Selma Lagerlöf
Gösta Berling
Selma Lagerlöf

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Das Mädchen aus Nygord

Niemand kennt den Fleck unter dem Berge, wo die Tannen am dichtesten wachsen und wo eine dicke Schicht aus weichem Moos die Erde bedeckt. Wie sollte auch wohl jemand den kennen? Er ist nie zuvor von Menschen betreten worden. Kein Fußpfad führt zu dem verborgenen Fleck. Felsblöcke türmen sich ringsumher auf, engverflochtene Wacholderzweige bewachen ihn, dürres Reisig und umgestürzte Baumstämme versperren den Weg, der Hirte kann ihn nicht finden, der Fuchs verachtet ihn. Es ist der einsamste Fleck im Walde, und nun suchen Tausende von Menschen danach.

Welch ein unendlicher Zug von Suchenden! Sie würden die Kirche von Bro füllen und die von Löfviks und von Svartsjö noch obendrein. Welch ein unendlicher Zug von Suchenden!

Kinder, die keine Erlaubnis erhalten, sich dem Zuge anzuschließen, stehen am Wege oder sitzen auf den Zäunen und Hecken, überall, wo der Zug vorüberkommt. Die Kleinen haben gar nicht geglaubt, daß es so viele Menschen auf der Welt gibt, so eine unendliche Menge. Wenn sie groß sind, werden sie sich noch dieser langen, wogenden Menschenflut erinnern. Ihre Augen werden sich nur bei der Erinnerung mit Tränen füllen – es war überwältigend, diesen unendlichen Zug den Weg entlang ziehen zu sehen, wo man sonst den ganzen Tag hindurch nichts zu sehen pflegte als einige einsame Wanderer, Bettler oder einen Bauernwagen.

Alle, die am Wege wohnen, fahren auf und fragen: »Ist ein Unglück über das Land hereingebrochen? Ist der Feind eingerückt? Wohin geht ihr, ihr Wandersleute, wohin geht ihr?«

»Wir suchen!« antworteten sie. »Wir haben zwei Tage gesucht. Wir wollen auch heute noch suchen; länger können wir es nicht aushalten. Wir wollen den Wald von Björne durchsuchen und die tannenbewachsenen Höhen westlich von Ekeby.«

Der Zug ist von Nygord, einem armen Dorf in den östlichen Bergen, ausgegangen. Das hübsche junge Mädchen mit dem dicken schwarzen Haar und den roten Wangen ist seit acht Tagen verschwunden gewesen. Das Besenmädchen, das Gösta Berling zu seiner Braut machen wollte, hat sich in den großen Wäldern verirrt. Seit acht Tagen hat niemand sie gesehen. Da brachen die Leute aus Nygord auf, um sie zu suchen. Und alle Menschen, denen sie begegneten, schlossen sich ihnen an, um zu suchen. Aus jedem Hause kamen Menschen, um mitzugehen.

Da geschieht es denn häufig, daß ein Neuhinzugekommener fragt: »Ihr Männer aus Nygord, woher kommt dies alles? Weshalb ließet ihr das hübsche Mädchen allein auf den fremden Wegen gehen? Der Wald ist tief, und Gott hat ihr ihren Verstand genommen.«

»Ihr fügt niemand ein Leid zu«, antworten sie dann, »und sie tut niemand ein Leid. Sie geht so sicher wie ein Kind. Wer geht wohl sicherer als der, den Gott selber bewachen muß? Sie ist sonst stets zurückgekommen.«

So ist der suchende Zug durch die östlichen Wälder gezogen, die Nygord von der Ebene trennen. Jetzt am dritten Tage zieht er an der Broer Kirche vorüber, den westlich von Ekeby gelegenen Wäldern zu.

Aber wohin der Zug kommt, braust ihnen auch ein Sturm des Staunens entgegen, stets muß ein Mann aus der Schar zurückbleiben, um die Fragen: »Was wollt ihr? Was sucht ihr?« zu beantworten.

»Wir suchen das blauäugige, schwarzhaarige junge Mädchen. Sie hat sich in den Wald gelegt um zu sterben. Sie ist acht Tage lang fortgewesen.«

»Weshalb hat sie sich in den Wald gelegt, um zu sterben? War sie hungrig? War sie unglücklich?«

»Nein, Not hat sie nicht gelitten, aber ein Unglück hat sie in diesem Frühling betroffen. Sie hat den tollen Pfarrer, Gösta Berling, gesehen und ihn mehrere Jahre hindurch geliebt. Sie wußte es nicht besser. Gott hat ihr den Verstand genommen.«

»Ja, Gott hat sie ihres Verstandes beraubt, ihr Männer von Nygord.«

»In diesem Frühling traf das Unglück ein. Bis dahin hatte er sie niemals gesehen. Da sagte er zu ihr, daß sie seine Braut sein solle. Es war nur ein Scherz; er ließ sie wieder laufen, aber sie konnte sich gar nicht trösten. Sie kam stets nach Ekeby zurück. Sie folgte ihm auf den Fersen, wohin er auch ging. Er ward ihrer überdrüssig. Als sie zuletzt da war, hetzten sie die Hunde auf sie. Seither hat niemand sie gesehen.«

Auf, ihr Männer! Es gilt ein Menschenleben. Ein Mensch hat sich in den Wald gelegt, um zu sterben. Vielleicht ist sie schon tot. Oder vielleicht wandert sie noch da draußen herum und kann den rechten Weg nicht finden. Der Wald ist groß, und ihr Verstand ist bei Gott.

Schließet euch dem Zuge an, kommt mit. Laßt den Hafer in Hocken stehen, bis die dünnen Körner aus den Ähren fallen, laßt die Kartoffeln in der Erde verfaulen; laßt die Pferde los, damit sie nicht im Stall verdursten; laßt die Tür zum Kuhstall offen stehen, so daß die Kühe die Nacht unter Dach kommen können; nehmt die Kinder mit, denn die Kinder gehören Gott. Gott ist mit den Kleinen; er leitet ihre Schritte. Sie sollen helfen, wo menschliche Klugheit zu Ende ist.

Kommt alle, Männer, Frauen und Kinder! Wer wagt es, zu Hause zu bleiben? Wer kann wissen, ob Gott sich nicht gerade seiner bedienen will? Kommt herbei, alle, die ihr der Barmherzigkeit bedürft, damit eure Seele nicht einstmals hilflos auf den dürren Stätten umherschwanken muß, ohne Ruhe finden zu können. Kommt! Gott hat ihr den Verstand genommen, und der Wald ist groß.

Ach, wer kann den Fleck finden, wo die Tannen am dichtesten stehen, wo das Moos am weichsten ist? Liegt dort nicht etwas Dunkles hart an der Bergwand? Ach, ein Ameisenhaufen. Gelobt sei, der den Weg der Toren lenkt! Es ist nichts anderes!

Welch ein Zug! Kein feierlich geschmückter Festzug, der den Sieger begrüßt, der Blumen auf seinen Weg streut und seine Ohren mit Jubelrufen erfüllt, kein Pilgerzug, mit Psalmengesang und sausenden Geißelschlägen auf dem Wege nach dem Heiligen Grabe, kein Auswandererzug auf knirschenden Lastwagen, der auszieht, um neue Behausungen für die Menschen in ihrer Not zu suchen, keine Armee mit Trommeln und Waffen; es sind nur Bauern in Arbeitskleidern aus Fries mit vertragenen Schurzfellen, nur ihre Frauen mit Strickstrümpfen in der Hand, die Kinder auf dem Rücken oder an den Röcken hängend.

Es ist groß, Menschen zu großen Zielen vereint zu sehen. Laß sie ausziehen, um ihre Wohltäter zu begrüßen, um ihren Gott zu preisen, um neuen Erdboden zu suchen, um ihr Land zu verteidigen; laß sie ziehen! Diese Menschen aber hat kein Hunger, keine Gottesfurcht, kein Unfriede ausgetrieben. Ihre Mühe ist vergeblich, ihre Arbeit ohne Lohn, sie ziehen nur aus, um eine Irrsinnige zu finden. Wie viele Schweißtropfen, wie viele Schritte, wie viele Gebete dies auch kosten mag, sie haben doch keinen andern Lohn, als den, eine arme Irrsinnige wiederzufinden, deren Verstand bei Gott ist.

Kann man es lassen, dies Volk zu lieben? Müssen nicht jedem, der sie hat vorüberziehen sehen, Tränen in die Augen treten, wenn er sie sich im Geiste zurückruft, diese Männer mit den scharfen Zügen und den harten Händen, Frauen mit vor der Zeit gefurchten Stirnen und diese Kinder, die Gott an den rechten Ort leiten sollte?

Er füllt die Landstraße, dieser Zug mit den traurig Suchenden. Mit ernsten Blicken sehen sie den Wald an; mit finsteren Mienen wandern sie dahin, denn sie wissen, daß sie mehr Aussicht haben, eine Tote zu finden, als eine Lebende.

Ach, das Schwarze dort unter der Bergwand, ist es doch wohl kein Ameisenhaufen – aber vielleicht ein umgestürzter Baum? Gelobt sei Gott, es ist nur ein umgestürzter Baum. Aber so genau kann man es ja nicht sehen, da die Tannen so dicht nebeneinander stehen.

So lang ist der Zug, daß die Vordersten, die starken Männer, schon am Walde westlich von Björne angelangt sind, während die letzten, die Krüppel und die schwachen Greise und die Frauen, die ihre kleinen Kinder tragen, kaum an der Brobyer Kirche vorüber sind.

Und dann verschwindet dieser ganze wogende Zug in den finstern Wald. Die Morgensonne leuchtet ihnen unter die Tannen – die sinkende Sonne des Abends wird den Scharen begegnen, wenn sie aus dem Walde kommen.

Es ist der dritte Tag, daß sie suchen. Sie sind an diese Arbeit gewöhnt. Sie suchen unter der steilen Felswand, wo der Fuß gleitet, unter den umgewehten Bäumen, wo man leicht Arm und Bein brechen kann, unter den Zweigen der dichten Tannen, die über das weiche Moos herabhängen und zur Ruhe einladen.

Das Versteck des Bären, die Höhle des Fuchses, der unterirdische Bau des Dachses, der schwarze Boden, auf dem der Kohlenmeiler gestanden hat, der rote Kronsbeerenberg, die Tanne mit den weißen Nadeln, der Berg, den der Waldbrand vor einem Monat heimgesucht, der Stein, der von dem Riesen dahingeworfen war, das alles haben sie gefunden, nicht aber den Fleck an der Bergwand, wo das Schwarze liegt. Niemand ist dort gewesen, um zu sehen, ob es ein Ameisenhaufen ist oder ein Baumstamm oder ein Mensch. Ach, es ist sicher ein Mensch, aber niemand ist dort gewesen, niemand hat sie gesehen. Die Abendsonne sieht sie auf der andern Seite des Waldes herauskommen, aber das junge Mädchen, dessen Verstand Gott genommen hat, ist nicht gefunden. Was sollen sie nun tun? Sollen sie den Wald noch einmal durchsuchen? Der Wald ist gefährlich im Dunkeln; dort liegen bodenlose Moore und steile Felsklüfte. Und was können sie, die nichts fanden, als die Sonne schien. wohl jetzt finden, wo sie fort ist?

»Laßt uns nach Ekeby gehen!« ruft einer aus der Schar.

»Laßt uns nach Ekeby gehen!« rufen sie alle. »Laßt uns nach Ekeby gehen!

Laßt uns diese Kavaliere fragen, weshalb sie die Hunde auf eine losließen, deren Verstand Gott genommen hatte, weshalb sie eine Irrsinnige zur Verzweiflung trieben. Unsere armen, hungrigen Kinder weinen, unsere Kleider sind zerrissen, das Korn steht in Hocken, bis die Kerne aus den Hülsen fallen, die Kartoffeln verfaulen in der Erde, unsere Pferde laufen wild umher, unsere Kühe sind ohne Pflege, wir selber sind nahe daran, vor Müdigkeit zu vergehen – und das alles ist ihre Schuld. Laßt uns nach Ekeby gehen und Gericht über sie halten. Laßt uns nach Ekeby gehen!

In diesem Jahr der Verdammung müssen wir Bauern alles ausbaden. Gottes Hand ruht schwer auf uns; der Winter wird uns Hungersnot bringen. Wen suchet Gottes Hand? Der Pfarrer von Broby war es nicht. Seine Gebete konnten noch zu dem Thron des Höchsten hinaufdringen. Wer kann es wohl anders sein als die Kavaliere? Laßt uns nach Ekeby gehen!

Sie haben das Gut ruiniert, sie haben die Majorin als Bettlerin auf die Landstraße getrieben. Es ist ihre Schuld, daß wir hungern müssen. Die Not ist ihr Werk. Laßt uns nach Ekeby gehen!«

Und dann eilen finstere, erbitterte Männer gen Ekeby, hungrige Frauen mit weinenden Kindern auf dem Arm folgen ihnen, zuletzt kommen die Krüppel und die schwachen Alten. Und die Erbitterung fließt wie ein wachsender Strom durch die Reihen, von den Alten auf die Frauen und von den Frauen auf die starken Männer an der Spitze des Zuges übergehend.

Die Herbstflut kommt! Entsinnt ihr euch der Frühlingsflut, Kavaliere? Jetzt kommen neue Wogen von den Bergen herabgebraust, jetzt geht eine neue Zerstörung über Ekebys Ehre und Macht dahin.

Ein Tagelöhner, der ein Feld am Wege pflügt, hört das wütende Schreien der Menge. Er spannt eins der Pferde aus, setzt sich darauf und sprengt von dannen nach Ekeby. »Das Unglück kommt!« ruft er. »Die Bären kommen! Die Wölfe kommen! Die bösen Geister kommen und nehmen Ekeby.«

Er reitet im Hofe umher, außer sich vor Entsetzen. »Alle bösen Geister des Waldes sind los«, ruft er. »Sie kommen und stecken den Hof in Brand und schlagen die Kavaliere tot.«

Und hinter ihm hört man das Getöse und das Gebrüll der vorwärtsstürmenden Menschenscharen. Die Herbstflut braust herab gen Ekeby!

Weiß sie denn, was sie will, diese vorwärtsstürmende Flut der Erbitterung? Will sie Feuer, will sie Mord, will sie Plünderung?

Es sind keine Menschen, die kommen; es sind die bösen Geister des Waldes, die wilden Tiere der Einöde. Wir finsteren Mächte, die wir uns unter der Erde verborgen halten müssen, wir sind eine einzige, selige Stunde frei. Die Rache hat uns losgelöst.

Es sind die Geister der Berge, die das Erz gebrochen haben; es sind die Geister des Waldes, die Bäume gefällt, die den Meiler bewacht haben, es sind die Geister des Feldes, die das Korn wachsen ließen: sie sind frei, sie gebrauchen ihre Kräfte zur Zerstörung. Tod über Ekeby! Tod über die Kavaliere!

Hier fließt der Branntwein in Strömen. Hier liegt das Gold in den Kellergewölben aufgestapelt. Hier sind die Vorratskammern voll Korn und Fleisch. Weshalb sollen die Kinder der Gerechten hungern und die Übeltäter im Überfluß leben?

Jetzt aber ist ihre Zeit vorbei. Das Maß ist voll, Kavaliere! Ihr Lilien, die ihr niemals gesponnen habt, ihr Vögel, die ihr nie in die Scheuer gesammelt habt, das Maß ist voll! Im Walde liegt sie, die richtet; wir sind ihre Gesandten. Es ist kein Amtmann, kein Hardevogt, der euer Urteil fällt. Sie, die im Walde liegt, hat euch gerichtet.

Die Kavaliere stehen oben im Hauptgebäude und sehen die Leute kommen. Sie wissen schon, wessen sie angeklagt sind. Ausnahmsweise sind sie einmal unschuldig. Wenn sich das arme Mädchen im Walde hingelegt hat, um zu sterben, so geschah das nicht, weil sie die Hunde auf sie hetzten – das haben sie niemals getan –, sondern weil Gösta Beding sich vor acht Tagen mit Gräfin Elisabeth verheiratet hat.

Aber was kann es nützen, mit diesen rasenden Menschen zu reden? Sie sind müde, sie sind hungrig, die Rache reizt sie, die Raublust spornt sie an. Sie kommen mit wilden Rufen herbeigestürzt, und vor ihnen her reitet der Tagelöhner, den der Schreck wahnsinnig gemacht hat. »Die Bären kommen, die Wölfe kommen, die bösen Geister kommen und nehmen Ekeby.«

Die Kavaliere haben die junge Gräfin in dem innersten Zimmer verborgen. Löwenberg und Onkel Eberhard sollen dort sitzen und sie bewachen; die übrigen gehen hinaus zu der Volksmenge. Sie stehen auf der Treppe vor dem Hauptgebäude, unbewaffnet und lächelnd, als der erste lärmende Schwarm bis zu ihnen herandringt.

Und die Leute stehen still vor dieser kleinen Schar ruhiger Männer. Es sind einzelne unter ihnen, die sie in ihrer glühenden Erbitterung gern zu Boden geworfen und mit ihren eisenbeschlagenen Absätzen totgetreten hätten, wie die Leute im Bergwerk zu Sund es vor fünfzig Jahren mit dem Verwalter und dem Inspektor getan haben; aber sie waren auf verschlossene Türen, auf kühn erhobene Waffen gefaßt gewesen, sie hatten Widerstand und Streit erwartet.

»Liebe Freunde«, sagen die Kavaliere, »liebe Freunde, ihr seid müde und hungrig, eßt einen Bissen Brot und kostet vor allen Dingen den auf Ekeby gebrauten Branntwein.«

Der Schwarm will nicht von dergleichen hören, man heult und droht; die Kavaliere aber nehmen es nicht übel.

»Wartet nur«, sagen sie, »wartet nur einen Augenblick. Seht, Ekeby steht euch offen, die Kellertür ist geöffnet, das Vorratshaus ist offen, die Milchstube steht offen. Eure Frauen sind nahe daran, vor Müdigkeit umzusinken, die Kinder schreien. Erst wollen wir ihnen Speise und Trank schaffen, hinterdrein könnt ihr uns totschlagen. Wir laufen euch nicht weg. Aber wir haben den ganzen Boden voller Äpfel, die wollen wir für eure Kinder holen.«

 

Eine Stunde später ist das Fest auf Ekeby in vollem Gange; das größte Fest, das je auf dem stolzen Gut stattgefunden, wird in der Herbstnacht beim Schein des großen, hellen Vollmonds gefeiert.

Die Holzstapel sind herabgerissen und angezündet; über dem ganzen Hof flammt ein Feuer neben dem andern. Die Leute sitzen in Gruppen da und genießen die Ruhe, während alle Güter der Erde über sie ausgegossen werden.

Gewandte Männer sind in die Scheunen und Ställe gegangen und haben geholt, was man nötig hatte. Kälber und Schafe sind geschlachtet und im Handumdrehen gebraten. Diese Hunderte von hungrigen Menschen verschlingen die Speisen. Ein Tier nach dem andern wird herausgeführt und geschlachtet.

Es sieht so aus, als sollten alle Ställe über Nacht geleert werden.

Man hatte gerade in den Tagen große Herbstbäckerei auf Ekeby gehalten. Seit die junge Gräfin dort weilte, waren die häuslichen Arbeiten in vollem Gange. Es war, als denke die junge Frau keinen Augenblick daran, daß sie jetzt die Gattin Gösta Berlings sei. Weder er noch sie sprachen ein Wort darüber, dahingegen machte sie sich zur Herrin von Ekeby. Sie suchte, wie jede gute, tüchtige Frau es tut, mit brennendem Eifer der Verschwendung und der Nachlässigkeit abzuhelfen, die auf dem Hofe herrschte. Und man gehorchte ihr. Die Leute empfanden ein gewisses Wohlbehagen, wieder unter einer Hausfrau zu stehen.

Aber was half es jetzt, daß sie den Küchenboden hatte mit Brot anfüllen lassen, daß sie für Butter und Bier gesorgt hatte, daß man den ganzen September hindurch, solange sie dort war, Käse bereitet hatte? Was half das alles jetzt?

Herausgerückt mit allem was da ist, damit die Leute Ekeby nicht abbrennen und die Kavaliere nicht totschlagen. Her mit Tonnen und Fässern, her mit den Schinken vom Rauchboden, mit den Branntweinfässern, mit den Äpfeln!

Wie kann Ekebys ganzer Reichtum wohl verschlagen, um den Zorn der Bauern zu mildern? Können wir sie von hier fortbekommen, ohne daß eine Missetat geschehen ist, so müssen wir uns freuen.

Alles, was geschieht, geschieht doch schließlich nur um derer willen, die jetzt Herrin in Ekeby ist. Die Kavaliere sind mutige und waffenkundige Männer; sie würden sich verteidigt haben, wenn es nach ihrem eigenen Kopf gegangen wäre. Sie würden diese raubgierigen Scharen lieber mit einigen scharfen Schüssen weggeschreckt haben – wäre es nicht um ihretwillen unterblieben, die mild ist und sanft, die für die Leute bittet.

Je weiter die Nacht vorschreitet, um so milder wird die Stimmung unter den Leuten. Die Wärme und die Ruhe und das Essen und der Branntwein beschwichtigen ihre gewaltsame Erregung. Sie fangen an zu scherzen und zu lachen; sie trinken das Begräbnisbier des Mädchens aus Nygord, Schande über den, der es beim Begräbnisbier an Durst und an Scherzen gebrechen läßt, das gehört beides dazu!

Die Kinder stürzen über die Unmengen von Obst, die man ihnen bringt. Arme Tagelöhnerkinder, die wilde Waldbeeren für Leckerbissen halten, schwelgen in den klaren Glasäpfeln, die im Munde schmelzen, in den länglichen, süßen Paradiesäpfeln, den gelblichweißen Zitronenäpfeln, in den Birnen mit roten Backen und den Pflaumen aller Art, den gelben, den roten, den blauen. Ach, nichts ist zu gut für den Pöbel, wenn es ihm beliebt, seine Macht zu zeigen.

Als es gegen Mitternacht geht, sieht es fast so aus, als wenn die Schar sich zum Aufbruch anschicken will. Die Kavaliere bringen keine Speisen und Getränke mehr, sie ziehen keine Korke mehr von den Flaschen und zapfen kein Bier mehr. Erleichtert seufzen sie auf, in dem Gefühl, daß die Gefahr überstanden ist.

Aber gerade in dem Augenblick wird in einem Fenster des Hauptgebäudes ein Licht sichtbar. Alle, die dahinschauen, schreien auf. Eine jugendliche Frauengestalt trägt das Licht.

Es währt nur einen Augenblick. Die Erscheinung verschwindet, die Leute aber glauben, daß sie die Trägerin des Lichts erkannt haben.

»Sie hatte dickes, schwarzes Haar und rote Wangen«, rufen sie. »Sie ist da, sie halten sie verborgen!«

»Ach, ihr Kavaliere, habt ihr sie da? Habt ihr unser Kind, dessen Verstand Gott genommen hat, hier auf Ekeby? Ihr Gottlosen, was tut ihr mit ihr? Und uns laßt ihr Wochen hindurch in dieser Angst! Uns laßt ihr drei volle Tage suchen? Fort mit dem Wein und den Speisen! Wehe uns, daß wir etwas aus eurer Hand angenommen haben! Gebt sie uns erst heraus, dann werden wir schon sehen, was wir mit euch tun wollen!«

Das eben erst gezähmte wilde Tier heult und brüllt. In rasenden Sprüngen stürzt es auf Ekeby los.

Die Leute sind schnell, die Kavaliere aber sind noch schneller. Sie stürzen hinauf und schieben den Riegel vor die Dielentür. Aber was können sie gegen diese andrängenden Scharen ausrichten? Eine Tür nach der andern wird erbrochen. Die Kavaliere werden zurückgedrängt, sie haben keine Waffen. Sie werden von der dichten Menge umzingelt, so daß sie sich nicht rühren können. Die Leute wollen ins Haus hinein und das Mädchen aus Nygord suchen.

Sie finden sie im letzten Zimmer. Niemand hat Zeit, darauf zu achten, ob sie blond oder dunkel ist. Sie heben sie in die Höhe und tragen sie hinaus. Sie soll sich nicht fürchten, sagen sie. Sie wollen nur den Kavalieren an die Kehle. Sie sind gekommen, um sie zu erretten.

Aber wie sie nun aus dem Gebäude herausströmen, begegnen sie einem andern Zug.

An dem einsamsten Fleck im Walde ruht nicht mehr die Leiche eines Mädchens, das von dem hohen Abhang herabgestürzt und im Fallen gestorben ist. Ein Kind hat sie gefunden. Einige von den Suchenden, die sich im Walde verzögert hatten, haben sie auf ihre Schultern gehoben. Da kommen sie.

Sie ist schöner im Tode, als sie im Leben war. Schön ist sie, wie sie daliegt, mit ihrem langen, dunklen Haar. Es ist eine herrliche Erscheinung, jetzt, wo der ewige Friede über ihr ruht.

Hoch auf die Schultern der Männer gehoben, wird sie durch die Volksscharen getragen. Es wird still und lautlos, wo sie vorüberkommt. Gesenkten Hauptes huldigen alle der Majestät des Todes.

»Sie ist erst eben gestorben«, flüstern die Männer, »bis heute ist sie im Walde umhergewandert. Sie hat wohl vor uns fliehen wollen, die wir sie suchten, und ist dabei den Felsen hinabgestürzt.«

Aber wenn dies das Mädchen aus Nygord ist, wer ist denn die, die aus Ekeby herausgetragen wurde?

Der Zug aus dem Walde stößt mit dem Zug aus Ekeby zusammen. Die hellen Feuerstöße flackern auf dem ganzen Hof. Die Leute können die beiden Frauen sehen und können sie auch erkennen. Die andere ist ja die junge Gräfin aus Borg!

»Aber was hat dies zu bedeuten? Ist dies ein neues Verbrechen, dem wir auf der Spur sind? Weshalb ist die junge Gräfin hier auf Ekeby? Weshalb hat man uns erzählt, daß sie weit fort oder gar tot sei? Im Namen der ewigen Gerechtigkeit! Wollen wir uns jetzt nicht auf die Kavaliere stürzen und sie mit unsern eisenbeschlagenen Absätzen zu Tode treten?«

Da erschallt eine weithin klingende Stimme. Gösta Berling ist auf das Geländer der Treppe gestiegen und redet von dort aus.

»Hört mich, ihr Ungetüme, ihr Teufel! Glaubt ihr denn nicht, daß es Büchsen und Pulver auf Ekeby gibt? Ihr tollen Menschen! Glaubt ihr etwa nicht, daß ich die größte Lust gehabt habe, euch alle über den Haufen zu schießen wie tolle Hunde? Aber die dort hat für euch gebeten. Ach, hätte ich gewußt, daß ihr sie anrühren würdet, so hätte nicht ein einziger von euch sein Leben behalten.

Weshalb macht ihr hier heute abend Skandal und überfallt uns wie Räuber und droht uns mit Mord und Brand? Was habe ich mit euren irrsinnigen Mädchen zu tun? Weiß ich, wo die hinlaufen? Ich bin zu gut gegen die da gewesen, das ist das Ganze. Ich hätte die Hunde auf sie hetzen sollen – das wäre besser für uns beide gewesen – aber das habe ich nicht getan. Ich habe ihr niemals versprochen, daß ich mich mit ihr verheiraten wollte – das habe ich niemals getan. Bedenkt das!

Jetzt aber sage ich euch, laßt die los, die ihr da aus dem Hause geschleppt habt. Laßt sie los, sage ich, und mögen die Hände, die sie berührt haben, im ewigen Feuer brennen! Versteht ihr denn nicht, daß sie hoch über euch steht, wie der Himmel über der Erde ist? Sie ist ebenso fein, wie ihr grob seid – ebenso gut, wie ihr böse seid.

Jetzt will ich euch sagen, wer sie ist. Erstens ist sie ein Engel vom Himmel – zweitens war sie die Gattin des Grafen auf Borg. Aber ihre Schwiegermutter quälte sie Tag und Nacht, sie mußte wie ein gewöhnliches Dienstmädchen am See stehen und waschen; sie wurde so geschlagen und gepeinigt, daß keine von euren Frauen es schlimmer haben kann. Ja, sie war nahe daran, sich in den Bach zu stürzen, wie wir alle wissen, weil sie sie fast zu Tode quälten. Ich möchte wohl wissen, wer von euch, ihr Schlingel, damals bei der Hand war, um ihr Leben zu retten. Niemand von euch war da, aber wir Kavaliere taten es. Ja, wir taten es.

Und als sie dann ihr Kind auf einem Bauernhof zur Welt brachte und der Graf ihr sagen ließ: ›Unsere Ehe ward in einem fremden Lande geschlossen, wir haben den landesüblichen Brauch nicht befolgt; du bist nicht meine Frau, ich bin nicht dein Mann! um dein Kind kümmere ich mich nicht!‹ Ja, als die Sachen so lagen, und sie nicht wollte, daß das Kind vaterlos im Kirchenbuch stehen sollte, da wäret ihr sicher hoffärtig gewesen, wenn sie zu einem von euch gesagt hätte: ›Komm und verheirate dich mit mir! Ich muß einen Vater für das Kind haben!‹ Sie aber wählte keinen von euch. Sie nahm Gösta Berling, den armen Pfarrer, der nie wieder Gottes Wort verkünden darf. Ja, das kann ich euch sagen, ihr Bauern, nie ist mir etwas so schwer geworden; denn ich war ihrer so unwürdig, daß ich ihr nicht in die Augen zu sehen wagte, aber ich wagte es auch nicht, nein zu sagen, denn sie war in großer Verzweiflung.

Und nun könnt ihr soviel Böses von uns Kavalieren glauben, wie ihr nur wollt; an ihr aber haben wir all das Gute getan, was nur in unsern Kräften stand. Und es ist ihr Verdienst, daß wir euch nicht alle miteinander über den Haufen geschossen haben. Nun aber sage ich euch: Gebt sie frei und geht eurer Wege; sonst glaube ich, daß die Erde sich öffnet und euch verschlingt. Und wenn ihr von hier fortgeht, so bittet Gott, daß er euch vergeben möge, daß ihr sie so erschreckt und betrübt habt, sie, die so gut und unschuldig ist. Und nun fort mit euch! Wir haben genug von euch gehabt!«

Lange bevor er seine Rede beendete, hatten die Männer, die die Gräfin hinausgetragen, sie auf eine Stufe der steinernen Treppe niedergesetzt, und jetzt kam ein großer Bauer ganz ruhig zu ihr heran und reichte ihr seine große Hand.

»Adieu und vielen Dank!« sagte er. »Wir wollen der Frau Gräfin kein Leid zufügen. Sie darf uns nicht zürnen.«

Nach ihm kam ein anderer und drückte ihr vorsichtig die Hand. »Adieu und vielen Dank! Die Frau Gräfin müssen nicht böse auf uns sein!«

Gösta sprang herab und stand neben ihr. Da reichten sie auch ihm die Hand.

Und dann kamen sie langsam und ruhig, einer nach dem andern, um ihnen gute Nacht zu sagen, ehe sie gingen. Sie waren wieder gezähmt, sie waren wieder Menschen, so wie sie gewesen, als sie am Morgen ihr Heim verließen, ehe der Hunger und die Rachbegierde sie zu wilden Tieren gemacht hatte.

Sie sahen der Gräfin gerade ins Gesicht, und Gösta konnte merken, wie der Anblick der Unschuld und Frömmigkeit, die sich in ihren Zügen spiegelten, gar manchem Tränen in die Augen brachte. Es war bei ihnen allen eine stille Anbetung des Edelsten, das sie jemals gesehen hatten; es waren Menschen, die sich freuten, daß einer unter ihnen eine so große Liebe zum Guten hatte.

Alle konnten sie ihr ja nicht die Hand drücken, es waren ihrer ja so unendlich viele, und die junge Frau war müde und schwach. Aber sie mußten doch alle hin, um sie zu sehen, und dann konnten sie Gösta Berling die Hand drücken; sein Arm konnte es wohl ertragen, geschüttelt zu werden.

Gösta stand wie im Traum. In seinem Herzen erwachte an diesem Abend eine neue Liebe.

O mein Volk, dachte er, o mein Volk, wie ich dich liebe! Er fühlte, wie er diese ganze Schar liebte, die in der Dunkelheit der Nacht von dannen zog, die Leiche des Mädchens an der Spitze des Zuges tragend, alle diese Menschen in groben Kleidern und mit schlechtriechenden Schuhen, die alle in den grauen Hütten am Waldesrande wohnten, die keine Feder führen und oft nicht einmal lesen konnten, die nichts von der Fülle und dem Reichtum des Lebens ahnten, die nur die Mühen und Sorgen um das tägliche Brot kannten.

War das nicht ein großes Volk, ein herrliches Volk? War es nicht mutig und ausdauernd, war es nicht munter und arbeitsam, war es nicht geschickt und unternehmend? War der Arme nicht oft gut gegen den Armen? Lag nicht in den Zügen der Mehrzahl der Ausdruck einer kräftigen Intelligenz? War nicht ein sprudelnder Humor in ihrer Rede?

Er liebte sie mit einer schmerzlich brennenden Zärtlichkeit, die ihm Tränen in die Augen trieb. Er wußte nicht, was er für sie tun wollte, aber er liebte sie, alle wie einen, mit ihren Fehlern und Gebrechen. Ach Gott! wenn doch der Tag einst käme, an dem auch er von ihnen geliebt würde!

Er erwachte aus seinem Traum. Seine Frau legte ihre Hand auf seinen Arm. Die Volksmenge war verschwunden. Sie standen in diesem Augenblick ganz allein auf der Treppe.

»Ach, Gösta, Gösta! Wie konntest du das nur tun!«

Sie barg ihr Antlitz in den Händen und weinte.

»Was ich sagte, ist wahr!« rief er aus. »Ich habe dem Mädchen von Nygord niemals versprochen, sie zu heiraten.

›Komm am nächsten Freitag hierher, dann sollst du etwas Lustiges sehen!‹ das war alles, was ich zu ihr gesagt habe. Ich kann nichts dafür, daß sie sich in mich verliebte.«

»Ach, das meine ich ja gar nicht; wie konntest du aber nur zu ihnen sagen, daß ich gut und rein sei? Gösta, Gösta! weißt du denn nicht, daß ich dich geliebt habe, als ich dich noch nicht lieben durfte? Ich schämte mich vor diesen Menschen! Ich war nahe daran, vor Scham zu vergehen!«

Und ein Schluchzen machte ihren ganzen Körper erbeben.

Er stand da und sah sie an. »Ach, Geliebte!« sagte er leise. »Wie glücklich bist du, daß du so gut bist! Wie glücklich bist du, daß du eine so schöne Seele hast!«

 


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