Selma Lagerlöf
Gösta Berling
Selma Lagerlöf

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Gottes Gesandter

Gottes Gesandter, Hauptmann Lennart, kam an einem Nachmittag im August in den Brobyer Gasthof gewandert und ging geradeswegs in die Küche. Er befand sich auf dem Wege nach seinem Heim Helgesäter, das eine Viertelmeile nördlich von Broby, hart am Waldesrande liegt.

Hauptmann Lennart wußte damals noch nicht, daß er ein Gesandter Gottes hier auf Erden werden sollte. Sein Herz war von jubelnder Freude erfüllt bei dem Gedanken, daß er sein Heim wiedersehen sollte. Er hatte ein hartes Schicksal durchgekämpft, aber nun war er daheim, nun sollte alles wieder gut werden. Er wußte nicht, daß er einer von denen werden sollte, die nicht unter eigenem Dache ruhen, die sich nicht am eigenen Herde wärmen dürfen.

Hauptmann Lennart hatte einen fröhlichen Sinn. Als er niemand in der Küche traf, wirtschaftete er dort herum wie ein wilder Bube. Im Handumdrehen verstellte er den Webstuhl und brachte die Schnur des Spinnrades in Unordnung. Er warf die Katze dem Hund an den Kopf und lachte, so daß es durch das ganze Haus schallte, als die beiden Kameraden in der Hitze des Augenblicks die alte Freundschaft brachen und mit gekrümmten Krallen, mit wütenden Blicken und borstigem Haar aufeinander losfuhren.

Und dann kam, vom Lärm herbeigelockt, die Wirtin herein. Sie blieb auf der Türschwelle stehen und betrachtete den Mann, der über die kämpfenden Tiere lachte. Sie kannte ihn wohl, als sie ihn aber zuletzt sah, hatte er mit Handeisen auf dem Gefängniskarren gesessen. Sie entsann sich dessen sehr wohl. Vor fünf und einem halben Jahr hatte ein Dieb auf dem Wintermarkt in Karlstadt alle die Schmucksachen der Frau des Landeshauptmanns gestohlen. Viele Ringe, Armbänder und Spangen, auf die die vornehme Frau große Stücke hielt – denn es waren alles Geschenke und Erbstücke – waren verlorengegangen. Sie wurden niemals gefunden. Aber im ganzen Lande verbreitete sich das Gerücht, daß Hauptmann Lennart auf Helgesäter der Dieb sei.

Die Bäuerin hatte niemals begreifen können, wie ein solches Gerücht entstehen konnte. War denn dieser Hauptmann Lennart nicht ein guter, ehrenhafter Mann? Er hatte in glücklicher Ehe mit seiner Frau gelebt, die er erst vor ein paar Jahren heimgeführt hatte; denn seine Mittel hatten es ihm erst spät erlaubt, sich zu verheiraten. Hatte er jetzt nicht sein gutes Auskommen durch sein Gehalt und seine Amtswohnung? Was sollte wohl einen solchen Mann dazu verleiten, Armbänder und Ringe zu stehlen? Und noch wunderbarer erschien es ihr, daß ein solches Gerücht Glauben finden und so klar bewiesen werden konnte, daß Hauptmann Lennart seinen Abschied bekam, seinen Orden verlor und zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde.

Er hatte selber gesagt, er sei auf dem Markt gewesen, sei aber von dort heimgekehrt, ehe er von dem Diebstahl gehört habe. Auf der Landstraße habe er eine häßliche, alte Spange gefunden, die er mitgenommen und seinen Kindern geschenkt habe. Aber diese Spange war von Gold und gehörte zu den gestohlenen Sachen; und das wurde sein Unglück. Aber im Grunde war Sintram an allem schuld gewesen. Der böse Mann hatte den Ankläger gespielt und ein Zeugnis abgelegt, das ihn gefällt hatte. Es schien für ihn ganz notwendig gewesen zu sein, Hauptmann Lennart aus dem Wege zu schaffen, denn bald darauf wurde eine gerichtliche Verhandlung gegen ihn selber eingeleitet, weil man entdeckte, daß er den Norwegern in dem Kriegsjahr 1814 Pulver verkauft hatte. Man glaubte allgemein, daß er Hauptmann Lennart als Zeugen gefürchtet habe. Jetzt wurde er wegen mangelnder Beweise freigesprochen.

Die Wirtin konnte sich nicht sattsehen an dem Manne. Sein Haar war grau geworden und sein Rücken gebeugt – er hatte sicher harte Tage durchgemacht. Aber sein freundliches Gesicht und seine gute Laune hatte er noch. Er war noch derselbe Hauptmann Lennart, der sie als Braut an den Altar geführt und auf ihrer Hochzeit getanzt hatte. Noch immer blieb er am Wege stehen, um jedem Kinde eine Münze zuzuwerfen; er würde noch jedem alten, runzeligen Weibe sagen, daß sie mit jedem Tage jünger und schöner werde, er konnte sich noch sehr wohl auf eine Tonne stellen und den Leuten aufspielen, die um einen Maibaum tanzten. Ach Gott, ja!

»Nun, Mutter Karin«, begann er, »mag Sie mich denn nicht einmal ansehen?«

Er war eigentlich eingekehrt, um zu hören, wie es den Seinen daheim ergehe, ob sie ihn erwarteten. Sie mußten ja wissen, daß er seine Strafe ungefähr um diese Zeit verbüßt hatte.

Die Wirtin hatte nur Gutes zu berichten. Seine Frau sei so tüchtig gewesen wie ein Mann. Sie habe die Amtswohnung von dem neuen Inhaber gepachtet, und alles sei ihr wohlgelungen. Die Kinder seien munter, es wäre ein Vergnügen, sie anzusehen. Und natürlich erwarteten sie ihn. Die Frau des Hauptmanns war eine strenge Frau, die niemals über das sprach, was sie dachte; so viel aber wußte die Wirtin, daß niemand mit Hauptmann Lennarts Löffel hatte essen oder in seinem Stuhl hatte sitzen dürfen, während er fort war. Jetzt im Frühling war kein Tag vergangen, wo sie nicht auf den höchsten der Brobyer Hügel gegangen war und den Weg hinabgeschaut hatte, ob er wohl nicht kam. Und neue Kleider hatte sie für ihn bereit, selbstgemachte Kleider, die sie fast ausschließlich allein angefertigt hatte. An alledem konnte man doch sehen, daß er erwartet wurde, selbst wenn sie nichts sagte.

»Sie glauben es doch nicht?« fragte Hauptmann Lennart.

»Nein, Herr Hauptmann«, erwiderte die Bauersfrau, »niemand glaubt es!«

Da hielt es Hauptmann Lennart nicht länger im Zimmer, da wollte er heim.

Draußen traf er ganz zufällig gute, alte Freunde. Die Kavaliere von Ekeby waren gerade in den Gasthof gekommen. Sintram hatte sie dahin eingeladen, um seinen Geburtstag zu feiern. Und die Kavaliere besannen sich keinen Augenblick, die Hand des Strafgefangenen zu drücken und ihn wieder willkommen zu heißen. Dasselbe tat auch Sintram.

»Lieber Lennart«, sagte er, »sei du fest überzeugt, daß Gott einen Zweck dabei gehabt hat.«

»Du Schurke!« rief Lennart. »Glaubst du etwa, ich wüßte es nicht, daß es nicht der liebe Gott gewesen, der dich vom Richtblock befreit hat?«

Die andern lachten, Sintram aber wurde ganz und gar nicht böse. Er hatte gar nichts dagegen, daß man Anspielungen darauf machte, daß er mit dem Bösen im Bunde stand.

Und dann überredeten sie Hauptmann Lennart, wieder mit hineinzukommen und einen Willkommsbecher zu trinken; dann könne er ja gleich weitergehen. Aber es erging ihm übel. Er hatte seit fünf Jahren nicht das geringste von diesen heimtückischen Waren genossen. Er hatte vielleicht den ganzen Tag nichts gegessen und war erschöpft von der langen Wanderung. Infolgedessen machten ihn ein paar Gläser ganz taumelig.

Als die Kavaliere ihn erst so weit hatten, daß er nicht mehr recht wußte, was er tat, zwangen sie ihm ein Glas nach dem andern auf. Sie meinten nichts Böses damit, es war nur Wohlwollen gegen ihn, der seit fünf Jahren nichts dergleichen gekostet hatte.

Sonst war er der nüchternste Mann, den man sich nur denken konnte. Man kann ja auch begreifen, daß er nicht die Absicht hatte, sich zu betrinken – er wollte ja nach Hause zu Frau und Kindern. Statt dessen aber blieb er auf der Bank im Schenkzimmer liegen und schlief ein.

Wie er nun so verführerisch bewußtlos dalag, nahm Gösta eine Kohle und ein wenig Kronsbeerensaft und malte ihn damit an. Er gab ihm ein echtes Verbrechergesicht; er meinte, das passe gut für ihn, da er ja doch soeben aus dem Gefängnis kam. Er gab ihm ein »blaues« Auge, zog ihm eine rote Narbe über die Nase, zog das Haar in zusammengeketteten Büscheln in die Stirn hinein und schwärzte ihm das ganze Gesicht mit Ruß.

Sie lachten eine Weile darüber, dann wollte Gösta es abwaschen.

»Ach nein, laß es!« sagte Sintram, »dann kann er es sehen, wenn er erwacht. Es wird ihn amüsieren.«

Und so blieb es, wie es war, und die Kavaliere dachten nicht mehr an den Hauptmann. Das Trinkgelage währte die ganze Nacht. Bei Tagesgrauen brachen sie auf. Da war zweifelsohne mehr Wein als Verstand in ihren Köpfen.

Jetzt trat die Frage an sie heran, was sie mit Hauptmann Lennart anfangen sollten.

»Wir fahren ihn nach Hause«, sagte Sintram. »Denkt doch, wie seine Frau sich freuen wird. Es wird ein Genuß, ihre Freude zu sehen. Ich werde ganz gerührt, wenn ich nur daran denke. Laßt uns ihn nach Hause fahren.«

Sie wurden alle ganz gerührt bei dem Gedanken. Großer Gott, wie sie sich freuen würde, die gestrenge Frau auf Helgesäter!

Sie rüttelten Hauptmann Lennart, bis er erwachte und setzten ihn auf einen der Wagen, die die müden Kutscher schon längst vorgefahren hatten. Und dann zog die ganze Schar nach Helgesäter; einige schliefen halb und waren nahe daran, vom Wagen zu fallen, andere sangen, um sich wach zu erhalten. Sie sahen alle miteinander nicht viel besser aus als Landstreicher mit ihren schlaffen, geschwollenen Gesichtern.

Sie kamen indessen an ihren Bestimmungsort, ließen Pferde und Wagen im Hinterhof halten und stiegen mit einer gewissen Feierlichkeit die Treppe hinan. Beerencreutz und Julius führten den Hauptmann zwischen sich.

»Erwache jetzt, Lennart«, sagten sie zu ihm, »du bist jetzt zu Hause. Siehst du denn nicht, daß du zu Hause bist?«

Er riß die Augen auf und wurde beinahe nüchtern. Er war ganz gerührt, daß sie ihm das Geleite gegeben hatten.

»Meine Freunde!« sagte er, stehenbleibend, um zu ihnen allen auf einmal zu reden. »Ich habe Gott gefragt, weshalb ich soviel Böses habe erleiden müssen.«

»Ach, schweig, Lennart«, sagte Beerencreutz, »behalte deine Predigten für dich.«

»Laß ihn nur reden«, sagte Sintram, »er spricht ganz gut.«

»Ich habe ihn gefragt und habe es nicht verstanden, jetzt aber verstehe ich es ganz gut. Er wollte mir zeigen, was für Freunde ich habe. Freunde, die mich heimgeleiten, um meine und meiner Gattin Freude zu sehen. Denn meine Gattin erwartet mich. Was sind fünf Jahre des Elends hiergegen?«

Jetzt donnerten harte Fäuste an die Tür. Die Kavaliere hatten keine Zeit, mehr zu hören.

Drinnen entstand Bewegung. Die Mädchen erwachten und sahen hinaus. Sie warfen schnell einige Kleider über, wagten es aber nicht, dieser Schar von Männern zu öffnen. Endlich wurde der Riegel zurückgeschoben. Frau Lennart selber trat heraus.

»Was wollt ihr?« fragte sie.

Beerencreutz antwortete: »Wir bringen dir deinen Mann.«

Sie schoben Hauptmann Lennart vor, und sie sah ihn auf sich zuschwanken, betrunken, mit einem Verbrechergesicht. Und hinter ihm erblickte sie diese ganze Schar betrunkener, schwankender Männer.

Sie ging einen Schritt zurück, er folgte ihr mit ausgebreiteten Armen. »Du gingst als Dieb«, rief sie aus, »und du kommst als Landstreicher zurück!« Damit wollte sie ins Haus gehen.

Er verstand sie nicht. Er wollte ihr folgen, da versetzte sie ihm einen Stoß vor die Brust. »Glaubst du, daß ich gesonnen bin, so einen wie dich als Herrn über mein Haus und über meine Kinder aufzunehmen?« fragte sie.

Die Tür fiel ins Schloß, und der Riegel wurde vorgeschoben. Hauptmann Lennart stürzte auf die Tür zu und fing an daran zu rütteln.

Da konnten die Kavaliere sich des Lachens nicht enthalten. Er war seiner Gattin so sicher gewesen, und nun wollte sie nichts von ihm wissen. Das fanden sie ergötzlich.

Als Hauptmann Lennart hörte, daß sie lachten, fuhr er auf sie ein und wollte sie schlagen. Sie liefen davon und sprangen auf ihre Wagen. Er hinterdrein, aber in seinem Eifer strauchelte er über einen Stein und fiel. Er stand wieder auf, verfolgte sie aber nicht weiter. In seiner Verwirrung zuckte ihm ein Gedanke durch den Kopf: In dieser Welt geschieht nichts ohne den Willen Gottes, nicht das geringste.

»Wohin willst du mich führen?« fragte er. »Ich bin eine Feder, die vor deinem Atemhauch dahinfliegt. Ich bin dein Spielball. Wohin willst du mich führen? Weshalb verschließt du mir die Tür zu meinem Heim?«

Er wanderte fort von seinem Hause in dem Glauben, daß dies Gottes Wille sei.

Als die Sonne aufging, stand er oben auf den Brobyer Hügeln und schaute ins Tal hinab. Ach, die Bevölkerung des Tals wußte damals nicht, daß ihr Erretter nahe war. Da war kein Armer, kein Betrübter der Kränze gewunden und sie über die Tür zu seiner Hütte gehängt hatte. Es waren keine Blätter von duftendem Lavendel und Feldblumen auf die Schwellen gelegt, die er betreten sollte. Die Mütter nahmen nicht ihre Kinder auf die Arme, um ihn ihnen zu zeigen, wenn er kam. Das Innere der Hütten stand nicht fein und geputzt da, der schwarze Feuerherd von duftenden Wacholderzweigen verborgen. Die Männer arbeiteten nicht mit rastlosem Eifer auf dem Felde, damit die wohlgepflegten Äcker und die gut gegrabenen Gräben sein Auge erfreuen sollten.

Ach, von dort aus, wo er stand, sah sein bekümmerter Blick, wie die Dürre die Gegend verwüstet hatte, wie versengt die Saaten waren, wie die Bevölkerung es kaum der Mühe wert hielt, die Erde für die Saat des neuen Jahres vorzubereiten. Er sah zu den blauen Bergen auf, und die Morgensonne zeigte ihm die braunen, versengten Stellen, wo der Waldbrand gerast hatte: Er beschaute die Birken am Wegesrande, die waren vor Dürre fast eingegangen. Er konnte es an verschiedenen kleinen Anzeichen merken – an dem Geruch der Mast, wenn er an einem Hofe vorüberkam, an den Zäunen, die umgefallen waren, an der geringen Menge Brennholz, die nach Hause gefahren und zerkleinert war –, daß die Leute sich nicht um ihre Sachen bekümmerten, daß die Not gekommen war, daß die Menschen ihren Trost in Gleichgültigkeit und in Branntwein suchten.

Aber vielleicht war es gut für ihn, daß er sah, was er sah. Denn ihm war es nicht vergönnt, die Saat auf seinem eigenen Acker grünen und keimen zu sehen, es war ihm nicht vergönnt, an seinem eigenen Herd zu sitzen und zu sehen, wie die glühenden Kohlen erloschen, auch nicht zu fühlen, wie sich die weichen Hände seiner Kinder in seine eigenen legten, oder eine fromme Gattin an seiner Seite zu haben. Vielleicht war es gut für ihn, dessen Sinn von schwerem Kummer belastet war, daß es andere gab, denen er Trost in ihrer Armut schenken konnte. Vielleicht war es gut für ihn, daß diese Zeit eine so bittere Zeit war, wo die Kargheit der Natur Armut über die kleinen Leute gebracht hatte, wo manch einer, der glücklicher gestellt war, das Seine tat, um sie zu verderben. Denn nicht umsonst hatte der Pfarrer von Broby als begehrlicher Geizhals unter seinen Gemeindegliedern gesessen, statt ihnen ein rechter Hirte zu sein; nicht umsonst hatten die Kavaliere in Verschwendung und Trunkenheit regiert, nicht umsonst hatte Sintram ihnen den wilden Glauben beigebracht, daß Zerstörung und Tod über sie alle hereinbrechen werde.

Hauptmann Lennart stand dort auf dem Brobyer Hügel und mußte unwillkürlich denken, daß Gott seiner vielleicht bedürfe. Er ward auch nicht von einer reuigen Gattin heimgerufen.

Es muß noch erwähnt werden, daß die Kavaliere später gar nicht begreifen konnten, daß sie die Schuld an Frau Lennarts hartem Benehmen trugen. Sintram sagte nichts. In der Gegend wurden viele mißbilligende Worte über die Gattin laut, die zu stolz gewesen war, um einen so guten Mann aufzunehmen. Man erzählte, daß sie jeden kurz unterbrach, der den Versuch machte, mit ihr von ihrem Gatten zu reden. Sie konnte es nicht ertragen, daß sein Name genannt wurde. Hauptmann Lennart aber tat nichts, um sie auf andere Gedanken zu bringen.

Es war einen Tag später.

Ein alter Bauer in Högberg liegt auf dem Totenbette. Er hat das Sakrament empfangen, und seine Lebenskraft ist verzehrt; er muß sterben. Rastlos wie jemand, der im Begriff steht, eine lange Reise anzutreten, läßt er sein Bett aus der Küche in die Stube und aus der Stube wieder zurück in die Küche bringen. Hieraus kann man, mehr als aus seinem schweren Röcheln, erkennen, daß seine letzte Stunde gekommen ist.

Um ihn herum stehen seine Frau, seine Kinder, sein Gesinde. Er war glücklich, reich und angesehen gewesen. Sein Totenbett ist nicht einsam. Er ist in seiner letzten Stunde nicht von ungeduldigen Fremden umgeben. Der alte Mann spricht von sich selber, als stehe er vor Gottes Angesicht, und mit vielen Seufzern und bestätigenden Worten bezeugen die Umstehenden, daß seine Rede wahr ist.

»Ich bin ein fleißiger Arbeiter und ein guter Hausherr gewesen«, sagte er. »Ich habe meine Frau geliebt wie meine rechte Hand. Ich habe meine Kinder nicht ohne Zucht und Pflege aufwachsen lassen. Ich habe nicht getrunken. Ich habe die Grenzscheide nicht verrückt. Ich habe meinem Pferd, wenn es bergan ging, nicht die Sporen gegeben, ich habe die Kühe nicht im Winter hungern lassen. Ich habe die Schafe nicht im Sommer mit ihrer Wolle herumlaufen lassen.«

Und um ihn her wiederholt das weinende Gesinde wie ein Echo: »Er ist ein guter Hausherr gewesen, ach, Herr Gott! Er hat dem Pferd, wenn es bergan ging, nicht die Sporen gegeben, er hat die Kühe nicht im Winter hungern lassen.«

Aber ganz unbemerkt ist ein armer Mann zur Tür hereingekommen, um ein wenig Speise und Trank zu erbitten. Auch er hört die Worte des Sterbenden, wie er schweigend an der Tür steht.

Und der Kranke beginnt wieder: »Ich habe die Wälder urbar gemacht und die Wiesen ausgetrocknet. Ich habe den Pflug in geraden Furchen gezogen. Ich habe die Scheune dreimal so groß gebaut, zu dreimal mehr Saatkorn als zu meiner Väter Zeiten. Ich habe drei silberne Becher von blanken Speziestalern machen lassen – mein Vater ließ nur einen machen.«

Die Worte des Sterbenden dringen bis an das Ohr des Fremdlings an der Tür. Er hört ihn von sich selber zeugen, als stünde er vor Gottes Thron. Er hört die Kinder und das Gesinde bestätigend wiederholen: »Er fuhr den Pflug in gerade Furchen, das tat er.«

»Gott wird mir schon einen guten Platz in seinem Himmelreich geben«, sagt der Alte.

»Der liebe Gott wird unsern Herrn wohl gut aufnehmen«, sagt das Gesinde.

Der Mann an der Tür hört die Worte, und Entsetzen ergreift ihn, der fünf lange Jahre hindurch Gottes Spielball gewesen ist, eine Feder, die von seinem Atemhauch bewegt wird. Er tritt an den Kranken heran und ergreift seine Hand.

»Mein Freund, mein Freund«, sagt er, und seine Stimme zittert vor Erregung. »Hast du bedacht, wer der Herr ist, vor dessen Antlitz du bald treten sollst? Er ist ein großer Gott, ein mächtiger Gott. Welten sind seine Äcker, der Sturm ist sein Pferd. Große Himmel erzittern unter dem Gewicht seiner Fußtritte. Und du stellst dich ihm gegenüber und sagst: ›Ich habe gerade Furchen gezogen, ich habe Roggen gesät, ich habe Holz geschlagen.‹ Willst du dich vor ihm rühmen und dich mit ihm messen? Du weißt nicht, wie mächtig der Herr ist, nach dessen Reich du ziehest.«

Der Alte reißt die Augen auf, sein Antlitz verzerrt sich vor Angst, sein Röcheln wird heftiger.

»Tritt nicht mit großen Worten vor deinen Gott!« fährt der Wandersmann fort. »Die Mächtigen auf Erden sind wie gedroschenes Stroh in seiner Scheune. Sein Tagewerk besteht darin, Samen zu bauen. Er hat die Meere gegraben und die Berge aufgetürmt; er hat die Erde mit Kräutern bekleidet. Er ist ein Arbeiter ohnegleichen; du kannst dich nicht mit ihm messen. Beuge dich vor ihm, du fliehende Menschenseele. Wirf dich in den Staub vor deinen Herrn und Gott. Gottes Sturm fährt über dich hin. Gottes Zorn ist über dir wie ein verheerendes Gewitter. Beuge dich! Erfasse wie ein Kind den Zipfel seines Mantels und flehe um Schutz. Wälze dich im Staube, bitte um Gnade. Demütige dich vor deinem Schöpfer, du Menschenseele!«

Die Augen des Kranken stehen weit geöffnet, seine Hände falten sich, aber sein Antlitz erhellt sich, und der röchelnde Laut hält inne.

»Menschenseele! fliehende Menschenseele!« ruft der Mann aus. »So sicher, wie du dich jetzt in deiner letzten Stunde demütig vor deinem Gott niedergeworfen hast, so sicher ist es, daß er dich als Kind auf seine Arme nehmen und dich in die Herrlichkeit seines Himmels einführen wird.«

Der Alte seufzt noch einmal tief auf, und alles ist vorbei. Hauptmann Lennart beugt sein Haupt und betet. Alle im Zimmer beten unter tiefen Seufzern.

Als sie aufschauen, liegt der alte Bauer in tiefem Frieden. Seine Augen scheinen noch zu strahlen von dem Widerschein herrlicher Bilder, sein Mund lächelt, sein Antlitz leuchtet. Er hat Gott geschaut.

Oh, du große, schöne Menschenseele, denken alle, die ihn gesehen haben, so hast du denn die Banden des Staubes zerrissen. In deiner letzten Stunde erhobest du dich zu deinem Schöpfer. Du demütigtest dich vor ihm, und er hob dich wie ein Kind auf seine Arme.

»Er hat Gott geschaut«, sagt der Sohn und drückt dem Toten die Augen zu.

»Er sah den Himmel offen«, schluchzen die Kinder und das Gesinde.

Die alte Mutter legt ihre zitternde Hand in Hauptmann Lennarts Rechte: »Herr Hauptmann, Ihr habt ihm über das Schlimmste hinweggeholfen!«

Er steht stumm da. Ihm ist die Gabe der starken Worte und der großen Handlungen gegeben. Er weiß nicht wie. Er zittert wie ein Schmetterling am Rande der Puppe, während seine Flügel sich im Sonnenschein entfalten und strahlen wie die Sonne selber.

 

Dieser Augenblick trieb Hauptmann Lennart unter die Leute hinaus. Sonst wäre er wohl nach Hause gegangen und hätte seiner Frau sein wahres Gesicht gezeigt, aber von diesem Augenblick an glaubte er, daß Gott seiner bedürfe. So wurde er denn Gottes Gesandter, der den Armen zu Hilfe kam. Die Not war groß zu jener Zeit, und da war viel Elend, dem Klugheit und guter Wille steuern konnten, besser als Gold und Macht es vermocht hätten.

Hauptmann Lennart kam eines Tages zu den armen Bauern, die in der Gegend um den Gurlittaberg wohnten. Unter ihnen war die Not groß; sie hatten keine Kartoffeln mehr, und sie konnten keinen Roggen auf den versengten Feldern säen, denn es fehlte ihnen an Saatkorn.

Da nahm Hauptmann Lennart ein kleines Boot und ruderte geradeswegs über den See und bat Sintram, ihnen Roggen und Kartoffeln zu geben. Sintram nahm ihn gut auf: er führte ihn auf die großen, wohlversehenen Kornböden und hinab in die Keller, wo noch Kartoffeln von der vorjährigen Ernte lagen, und ließ ihn alle die Säcke und Beutel füllen, die er mitgebracht hatte.

Als aber Sintram das kleine Boot sah, meinte er, daß es für die große Last viel zu klein sei. Der böse Mann ließ die Säcke in eins seiner großen Boote tragen und es von seinem Knecht, dem starken Måns, über den See rudern. Hauptmann Lennart brauchte nur acht auf sein kleines Boot zu geben.

Der starke Måns segelte an ihm aber doch vorbei, denn er war ein Meister im Rudern und gewaltig stark. Hauptmann Lennart sitzt auch da und träumt, während er über den schönen See rudert: er denkt an das wunderliche Schicksal der kleinen Saatkörner. Jetzt sollen sie auf den schwarzen Erdboden geworfen werden, der voller Asche ist, zwischen Steine und Baumstümpfe, aber sie werden schon wachsen und Wurzeln schlagen in der Wildnis! Er denkt an die weichen, lichtgrünen Halme, die die Erde bedecken werden, und er beugt sich in Gedanken herab und streichelt mit der Hand liebkosend darüber hin. Und dann denkt er, wie der Herbst und der Winter hingehen werden über diese armen Kleinen, die so spät aus der Erde emporgekommen sind, und wie sie doch frisch und mutig sein werden, wenn der Frühling kommt, und sie allen Ernstes wachsen sollen. Da freut sich sein altes Kriegerherz bei dem Gedanken an die steifen Strohhalme, die so schlank und mehrere Ellen hoch mit spitzen Ähren dastehen werden. Die Ähren werden mit ihren kleinen Federbüschen fächeln, der Samenstaub aus den Staubgefäßen wird bis obenhinauf in die Baumwipfel fliegen, und dann, unter sichtlichem Kampf und Angst, werden die Ähren mit süßen, weichen Körnern gefüllt werden. Und später, wenn die Sense kommt und die Halme fallen, und wenn der Dreschflegel klappernd darüber hinfährt, wenn die Mühle die Körner zu Mehl zermahlt und das Mehl zu Brot verbacken wird, wieviel Hunger wird da nicht durch die Saatkörner vor ihm im Boot gestillt werden!

Sintrams Knecht legte an der Landungsbrücke der Gurlittabauern an, und viele hungrige Menschen kamen an das Boot hinab. Da sagte der Knecht, wie sein Herr ihm befohlen hatte: »Herr Sintram sendet euch hier Malz und Korn. Er hat gehört, daß es euch an Branntwein gebricht.«

Da wurden die Menschen wie toll. Sie stürzten in das Boot hinab und sprangen ins Wasser, um sich der Säcke und Beutel zu bemächtigen. Aber das war keineswegs Hauptmann Lennarts Absicht gewesen.

Er war jetzt auch gelandet, und er ward zornig, als er die Übereiltheit der Bauern sah. Er wollte die Kartoffeln als Nahrungsmittel und den Roggen zur Aussaat verteilen; er hatte gar nicht daran gedacht, um Malz zu bitten.

Er rief ihnen zu, die Säcke liegenzulassen, sie aber gehorchten ihm nicht.

»So möge euch denn der Roggen zu Sand und die Kartoffeln zu Stein in euren Hälsen werden!« rief er, denn er war sehr erbittert, daß sie ihm das Korn wegrissen.

Im selben Augenblick sah es aus, als wenn Hauptmann Lennart ein Wunder getan habe. Zwei Frauen, die sich um einen Beutel zankten, rissen ein Loch hinein und bekamen nichts als Sand. Die Knechte, die die Kartoffelsäcke trugen, merkten, daß sie so schwer waren, als seien sie mit Steinen gefüllt.

Es war alles Sand und Steine, nichts als Sand und Steine. Die Leute standen in stillem Entsetzen über diesen Mann Gottes, der zu ihnen gekommen war. Hauptmann Lennart selber stand einen Augenblick starr vor Staunen da. Der starke Måns aber lachte.

»Rudere du heim, Mann«, sagte Hauptmann Lennart, »ehe es den Bauern klar wird, daß niemals etwas anderes als Sand in den Säcken gewesen ist, sonst fürchte ich, daß sie dein Boot in den Grund bohren.«

»Ich bin nicht bange«, sagte der Knecht.

»Rudere aber doch nur lieber nach Hause«, sagte Hauptmann Lennart in so bestimmtem Ton, daß er es tat.

Und dann erzählte Hauptmann Lennart den Bauern, daß Sintram sie angeführt habe, wie es sich nun aber verhalten mochte, so wollten sie doch nicht anders glauben, als daß ein Wunder geschehen war. Das Gerücht hierüber verbreitete sich bald, und da die Vorliebe des gewöhnlichen Mannes für das Wunderbare groß ist, so entstand allgemein der Glaube, daß Hauptmann Lennart Wunder tun könne. Dadurch erhielt er eine große Macht über die Bauern, und sie nannten ihn den Gesandten Gottes.

 


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