Kolonisten habe. »Falls Gott Gertrud nun eine Prüfung gesandt habe,« sagte sie, »so müsse sie sich wohl in acht nehmen, sie daran zu hindern, sie durchzumachen.«

Karin war überrascht über diese Antwort. In ihrem Eifer trat sie näher an Mrs. Gordon heran und kam so nahe an das Fenster, daß sie sehen konnte, über wen Mrs. Gordon lächelte. Aber Karin ihrerseits sah nur, wie sehr Ingmar dem Vater ähnlich geworden war, der mehr war als alle andern und klüger und tüchtiger als alle Menschen.

»Ja, ja,« sagte sie, »Ihr könnt ihn auch gern hierbleiben lassen, denn er wird schon dafür sorgen, daß es so kommt, wie er will.«

Am Abend dieses Tages waren die meisten von den Kolonisten in dem großen Saal versammelt. Dort war es äußerst vergnüglich und traulich. Einige saßen da und sahen dem Spiel der Kinder zu, andere sprachen zusammen darüber, was sie im Laufe des Tages erlebt hatten, andere rückten in einer Ecke zusammen und lasen aus amerikanischen Schriften vor. Als Ingmar Ingmarsson den großen, hell erleuchteten Saal und die vielen frohen und vergnügten Menschen sah, konnte er nicht umhin zu denken: es herrscht kein Zweifel, daß die Darlekarlier sich hier zufrieden fühlen und sich nicht nach der Heimat sehnen. Diese Amerikaner verstehen sich viel besser darauf, das Leben sich und andern behaglich zu machen, als wir es tun. Ich begreife wohl, daß dies gute Zusammenleben bewirkt, daß die Kolonisten allen Kummer und alle Entbehrungen ertragen können. Es ist ja wahr, daß die, die früher einen ganzen Hof hatten, sich jetzt mit einem Zimmer begnügen müssen. Aber dafür haben sie dann auch wieder viel mehr Freude und Heiterkeit. Und dann haben sie eine unglaubliche Menge gesehen und gelernt. Ich will gar nicht von den Erwachsenen reden, aber ich glaube, hier ist nicht ein noch so kleines Kind, das nicht viel mehr wüßte als ich.

Mehrere von den Bauern kamen zu Ingmar heran und fragten ihn, ob er nicht meine, daß sie es hier gut hatten. »Ja«, sagte Ingmar. Er konnte nichts anderes sagen. »Du meintest wohl, wir wohnten in Erdhöhlen«, sagte Ljung Björn. – »Ach nein, daß es nicht so schlimm war, das wußte ich doch«, erwiderte Ingmar. – »Wir haben sagen hören, daß sie das Gerücht daheim verbreitet haben.«

An diesem Abend wurde Ingmar von allen viel ausgefragt, wie es daheim stehe. Einer nach dem andern kam zu ihm heran und setzte sich neben ihn und fragte nach seinen nächsten Angehörigen. Fast alle fragten nach der alten Eva Gunnarstochter. »Sie ist munter und gesund,« sagte Ingmar, »niemals kommt sie mit einem Menschen zusammen, ohne daß sie nicht über die Hellgumianer herfällt.«

Ingmar bemerkte einen jungen Mann, der sich den ganzen Abend in seiner Nähe hielt, ohne mit ihm zu reden. »Wer kann das nur sein, der mir so ähnlich ist,« dachte Ingmar, »und warum sieht er wohl so böse aus, als ob er Lust hätte, mich zur Tür hinauszuwerfen?« Schließlich fiel ihm ein, daß es sein Vetter sein müsse, der mehrere Jahre in Amerika gewohnt hatte.

Ingmar trat an Bo heran und grüßte ihn von seinen Eltern. Bo stellte zuerst einige Fragen über sein Heim, und dann wollte er gern wissen, wie es dem Schulmeister ginge. Jetzt wurde es ganz still im Kreise um Ingmar herum. Ingmar sah, daß ein paar von den andern Bo anstießen, damit er von etwas anderem reden solle. Ingmar antwortete ganz ruhig, daß es dem Schulmeister gut ginge, daß er im nächsten Jahre seinen Abschied von der Schule nehmen wolle, und dann fügte er hinzu: »Es freut mich zu hören, daß du noch an Storm denkst, obwohl er in der Schule immer so streng gegen dich gewesen ist.« Alle fingen an zu lachen, denn sie erinnerten sich sehr wohl, wie häufig Storm über Bos Dummheit gejammert hatte. Bo drehte sich auf dem Absatz herum und ging hinaus, ohne noch weitere Fragen zu stellen.

Der alte Korporal Fält hatte, wie gewöhnlich, eine Schar Kinder um sich versammelt und erzählte ihnen Geschichten. Ingmar hatte Fält nicht gesehen, seit er ein Kinderfreund geworden war; er verwunderte sich und trat näher, um zu hören, was Fält den Kleinen zu erzählen haben könne. Da hörte er, daß der Alte erzählte, daß er einstmals in seiner Jugend in einer Donnerstagnacht an die Kirchentür geklopft und die Toten heraufbeschworen habe.

Märta Ingmarstochter sah die Kinder an, die rings um Fält herum saßen, und sah, daß sie bleich vor Schrecken waren. »Pfui, Fält«, sagte sie strenge. »Du solltest den Kindern nicht solche Spukgeschichten erzählen; erzähle ihnen lieber etwas, das nützlich und lehrreich ist.«

Der Alte saß eine Weile da und sann nach, dann sagte er: »Ich glaube, ich will ihnen erzählen, was meine Mutter mir erzählte, als sie mir abgewöhnen wollte, schlecht gegen die Tiere zu sein.«

»Ja, tu das«, sagte Märta Ingmarstochter und ging davon. Ingmar aber blieb stehen und hörte zu.

»Daheim in Dalarne,« sagte Fält, »liegt ein Hof, der heißt der Trauerhügel, und der hat seinen Namen daher bekommen, daß dort einstmals ein schlechter und gottloser Mann wohnte.«

Kaum hatte Fält dies gesagt, als Ingmar zusammenzuckte. Er trat ein paar Schritte näher, um besser zu hören.

»Er tat nie etwas anderes als mit Pferden handeln«, fuhr Fält fort. »Er reiste von einem Markt zum andern, um Pferde zu tauschen, und er war sehr schlecht gegen die Tiere. Er hatte auch eine Menge Spitzbubenstreiche mit ihnen vor. Bald malte er Pferden, von denen die Leute wußten, daß sie einen Koller hatten, eine weiße Blesse auf die Stirn, damit man sie nicht wiedererkennen sollte, bald gab er alten, ausgedienten Kracken Sachen zu fressen, die sie für eine Weile fett und blank machten, gerade so lange, als er gebrauchte, um sie zu vertauschen. Am schlimmsten handelte er gegen seine Pferde, wenn er sie zur Probe vorfuhr. Dann ward er von einer Art Raserei ergriffen, und er schlug und peitschte auf die Pferde los, so daß sie wie geschunden wurden und man nach jedem Schlag das blutige Fleisch auf dem Rücken sah.

Einmal war dieser Mann einen ganzen Tag auf dem Jahrmarkt gewesen, ohne einen Tauschhandel zustande bringen zu können. Es kam teils davon, daß die Leute so oft von ihm angeführt worden waren, daß sie sich fürchteten, etwas mit ihm zu tun zu haben, und teils war das Pferd, das er an diesem Tage vertauschen wollte, so alt und elend, daß niemand es haben wollte. Er jagte das arme Tier im wildesten Galopp durch das Volksgedränge hin und her, hieb mit der Peitsche darauf los, so daß ihm das Blut herniedertropfte, aber je mehr er es vorzeigte, je weniger Lust hatten die Leute, mit ihm zu handeln.

Als es Abend wurde, sah er ja ein, daß er an diesem Tage kein Geschäft würde abschließen können. Ehe er nach Hause fuhr, wollte er jedoch noch einen letzten Versuch machen, er fuhr das Pferd mit so rasender Schnelligkeit über den Marktplatz, daß die Leute meinten, es müsse jeden Augenblick stürzen. Aber während er am allerwildesten dahinjagte, erblickte er einen Mann, der ein schönes, schwarzes Füllen vor seinen Wagen gespannt hatte und ebenso schnell fuhr wie er selbst, ohne daß es jedoch dem Pferd die geringste Anstrengung zu verursachen schien.

Kaum hielt der Pferdehändler und sprang vom Wagen ab, als der Mann, der das gute Pferd fuhr, auf ihn zukam. Er war klein und schmächtig, schmal im Gesicht und mit einem spitzen Bart unter dem Kinn. Er war ganz schwarz gekleidet, und der Pferdehändler konnte weder aus der Farbe noch aus dem Schnitt seiner Kleider erraten, aus welchem Kirchsprengel er stammte.

Der Pferdehändler entdeckte bald, daß der Bauer sehr einfältig war, und er erzählte, er habe daheim ein braunes Pferd, und er wolle das schwarze gern vertauschen, um zwei von derselben Farbe zu bekommen. – ›Das Pferd, das du fährst, würde sehr gut in der Farbe passen,‹ sagte er, ›ich hätte wohl Lust dazu, wenn es sonst taugt. Aber du mußt redlich sein und mir kein schlechtes Pferd aufhängen, denn von nichts in der Welt verstehe ich so wenig wie vom Pferdehandel.‹

Und die Sache endete natürlich damit, daß der Pferdehändler ihm seine alte Kracke überließ und das gute Füllen statt dessen bekam. Nie im Leben hatte er ein so wohlgestaltetes Tier eingespannt. – ›Noch nie hat ein Tag für mich so schlecht begonnen und so gut geendet‹, sagte er, als er sich auf den Wagen setzte, um nach Hause zu fahren.

Er hatte es nicht weit vom Marktplatz bis zu seinem Hause. Er kam noch in der Dämmerung heim. Als er durch das Hoftor fuhr, sah er, daß ein Teil seiner alten Freunde, Pferdehändler aus mehreren Kirchsprengeln, draußen vor seinem Hause standen und ihn erwarteten. Sie waren in bester Laune, und als er gefahren kam, fingen sie an zu jodeln und Hurra zu rufen und lachten dabei ganz unbändig.

›Worüber lacht ihr denn so, gute Leuten?‹ fragte der Pferdehändler und hielt sein Pferd an.

›Ja,‹ sagten sie, ›wir haben auf dich gewartet, um zu sehen, ob es dem Kerl gelingen würde, dir sein blindes Füllen anzuschnacken. Wir begegneten ihm, als er auf den Markt fuhr, und da wettete er mit uns, daß er dich schon foppen würde.‹

Der Pferdehändler sprang vom Wagen, stellte sich vor das Pferd und versetzte ihm einen furchtbaren Schlag mit dem Peitschenschaft gerade mitten zwischen die Augen. Das Tier machte keine Bewegung, um dem Schlag auszuweichen. Die Männer hatten recht, es war vollständig blind.

Da geriet der Pferdehändler in eine solche Wut und Verzweiflung, daß er ganz von Sinn und Verstand war. Während die Kameraden fortfuhren, ihn zu verhöhnen, spannte er das Pferd aus, nahm die Zügel und zwang es einen steilen Hügel hinan, der hinter dem Hause lag. Er schnalzte mit den Lippen und knallte mit der Peitsche, und das Pferd trabte schnell vorwärts; aber als sie auf den Hügel hinaufkamen, blieb es stehen und wollte nicht weitergehen. Da oben war eine Schlucht in dem Hügel, und darunter war eine Kiesgrube von unermeßlicher Breite und Tiefe, aus der die ganze Gegend seit vielen Jahren Kies geholt hatte. Das Pferd mußte gemerkt haben, daß die Erde untergraben war, denn auf einmal wollte es nicht weiter. Der Mann peitschte darauflos und trieb das Pferd vorwärts. Das Pferd wurde immer ängstlicher, es stellte sich auf die Hinterbeine, aber vorwärts wollte es nicht. Endlich, als es sich nicht weiter zu helfen wußte, machte es einen langen Sprung, als glaube es, daß es nur ein Graben sei, über den es hinuberspringen sollte, und hoffe, auf die andere Seite zu gelangen. Aber da war keine andere Seite, die es erreichen konnte, und als es nicht Fuß fassen konnte, stieß es einen lauten und entsetzlichen Schrei aus, und im nächsten Augenblick lag es mit gebrochenem Hals auf dem Boden der Grube. Der Pferdehändler sah sich nicht einmal nach dem Tier um, er kehrte zu seinen Freunden zurück. – ›Nun, habt ihr jetzt aufgehört zu lachen,‹ sagte er, ›macht jetzt, daß ihr fortkommt, und erzählt ihm, mit dem ihr gewettet habt, wie es seinem Füllen ergangen ist.‹

Aber seht, Kinder, hiermit ist die Geschichte nicht aus«, fuhr Fält fort. »Nun sollt ihr hören, was weiter geschah. Einige Zeit darauf bekam die Frau des Mannes einen Sohn, und es war einer von den Ärmsten, die ihren Verstand nicht haben, und obendrein war er blind. Und nicht genug damit, sondern alle Söhne, die ihm seine Frau gebar, waren blind und blödsinnig. Aber die Töchter waren schön und klug und verheirateten sich gut.«

Ingmar war die ganze Zeit regungslos stehen geblieben und hatte wie gebannt gelauscht. Jetzt machte er eine Bewegung, als wolle er sich losreißen, aber als der Alte fortfuhr, blieb er stehen. »Und auch damit ist es noch nicht genug«, sagte der Alte noch einmal. »Aber als die verheirateten Töchter Kinder bekamen, waren auch alle ihre Söhne blind und blödsinnig, aber die Töchter waren schön und wohlgestaltet und hatten einen vorzüglichen Verstand.

Und so ist es bis auf den heutigen Tag gegangen«, fuhr der Alte fort; »alle, die sich mit Töchtern aus dieser Familie verheirateten, haben Söhne bekommen, die Idioten sind, und darum nennen die Leute den Hof den Trauerhügel, und einen andern Namen wird er wohl nie wieder bekommen.«

Als Fält seine Geschichte beendet hatte, trat Ingmar plötzlich zu Ljung Björn hin und fragte, ob er ihm Feder und Papier verschaffen könne. Björn sah ganz erstaunt aus. Ingmar strich sich über die Stirn und sagte, er habe einen wichtigen Brief zu schreiben. Er habe es den ganzen Tag hindurch vergeben, aber wenn er noch heute abend schreiben könne, würde er ihn morgen mit dem ersten Zug abschicken können.

Ljung Björn schaffte ihm das Verlangte, und damit Ingmar ungestört sitzen könne, ging er mit ihm in die Tischlerwerkstatt. Dort zündete er eine Lampe an und setzte einen Stuhl an die Hobelbank. »Hier kannst du die ganze Nacht sitzen und in Ruhe schreiben, wenn du willst«, sagte er, indem er ging.

Sobald Ingmar allein geblieben war, streckte er die Arme aus, wie man zu tun pflegt, wenn einem das Herz voller Sehnsucht ist, und er stöhnte laut.

»Ich kann an keine andere denken, als an die, die ich verlassen habe, weder Tag noch Nacht,« fuhr er fort, »und das schlimmste ist, daß ich nicht glaube, daß ich Gertrud irgendwie nützen kann.« Er saß eine Weile da und grübelte, dann lächelte er über sich selbst. »Ja, wer in Zweifel und Qual umhergeht, sieht wohl in allem Fingerzeichen und Vorbedeutungen. Aber merkwürdig war es doch, daß Fält gerade auf den Einfall kommen mußte, diese Geschichte zu erzählen. Es war wirklich, als ob Gott mir zeigen wolle, was das richtigste für mich zu tun sei.« Er saß noch eine Weile da und überlegte, dann ergriff er die Feder. »In Gottes Namen«, sagte er und setzte sie auf das Papier.

Über den Brief, den Ingmar sich jetzt zu schreiben anschickte, hatte er jeden Tag nachgedacht, seit er von Hause abgereist war. Er war an den alten Pfarrer daheim gerichtet, und es wurde kein Wort geschrieben, das nicht viele Male überlegt und erwogen war. Aber obwohl der Brief an den Pfarrer geschrieben wurde, war er keineswegs für ihn allein bestimmt. Auf der ganzen Reise war es Ingmar gewesen, als ob er sich nie recht mit seiner Frau ausgesprochen habe, als ob er nie imstande gewesen sei, ihr zu sagen, was er gedacht und gefühlt hatte, und daß er doch einmal richtig versuchen müsse, sie wissen zu lassen, wie es mit ihm stehe. Er war zu dem Ergebnis gekommen, daß die beste Art und Weise, dies zu tun, war, wenn er an den Pfarrer schrieb. Aber das Schreiben wurde ihm auch nicht so leicht, es wollte ihm nicht recht gelingen, die Scheu zu überwinden, die ihn daran hinderte, von sich selbst zu reden. An diesem Abend war es ihm aber plötzlich klar geworden, wie er schreiben müsse, und er ward froh und dachte: »Dann wird es nicht so schwer, auf die Weise kann ich es tun. Jetzt weiß ich, wie ich es anstellen muß, um dem Pfarrer alles zu erzählen, was er zu wissen braucht, um meine Sache bei Barbro zu führen.«

Ingmars Brief lautete also:

»Während ich hier in der dunklen Nacht sitze und schreibe, wünsche ich nichts inniger, als daß ich jetzt nach dem Pfarrhause hinaufgehe, um mit dem Herrn Pfarrer reden zu können. Am liebsten möchte ich an einem späten Abend zu dem Herrn Pfarrer kommen, wenn Sie ganz still und ungestört in Ihrer Stube sitzen und über Ihre Predigt nachdenken.

Nun denke ich mir, daß im selben Augenblick, wo der Herr Pfarrer mich sieht, Sie auffahren und sich erschrecken werden, als ob es ein Geist wäre, der an die Tür pochte. ›Was hast du hier zu tun? Ich glaubte, du seist nach Jerusalem gereist‹, würde der Herr Pfarrer sicher sagen. ›Ja,‹ würde ich dann antworten, ›um diese Zeit hätte ich ja eigentlich dort sein sollen, aber ich bin umgekehrt, weil ich unterwegs eine Geschichte gehört habe, die ich dem Herrn Pfarrer gern erzählen möchte.‹

Und dann möchte ich den Herrn Pfarrer so herzlich bitten und anflehen, eine Stunde oder auch zwei Geduld mit mir zu haben und mich eine lange Geschichte erzählen zu lassen, die Ihnen anzuvertrauen mir sehr am Herzen liegt. Und wenn ich die Erlaubnis des Herrn Pfarrers erhalten hätte, würde ich also beginnen: Es war einmal ein Mann hier im Kirchsprengel, würde ich sagen, der seine Frau nicht lieb hatte. Das kam daher, daß er auf eine verzichten mußte, die er lieb hatte, und diese andere mußte er nehmen, um den Hof seines Vaters zu behalten. Aber damals, als er den Handel abschloß, hatte er an nichts weiter gedacht als an den Hof, er hatte gar nicht in Betracht gezogen, daß er mit dem Hof auch eine Frau bekommen würde. Es fiel ihm gar nicht ein, daran zu denken, wie es mit ihr stehe, ob sie zufrieden sei, oder ob sie Heimweh habe. Auch hatte er nicht acht gegeben, wie sie ihre Arbeit verrichtete, ob es mit dem Hauswesen gut oder schlecht stand. Er dachte so viel an die andere, daß er gar nicht daran dachte, daß diese auch da war. Sie war, wie so viel anderes, für wertloses Stück Hausgerät zusammen mit dem Hof gekauft. Sie mußte sehen, wie sie fertig werden konnte, er konnte sich nicht um sie bekümmern.

Aber da war auch noch etwas anderes, das bewirkte, daß der Mann seine Frau nicht achtete. Er verachtete sie deswegen, weil sie ihn hatte nehmen wollen, der doch eine andere liebte. Da mußte irgend etwas mit ihr nicht in Ordnung sein, dachte er, da ihr Vater ihr so geradezu einen Mann kaufen mußte.

Wenn dieser Mann seine Frau jemals betrachtete, so geschah es nur, um einen Vergleich zwischen ihr und der andern anzustellen, die er aufgegeben hatte. Er konnte wohl sehen, daß seine Frau auch gut aussah, aber sie war doch nicht so schön wie die, die er verloren hatte. Ihr Gang war nicht so leicht, und sie bewegte ihre Hände nicht so schön; sie hatte nicht so viel gute und erfreuliche Dinge zu erzählen. Sie ging still und geduldig umher und besorgte ihre Arbeit, das war alles, wozu sie taugte.

Man muß dem Mann jedoch die Gerechtigkeit widerfahren lassen und anerkennen, daß er mit seiner Frau nicht über das sprechen konnte, was immerwährend in seinen Gedanken war. Er konnte ihr doch nicht anvertrauen, daß er unaufhörlich an seine Herzallerliebste dachte, die in ein fremdes Land gezogen war, das konnte er doch nicht tun, und er fand auch nicht, daß er mit ihr davon reden konnte, daß er beständig einherging und auf die Strafe Gottes wartete, die ihn treffen müßte, weil er sein Wort gebrochen hatte, und daß er sich fürchtete, an seinen eigenen Vater im Himmel zu denken, und sich einbildete, daß alle Menschen mißbilligten, was er getan hatte. Alle, mit denen er redete, erzeigten ihm freilich große Achtung, aber er war so schwermütig, daß er alle im Verdacht hatte, daß sie sich lustig über ihn machten, sobald er ihnen den Rücken kehrte, und daß sie sagten, er sei des Namens nicht würdig, den er trug, und mehr dergleichen.

Nun will ich erzählen, wie es zuging, daß der Mann zuerst bemerkte, daß er eine Frau hatte.

Als sie ein paar Monate verheiratet waren, geschah es, daß Mann und Frau zu einer Hochzeit bei Verwandten eingeladen wurden, die in dem Kirchsprengel der Frau wohnten. Sie hatten einen langen Weg zu fahren, und sie mußten eine Stunde in einem Gasthof einkehren, um das Pferd zu füttern. Das Wetter war schlecht, und die Frau ging hinauf und setzte sich in ein Gastzimmer, um dort zu warten. Der Mann tränkte das Pferd und gab ihm Hafer und ging dann in die Stube hinauf, wo die Frau saß: Er sagte nichts zu ihr, er saß nur da und dachte daran, wie hart es sei, daß sie unter Menschen mußten, und daß die Leute in dem Hochzeitshause es sie wohl fühlen lassen würden, wie sie über sie dachten. Während er da saß und sich selbst quälte, fiel ihm plötzlich ein, daß an allem diesem eigentlich seine Frau schuld war. ›Hätte sie sich nicht mit mir verheiratet,‹ dachte er, ›so wäre ich jetzt noch ein unschuldiger Mann. Ich wäre keiner Versuchung ausgesetzt gewesen, und ich brauchte mich nicht zu fürchten, ehrbaren Leuten ins Gesicht zu sehen.‹

Nie zuvor war es dem Mann eingefallen, daß er seine Frau hassen konnte, aber in diesem Augenblick war es ihm, als hasse er sie. Indessen sollte er bald etwas anderes zu denken haben. Es waren einige Männer in eine Stube eingetreten, die vor dem Gastzimmer lag. Sie hatten wohl den Mann und die Frau gesehen, als sie gefahren kamen, und fingen nun an, über sie zu reden. Und die Wände in dem Hause waren nicht dicker, als daß die, die da saßen, jedes Wort hören konnten.

›Ich möchte wohl wissen, wie die beiden miteinander leben‹, sagte einer von den Männern.

›Das hätte ich doch nie geglaubt, daß Barbro Svenstochter einen Mann kriegen würde‹, fiel der andere ein.

›Ich weiß noch sehr gut, wie verliebt sie in Stig Börjesson war, der vor drei oder vier Jahren auf dem Bergershof wohnte.‹

Als die Frau hörte, daß von ihr geredet wurde, sagte sie schnell: ›Ist es jetzt nicht an der Zeit, daß wir weiterfahren?‹ Aber der Mann fand, daß es ärgerlich sei, wenn die fremden Leute sähen, daß er und sie da drinnen gesessen und gelauscht hätten. Er wollte lieber dort bleiben, bis sie gegangen waren.

Aber nun geschah es, daß die da draußen fortfuhren von der Frau zu reden. ›Dieser Stig Börjesson war ein armer Kerl, und kaum hatte Birger Sven Persson gemerkt, daß seine Tochter ihn liebte, als er ihn vom Hofe jagte‹, sagte einer, der die Geschichte genau zu kennen schien. ›Aber da wurde Barbro so krank vor Kummer, daß der Alte nachgeben und mit Stig zu dem Pfarrer fahren und das Aufgebot bestellen mußte. Aber das Wunderlichste bei der Geschichte war doch, daß, als sie zum erstenmal aufgeboten waren, Stig seinen Sinn änderte und sagte, er habe keine Lust, sich zu verheiraten. Nun war an Sven Persson die Reihe, für seine Tochter Stig zu bitten und zu flehen, daß er sie nicht sitzen lassen solle. Aber Stig hatte kein Erbarmen, sagte, er hasse Barbro so, daß er sie nie wieder vor Augen sehen wolle. Er verbreitete das Gerücht, daß er Barbro nicht geliebt hatte, sondern daß sie ihm nachgelaufen sei.‹

Als die Männer fortfuhren so zu reden, da schämte sich der Mann sehr, wie der Herr Pfarrer verstehen werden; er wagte nicht, seine Frau anzusehen. Und doch fand er, nachdem sie nun dagesessen und dies alles mitangehört hatten, daß sie auf keinen Fall durch die andere Stube gehen konnten.

›Das war doch schändlich von Stig gehandelt,‹ sagte einer von den andern da draußen, ›aber er hat es auch bereuen müssen.‹

›Ja, er hat es bereuen müssen‹, sagte einer, der bisher nicht geredet hatte. ›Er ging hin und heiratete die erste beste, die ihn haben wollte. Das tat er gewiß nur, um allen Menschen zu zeigen, daß er nicht an Barbro dachte. Er bekam eine schlechte Frau, und es entstand nur Elend und Armut daraus, und jetzt hat er sich aufs Trinken geworfen. Er und die Familie wären längst im Armenhaus gewesen, wenn Barbro ihnen nicht geholfen hätte. Sie gibt ihm und seiner Frau Nahrung und Kleidung, das weiß man ja.‹

Dann sprachen sie nicht mehr von Barbro, und nach einer Weile gingen sie. Nun ging der Mann hinaus und spannte an, und als die Frau hinunterkam, um in den Wagen zu steigen, hob er sie hinein. Sie glaubte wohl, er tue es nur, damit sie ihr Kleid nicht an dem Wagen beschmutzen solle, aber in Wirklichkeit tat er es, weil er ihr gern auf irgendeine Weise zeigen wollte, daß sie ihm leid tue. Und während sie den Weg dahinfuhren, wandte er sich von Zeit zu Zeit um und sah sie an. Hatte sie wirklich einen so liebevollen Sinn, daß sie dem Mann beistehen und helfen konnte, der sie so schändlich hatte sitzen lassen? Und sonderbar war es doch zu denken, daß sie ebenso betrogen war wie Gertrud.

Als sie eine Strecke gefahren waren, sah der Mann, daß seine Frau dasaß und weinte. ›Darüber brauchst du doch nicht zu weinen,‹ sagte er, ›es ist doch nicht so sonderbar, daß du eine andere Liebe hast.‹ Hinterher saß er da und bereute, daß er ihr nicht ein freundliches Wort hatte sagen können.

Nun wäre es wohl natürlich gewesen, wenn der Mann von der Zeit an zuweilen daran gedacht hätte, ob seine Frau diesen Stig noch immer liebte. Aber das fiel ihm gar nicht ein; er bekümmerte sich nicht so viel um sie, daß er daran dachte, wen sie lieb hatte und wen nicht. Er ging mit seinen eigenen trübseligen Gedanken umher und vergaß vielleicht ganz, daß sie da war. Er wunderte sich auch nicht darüber, daß sie immer so still und sanft war und ihm gegenüber nie heftig wurde, obwohl er nie gegen sie so war, wie er hätte sein sollen.

Der Herr Pfarrer muß indes wissen, daß die Ruhe, die sie beständig zur Schau trug, bewirkte, daß man schließlich glauben mußte, sie wisse nicht einmal, was für einen Gram er mit sich herumtrug. Aber dann im Herbst geschah es einmal, als sie ungefähr anderthalb Jahre verheiratet waren, daß es eines Abends sehr kalt und regnerisch war. Der Mann war seit der Dämmerung draußen gewesen und kam spät nach Hause. In der großen Stube, wo das Gesinde schlief, war es stockdunkel, aber in der Kammer brannte ein helles Feuer. Die Frau war auf, und sie hatte Essen hingestellt, das viel besser war als das gewöhnliche. Als der Mann hereinkam, sagte sie zu ihm: ›Du mußt deinen Rock wohl ausziehen, er ist ja ganz naß‹ Sie half ihm ihn ausziehen und hängte ihn ans Feuer. ›Mein Gott, wie naß er ist‹, sagte sie. ›Ich begreife nicht, wie ich ihn bis morgen trocken bekommen soll.‹

›Wo bist du doch nur einmal in diesem Wetter gewesen,‹ sagte sie nach einer Weile. Es war das erstemal, daß sie ihn nach dergleichen fragte. Er schwieg und dachte daran, warum sie wohl plötzlich danach fragte.

›Die Leute reden darüber, daß du jeden Abend nach dem Schulhause hinaufruderst und dich dort am Elf auf einen Stein setzt und dich mehrere Stunden lang nicht vom Fleck rührst.‹ – ›Man muß die Leute reden lassen,‹ sagte der Mann und sah ebenso ruhig aus wie zuvor, aber es ärgerte ihn doch, daß man ihn ausspionierte. – ›Ja, es ist doch nicht angenehm für eine Frau, dergleichen zu hören.‹ – ›Ach,‹ sagte der Mann, ›wer sich einen Mann gekauft hat, kann nichts Besseres verlangen.‹

Die Frau stand da und zerrte an dem einen Ärmel des Rockes, um ihn umzukehren; er war fest wattiert und steif, so daß sie große Mühe damit hatte. Der Mann sah auf, um zu sehen, wie sie das auffassen würde, was er gesagt hatte. Da sah er, daß ein leises Lächeln ihre Lippen umspielte. Als sie schließlich mit dem Ärmel fertig geworden war, sagte sie: ›Ach, ich wäre gar nicht so darauf erpicht gewesen, mich zu verheiraten, aber Vater wollte die Sache gern durchsetzen.‹

Der Mann sah seine Frau noch einmal an, und als er jetzt ihrem Blick begegnete, dachte er: Sie sieht eigentlich aus, als ob sie recht gut weiß, was sie will. ›Ich glaube, du gehörst nicht zu denen, die man leicht zwingen kann‹, sagte er.

›Ach nein,‹ sagte die Frau, ›aber mit meinem Vater ist nicht gut zanken. Den Fuchs, den er mit einem Hund nicht jagen kann, den fängt er mit einer Falle.‹ Der Mann antwortete nicht; er war schon wieder in seine eigenen Gedanken versunken und hörte kaum, was sie sagte. Aber seine Frau meinte wohl, wenn sie doch so viel gesagt hatte, sei es am besten, fortzufahren.

›Jetzt will ich dir etwas sagen‹, begann sie. ›Vater hat von jeher so große Stücke auf den Ingmarshof gehalten, weil er dort in seiner Jugend gelebt hat. Er prahlte immer damit und mit den Ingmarssöhnen. Es gibt keinen Ort in der ganzen Welt, von dem ich so viel habe reden hören. Ich glaube, ich weiß mehr von alle denen, die hier gelebt haben, als du selber.‹

Als seine Frau mit ihrer Erzählung so weit gekommen war, stand der Mann vom Tisch auf, wo er gesessen und gegessen hatte, und ging hin und setzte sich an den Herd, dem Feuer den Rücken zugewandt, so daß er ihr Gesicht sehen konnte. ›Und dann ging es mir so, wie du weißt‹, sagte die Frau. – ›Das brauchst du nicht zu erzählen‹, sagte der Mann schnell. Er schämte sich, wenn er daran dachte, wie er sie in dem Gasthof hatte sitzen und pein'gen lassen. – ›Aber du mußt wissen, daß, als Stig mich verlassen hatte, Vater so außer sich geriet aus Angst, daß mich niemand haben wollte, daß er mich nach rechts und links ausbot. Da wurde ich ärgerlich; so gering war ich denn doch auch nicht, daß er die Leute anzuflehen brauchte, sich mit mir zu verheiraten.‹

Während sie dies sagte, sah der Mann, daß sie sich ein wenig aufrichtete. Sie warf den Rock auf einen Stuhl und sah ihm fest in die Augen. ›Ich wußte nicht, wie ich der Sache ein Ende machen sollte‹, fuhr sie fort, ›aber dann kam mir eines Tages der Gedanke, Vater zu sagen: Ich heirate niemals, wenn ich nicht Ingmar Ingmarsson auf dem Ingmarshof bekommen kann. Damals, als ich das sagte, wußte ich ebenso wie die andern, daß Tims Halvor der Ingmarshof gehörte, und daß du dich mit Schulmeisters Gertrud verheiraten wolltest. Ich dachte mir nur etwas ganz Ungewöhnliches aus, um Frieden zu bekommen. Anfangs war Vater auch ganz erschreckt. ›Dann heiratest du niemals‹, sagte er. – ›Nun ja, darein finde ich mich dann auch‹, sagte ich. Aber ich konnte doch sehen, daß der Gedanke Vater gefiel. – ›Kann ich mich auf das verlassen, was du da sagst?‹ fragte er nach einer Weile. – ›Ja, das kannst du, Vater‹, sagte ich. – Du kannst dir ja denken, daß es mir nicht einen Augenblick in den Sinn kam, daß er so etwas durchsetzen könne. Das sah ebenso unmöglich aus, als wenn ich mich mit dem König hätte verheiraten wollen.

Nun hatte ich wenigstens einige Jahre Ruhe vor den Heiratsplänen, und ich war zufrieden, wenn man mich nur in Ruhe ließ. Ich hatte es so gut, wie ich es mir nur wünschen konnte. Ich bewirtschaftete Vaters großen Hof und durfte tun und lassen, was ich wollte, weil er Witwer war. Aber nun im Mai kam Vater eines Tages spät nach Hause und schickte sogleich nach mir. ›Jetzt kannst du Ingmar Ingmarsson auf dem Ingmarshof bekommen‹, sagte er. Damals hatte Vater seit zwei Jahren kein Wort über die Sache geredet. ›Jetzt verlasse ich mich darauf, daß du dein Wort hältst‹, sagte er zu mir. ›Ich habe den Hof für vierzigtausend Kronen gekauft.‹ – »Aber Ingmar hat doch schon eine Braut‹, sagte ich. – ›Aus der macht er sich wohl nicht viel, da er jetzt um dich wirbt.‹

Der Herr Pfarrer wird wohl verstehen, daß, als der Mann seine Frau dies erzählen hörte, er sehr erbittert wurde. ›Wie sonderbar ist das doch‹, dachte er. ›Es sieht ja so aus wie ein Spiel, daß ich Gertrud habe aufgeben müssen, nur weil Barbro einmal im Scherz etwas über mich zu ihrem Vater gesagt hatte.‹

›Ich wußte gar nicht, was ich tun sollte,‹ fuhr die Frau fort, ›ich war sehr gerührt, auch darüber, daß der Vater so viel Geld um meinetwillen ausgegeben hatte, und so konnte ich nicht gleich nein sagen. Und ich wußte auch nicht, wie es mit dir stehe, ob du nicht vielleicht den Hof mehr liebtest als alles andere auf der Welt. Und Vater schwur, daß, wenn ich nicht tue, was er wünschte, er den Hof an die Aktiengesellschaft verkaufen wollte. Gerade um die Zeit fühlte ich mich zu Hause auch nicht mehr recht wohl. Vater hatte sich zum drittenmal verheiratet, und ich hatte keine Lust, mich einer Stiefmutter zu fügen, dort, wo ich selbst die Herrin gewesen war. Und da ich mir nicht gleich klar darüber werden konnte, ob ich ja oder nein sagen sollte, da kam alles so, wie Vater es wollte. Ich nahm die Sache nicht ernsthaft genug, wie du siehst.‹

›Nein,‹ sagte der Mann, ›ich sehe, daß dies Ganze für dich nur ein Spiel gewesen ist.‹

›Ich verstand gar nicht, was ich eigentlich getan hatte, ehe ich erfuhr, daß Gertrud von ihren Eltern fortgeschlichen und nach Jerusalem gereist sei. Aber von dem Augenblick an habe ich keine frohe Stunde gehabt. Ich hatte keinen andern Menschen so unglücklich machen wollen.

Und nun sehe ich ja auch, wie du dich quälst‹, fuhr die Frau fort. ›Ich muß immerwährend denken, daß das alles meine Schuld ist.‹ – ›Ach nein,‹ sagte der Mann, ›es ist meine Schuld allein; es geht mir nicht schlechter, als ich es verdient habe.‹ – ›Ich weiß nicht, wie ich den Gedanken ertragen soll, daß ich all dies Elend verursacht habe,‹ sagte die Frau, ›jeden Abend sitze ich hier und warte darauf, daß du wegbleiben sollst. Es endet doch noch damit, daß er da unten im Fluß bleibt, denke ich. Und dann ist es mir, als hörte ich Leute auf den Hof kommen; es ist mir, als kommen sie mit dir getragen. Und dann denke ich daran, wie es mir ergehen soll, wenn du tot bist. Ob ich es je im Leben werde vergessen können, daß ich schuld an deinem Tode bin.‹

Während sie so sprach und alledem Luft machte, was sie so bedrückte, saß der Mann da und kämpfte mit seinen eigenen Gedanken. – ›Jetzt will sie auch noch, daß ich sie tröste und ihr helfe,‹ dachte er. Er fand, daß es nur beschwerlich war, daß sie sich um ihn beunruhigte; es war ihm lieber gewesen, solange sie sich ruhig verhielt, so daß er nicht daran zu denken brauchte, daß sie überhaupt da war. ›Ich kann wirklich nicht auch noch ihren Kummer tragen‹, dachte er.

Aber etwas mußte er doch sagen. ›Du brauchst dich meinetwegen nicht zu beunruhigen,‹ sagte er. ›Ich habe nicht die Absicht, neue Missetaten zu denen hinzuzufügen, die ich schon begangen habe.‹ Da verbreitete sich ein Glanz über ihr Antlitz, nur weil er diese Worte zu ihr sagte.«

– – Als Ingmar so weit geschrieben hatte, legte er die Feder nieder und sah auf. – »Das wird ja ein schrecklich langer Brief«, dachte er. »Ich werde hier wohl die ganze Nacht sitzen und schreiben müssen.« Aber eigentlich fühlte er, daß es ihm eine Freude war, das alles noch einmal wieder zu durchleben, was er mit Barbro durchgemacht hatte. Er konnte nicht umhin zu hoffen, daß der Pfarrer ihr den Brief zu lesen geben würde, so daß sie gerührt sein würde, wenn sie sah, wie gut er sich altes dessen noch erinnerte.

»Aber obwohl der Mann glaubte, daß er sich nicht das geringste aus seiner Frau mache,« schrieb Ingmar weiter, »blieb er noch ein paar Abende zu Hause, nachdem sie ihm erzählt hatte, wie unruhig sie seinetwegen war. Die Frau tat so, als verstehe sie nicht, daß er ihretwillen zu Hause blieb. Sie ging wie gewöhnlich still und stumm umher. Aber wie der Herr Pfarrer weiß, war sie, Barbro, immer sehr gut gegen alle die alten Leute gewesen, die auf dem Ingmarshof waren. Die waren ganz verliebt in sie. Als nun der Mann zu Hause blieb und in der guten Stube zusammen mit den andern am Feuer saß, da sah er, daß die alte Lisa und Korp Bengt dasaßen und. einander fortwährend zulachten.

Zwei Abende hintereinander gelang es dem Mann, zu Hause zu bleiben, aber der dritte war ein Sonntag, da kam die Frau auf den Einfall, ihre Gitarre hervorzuholen, und sie begann zu singen, um sich die Zeit zu vertreiben. Das ging eine Weile ganz gut, aber dann stimmte sie eine Melodie an, die Gertrud immer zu summen pflegte. Da konnte der Mann es nicht länger daheim aushalten; er nahm seine Mütze und ging davon.

Als der Mann hinauskam, war es stockfinster, und es fiel ein feiner, kalter Regen, aber das war gerade solch Wetter, wie er es gern hatte. Er ruderte nach der Schule hinab und setzte sich auf einen Stein, dicht am Fluß, und dachte an Gertrud und an die Zeit, wo er seinem Versprechen noch nicht untreu geworden und noch ein rechtschaffener und ehrenhafter Mann war. Erst als die Uhr über elf war, ging er nach Hause. Da saß seine Frau unten am Flußufer und wartete auf ihn.

Da wurde der Mann ärgerlich. Der Herr Pfarrer wissen wohl, daß wir Männer es nicht leiden können, daß die Frauen sich unsertwegen Sorge machen. Er sagte nichts zu seiner Frau, bis sie in die Kammer gekommen waren. »Ich will dir nur sagen, daß du mich kommen und gehen lassen mußt, wie es mir beliebt«, sagte er, und sie konnte es seinem Ton sehr wohl anhören, daß er unzufrieden war; sie erwiderte nichts, sondern strich nur schnell ein Streichholz an und entzündete ein Licht. Da sah der Mann, daß sie ganz durchnäßt war. Die Kleider saßen an dem Leibe wie festgeklebt, sie ging hin und holte Essen für ihn, machte Feuer an und machte die Betten zurecht, und während der ganzen Zeit schleppten und klatschten die nassen Kleider um sie herum. Aber es war ihr nicht anzusehen, daß sie ärgerlich oder unzufrieden war. – ›Ich möchte wohl wissen, ob sie so fromm ist, daß nichts sie erzürnen kann‹, dachte der Mann.

Er wandte sich plötzlich nach ihr um und fragte: »Wenn ich dir dasselbe angetan hätte wie Gertrud, würdest du mir dann verzeihen?« – Sie sah ihn einen Augenblick fest an. »Nein,« erwiderte sie, aber als sie das sagte, blitzte es in ihren Augen auf. Der Mann blieb schweigend sitzen. ›Ich möchte wohl wissen, warum sie mir nicht vergeben würde, wo sie doch Stig Börjesson hat vergeben können,‹ dachte er. ›Aber sie findet wahrscheinlich, daß ich noch schlechter gehandelt habe, da ich Gertrud um ihretwillen verließ.‹

Ein paar Tage darauf geschah es, daß der Mann sein Stemmeisen verlegt hatte. Er suchte überall danach und kam zuletzt auch in die kleine Kammer hinter der Braustube. Da lag die alte Lisa krank, und Barbro saß am Bett und las ihr aus der Bibel vor. Es war eine große, alte Bibel mit Messingbeschlag und mit dickem Ledereinband. Der Mann blieb eine Weile stehen und sah sie an. – ›Sie ist wohl noch aus Barbros Hause,‹ dachte er und ging hinaus. Aber gleich darauf kehrte er zurück, nahm seiner Frau die Bibel aus der Hand und schlug die erste Seite auf. Er sah nun, daß es wirklich eine von den alten Bibeln war, die zu dem Hofe gehörten, und die Karin auf der Auktion hatte verkaufen lassen. ›Woher ist dies Buch gekommen?‹ fragte der Mann. Die Frau sagte nichts, aber die alte Lisa antwortete: ›Hat Barbro dir nicht erzählt, daß sie die Bibeln zurückgekauft hat?‹ – ›Nein, hat Barbro die zurückgekauft?‹ sagte der Mann. – ›Sie hat noch mehr als das getan,‹ sagte Lisa eifrig. ›Du solltest einmal hingehen und dir den Schrank in der guten Stube ansehen.‹ Der Mann ging schnell durch die Braustube in die gute Stube. Als er den Schrank öffnete, sah er zwei von den alten, silbernen Humpen auf dem Bort stehen. Er nahm sie herunter, drehte sie hin und her, um die Zeichen auf dem Boden zu sehen, und sah, daß es die richtigen waren. Barbro kam herein, während er dastand, sie sah sehr verlegen aus. ›Ich hatte noch ein wenig Geld in meinem Sparkassenbuch stehen‹, sagte sie halbleise. – Der Mann war so froh, wie er es seit langer Zeit nicht gewesen war. Er ging auf sie zu und reichte ihr die Hand: ›Dafür sollst du schön bedankt sein,‹ sagte er. Aber er zog seine Hand fast augenblicklich wieder zurück und ging hinaus. Er hatte ein Gefühl, daß es unrecht von ihm sei, freundlich gegen seine Frau zu sein. So viel war er Gertrud doch schuldig, daß er der, die ihren Platz eingenommen hatte, weder Liebe noch Wohlwollen erzeigte.

Es mochte wohl eine Woche später sein, nachdem dies geschehen war. Der Mann kam aus der Scheune heraus und ging nach dem Wohnhause hinüber; im selben Augeblick öffnete ein fremder Mann die Pforte und trat auf den Hofplatz. Als sie sich begegneten, grüßte der Fremde und fragte, ob Barbro Svenstochter zu Hause sei. ›Ich bin ein alter Bekannter von ihr‹, sagte er. Nun geschah das Wunderlichste, daß der Mann im selben Augenblick wußte, wer der Fremde war. – ›Dann bist du wohl Stig Börjesson,‹ sagte er. – ›Ich glaubte, daß mich niemand hier kenne. Ich will auch gleich wieder gehen, ich habe Barbro nur ein paar Worte zu sagen. Aber erzähle Ingmar Ingmarson nicht, daß ich hier gewesen bin. Er sieht es vielleicht nicht gern, daß ich hierherkomme.« – »Ach, ich glaube, Ingmar wird sich freuen, dich hier zu sehen,« sagte der Mann, »er hat gewiß schon lange gern wissen wollen, wie so ein Schurke aussieht.« Er geriet ganz außer sich vor Zorn, daß dieser elende Bursche noch immer umherging und den Leuten weismachen wollte, daß Barbro Svenstochter ihn liebte. – »Ich weiß doch nicht, daß mich schon jemals irgend jemand Schurke genannt hat«, sagte Stig jetzt. – »Ja, wenn es bisher noch niemand getan hat, so tue ich es,« sagte der Mann, und im selben Augenblick erhob er die Hand und versetzte Stig eine Ohrfeige.

Stig Börjesson fuhr zurück; er wurde leichenblaß, und sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn. »Laß das,« sagte er, »du weißt nicht, was du tust! Ich wollte nur Geld von Barbro leihen, weiter habe ich nichts mit ihr zu schaffen.« – Der Mann schämte sich seiner Heftigkeit. Er konnte selbst nicht begreifen, warum er sich so benommen hatte. Aber er konnte sich nicht entschließen, dem Kerl gegenüber Reue zu zeigen, deswegen fuhr er in zornigem Ton fort: »Du mußt dir nicht einbilden, daß ich bange bin, daß Barbro dich liebt, aber ich fand, du verdientest eine Ohrfeige, da du sie hast sitzen lassen.«

Stig Börjesson trat jetzt dicht an den Mann heran. »Jetzt will ich dir auch etwas erzählen, zum Dank dafür, daß du mich geschlagen hast,« sagte er, und seine Stimme wurde heiser und fauchend. »Ich kann mir wohl denken, daß das, was du jetzt zu hören bekommst, dich mehr schmerzen wird, als wenn ich dich prügelte. Du scheinst mir sehr verliebt in deine Barbro zu sein, darum will ich dir nur sagen, daß sie eine von denen ist, die von dem Pferdehändler auf dem Trauerhügel abstammen.«

Er stand da und beobachtete, was für eine Wirkung das auf den Mann haben würde, aber der sah nicht weiter erstaunt aus. Anfangs konnte er sich gar nicht darauf besinnen, daß etwas Merkwürdiges mit dem Trauerhügel im Zusammenhang stand. Aber endlich fiel ihm die Geschichte ein, die er als Kind gehört hatte, und die der Herr Pfarrer wohl auch gehört haben, daß alle Söhne, die von dem Geschlecht vom Trauerhügel geboren werden, blinde Idioten sind, während alle Töchter klüger und schöner werden als alle die andern Menschen. Aber er hatte nie geglaubt, daß auch nur ein Körnchen Wahrheit an der Geschichte sei. Er fing an, über Stig zu lachen.

›Du glaubst wohl nicht an die Geschichte‹, sagte Stig und trat noch näher an den Mann heran. »Aber ich will dich nur wissen lassen, daß Sven Perssons zweite Frau aus der Familie stammte. Alle, die von dem Trauerhügelmann abstammen, sind in eine andere Gegend gezogen, wo niemand weiß, wie es mit ihnen steht; aber meine Mutter wußte in der Verwandtschaft Bescheid. Sie verschwieg, was sie wußte, und sagte niemandem, wer Sven Perssons Frau war, ehe ich mich mit Barbro verheiraten wollte. Und als ich es erfuhr, konnte ich sie nicht heiraten, aber ich verschwieg es als ehrlicher Mann. Wäre ich ein Schurke gewesen, so hätte ich es schon erzählt. Ich habe Schmach genug um dieser Sache willen erlitten. Aber ich habe es schweigend getragen, bis du mich schlugst. Sven Persson selbst hat auch nie erfahren, wen er bekommen hatte, denn seine zweite Frau starb, nachdem sie ihm eine einzige Tochter geboren hatte. Und die Töchter aus dem Trauerhügelgeschlecht sind schön und fein genug, aber die Söhne, die werden blinde Idioten. Und nun kannst du liegen, wie du dich selber gebettet hast! Du kannst mir glauben, ich habe tüchtig darüber gelacht, wenn ich daran dachte, daß du deine Liebste sitzen ließest, und wenn ich an den Ingmar Ingmarsson denke, der nach dir auf dem Hof schalten und walten wird. Und du wirst wohl viele glückliche Tage mit deiner Frau verleben, jetzt, nachdem du dies gehört hast.‹

Aber während Stig dicht vor dem Mann stand und ihm dies alles ins Gesicht fauchte, war dessen Blick zufällig nach dem Wohnhause hinübergeschweift. Und da sah er den Zipfel eines Kleides hinter der Haustür hervorgucken. Er dachte, daß Barbro wohl auf die Diele hinausgegangen war, als sie sah, daß er und Stig einander auf dem Hofplatz begegneten, und da stand sie nun und hörte dies alles. Da erst wurde dem Mann unheimlich zumute, und ihn durchzuckte der Gedanke: ›Es ist ein Unglück, daß Barbro dies alles gehört hat. Es ist möglich, daß das, wovor ich mich solange gefürchtet habe, jetzt geschehen ist. Sollte dies die Strafe von Gott sein, auf die ich solange gefaßt war?‹

Aber im selben Augenblick fühlte der Mann zum ersten Male wirklich, daß er eine Frau hatte, und daß es seine Pflicht war, sie zu beschützen. Darum zwang er sich, noch einmal zu lachen, und tat so, als habe die Sache nicht den geringsten Eindruck auf ihn gemacht. ›Es war gut, daß ich die Geschichte zu hören bekam, dann brauche ich doch keinen Groll mehr gegen dich zu hegen.‹ – ›Nun,‹ sagte Stig, ›so also faßt du es auf.‹ – ›Du glaubst doch nicht, daß ich ebenso verrückt bin wie du, und mein Glück um eines dummen alten Aberglaubens willen verscherzen werde.‹ – ›Ja, dann will ich heute nicht mehr sagen,‹ sagte Stig. ›Aber wenn ein Jahr um ist, werde ich einmal nachsehen, ob du noch ebenso sicher bist wie jetzt.‹ – ›Willst du nicht mit hereinkommen und Barbro Guten Tag sagen?‹ sagte der Mann, als er sah, daß der andere sich anschickte zu gehen. – ›Ach nein, das mag einerlei sein,‹ sagte nun Stig.

Als er fort war, ging der Mann gleich in das Haus, um mit seiner Frau zu reden. Sie stand drinnen und wartete auf ihn, und ehe er noch ein einziges Wort gesagt hatte, sagte sie ganz ruhig: ›Wir werden solchen Ammenstubenmärchen doch nicht glauben, Ingmar? Was geht es uns an, was vor mehr als hundert Jahren geschehen ist, falls es überhaupt jemals geschehen ist.‹ – ›Du hast es also gehört?‹ sagte der Mann. Er wollte es sich nicht merken lassen, daß er sie hatte dastehen und lauschen sehen. – ›Ja, ich habe die alte Geschichte gehört, ebenso wie alle andern, aber bis auf den heutigen Tag habe ich nicht gewußt, daß sie etwas mit mir zu schaffen habe.‹ – ›Es tut mir leid, daß du das hören mußtest,‹ sagte der Mann. ›Aber es macht nichts, wenn du nur nicht daran glaubst.‹

Die Frau lachte. ›Ich habe nie etwas von einem Fluch bemerkt‹, sagte sie. Der Mann dachte, daß er selten eine gesehen habe, die schöner war als seine Frau. ›Nein,‹ sagte er, ›ich glaube nicht, daß jemand etwas anderes von dir sagen kann, als daß du gesund an Leib und Seele bist.‹ – – Als der Frühling kam, gebar die Frau ein Kind. Sie hatte sich die ganze Zeit hindurch tapfer gehalten, und nie irgendwelche Unruhe gezeigt. Der Mann dachte oft, daß sie gewiß das, was Stig erzählt hatte, ganz vergessen habe. Was ihn selbst anbetraf, so wagte er nach der Unterredung nicht mehr, so vollständig in seinem Kummer aufzugehen wie zuvor. Er dachte immer daran, es müsse so sein, daß seine Frau merken könne, daß er nicht an den Fluch glaubte, der auf ihr ruhen sollte. Er bemühte sich, daheim immer ein frohes Gesicht aufzusetzen, um nicht so auszusehen, als ob er auf Gottes Strafe warte. Er fing an, sich eifrig seines Hofes anzunehmen, und er zeigte sich hilfreich gegen Leute, wie sein Vater es getan hatte. ›Von nun an geht es nicht, daß ich nur umhergehe und unglücklich aussehe‹, dachte der Mann. ›Dann bildet Barbro sich ein, daß ich an den Fluch glaube, und dann grämt sie sich darüber.‹

Die Frau war ungeheuer glücklich über das Kind, Es war ein Junge, er war wohlgebildet und schön, hatte eine hohe, gerade Stirn und große, klare Augen. Wieder und wieder rief sie den Mann herein, damit er den Jungen ansehen sollte. ›Es ist ein prachtvoller Junge, Ingmar, es ist nichts mit ihm im Wege‹, sagte die Frau. Der Mann stand ganz verlegen da, die Hände auf dem Rücken, und wagte nicht, das Kind anzurühren. – ›Nein, ihm fehlt nichts,‹ sagte sie. ›Und nun sollst du einmal sehen, daß seinen Augen auch nichts fehlt,‹ sagte die Frau. Er zündete ein Licht an und führte es vor dem Gesicht des Kindes hin und her. ›Kannst du sehen, Ingmar, er wendet die Augen nach dem Licht,‹ sagte sie. – ›Ja,‹ sagte der Mann.

Es war einige Tage später. Die Frau war auf, ihr Vater und ihre Stiefmutter waren gekommen, um sich nach ihr und dem Kinde umzusehen. Die Stiefmutter nahm den Knaben aus der Wiege und wog ihn gleichsam auf dem Arm. ›Ist das aber ein großes Kind,‹ sagte sie und sah vergnügt aus. Aber nach einer Weile betrachtete sie den Kopf des Kindes genauer. ›Ist der Kopf, den das Kind hat, nicht gar zu groß?‹ fragte sie.

›Alle Kinder in unserer Familie haben große Köpfe,‹ sagte der Mann. – ›Ist dein Kind sonst gesund?‹ fragte die Stiefmutter nach einer Weile und legte es wieder in die Wiege. – ›Ja,‹ sagte die Frau, ›es wächst mit jedem Tag, der vergeht.‹

›Sage mir doch,‹ begann die Stiefmutter nach einer Weile wieder, ›weißt du auch ganz sicher, daß das Kind sehen kann? Es dreht fortwährend die Augen, so daß man nur das Weiße sieht.‹ Die Frau erbleichte und fing an zu zittern. Ihre Lippen bebten. – ›Wenn Ihr mit einem Licht die Probe machen wollt,‹ sagte der Mann, ›so werdet Ihr schon sehen, daß den Augen nichts fehlt.‹ Die Frau zündete eifrig ein Licht an und hielt es vor die Augen des Kindes. ›Freilich kann es sehen,‹ sagte sie, und bemühte sich, froh und hoffnungsvoll auszusehen. Das Kind lag still in der Wiege und verdrehte die Augen. ›Seht nur, wie es die Augen dem Lichte zuwendet‹, sagte die Mutter, niemand von den andern sagte ein Wort. ›Kannst du nicht sehen, daß es die Augen bewegt?‹ sagte sie zu der Stiefmutter. Sie erwiderte kein Wort. – ›Er ist jetzt müde,‹ sagte Barbro, ›die Augen fallen ihm zu.‹

Nach einer Weile ergriff die Stiefmutter wieder das Wort. ›Wie soll er heißen?‹ fragte sie. ›Hier im Hause ist es Sitte, daß der älteste Junge immer Ingmar getauft wird‹, sagte der Mann. Die Frau entgegnete hastig: ›Ach, ich wollte dich bitten, ob er nicht Sven nach meinem Vater heißen soll.‹ – Es entstand eine unheimliche Stille. Der Mann merkte, daß seine Frau ihn scharf beobachtete, obwohl es schien, als wenn sie die Augen beständig auf den Boden richtete. – ›Nein,‹ sagte der Mann, ›wohl ist dein Vater Sven Persson ein tüchtiger Mann, aber unser ältestes Kind soll Ingmar heißen.‹

Ja, und dann eines Nachts, als das Kind acht Tage alt war, bekam es Krämpfe, und gegen Morgen starb es.«

– – Hier hielt Ingmar von neuem mit dem Schreiben inne. Er sah nach der Uhr, es war weit über Mitternacht. »Ach, lieber Gott, ich kann es fast nicht ertragen, dies zu schreiben«, sagte er. »Ob der Herr Pfarrer wohl auch so recht verstehen kann, wie fürchterlich es war. Und das allerschlimmste war, daß wir nie Gewißheit erlangten, wie es mit dem Kinde beschaffen war. Wir wissen noch heutigentags nicht, ob es ein gesundes Kind war, oder ob etwas bei ihm nicht in Ordnung war.«

»Jetzt muß ist mich kürzer fassen«, dachte er, »sonst werde ich bis morgen früh wohl nicht mehr fertig.«

»Jetzt muß ich dem Herrn Pfarrer erzählen,« schrieb Ingmar, als er von neuem zu der Feder griff, »daß der Mann in der letzten Zeit immer gut gegen Barbro gewesen war und hin und wieder so mit ihr verkehrt hatte, wie ein jung verheirateter Mann gegen seine Frau zu sein pflegt. Aber er glaubte, daß Gertrud noch immer Anspruch auf seine ganze Liebe habe, und er sagte zu sich selbst: Nicht, daß ich Barbro liebe, aber ich muß gut gegen sie sein, weil sie ein so schweres Schicksal zu tragen hat. Sie soll doch wissen, daß sie nicht allein in der Welt dasteht, sondern einen Mann hat, der sich ihrer annehmen will.

Barbro weinte nicht mehr über das Kind, als es erst tot war. Es schien vielmehr, als freue sie sich, daß es heimgegangen war. Als ein paar Wochen verstrichen waren, beruhigte sie sich ganz. Niemand konnte ihr ansehen, ob sie sich unglücklich fühle, oder ob sie die düsteren Gedanken ganz wieder aus ihrem Sinn abgeschüttelt hatte.

Als der Sommer kam, zog Barbro auf die Alm, und der Mann blieb allein zu Hause.

Aber nun geschah etwas Wunderliches mit ihm. Wenn er in das Haus kam, ging er umher, als suche er nach Barbro. Hin und wieder, wenn er bei seiner Arbeit stand, konnte er den Kopf erheben und lauschen, ob er nicht ihre Stimme hörte. Es war ihm, als sei alle Traulichkeit mit Barbro vom Hofe verschwunden, es war gar nicht mehr derselbe Ort.

Als der Sonnabend kam, ging er zu Barbro auf die Alm hinauf. Sie saß auf der steinernen Schwelle vor dem Hause, die Hände im Schoß, und obwohl sie den Mann kommen sah, erhob sie sich nicht und ging ihm nicht entgegen. Er setzte sich neben sie. »Barbro,« sagte er, »mit mir ist etwas Wunderliches vorgegangen.« – »So?« sagte sie nur, ohne weiter zu fragen. – »Die Sache ist die, daß ich angefangen habe, dich zu lieben.« – Sie sah ihn an, und er merkte, daß sie müde war, und daß sie kaum die Augen vom Boden erheben konnte. – »Das ist jetzt zu spät,« sagte sie.

Er erschrak sehr, als er sah, wie es um sie stand. »Es ist nicht gut für dich, hier oben im Walde allein zu sein,« sagte er. – »Ja, mir geht es hier gut, ich möchte am liebsten mein ganzes Leben lang hierbleiben.«

Der Mann versuchte wieder, ihr zu erzählen, wie sehr er sie jetzt liebe, daß er keinen Gedanken für eine andere habe als für sie. Er habe es selbst nicht gewußt, wie es mit ihm stehe, ehe sie von ihm fortgegangen sei. Barbro antwortete kaum. »Alles das hättest du im vorigen Herbst sagen sollen‹, sagte sie. – ›Ach, lieber Gott, ist es nun bei dir aus?‹ sagte er, und sah ganz verzweifelt aus. – ›Ach nein, das ist es nicht,‹ sagte sie, und dann bemühte sie sich, vergnügt auszusehen.

Eines Tages im August kam er wieder auf die Alm hinauf. ›Ich habe dir traurige Nachricht zu bringen‹, sagte er, sobald er sie sah. – ›Was ist denn geschehen?‹ fragte sie. – ›Dein Vater ist gestorben.‹ – ›Ja, das sind große Neuigkeiten für dich wie auch für mich‹, sagte sie.

Barbro setzte sich auf einen Stein am Waldesrande und machte ihm ein Zeichen, sich neben sie zu setzen. – ›Nun haben wir unsere Freiheit,‹ sagte sie, ›nun können wir tun, was wir wollen, und nun wollen wir uns scheiden lassen‹ – Er wollte sie unterbrechen, aber sie ließ ihn nicht zu Worte kommen. – ›Solange mein Vater lebte, war nicht daran zu denken, aber jetzt müssen wir gleich die Scheidung einreichen,‹ sagte sie, ›das wirst du wohl einsehen.‹ – ›Nein,‹ sagte er, ›das kann ich gar nicht einsehen.‹ – ›Du hast doch gesehen, was für ein Kind ich dir geboren habe!‹ – ›Es war ein schönes Kind‹, sagte er. – ›Es war blind, und hätte es gelebt, so wäre es blödsinnig geworden.‹ – ›Es ist einerlei, wie das Kind war, ich will dich trotzdem behalten.‹

Sie faltete die Hände, und der Mann sah, daß sie die Lippen bewegte. ›Dankst du Gott dafür?‹ fragte er. – ›Den ganzen Sommer habe ich um Befreiung gebeten‹, sagte sie. – ›Ach, du lieber Gott, soll ich jetzt mein Glück um so eines alten Ammenmärchens willen verlieren?‹ rief er aus. – ›Es war kein Ammenmärchen,‹ sagte Barbro, ›das Kind war blind.‹ – ›Das weiß kein Mensch‹, sagte er. ›Hätte es gelebt, so bin ich überzeugt, daß es heute sehen könnte.‹ – ›Aber mein nächstes Kind würde doch blödsinnig werden,‹ sagte sie, ›denn jetzt glaube ich daran.‹

Er widersprach ihr noch lange und sagte, daß das, was sie von ihm verlange, ganz unmöglich sei. – ›Du mußt es doch tun,‹ sagte sie, ›denn es ist recht. Du kannst ja sehen, daß, wenn wir fort fahren, als Mann und Frau zu leben, Gott nie aufhören wird, uns zu strafen.‹

Sie wußte vom ersten Augenblick an, daß sie ihn bewegen würde, nachzugeben, weil er ein schlechtes Gewissen hatte. ›Du solltest dich freuen, daß du jetzt Gelegenheit bekommst, alles wieder gut zu machen, was du vor einem Jahr gesündigt hast,‹ sagte sie, ›sonst würde es dein ganzes Leben lang an dir genagt haben.‹ – Und schließlich, als er fortfuhr, mit Einwendungen zu kommen, sagte sie: ›Wegen des Hofes brauchst du nicht besorgt zu sein, den kannst du von mir kaufen, wenn du wieder nach Hause kommst. Und so lange du in Jerusalem bist, bleibe ich hier und verwalte ihn für dich.‹

So zogen sie denn auf den Hof herab, um Anstalten für die Scheidung zu treffen. Die Zeit, die jetzt kam, war schwerer für ihn denn je. Er sah, daß Barbro froh und glücklich war, bei dem Gedanken, von ihm befreit zu werden. Es war ihre größte Freude, davon zu reden, wie er und Gertrud miteinander leben würden. Mit nichts beschäftigte sie ihre Gedanken lieber als damit, sich auszumalen, wie Gertrud sich freuen würde, wenn er sie in Jerusalem abholte. Einmal, als sie lange darüber geredet hatte, war es ihm, als würde es ihm plötzlich klar, daß Barbro ihn nicht leiden könne, sonst würde sie nicht immer und ewig davon reden, ihn mit Gertrud zusammenzubringen. Da fuhr er auf und schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. ›Ja, ich werde reisen,‹ rief er, ›aber dann sagst du nichts mehr hierüber!‹ – ›Dann ist alles gut‹, sagte sie und sah vergnügt aus. ›Denke nur immer, Ingmar, daß ich keine frohe Stunde mehr haben kann, ehe du nicht mit Gertrud ausgesöhnt bist.‹

Und dann machten sie alles durch, was nötig war: Sie wurde von dem Pfarrer ermahnt, sie wurde von dem Gemeindevorsteher ermahnt, und auf dem Herbstthing wurden sie geschieden.« – –

Hier hielt Ingmar inne und legte die Feder nieder. Jetzt wußte der Pfarrer alles. Nun blieb ihm nichts weiter übrig, als ihn zu bitten, mit Barbro zu reden und ihr vorzustellen, von ihrer Forderung, daß Ingmar Gertrud heiraten sollte, abzusehen. Nach alle diesem würde der Pfarrer doch wohl verstehen, daß das ganze unmöglich für ihn war. Sich jetzt Gertrud mit falscher Liebe nähern, würde ja nur ein zweiter Betrug gegen sie sein.

Während er so dachte, fiel sein Blick auf die Worte, die er eben geschrieben hatte. »Du mußt es um meinetwillen tun, damit ich meinen Seelenfrieden wiederbekomme.«

Er las alles noch einmal durch, was er geschrieben hatte; es war ihm, als säße er wieder oben auf dem Waldhügel und hörte Barbro reden. »Du solltest dich freuen, daß du wieder gutmachen kannst, was du verbrochen hast.« Er hörte diese Worte und alles das andere, was sie gesagt hatte.

Und wie kann ich das schwer nennen, was sie von mir verlangt, im Vergleich damit, was sie selber zu tragen hat, dachte er.

Plötzlich war es ihm, daß das, was er am allerwenigsten wünschte, war, daß dieser Brief Barbro vor Augen käme. Nein, nein, da würde sie ja erfahren, daß er meinte, er würde es nicht ertragen können. Sollte er so erbärmlich sein, sie anzuflehen, der Sühne und Strafe zu entgehen?

Sie war nicht eine Sekunde im Zweifel gewesen von dem Augenblick an, als sie glaubte, das Recht zu haben, ihren eigenen Willen durchzusetzen. Sie hatte ihn die ganze Zeit zwingen müssen. Und nun sollte sie hören, daß er schrieb, er habe nicht die Kraft, es durchzuführen.

Ingmar sammelte die beschriebenen Blätter zusammen und steckte sie in die Tasche. »Es ist gewiß nicht nötig, diesen Brief fertig zu schreiben«, sagte er.

Er schraubte die Lampe aus und verließ die Tischlerwerkstatt. Er sah jetzt nicht weniger niedergedrückt und unglücklich aus als vorher, aber er war nun fest entschlossen, dem Willen seiner Frau nachzukommen.

Als er hinauskam, sah er dicht neben sich eine kleine Hintertür, die offen stand. Es war schon heller geworden. Er stellte sich an die Pforte und sog die frische Luft ein. »Es ist wohl keine Zeit mehr, jetzt zu Bett zu gehen«, dachte er.

Die Sonnenstrahlen kamen gleitend und schleichend von dem Hügel herab. Und alle Hügel waren wie überzogen von einem braunroten Glanz; im übrigen aber wechselte alles, was er sehen konnte, mit jeder Minute die Farbe.

Von den Abhängen herab, die sich unterhalb des Ölberges erstreckten, sah Ingmar Gertrud kommen. Die Sonnenstrahlen folgten ihr und umspannen auch sie mit ihrem Netz. Sie ging leicht, als sei sie froh und glücklich, und Ingmar fand, es sah so aus, als wenn der ganze Strahlenglanz von ihr ausging.

Und hinter Gertrud sah Ingmar einen großen, jungen Mann dahinschleichen. Er folgte ihr in einiger Entfernung, blieb hin und wieder stehen, und sah nach der anderen Seite, aber es war nicht zu verkennen, daß er Gertrud bewachte.

Es währte nicht lange, bis Ingmar den Mann erkannte, und im selben Augenblick senkte er den Blick zu Boden, und verfiel in Sinnen.

Jetzt, meinte er, werde ihm allerlei von dem klar, was er am Tage vorher beobachtet hatte, und eine große Freude erfüllte sein Herz.

»Jetzt fange ich an zu glauben, daß Gott mir helfen will«, sagte er.



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