Selma Lagerlöf
Gösta Berling
Selma Lagerlöf

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Die Auktion auf Björne

Oft mußten wir Jungen uns über die Erzählung der Alten wundern. »War denn jeden Tag Ball, so lange eure strahlende Jugend währte?« fragten wir sie. »War denn das Leben ein einziges langes Märchen? Waren zu jener Zeit alle jungen Damen schön und liebenswürdig, endete denn jedes Fest damit, daß Gösta Berling eine von ihnen entführte?«

Da schüttelten die Alten ihre ehrwürdigen Häupter und fingen an zu erzählen von dem Schnurren der Spindel, dem Klappern des Webestuhls, von der Geschäftigkeit in der Küche, von dem Schlag des Dreschflegels auf der Tenne und dem Klang der Axt im Walde. Aber es währte nie lange, bis sie wieder in den alten Ton verfallen waren. Da hielten die Schlitten vor der Freitreppe, da eilten die Pferde mit den fröhlichen jungen Menschenkindern durch die dunklen Wälder dahin, da wirbelte der Tanz, da sprangen die Saiten der Geige. Mit Lärm und Peitschengeknall sauste die wilde Jagd aus dem Märchen um den Löfsee. In weiter Ferne hörte man das Getöse, die Bäume des Waldes schwankten und fielen, alle Mächte der Zerstörung wurden losgelassen: die Feuersbrunst flammte, der Gießbach trat über seine Ufer, heulend umschlichen die hungrigen Wölfe die Gehöfte. Die Hufe der achtfüßigen Pferde traten alles stille Glück in den Staub. Wo die Jagd vorübersauste, da entflammten die Herzen der Männer in Wildheit, und die Frauen mußten in bleichem Entsetzen von Haus und Hof fliehen.

Und wir Jungen saßen staunend, schweigend, grausend und doch glückselig da. Welche Menschen! dachten wir. Ihresgleichen werden wir nimmer sehen.

»Dachten denn die Menschen jener Zeit niemals über das nach, was sie taten?« fragten wir.

»Freilich dachten sie, Kinder«, erwiderten die Alten.

»Aber nicht so wie wir denken«, behaupteten wir. Und dann verstanden die Alten nicht, was wir meinten.

Wir aber dachten an den wunderlichen Geist der Selbstkritik, der seinen Einzug schon in unsere Herzen gehalten hatte. Wir dachten an ihn mit den Eisaugen und den langen, knöcherigen Fingern, an ihn, der im finstersten Winkel unserer Seele sitzt und unser Wesen in Fasern zerpflückt, so wie alte Frauen Flicken aus Wolle oder Seide zerzupfen.

Stück für Stück hatten die langen, knöcherigen Finger zerpflückt, bis unser ganzes Ich wie ein Haufen alter Lumpen daliegt, und dann waren unsere besten Gefühle, unsere unmittelbarsten Gedanken, alles, was wir getan und gesagt hatten, gründlich untersucht, durchforscht, zerpflückt, und die Eisaugen hatten zugeschaut, und der zahnlose Mund hatte gelacht und geflüstert: »Seht, es sind Lumpen – nichts als Lumpen!«

Unter den Menschen jener Zeiten waren auch wohl einige, die ihre Seele dem Geist mit den Eisaugen erschlossen hatten. Bei dem einen saß er beobachtend an der Quelle der Handlungen, hohnlachend über Gutes und Böses, alles verstehend, nichts verurteilend, untersuchend, leitend, zerpflückend, die Regungen des Herzens und die Kraft des Gedankens durch sein unablässiges Hohnlachen lähmend.

Die schöne Marianne trug diesen Geist der Selbstkritik in sich. Sie fühlte, daß sein Eisblick, sein Hohnlächeln jedes Wort, jeden Schritt begleiteten. Ihr Leben war zu einem Schauspiel geworden, bei dem er der einzige Zuschauer war. Sie war kein Mensch mehr, sie litt nicht, freute sich nicht, liebte nicht; sie führte die Rolle der schönen Marianne Sinclaire aus, und die Selbstkritik saß mit starrenden Eisaugen und fleißig zupfenden Fingern und sah zu, wie sie auftrat.

Sie war in zwei Hälften geteilt. Bleich, unsympathisch, höhnisch saß die eine Hälfte ihres Ichs da und schaute spöttisch zu, wie die andere handelte, und niemals hatte der wunderliche Geist, der ihr Wesen zerpflückte, auch nur ein einziges, mitfühlendes Wort.

Wo aber war dieser bleiche Wächter der Quelle der Handlungen denn in jener Nacht gewesen, als sie die Fülle des Lebens kennen lernte? Wo war er, als sie, die kluge Marianne, Gösta Berling vor Hunderten von Augenpaaren küßte, als sie sich in ihrer Verzweiflung in den Schnee geworfen hatte, um zu sterben? Da waren die Eisaugen geblendet, da war das Hohnlächeln gelähmt, denn die Leidenschaft hatte ihre Seele mit Sturm erfüllt. Das Getöse der wilden Jagd aus dem Märchen hatte ihr vor den Ohren gesaust. Sie war in jener entsetzlichen Nacht ein ganzer Mensch gewesen.

Oh, du Gott der Selbstverhöhnung! Als es Marianne nach unendlicher Anstrengung gelang, ihre erstarrten Arme zu erheben und sie um Gösta Berlings Hals zu schlingen, da mußtest du in der Gestalt des alten Beerencreutz deine Augen von der Erde ab- und den Sternen zuwenden. In jener Nacht besaßest du keine Macht. Tot warst du, während sie ihre Liebeshymnen dichtete, die schöne Marianne – tot, während sie nach Sjö eilte, um den Major zu holen, tot, als sie die Flammen den Himmel über den Wäldern röten sah.

Siehe, sie waren gekommen, die mächtigen Sturmvögel, die Adler dämonischer Leidenschaften. Mit Feuerschwingen und Stahlklauen waren sie sausend über dich herabgekommen, du Geist mit den Eisaugen; sie hatten ihre Klauen in deinen Nacken geschlagen und dich in das Unbekannte hinweggeschleudert. Tot und zerschmettert warst du. Nun aber waren sie weiter gefahren, die Stolzen, die Gewaltigen, die, deren Weg keine Berechnung kennt, denen kein Beobachter zu folgen vermochte; und aus der Tiefe des Unbekannten war der wunderliche Geist der Selbstkritik wiedererstanden und hatte sich wieder in der Seele der stolzen Marianne niedergelassen. – – –

Den ganzen Februar hindurch lag Marianne krank auf Ekeby. Auf Sjö war sie von den Blattern angesteckt worden. Die entsetzliche Krankheit hat sich mit ihrer ganzen Gewalt auf sie geworfen, erkältet, erschöpft, wie sie war; sie war dem Tode nahe gewesen; gegen Ende des Monats aber fing sie an, sich zu erholen. Schwach war sie aber noch und sehr entstellt. Nie wieder würde sie die schöne Marianne genannt werden.

Dieser Verlust, der Trauer über ganz Wermland bringen sollte, als sei einer der köstlichsten Schätze des Landes verloren, war bisher jedoch nur Mariannen und ihrer Pflegerin bekannt. Nicht einmal die Kavaliere wußten es. Das Krankenzimmer, in dem die Blattern herrschten, stand nicht einem jeden offen.

Wann aber ist die Selbstkritik stärker als in den langen Stunden der Genesung. Da sitzt sie und starrt und starrt mit ihren Eisaugen und zupft und pflückt mit ihren harten, knöcherigen Fingern. Und sieht man recht zu, so sitzt dahinter ein anderes, gelblich blasses Wesen, das mit seinem Hohnlächeln starrt und lähmt, und dahinter noch eins und noch eins – alle hohnlachend über einander und über die ganze Welt.

Und während Marianne dalag und sich mit allen den starren Eisaugen betrachtete, erstarben alle ursprünglichen Gefühle in ihr.

Sie lag da und spielte die Kranke, sie lag da und spielte die Unglückliche, spielte die Verliebte, spielte die Rachelustige. Sie war dies alles, und doch war es nur Spiel.

Unter dem Blick der Eisaugen wurde alles Spiel und Unwirklichkeit, sie bewachten sie und wurden selber von einem anderen Augenpaar bewacht, das wiederum von einem andern bewacht wurde – in endloser Perspektive.

Alle starken Kräfte des Lebens lagen im Zauberschlaf. Sie hatte die Fähigkeit zu glühendem Haß, zu hingebender Liebe nur eine einzige Nacht besessen – nicht länger. Sie wußte nicht einmal, ob sie Gösta Berling liebte. Sie sehnte sich danach, ihn zu sehen, um zu versuchen, ob er imstande sei, sie sich selbst vergessen zu machen.

Solange die Macht der Krankheit währte, hatte sie nur einen klaren Gedanken gehabt: sie hatte Sorge getragen, daß ihre Krankheit nicht bekannt wurde. Sie wollte ihre Eltern nicht sehen, sie wollte keine Versöhnung mit ihrem Vater, sie wußte, daß er bereuen würde, was er getan, sobald er erfuhr, wie krank sie war. Deswegen befahl sie, daß ihren Eltern und allen andern gesagt werden soll, daß dies Augenleiden, das sie häufig befiel, wenn sie sich auf Björne aufhielt, sie zwänge, hinter herabgelassenen Rouleaus zu sitzen. Sie verbot ihrer Pflegerin, zu sagen, wie krank sie sei; sie verbot den Kavalieren, einen Arzt aus Karlstad zu holen. Sie habe ja die Blattern, aber nur sehr leicht, und die Hausapotheke zu Ekeby enthalte genug, um ihr Leben zu fristen.

Sie dachte nie daran, daß sie sterben könne; sie lag nur da und wartete auf ihre Genesung, um mit Gösta zu dem Pfarrer zu fahren und das Aufgebot zu bestellen.

Nun aber waren die Krankheit und das Fieber überstanden. Sie war wieder kühl und klug. Es war ihr, als sei sie in dieser ganzen Welt von Toren die einzig Vernünftige. Sie haßte nicht und liebte nicht. Sie verstand ihren Vater, sie verstand sie alle. Wer versteht, der haßt nicht.

Sie hatte erfahren, daß Melchior Sinclaire die Absicht habe, eine Auktion auf Björne abzuhalten und alles zu zerstören, was er besaß, damit sie nichts von ihm erben könne. Man sagte, er wolle die Zerstörung so gründlich wie nur möglich machen; erst wollte er alle Möbel und allen Hausrat verkaufen, dann das Vieh und die Ackergerätschaften und zuletzt den ganzen Hof; und alles Geld wollte er in einen Sack stecken und in den Löfsee versenken. Zerstörung, Vernichtung sollte ihr Erbe sein. Marianne lächelte beifällig, als sie das hörte: so war sein Charakter, so mußte er handeln.

Sonderbar erschien es ihr, daß sie jemals das Lob der Liebe gesungen hatte. Sie hatte von einer Hütte und von seinem Herzen geträumt; jetzt konnte sie nicht verstehen, daß sie jemals einen solchen Traum gehabt hatte.

Sie seufzte nach Natur. Sie war dieses ewigen Spiels müde. Nie hatte sie ein starkes Gefühl. Sie trauerte kaum um ihre Schönheit, aber ihr graute vor fremdem Mitleid.

Oh, nur eine Sekunde Selbstvergessenheit! Ein Wort, eine Handlung, eine Bewegung, die nicht berechnet war!

Eines Tages, als das Zimmer gelüftet und von der Ansteckung gereinigt war, ließ sie Gösta Berling rufen. Man antwortete ihr, er sei zur Auktion nach Björne gefahren.

 

Wahrlich, das war eine große Auktion auf Björne! Es war ein altes, reiches Haus. Meilenweit waren die Leute gereist, um zu bieten.

Der große Melchior Sinclaire hatte alles, was das Haus besaß, in dem großen Saal aufeinandergehäuft. Tausende von Dingen lagen bunt durcheinander in hohen Bergen, die vom Fußboden bis an die Decke reichten. Er selber war wie der Engel der Zerstörung am Tage des Gerichts im Hause umhergegangen und hatte alles zusammengeschleppt, was er verkaufen wollte. Die schwarzen Kochtöpfe, hölzernen Stühle, zinnernen Krüge, die Kupfergeräte, das alles hatte Ruhe vor ihm, denn daran war ja nichts, was an Marianne erinnerte; aber das war auch das einzige, was seinem Zorn entging.

Er brach in Mariannens Zimmer ein und zerstörte alles. Dort stand ihr Puppenschrank und ihr Bücherbort, der kleine Stuhl, den er für sie hatte machen lassen; ihre Schmucksachen und ihre Kleider, ihr Sofa und ihr Bett, das alles mußte fort.

Dann ging er von einem Zimmer ins andere. Er riß alles an sich, was ihm mißfiel, und trug große Lasten in den Auktionssaal hinab. Er stöhnte unter den schweren Sofas und Marmortischen, aber er hielt stand. Und er warf alles in einem entsetzlichen Wirrwarr bunt durcheinander. Er zerschlug die Schränke und nahm das kostbare Familiensilberzeug heraus. Weg damit! Marianne hatte es berührt! Er nahm die Arme voll von schneeweißem Damast, solide selbstgemachte Arbeit, die Früchte jahrelangen Fleißes, und warf das Ganze auf den Haufen. Weg damit! Marianne war nicht wert, es zu besitzen! Er stürmte mit Stapeln von Porzellan durch die Zimmer, ohne sich daran zu kehren, daß er die Teller zu Dutzenden zerbrach, und er ergriff die alten Sèvrestassen, auf denen das Familienwappen eingebrannt war. Weg damit! Nehme sie, wer da will! Er warf Berge von Betten vom Boden herab: Kissen und Daunendecken so weich, daß man darin versank wie in einer Welle. Weg damit: Marianne hatte darauf geschlafen.

Er warf wütende Blicke auf die alten, wohlbekannten Möbel. Gab es wohl einen Stuhl, ein Sofa, auf dem sie nicht gesessen, ein Gemälde, das sie nicht betrachtet, einen Kronleuchter, der ihr nicht geleuchtet, einen Spiegel, der ihre Züge nicht wiedergegeben hätte? Finster ballte er seine Faust gegen diese Welt von Erinnerungen. Am liebsten wäre er mit einer Keule auf sie losgefahren und hätte das Ganze in Splitter zerschlagen.

Und doch fand er, daß die Rache noch gründlicher war, wenn er das Ganze auf die Auktion brachte. Zu Fremden hinaus sollte es! Sollte in Tagelöhnerwohnungen beschmutzt werden, unter den Händen gleichgültiger, fremder Menschen verfallen. Kannte er nicht zur Genüge diese abgestoßenen Auktionsmöbel in den Bauernstuben, verachtet, entehrt, geradeso wie seine schöne Tochter! Weg damit! Mochten sie dastehen mit zerrissenem Polster, aus dem das Krollhaar herausguckte, mit verschlissener Vergoldung, mit zerbrochenen Beinen und geborstenen Tischplatten, mochten sie sich nach ihrem alten Heim sehnen! Weg damit in alle Ecken der Welt, daß kein Auge sie wiederfinden, keine Hand sie wiedersammeln konnte!

Als die Auktion begann, hatte er den halben Saal mit einem unglaublichen Wirrwarr von aufgestapeltem Hausgerät angefüllt.

Quer durch den Saal hatte er einen langen Tisch aufgestellt. Dahinter stand der Auktionshalter und rief auf, dort saßen die Schreiber und schrieben auf, und dort hatte Melchior Sinclaire ein Branntweinfäßchen stehen.

Im andern Teil des Saales, auf der Diele und auf dem Hofe befanden sich die Käufer.

Da waren viele Menschen, viel Lärm und Munterkeit. Die Gebote fielen schnell, und die Auktion ging lebhaft vonstatten. Aber an dem Branntweinfäßchen, seinen ganzen Besitz in grenzenlosem Wirrwarr hinter sich, saß Melchior Sinclaire, halb betrunken und halb verrückt. Das Haar umrahmte in wilden Büscheln sein rotes Gesicht, die blutunterlaufenen, wirren Augen rollten. Er rief und lachte, als sei er in der besten Laune, und jedesmal, wenn jemand ein gutes Gebot machte, rief er ihn zu sich heran und schenkte ihm einen Schnaps ein.

Unter denen, die ihn dort sahen, befand sich auch Gösta Berling, der sich zwischen die Käufer gemischt hatte, es aber vermied, Melchior Sinclaire vor die Augen zu kommen. Ihm ward unheimlich zumute bei dem, was er sah, und sein Herz schnürte sich zusammen wie im Vorgefühl eines Unglücks.

Er wunderte sich, wo wohl Mariannens Mutter nur sein mochte. Und schließlich ging er, halb wider Willen, aber vom Schicksal getrieben, hin, um Frau Gustava Sinclaire zu suchen.

Er ging durch viele Türen, ehe er sie fand. Der große Gutsherr hatte nicht viel Geduld und war kein Freund von Klagen und Weibertränen. Er hatte es satt, ihre Tränen fließen zu sehen bei dem Geschick, das über die Schätze ihres Hauses hereingebrochen war. Er ward wütend, daß sie über Leinenzeug und Betten weinen konnte, wo doch das, was weit mehr war, seine schöne Tochter selbst verloren war, und da hatte er sie mit geballten Fäusten vor sich her durch das ganze Haus getrieben, in die Küche hinaus, bis in die Speisekammer.

Weiter konnte er nicht kommen, und er hatte sich damit begnügt, sie dort zusammengekauert hinter der Treppe sitzen zu sehen, harte Schläge, ja vielleicht gar den Tod erwartend. Dort ließ er sie sitzen, die Tür aber schloß er ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Da konnte sie bleiben, bis die Auktion vorüber war. Verhungern konnte sie nicht, und seine Ohren hatten Ruhe vor ihren Klagen.

Da saß sie nun als Gefangene in ihrer eigenen Speisekammer, als Gösta durch den Gang in die Küche kam. Dort erblickte er Frau Gustavas Gesicht an einem kleinen Fenster ganz oben an der Wand; sie war da hinaufgekrochen und guckte aus ihrem Gefängnis heraus.

»Was macht Tante GustavaIn Schweden, wo es kein eigentliches »Sie« gibt, ist es Sitte, daß jüngere Leute ältere Freunde »Tante« und »Onkel« nennen. da oben?« fragte Gösta.

»Er hat mich hier eingesperrt«, antwortete sie.

»Der Gutsherr?«

»Ja – ich glaubte, er würde mich ganz totschlagen. Ach, Gösta, hole doch den Schlüssel, der in der Saaltür steckt, und schließe die Speisekammertür auf, damit ich hinauskommen kann. Der Schlüssel schließt hier.«

Gösta tat, wie ihm geheißen, und wenige Minuten später stand die kleine Frau in der Küche, die ganz menschenleer war.

»Tante hätte eins der Mädchen mit dem Saalschlüssel aufschließen lassen sollen«, sagte Gösta.

»Glaubst du, daß ich die den Kniff lehren will? Dann hätte ich ja nie mehr Frieden in meiner Speisekammer. Und übrigens habe ich die Zeit benutzt, um die oberen Borte aufzuräumen. Das tat groß not! Ich begreife nicht, wie ich es so habe ansammeln lassen können.«

»Tante hat so viel zu tun«, sagte Gösta entschuldigend.

»Ja, das kannst du glauben. Wenn ich selber nicht überall mit dabei bin, so kommt weder die Spindel noch der Rocken in die Reihe. Und wenn –«

Hier hielt sie plötzlich inne und trocknete eine Träne aus dem Auge.

»Ach, du lieber Gott«, seufzte sie, »hier stehe ich und rede und bekomme wohl nie wieder etwas, wonach ich sehen kann. Er verkauft ja alles, was wir besitzen und haben.«

»Ja, das ist ein großer Jammer«, sagte Gösta.

»Du weißt, der große Spiegel unten im Saal. Das war so ein Prachtstück, denn das ganze Glas war aus einem Stück und an der Vergoldung war auch nicht ein Fleck. Ich habe ihn von meiner Mutter bekommen, und nun will er ihn verkaufen.«

»Aber was hat er denn nur?« fragte Gösta.

»Ach, es ist nichts weiter, als daß Marianne nicht wieder nach Hause gekommen ist. Er hat darauf gewartet und gewartet. Die ganzen Tage ist er in der Allee auf und nieder gegangen und hat auf sie gewartet. Er sehnt sich so nach ihr, daß ich glaube, er hat den Verstand darüber verloren; aber ich darf ja nichts sagen.«

»Marianne glaubt, daß er ihr zürnt.«

»Das glaubt sie nicht. Sie kennt ihn; aber sie ist stolz und will den ersten Schritt nicht tun. Sie sind störrisch und hart – alle beide, und über mich geht es her, ich sitze zwischen den beiden harten Steinen.«

»Tante weiß wohl, daß Marianne sich mit mir verheiraten will?«

»Ach, Gösta, das tut sie niemals. Sie sagt das nur, um dich zu necken. Sie ist viel zu sehr verwöhnt, um sich mit einem armen Mann zu verheiraten, und auch viel zu stolz. Geh du nach Hause und sage ihr, wenn sie nicht bald kommt, so geht ihr ganzes Erbe vor die Hunde. Er läßt das Ganze fort, ohne das Geringste dafür zu bekommen.«

Gösta ward böse auf sie. Dort saß sie auf einem großen Küchentisch und hatte für nichts Sinn als für ihre Spiegel und ihr Porzellan.

»Tante sollte sich schämen!« rief er aus. »Erst stoßt ihr eure Tochter in den Schnee hinaus, und dann glaubt ihr, daß sie nur aus lauter Schlechtigkeit nicht wiederkommt. Und ihr traut ihr zu, daß sie den verläßt, den sie lieb hat, nur um nicht erblos gemacht zu werden!«

»Lieber Gösta! Werde du nun nicht auch noch böse. Ich weiß ja gar nicht, was ich sage. Ich versuchte, Marianne die Tür zu öffnen, er aber zerrte mich fort. Hier im Hause heißt es stets, daß ich nichts verstehe. Ich gönne dir Marianne von Herzen, wenn du sie glücklich machen kannst. Es ist kein leichtes Ding, eine Frau glücklich zu machen, Gösta.«

Gösta sah sie an. Wie konnte er böse mit einem Menschen wie Frau Gustava sprechen! Eingeschüchtert und abgehetzt war sie, aber sie hatte ein so gutes Herz.

»Tante fragt nicht, wie es Marianne geht«, sagte er leise.

Da brach sie in Tränen aus. »Wirst du nicht böse, wenn ich dich frage?« sagte sie. »Ich habe mich die ganze Zeit danach gesehnt, dich zu fragen. Ich weiß ja nichts weiter von ihr, als daß sie lebt. Nicht einen Gruß habe ich die ganze Zeit hindurch von ihr bekommen, nicht einmal, als ich ihr ihre Sachen sandte, und da dachte ich, du und sie, ihr wolltet mich nichts von ihr hören lassen.«

Gösta konnte es nicht länger aushalten. Er war ein wilder, toller Mensch – zuweilen mußte der Herr seine Wölfe hinter ihm dreinsenden, um ihn zum Gehorsam zu zwingen – aber die Tränen dieser alten Frau waren für ihn schlimmer als das Geheul der Wölfe. Er erzählte ihr die ganze Wahrheit.

»Marianne ist die ganze Zeit hindurch krank gewesen«, sagte er. »Sie hat die Pocken gehabt. Heute sollte sie zum erstenmal auf das Sofa gebettet werden. Ich habe sie seit jener ersten Nacht nicht gesehen.«

Mit einem Sprung stand Frau Gustava auf ihren Füßen. Sie ließ Gösta stehen und lief, ohne ein Wort zu sagen, zu ihrem Mann hinein.

Die Leute im Auktionssaal sahen sie erregt auf ihn zulaufen und ihm etwas ins Ohr flüstern. Sie sahen, daß sein Gesicht noch röter wurde, und daß die Hand, die auf dem Hahn ruhte, diesen herumdrehte, so daß der Branntwein auf den Boden floß.

Das sahen alle – Frau Gustava war mit so wichtigen Nachrichten gekommen, daß die Auktion eine Stockung erlitt. Der Hammer des Auktionators fiel nicht, die Federn der Schreiber kratzten nicht mehr auf dem Papier, kein Gebot ward hörbar.

Melchior Sinclaire fuhr aus seinen Grübeleien auf.

»Nun«, rief er, »wird's bald?«

Und die Auktion war wieder im vollen Gange.

Gösta saß und wartete in der Küche, und Frau Gustava kam weinend zu ihm heraus.

»Es half nichts«, sagte sie. »Ich dachte, er würde innehalten, wenn er erführe, daß Marianne krank gewesen ist, aber nun läßt er sie fortfahren. Er würde schon aufhören, wenn er sich nicht schämte.«

Gösta zuckte die Achseln und verabschiedete sich von ihr. Auf der Diele begegnete er Sintram.

»Eine verteufelt amüsante Geschichte«, rief Sintram und rieb sich die Hände. »Du bist ein Meister, Gösta! Was du doch alles zustande bringen kannst!«

»Es wird bald noch viel amüsanter!« flüsterte Gösta. »Der Pfarrer aus Broby ist hier mit einem ganzen Schlitten voll Geld; man sagte, er will ganz Björne kaufen und kontant bezahlen. Da will ich doch sehen, was für ein Gesicht der große Gutsherr aufsetzt.«

Sintram zog den Kopf ganz zwischen die Schultern und lachte ein langes, inwendiges Lachen. Dann ging er in den Auktionssaal und trat dicht an Melchior Sinclaire heran.

»Willst du einen Schnaps haben, Sintram, so mußt du, hol' mich der Teufel, erst bieten.«

»Du hast doch auch stets Glück«, sagte Sintram. »Hier kommt einer mit einem ganzen Schlitten voll Geld gefahren. Er will Björne mit Inventar, Besatzung und allem kaufen. Er hat mit andern die Verabredung getroffen, daß sie für ihn bieten sollen. Er selber will sich solange gar nicht zeigen.«

»Du kannst mir wohl sagen, wer es ist, wenn ich dir einen Schnaps für die Mühe gebe?«

Sintram nahm den Schnaps und trat ein paar Schritte zurück, ehe er antwortete.

»Es soll der Pfarrer von Broby sein, Bruder Melchior!«

Melchior Sinclaire hatte bessere Freunde als den Pfarrer von Broby. Es hatten jahrelange Feindseligkeiten zwischen ihnen bestanden. Die Sage ging, daß der große Gutsherr in dunklen Nächten auf den Wegen, die der Pfarrer zurücklegen mußte, auf der Lauer gelegen und ihm manche Tracht Prügel verabreicht hatte, diesem Bauernschinder, diesem Geizkragen!

Wohl hatte sich Sintram einige Schritte zurückgezogen, doch entging er nicht ganz dem Zorn des großen Mannes. Er bekam ein Schnapsglas an die Stirn und das ganze Branntweinfäßchen vor die Füße gesegelt. Dann aber folgte auch eine Szene, die sein Herz noch für lange Zeiten erfreute.

»Will der Pfarrer von Broby mein Gut haben?« brüllte Sinclaire. »Steht ihr da und schlagt dem Pfarrer von Broby meinen Besitz zu? Wie die Hunde solltet ihr euch schämen! – – Die Auktion ist beendet!« brüllte er. »Hinaus mit euch! Solange ich lebe, soll der Pfarrer von Broby nun und nimmer Herr auf Björne werden. Hinaus mit euch! Ich will euch lehren, für den Pfarrer von Broby zu bieten.«

Er ging auf den Auktionshalter und die Schreiber los. Sie sprangen zur Seite. In der Verwirrung rissen sie den Tisch um, und der Gutsherr fuhr wie ein Rasender unter die große Schar friedlicher Menschen.

Es entstand Flucht und wilde Verwirrung. Ein paar hundert Menschen drängten nach der Tür aus Furcht vor einem einzigen Manne. Und er stand still, sein »Hinaus mit euch!« brüllend. Er sandte ihnen laute Verwünschungen nach, indem er einen Stuhl wie eine Keule über seinem Haupte schwang.

Er verfolgte sie bis auf die Diele hinaus, aber nicht weiter. Als der letzte Fremde die Treppe hinab war, ging er in den Saal zurück und schloß die Tür hinter sich ab. Dann zog er eine Matratze und ein paar Kissen aus dem Haufen heraus, legte sich darauf nieder und schlief mitten in der Zerstörung ein, um erst am andern Tage wieder zu erwachen. –

Als Gösta nach Hause kam, erfuhr er, daß Marianne mit ihm sprechen wolle. Das traf sich günstig, er hatte gerade darüber nachgedacht, wie er mit ihr reden könne.

Als er in das dunkle Zimmer trat, in dem sie lag, blieb er einen Augenblick an der Tür stehen. Er konnte nicht sehen, wo sie war.

»Bleibe, wo du bist, Gösta«, sagte Marianne. »Es kann gefährlich sein, mir nahe zu kommen.«

Aber Gösta war die Treppen in ein paar Sprüngen hinangeeilt, bebend vor Eifer und Sehnsucht. Was kümmerte er sich um die Ansteckung. Er wollte die Seligkeit genießen, sie zu sehen.

Denn sie war schön, die Geliebte seines Herzens. Niemand hatte so weiches Haar, eine so klare, strahlende Stirn. Ihr ganzes Gesicht war ein Spiel schön geschwungener Linien.

Er dachte an die Augenbrauen, die sich so scharf und klar abhoben, an die keck geschwungene Linie der Nase, an die Lippen, die sich fein kräuselten wie eine rollende Woge, an das Oval der Wangen und die ausgesucht feine Form des Kinns. Er dachte an die zarte Farbe ihrer Haut, an die nachtschwarzen Brauen unter dem blonden Haar, an die blauen Augäpfel in dem klaren Weiß, an den Schimmer in den Augenwinkeln.

Schön war sie, seine Geliebte! Er dachte daran, welch ein warmes Herz sie unter dem stolzen Äußern verbarg.

Sie hatte die Kraft, sich hinzugeben, sich zu opfern, verbarg sie aber sorgsam unter dem eleganten Wesen, unter den stolzen Worten.

In zwei Sprüngen war er die Treppe hinaufgekommen, und dann glaubte sie, daß er an der Tür stehenbleiben wolle! Er stürmte durch das Zimmer und sank neben ihrem Lager auf die Knie.

Er wollte sie sehen, sie küssen, Abschied von ihr nehmen. Er liebte sie, er würde niemals aufhören, sie zu lieben, aber sein Herz war daran gewöhnt, in den Staub getreten zu werden.

Oh, wo sollte er sie finden, diese Rose ohne Stütze, ohne Wurzel, die er zu sich nehmen und die Seine nennen durfte? Nicht einmal sie, die er verworfen und halbtot am Wegesrande gefunden hatte, durfte er behalten. Wann würde wohl seine Liebe in seinen Gesang einstimmen, so hoch und rein, daß kein Mißklang hindurchtönte? Wann würde sein Glück auf einem Grund erbaut werden, nach dem sich kein anderes Herz mit Unruh' und Verlangen sehnte?

Er dachte darüber nach, wie er Abschied von ihr nehmen sollte.

Es herrscht großer Jammer daheim bei dir, wollte er sagen. Mein Herz blutet, wenn ich daran denke. Du mußt nach Hause gehen und deinem Vater seinen Verstand wiedergeben. Deine Mutter schwebt in beständiger Lebensgefahr. Du mußt nach Hause, Geliebte.

Seht, solche Worte der Entsagung hatte er auf den Lippen, aber sie wurden nicht ausgesprochen.

Er fiel an ihrem Lager auf die Knie, nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und küßte sie. Dann aber fand er keine Worte. Sein Herz begann so heftig zu schlagen, als wollte es seine Brust zersprengen.

Die Blattern hatten das schöne Gesicht zerstört, die Haut war grob und narbig geworden. Nie wieder sollte das rote Blut durch die Wangen schimmern oder in den feinen blauen Adern an der Stirn sichtbar werden. Die Augen lagen matt unter den geschwollenen Lidern. Die Brauen waren verschwunden, und die weiße Emaille in den Augen hatte einen gelblichen Schimmer.

Alles war zerstört. Die kecken Linien waren grob und schwerfällig geworden.

Es waren ihrer nicht wenige, die später Mariannens entschwundene Schönheit beweinten. Aber der erste Mann, der sie sah, nachdem sie ihre Schönheit verloren hatte, gab sich nicht dem Schmerz hin. Unsagbare Gefühle erfüllten seine Seele. Je länger er sie ansah, um so wärmer wurde es in ihm. Die Liebe schwoll und schwoll wie ein Fluß im Frühling. Gleich Feuerwogen entströmte sie seinem Herzen, sie erfüllte sein ganzes Wesen, sie stieg ihm als Tränen in die Augen, seufzte auf seinen Lippen, zitterte in seinen Händen, in seinem ganzen Körper.

Oh, sie zu lieben, sie zu verteidigen, sie schadlos zu halten, schadlos! Ihr Sklave zu sein, ihr Schutzgeist!

Stark ist die Liebe, wenn sie die Feuertaufe des Schmerzes erhalten hat. Er konnte nicht mit Marianne von Trennung und Entsagung reden. Er konnte sie nicht verlassen. Er schuldete ihr sein Leben. Er hätte um ihretwillen Todsünden begehen können.

Er sprach kein vernünftiges Wort, er weinte nur und küßte sie, bis die alte Pflegerin meinte, daß es jetzt für ihn an der Zeit sei zu gehen.

Nachdem er gegangen war, lag Marianne da und dachte an ihn und an seine Bewegung.

Es ist gut, so geliebt zu werden, dachte sie.

Ja, es war gut, geliebt zu werden; wie aber stand es mit ihr selber? Was fühlte sie? Ach, nichts! Weniger als nichts!

War sie tot, ihre Liebe, oder wohin war sie entflohen? Wo verbarg es sich, das Kind ihres Herzens? Lebte es noch, hatte es sich in den innersten Winkel ihres Herzens verkrochen und saß dort und fror unter den Eisblicken, eingeschüchtert durch das Hohngelächter, halberstickt von den knöcherigen Fingern?

»Ach, meine Liebe«, seufzte sie, »mein Herzenskind! Lebst du oder bist du tot, tot wie meine Schönheit?«

 

In der Frühe des nächsten Morgens kam der große Gutsherr zu seiner Frau herein.

»Sieh zu, daß du wieder Ordnung im Hause schaffst, Gustava«, sagte er. »Ich fahre hinüber, um Marianne zu holen.«

»Ja, lieber Melchior, es soll alles wieder in Ordnung gebracht werden«, erwiderte sie.

Damit war alles zwischen ihnen klar: Eine Stunde später befand sich der große Gutsherr auf dem Wege nach Ekeby.

Man konnte keinen stattlicheren und freundlicheren Herren sehen als Herrn Melchior Sinclaire, wie er dort in dem zurückgeschlagenen Kaleschenschlitten saß, in seinem besten Pelz und mit seinem besten Halstuch. Jetzt lag sein Haar glattgekämmt über dem Scheitel, das Gesicht aber war bleich und die Augen lagen tief in ihren Höhlen.

Und unbeschreiblich war auch der Glanz, der von dem wolkenlosen Himmel über den Februartag herabströmte. Der Schnee funkelte, wie die Augen der jungen Mädchen, wenn zum ersten Tanz aufgespielt wird. Die Birken streckten ihr Spitzengewebe von feinen rotbraunen Zweigen zum Himmel empor, und an einigen saß noch eine Franse von kleinen, funkelnden Eiszapfen.

Es lag Festglanz über dem Tage. Die Pferde warfen tanzend die Vorderbeine in die Höhe, und der Kutscher mußte vor lauter Vergnügen mit der Peitsche knallen.

Nach einer kurzen Fahrt hielt der Schlitten des großen Gutsherrn vor der Treppe zu Ekeby. Der Diener kam heraus.

»Wo ist deine Herrschaft?« fragte Melchior Sinclaire.

»Sie sind auf Jagd nach dem großen Bären in den Gurlittabergen.«

»Alle zusammen?«

»Alle zusammen, Herr. Wer nicht um des Bären willen mitgeht, der geht des Fouragesacks wegen mit.«

Der Gutsherr lachte, so daß es über den stillen Hof schallte. Er gab dem Diener einen Taler für die Antwort.

»Sage meiner Tochter, daß ich hier bin, um sie zu holen. Sie soll nicht bange sein, daß sie frieren wird. Ich habe einen Kaleschenschlitten und einen Wolfspelz habe ich auch mitgebracht, um sie einzuhüllen.«

»Wollen der gnädige Herr nicht eintreten?«

»Nein, ich sitze gut, wo ich sitze.«

Der Diener verschwand, und der Gutsherr schickte sich an zu warten. Er war an jenem Tage in so strahlender Laune, daß ihn nichts zu stören vermochte. Er hatte es sich wohl gedacht, daß er auf Marianne würde warten müssen; vielleicht war sie noch nicht einmal aufgestanden. Er konnte sich indessen die Zeit vertreiben, indem er ein wenig um sich blickte.

Dort am Dachfirst hing ein langer Eiszapf, mit dem die Sonne große Mühe hatte. Sie fing von oben damit an, schmolz einen Tropfen los und wollte nun, daß er an dem Eiszapfen entlanglaufen und herabfallen sollte. Ehe aber der Tropfen den halben Weg zurückgelegt hatte, war er schon wieder erstarrt. Die Sonne machte beständig neue Versuche, hatte aber niemals Glück damit. Endlich aber war da ein eigenmächtiger Strahl, der sich an die Spitze des Eiszapfens festhängte, ein ganz winzig kleiner, der vor Tatendrang blitzte, und ehe man sich's versah, hatte er sein Ziel erreicht: ein Tropfen fiel klatschend zur Erde.

Der Gutsherr sah das und lachte: »Du warst nicht dumm, du!« sagte er zum Sonnenstrahl.

Der Hof war still und leer. Aus dem großen Haus drang kein Laut bis zu ihm heraus. Aber er wurde nicht ungeduldig. Er wußte, daß die Damen viel Zeit gebrauchen, bis sie fertig sind.

Er saß da und betrachtete den Taubenschlag. Der war vergittert. Die Tauben waren eingeschlossen, solange der Winter währte, damit der Habicht sie nicht rauben sollte. Von Zeit zu Zeit kam eine Taube und steckte ihren weißen Kopf durch das Drahtnetz.

»Die wartet auf den Frühling!« sagte Melchior Sinclaire, »aber da muß sie Geduld haben.«

Die Taube kam so regelmäßig, daß er seine Uhr herauszog und acht gab. Präzise jede dritte Minute steckte sie den Kopf heraus.

»Nein, mein Herzchen«, sagte er, »glaubst du, daß der Frühling in drei Minuten fertig wird? Du mußt es lernen zu warten!«

Und er selber mußte warten, aber er hatte Zeit genug.

Die Pferde scharrten anfangs ungeduldig im Schnee, dann aber wurden sie müde vom Stehen und von der Sonne, die ihnen in die Augen schien. Sie steckten die Köpfe zusammen und schliefen. Der Kutscher saß steif auf dem Bock, Peitsche und Zügel in der Hand, das Gesicht der Sonne zugewandt, und schlief, so daß er schnarchte.

Aber der Gutsherr schlief nicht. Er war niemals weniger zum Schlafen aufgelegt als jetzt. Selten hatte er sich wohler gefühlt, als in dieser frohen Wartezeit. Marianne war krank gewesen. Sie hatte nicht früher kommen können, jetzt aber kam sie sicher. Ja, natürlich kam sie. Und alles sollte wieder gut werden.

Jetzt mußte sie ja sehen können, daß er ihr nicht mehr zürnte. Er war ja selber gekommen, mit der Kalesche und mit zwei Pferden!

Auf dem Brett, das vor dem Flugloch des Bienenkorbes angebracht war, hatte sich eine Meise eine wahrhaft satanische List ersonnen. Sie wollte ihr Mittagessen haben, deswegen pochte sie mit ihrem kleinen, scharfen Schnabel gegen das Brett. Drinnen im Bienenkorb aber hingen die Bienen in einem großen, schwarzen Klumpen, alles ist in der strengsten Ordnung; die Schaffner teilen die Rationen aus, der Mundschenk läuft mit Nektar und Ambrosia von Mund zu Mund. Die, welche ganz nach innen hinein hängen, tauschen in einem ewigen Gewimmel ihren Platz mit den außenhängenden Genossen, so daß Wärme und Bequemlichkeit gleichmäßig verteilt sind.

Da hören sie das Pochen der Meise, und der ganze Bienenkorb ist ein Gesumme von Neugier. Ist es Freund oder Feind? Droht Gefahr für den Staat? Die Königin hat ein schlechtes Gewissen; sie kann nicht in Ruhe warten. Ist es der Geist der ermordeten Drohnen, der da draußen spukt? »Geh hinaus und sieh nach, wer da ist«, befiehlt sie der Pförtnerin. Diese geht. Mit einem: »Es lebe die Königin!« stürzt sie hinaus, und schwapp! fällt die Meise über sie her. Mit vorgestrecktem Hals und Flügeln, die vor Eifer zittern, fängt sie sie, zermalmt sie, verzehrt sie – und niemand bringt der Herrscherin Kunde von ihrem Tod. Aber die Meise klopft nochmals, und die Königin fährt fort, ihre Türhüterinnen auszusenden, und sie verschwinden alle. Nicht eine kehrt mit der Meldung zurück, wer es gewesen, der da pochte. Hu! es wird unheimlich in dem dunklen Bienenkorb. Es sind die Rachegeister, die da draußen ihr Spiel treiben. Wer nur keine Ohren hätte! Wer nur seine Neugier unterdrücken könnte! Wer nur ruhig warten könnte!

Der große Gutsherr lachte, so daß ihm die Tränen in die Augen traten, über die dummen Frauenzimmer im Bienenkorbe und über den schlauen Kavalier da draußen auf dem Brett.

Es ist keine Kunst zu warten, wenn man seiner Sache sicher ist und wenn man so vielerlei hat, womit man seine Gedanken ablenken kann.

Die Sonne begann, sich den Bergen im Westen zuzuneigen. Melchior Sinclaire sah nach seiner Uhr. Es war drei Uhr, und die Mutter hatte das Mittagessen zu zwölf Uhr bereithalten wollen.

Im selben Augenblick kam der Diener und meldete, daß Fräulein Marianne mit ihm zu sprechen wünsche. Der Gutsherr hängte den Wolfspelz über den Arm und stieg in strahlender Laune die Treppe hinan.

Als Marianne seine schweren Schritte auf der Treppe vernahm, wußte sie noch nicht, ob sie mit ihm heimkehren wolle oder nicht. Sie wußte nur, daß diese lange Wartezeit ein Ende haben müsse.

Sie hatte gehofft, daß die Kavaliere nach Hause kommen würden; aber sie kamen nicht. So mußte sie denn selber dafür sorgen, daß diese Sache ein Ende nahm. Sie konnte es nicht länger ertragen.

Sie hatte gedacht, daß er voller Zorn wieder fortfahren würde, sobald er zehn Minuten gewartet hatte, daß er die Türen einschlagen oder das Haus in Brand stecken würde.

Aber da saß er ganz ruhig und lächelte und wartete. Sie empfand weder Haß noch Liebe für ihn. Eine innere Stimme aber warnte sie, sich wieder in seine Macht zu geben. Auch wollte sie ihr Gösta gegebenes Wort halten.

Wäre er nur eingeschlafen oder unruhig geworden, hätte er eine Spur von Zweifel verraten oder den Schlitten in den Schatten fahren lassen! Aber er war lauter Geduld und Sicherheit. So sicher war er, so ansteckend sicher, daß sie schon kommen würde, wenn er nur wartete!

Ihr Kopf schmerzte, ein jeder Nerv in ihr erbebte. Sie konnte keine Ruhe finden, solange sie wußte, daß er dasaß. Es war, als wenn sein Wille sie gebunden die Treppe hinabschleifte.

Sie wollte wenigstens mit ihm sprechen. Ehe er kam, ließ sie die Rouleaus aufziehen und legte sich so hin, daß ihr das Tageslicht voll ins Gesicht schien. Es war ihre Absicht gewesen, ihn damit gewissermaßen auf die Probe zu stellen. Aber Melchior Sinclaire war an jenem Tage ein eigentümlicher Mann.

Als er sie sah, veränderte er keine Miene, tat keinen Ausruf. Es war, als könne er keine Veränderung an ihr wahrnehmen. Sie wußte, wie stolz er auf ihre Schönheit gewesen war. Aber er ließ es sie nicht merken, daß er Kummer empfand. Er beherrschte sein ganzes Wesen, um sie nicht zu betrüben. Dies ergriff sie tief. Sie fing an zu verstehen, daß ihre Mutter fortfuhr, ihn liebzuhaben.

Er verriet keinen Zweifel. Er kam weder mit Vorwürfen noch mit Entschuldigungen.

»Ich hülle dich in den Wolfspelz, Marianne. Der ist nicht kalt. Er hat die ganze Zeit auf meinem Schoß gelegen.«

Und trotzdem ging er an den Kamin und wärmte ihn. Dann half er ihr vom Sofa auf, hüllte sie in den Pelz, schlang einen Schal um ihren Kopf, legte ihn kreuzweise über der Brust zusammen und knüpfte ihn auf dem Rücken zu.

Sie ließ es geschehen. Sie war willenlos. Es tat so gut, gehegt und gepflegt zu werden. Es war schön, selber nicht wollen zu brauchen. Es tat gut für jemand, der so angegriffen war wie sie, für jemand, der nicht einen einzigen Gedanken, nicht ein Gefühl besaß, das er sein eigen nennen konnte.

Sie schloß die Augen und seufzte, teils aus Wohlbehagen, teils aus Wehmut. Sie nahm Abschied von dem Leben, dem wirklichen Leben; aber das konnte ja auch einerlei für sie sein, die sie ja doch nicht leben, sondern nur Komödie spielen konnte.

 

Ein paar Tage später sorgte ihre Mutter dafür, daß sie Gelegenheit hatte, mit Gösta zu sprechen. Sie schickte einen Boten nach Ekeby, während der Gutsherr von Hause abwesend war, und führte ihn zu Marianne hinein.

Gösta trat ein, aber er grüßte nicht und sprach auch nicht. Er blieb an der Tür stehen und starrte vor sich nieder wie ein trotziger Junge.

»Aber Gösta!« rief Marianne aus, die in einem Lehnstuhl saß.

»Ja, so heiße ich!«

»Komm doch hierher, ganz her zu mir, Gösta!«

Er näherte sich ihr still, erhob aber den Blick nicht.

»Komm näher heran! Knie hier nieder.«

»Aber mein Gott, was soll das alles nur?« rief er aus, gehorchte aber dennoch.

»Gösta, ich will dir nur sagen, daß ich glaube, es war richtig, daß ich wieder nach Hause kam.«

»Hoffen wir, daß man Fräulein Marianne nicht wieder in den Schnee hinauswerfen wird.«

»Ach, Gösta! Hast du mich denn nicht mehr lieb? Findest du, daß ich zu häßlich bin?«

Er zog ihren Kopf zu sich herab und küßte sie, sah aber noch immer so kalt aus.

Er amüsierte sie im Grunde. Wenn er es für gut befand, eifersüchtig auf ihre Eltern zu sein, was dann? Es würde wohl wieder vorübergehen. Jetzt amüsierte es sie, ihn zurückzuerobern. Sie wußte nicht recht, weshalb sie ihn festhalten wollte, aber sie wollte es nun einmal. Sie dachte daran, daß es ihm doch einmal gelungen war, sie von sich selbst zu befreien. Er war sicher der einzige, der es noch einmal zu tun vermochte.

Und nun begann sie zu reden, entschlossen, ihn zurückzugewinnen. Sie sagte, es sei nicht ihre Absicht gewesen, ihn für beständig zu verlassen, eine Zeitlang aber müßten sie des Scheines halber ihre Verbindung aufheben. Er habe ja selber gesehen, daß ihr Vater an der Schwelle des Wahnsinns gestanden und daß ihre Mutter in steter Lebensgefahr schwebte. Er müsse ja einsehen können, daß sie gezwungen sei, heimzukehren.

Da machte sich sein Zorn in Worten Luft. Sie brauche keine Komödie zu spielen. Er wolle nicht länger ihr Popanz sein. Sie habe ihn verlassen, sobald ihr das Elternhaus wieder offen gestanden, er könne sie nicht mehr lieben. Als er vorgestern von der Jagd heimgekehrt war und gehört habe, daß sie verschwunden sei, ohne einen Gruß, ein Wort für ihn zu hinterlassen, da sei ihm das Blut in den Adern erstarrt; er sei nahe daran gewesen, vor Kummer zu sterben. Aber er könne diejenige nicht mehr lieben, die ihm einen solchen Schmerz zugefügt habe. Sie habe ihn übrigens niemals geliebt. Sie sei eine Kokette, die auch hier in der Gegend jemand haben wolle, der sie küssen und herzen könne, das sei das Ganze.

Ob er denn glaubte, daß es ihre Gewohnheit sei, sich von jungen Herren herzen und küssen zu lassen?

Natürlich glaubte er das. Die Frauen waren keine solche Heilige, wie sie sich den Anschein gaben. Eigenliebe und Koketterie von Anfang bis zu Ende! Sie sollte nur ahnen, was er empfunden hatte, als er von der Jagd heimkehrte. Es sei ihm gewesen, als wate er in Eiswasser. Den Schmerz würde er nie wieder verwinden. Der würde ihn durch das ganze Leben begleiten. Er würde nie wieder Mensch werden.

Sie suchte ihm zu erklären, wie das Ganze sich zugetragen hatte. Sie suchte ihm zu beweisen, daß sie ihm noch immer treu sei.

Ja, das war einerlei, denn jetzt liebe er sie nicht mehr. Jetzt habe er sie durchschaut. Sie sei eine Egoistin. Sie habe ihn nie geliebt. Ohne ein Wort, ohne einen Gruß sei sie von ihm gegangen.

Darauf kam er wieder und wieder zurück. Sie amüsierte sich beinahe darüber. Zürnen konnte sie ihm nicht. Sie verstand seinen Zorn nur zu gut. Einen wirklichen Bruch befürchtete sie auch nicht. Schließlich wurde sie doch unruhig. War denn wirklich ein solcher Umschlag bei ihm eingetreten, daß er sie nicht mehr liebhaben könnte?

»Gösta, war ich egoistisch, als ich nach Sjö ging, um den Major zu holen? Ich wußte sehr wohl, daß die Blattern dort waren. Es ist auch gerade nicht angenehm, in Schnee und Kälte auf dünnen Tanzschuhen zu gehen.«

»Die Liebe lebt von Liebe allein und nicht von Dienstleistungen und Wohltaten«, sagte Gösta.

»Du willst also, daß wir einander in Zukunft fremd sein sollen, Gösta?«

»Ja, das will ich.«

»Gösta Berling ist sehr launenhaft.«

»Das sagt man mir nach.«

Er war kalt wie Eis und nicht aufzutauen, und im Grunde war sie selber noch kälter. Die Selbstkritik lachte höhnisch über ihre Bemühungen, die Verliebte zu spielen.

»Gösta«, sagte sie, eine letzte Anstrengung machend, »ich habe dir niemals absichtlich wehe getan, wenn es auch den Anschein haben mag. Ich bitte dich, verzeih mir!«

»Ich kann dir nicht verzeihen.«

Sie wußte, daß sie ihn hätte zurückgewinnen können, wenn sie nur ein einziges ungeteiltes Gefühl besessen hätte. Und sie versuchte, die Leidenschaftliche zu spielen. Die Eisaugen verhöhnten sie, aber sie versuchte es auf alle Fälle. Sie wollte ihn nicht verlieren.

»Geh nicht, Gösta, geh nicht im Zorn von mir! Bedenke, wie häßlich ich geworden bin. Mich kann niemand mehr lieben.«

»Auch ich liebe dich nicht mehr«, sagte er. »Du mußt dich dareinfinden, daß man auf dein Herz tritt wie auf das anderer.«

»Gösta, ich habe niemals jemand lieben können außer dir! Verzeih mir! Verlaß mich nicht! Du bist der einzige, der mich vor mir selbst zu erretten vermag.«

Er stieß sie von sich. »Du redest nicht die Wahrheit«, sagte er mit eiskalter Ruhe. »Was du von mir willst, weiß ich nicht, aber ich sehe, daß du lügst. Weshalb willst du mich festhalten? Du bist so reich, dir wird es niemals an Freiern fehlen!«

Damit ging er.

Und kaum hatte er die Tür geschlossen, als die Sehnsucht und der Schmerz in ihrer ganzen Majestät Einzug in Mariannens Herz hielten. Das war die Liebe, ihr eigenes Herzenskind, das aus dem Winkel hervorkam, in den die Eisaugen es verbannt hatten. Jetzt kam sie, die sehnlichst Erwartete, jetzt, wo es zu spät war. Jetzt trat sie hervor, ernsthaft und allmächtig – und der Schmerz und die Sehnsucht trugen die Schleppe ihres Königsmantels.

Als Marianne sich mit Bestimmtheit sagen konnte, daß Gösta Berling sie verlassen hatte, empfand sie einen förmlich körperlichen Schmerz, so heftig, daß sie fast davon betäubt wurde. Sie preßte die Hände gegen das Herz und blieb stundenlang auf demselben Fleck sitzen, mit tränenlosem Kummer ringend.

Und sie selber litt, nicht eine Fremde, nicht eine Schauspielerin war es – sie selber war es.

Weshalb war ihr Vater gekommen und hatte sie getrennt? Ihre Liebe war ja noch nicht tot; nur in ihrem Schwächezustand nach der Krankheit konnte sie ihre Macht nicht empfinden.

Ach Gott, ach Gott! Daß sie ihn verloren hatte! Ach Gott, daß sie zu spät erwacht war!

Ach, er war der einzige, er war der Herr ihres Herzens! Von ihm konnte sie alles erdulden. Harte und böse Worte von ihm beugten sie nur zu demütiger Liebe. Hätte er sie geschlagen, so würde sie wie ein Hund zu ihm hingekrochen sein, um seine Hand zu küssen.

Sie wußte nicht, was sie tun sollte, um sich Linderung in diesem entsetzlichen Schmerz zu verschaffen.

Sie ergriff Feder und Papier und schrieb mit fieberhafter Hast. Erst schrieb sie von ihrer Liebe, von ihrem Verlust; dann flehte sie um seine Liebe, nur um seine Barmherzigkeit. Es war eine Art Poesie, die sie schrieb.

Als sie fertig war, dachte sie, daß er, wenn ihm dies zu Augen kam, doch glauben müßte, daß sie ihn geliebt hatte. Und weshalb sollte sie ihm das nicht senden, was sie geschrieben hatte? Sie wollte es am nächsten Tage tun, und sie glaubte sicher, daß es ihn zu ihr zurückführen werde. Am nächsten Tage rang und kämpfte sie mit sich. Was sie geschrieben, erschien ihr so unbedeutend, so dumm. Da war weder Reim noch Rhythmus. Es war die reine, schiere Prosa. Er würde sicher nur lachen über solche Verse. Auch ihr Stolz erwachte. Liebte er sie nicht mehr, so war es eine entsetzliche Entwürdigung, um seine Liebe zu betteln.

Auch die Klugheit meldete sich und sagte, sie könne froh sein, daß sie von dieser Verbindung mit Gösta befreit sei – es würden nur traurige Verhältnisse daraus entsprossen sein.

Aber die Qual ihres Herzens war doch so heftig, daß das Gefühl schließlich die Oberhand gewann. Drei Tage, nachdem sie sich ihrer Liebe bewußt geworden war, wurden die Verse in ein Kuvert gelegt und dieses mit Gösta Berlings Namen versehen. Aber sie wurden niemals abgesandt. Denn ehe sie einen passenden Boten gefunden hatte, hörte sie derartige Neuigkeiten von Gösta, daß sie einsah, daß es schon zu spät sei, ihn zurückzugewinnen.

Es ward der Kummer ihres Lebens, daß sie die Verse nicht rechtzeitig abgesandt hatte, solange es noch in ihrer Macht lag, ihn zu gewinnen. All ihr Schmerz konzentrierte sich auf diesen Punkt: »Hätte ich nur nicht so lange gewartet, hätte ich nur nicht so viele Tage gewartet!«

Das Glück des Lebens oder doch wenigstens die Wirklichkeit des Lebens hatten diese geschriebenen Worte ihr erobern sollen. Sie war fest überzeugt, daß sie ihn ihr zurückgeführt haben würden.

Doch der Kummer leistete ihr denselben Dienst wie die Liebe. Er machte sie zu einem ganzen Menschen mit der Fähigkeit, sich im Guten wie im Bösen hinzugeben. Brennende Gefühle strömten frei durch ihre Seele, ohne von der eisigen Kälte der Selbstkritik gehemmt zu werden. Und so kam es denn, daß sie trotz ihrer Entstelltheit dennoch von vielen geliebt ward.

Man sagt aber, daß sie Gösta Berling nie ganz vergessen konnte. Sie trauerte um ihn, wie man um ein vergeudetes Leben trauert.

 


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