Selma Lagerlöf
Gösta Berling
Selma Lagerlöf

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Ebba Dohnas Geschichte

Die schöne Landzunge am östlichen Ufer des Löfsees, die von den sanften Wellen der Bucht umspielt wird, die stolze Landzunge, wo das Schloß Borg liegt, die zu betreten mußt du dich hüten.

Niemals sieht man den See schöner als von der Spitze dieser Landzunge. Niemand weiß, wie schön der See meiner Träume ist, bevor er von dort aus die Morgennebel hat über die glatte Fläche gleiten sehen, bevor er aus dem Fenster in dem kleinen Kabinett, wo so viele Erinnerungen wohnen, einen rosigen Sonnenuntergang sich im See hat spiegeln sehen.

Aber ich sage trotzdem: »Geh nicht dahin!«

Denn vielleicht ergreift dich der Wunsch, in den trauererfüllten Sälen des alten Schlosses zu weilen, vielleicht erwirbst du dir diesen schönen Fleck als Eigentum, und wenn du jung, reich und glücklich bist, schlägst du vielleicht dort dein Heim mit deiner jungen Gattin auf.

Nein, es ist besser, die schöne Landzunge gar nicht zu sehen, denn auf Borg kann kein Glück wohnen. Das mußt du wissen: Wie reich, wie glücklich du auch sein magst, der du in das Schloß einziehst, so werden die alten tränengetränkten Dielen auch bald von deinen Tränen genetzt werden, diese Wände, die so manchen Klagelaut von sich geben könnten, werden auch deine Tränen aufnehmen und aufbewahren.

Es ruht ein unsanftes Schicksal über diesem schönen Schloß. Es ist, als läge das Unglück dort begraben, könne aber nicht Ruhe finden in seinem Grabe; beständig steht es wieder auf, um die Lebenden zu erschrecken. Wenn ich Herr auf Borg wäre, würde ich die Erde durchwühlen, sowohl den Steingrund des Tannenwaldes als den Boden des Kellers und die schwarze Erde draußen auf den Feldern, bis ich die wurmzerfressene Leiche der Hexe fände, und dann würde ich ihr ein Grab in geweihter Erde auf dem Svartsjöer Kirchhof geben. Und bei dem Begräbnis würde ich nicht sparen mit der Bezahlung für den Glöckner, damit die Glocken lange und laut für sie schallten, und ich würde dem Pfarrer und dem Küster reiche Gaben senden, damit sie sie mit doppelter Kraft zur ewigen Ruhe einweihten, mit Rede und Gesang.

Und wenn das nicht hülfe, würde ich in einer stürmischen Nacht die alten hölzernen Wände in Brand stecken und die Flammen alles verzehren lassen, so daß die Menschen sich nicht mehr verlocken ließen, in diesem Heim des Unglücks zu wohnen. Dann sollte niemand mehr diesen verdammten Ort betreten, nur die schwarzen Elstern im Kirchturm sollten Erlaubnis haben, eine neue Ansiedlung in der großen Schornsteinmauer anzulegen, die sich rußig und unheimlich über dem schwarzen Brandplatz erhebt.

Doch würde mir sicherlich wunderlich beklommen zumute werden bei dem Anblick der Flammen, die über dem Dach zusammenschlagen, und der dicken Rauchwolken, die vom Feuerschein gerötet und voller Funken sich über den alten Hofplatz wälzen. Im Knattern und Zischen des Feuers würde ich die Klage der heimatlosen Erinnerungen zu hören glauben, auf den blauen Spitzen der Flammen würde ich die vertriebenen Geister des Hauses zu sehen glauben. Ich würde daran denken, wie der Kummer verschönert, wie er das Unglück mit Glanz umgibt, ich würde weinen, als wenn ein Tempel alter Götter dem Untergange geweiht sei.

Doch stille, du unglückverkündender Rabe! Warte, bis die Nacht gekommen ist, wenn du um die Wette mit den Eulen des Waldes klagen willst. Noch liegt Schloß Borg vom Sonnenschein umstrahlt hoch oben auf der Landzunge, beschützt von seinem Parke riesiger Tannen, und die schneebedeckten Felder da unten glitzern in dem stechenden Sonnenschein des Märztages; noch vernimmt man innerhalb seiner Wände das fröhliche Lachen der munteren Gräfin Elisabeth.

Des Sonntags geht sie in die Svartsjöer Kirche, die in der Nähe von Borg liegt, und ladet nach dem Gottesdienste eine ganz kleine Gesellschaft aufs Schloß. Der Amtmann und seine Frau aus Munkerud pflegen zu kommen und der Hauptmann mit Familie aus Berga und der Kaplan und der böse Sintram.

Und wenn Gösta Berling zu Fuß über das Eis nach Svartsjö gekommen ist, so ladet sie auch ihn ein. Weshalb sollte sie Gösta Berling nicht einladen?

Sie weiß ja nicht, daß die Klatschbasen schon anfangen darüber zu flüstern, daß Gösta Berling so oft an das östliche Ufer kommt, um die junge Gräfin zu treffen. Vielleicht kommt er auch, um mit Sintram zu trinken und zu spielen, aber darüber spricht man nicht so viel. Alle wissen, daß sein Körper von Eisen ist, mit seinem Herzen aber ist es eine andere Sache. Niemand glaubt, daß er ein Paar strahlende Augen und blondes Haar, das sich um eine weiße Stirn kräuselt, sehen kann, ohne sich zu verlieben.

Die junge Gräfin ist gut gegen ihn. Es ist nichts Sonderbares darin, sie ist gut gegen alle. Sie nimmt zerlumpte Bettelkinder auf den Schoß, und wenn sie auf der Landstraße an einem armen alten Fußgänger vorüberfährt, so läßt sie den Kutscher halten und nimmt den Frierenden in ihren Schlitten.

Gösta sitzt gern in dem kleinen, blauen Kabinett, von wo man die herrliche Aussicht nach Norden zu über den See hat, und liest ihr Gedichte vor. Darin kann doch nichts Böses sein? Er vergißt nie, daß sie eine Gräfin und er ein armer, heimatloser Abenteurer ist, und es ist gut für ihn, mit einer Frau zu verkehren, die hoch und heilig für ihn dasteht. Er könnte ebensogut daran denken, sich in die Königin von Saba zu verlieben, deren Bild das Pulpitum in der Svartsjöer Kirche schmückt, als in sie.

Er wünscht nur Gelegenheit zu haben, ihr zu dienen, wie ein Page seiner hohen Herrin dient, ihr die Schlittschuhe anschnallen, ihr Garn halten und ihren Schlitten lenken zu dürfen. Es kann keine Rede sein von Liebe zwischen den beiden; aber er ist gerade der Mann, der sich bei einer romantischen, unschuldigen Schwärmerei glücklich fühlen kann.

Der junge Graf ist still und ruhig, und Gösta ist von sprudelnder Lebhaftigkeit. Es ist gerade der Verkehr, den die junge Gräfin sich wünscht. Niemand, der sie sieht, glaubt, daß sie eine verbotene Liebe im Herzen trägt. An Tanz und Lustbarkeit denkt sie. Sie sähe es am liebsten, daß die Erde ganz glatt wäre, ohne Steine, Felsen und Seen, so daß man über die ganze Fläche dahintanzen könnte. Auf schmalen, dünnsohligen, seidenen Schuhen möchte sie von der Wiege bis zum Grabe tanzen.

Aber das Gerede geht nicht nachsichtig mit der jungen Frau um.

Wenn diese Gäste nach Borg kommen und dort zu Mittag essen, pflegen die Herren nach Tische in das Zimmer des Grafen zu gehen, um zu schlafen oder zu rauchen, und die alten Damen pflegen im Saal in die Lehnstühle zu sinken und ihre ehrwürdigen Köpfe gegen die hohen Rücklehnen zu stützen; die Gräfin aber und Anna Stjärnhök gehen in das blaue Kabinett und wechseln vertrauliche Mitteilungen in das Unendliche aus.

Hier sitzen sie auch am Sonntag, nachdem Anna Stjärnhök Ulrika Dillner nach Berga geholt hat.

Niemand auf der ganzen Welt ist unglücklicher als das junge Mädchen. All ihre Munterkeit ist verschwunden, vorbei ist es mit dem fröhlichen Trotz, den sie allem und allen entgegensetzte, die ihr zu nahe kamen.

Alles, was sich auf dem Heimwege zugetragen hat, ist in ihrer Erinnerung in das Halbdunkel versunken, aus dem es hervorgezaubert wurde; sie hat nicht einen einzigen klaren Eindruck mehr.

Ja, einen, und der vergiftet ihre Seele.

»Wenn es nun nicht Gott war, der es getan«, flüstert sie sich wieder und wieder zu. »Wenn es nun nicht Gott war, der die Wölfe sandte?«

Sie begehrt Zeichen und Wunder. Sie späht am Himmel und auf der Erde. Aber sie sieht keinen Finger aus den Wolken hervorgestreckt, um ihr den Weg zu weisen. Keine Wolkensäule, keine Feuersäule geht vor ihr her.

Wie sie jetzt der Gräfin gerade gegenüber in dem kleinen Kabinett sitzt, fällt ihr Blick auf einen kleinen Strauß blauer Anemonen, die die Gräfin in der Hand hält.

Wie ein Blitz durchzuckt es sie, daß sie weiß, wo die Anemonen gewachsen sind und sie weiß, wer sie gepflückt hat.

Sie braucht nicht zu fragen. Wo in der ganzen Gegend wachsen schon Anfang April Anemonen, außer im Birkenhain am Strandhügel bei Ekeby?

Sie sitzt da und starrt die kleinen, blauen Sterne an, diese glücklichen, die alle Menschen lieben, diese kleinen Propheten, die an sich schön, auch noch umstrahlt werden von dem Glanz all des Schönen, das sie verheißen, all des Schönen, das kommen soll. Und während sie dasitzt und sie anschaut, zieht sich in ihrer Seele ein Zorn zusammen, dumpf wie der Donner, lähmend wie der Blitz.

Mit welchem Recht, denkt sie, trägt Gräfin Dohna diesen Strauß blauer Anemonen, der am Strandhügel bei Ekeby gepflückt ist?

Sie waren Versucher alle miteinander, Sintram, die Gräfin, alle diese Menschen, die Gösta Berling zu dem verlocken wollten, was böse war, sie aber wollte ihn verteidigen, ihn gegen alle verteidigen. Wenn es ihr auch ihr Herzblut kosten sollte, sie wollte es tun.

Sie fühlt, daß sie die Blumen aus der Hand der Gräfin gerissen, an die Erde geworfen, zertreten, zermalmt sehen muß, bevor sie das blaue Kabinett verläßt.

Das fühlt sie, und sie beginnt einen Kampf gegen die kleinen blauen Sterne. Draußen im Saal stützen die alten Damen die ehrwürdigen Köpfe gegen die Stuhllehnen und ahnen nichts, die Herren dampfen in Ruhe und Gemächlichkeit ihre Pfeifen im Zimmer des Grafen – alles atmet Frieden, nur in dem kleinen blauen Kabinett wütet ein verzweifelter Kampf.

Ach, wie klug handeln sie, die ihre Hände vom Schwert fortlassen, sie, die zu schweigen und zu warten wissen, die ihre Herzen beschwichtigen und Gott walten lassen können! Immer geht das unruhige Herz irre. Immer macht das Böse das Böse nur noch ärger.

Aber Anna Stjärnhök glaubt, daß sie jetzt endlich einen Finger in den Wolken erblickt hat.

»Anna«, sagt die Gräfin, »erzähle mir eine Geschichte.«

»Wovon soll sie handeln?«

»Ach«, sagt die Gräfin, den Strauß mit ihrer weißen Hand liebkosend, »weißt du nicht etwas von Liebe zu erzählen?«

»Nein, ich weiß nichts von Liebe.«

»Wie du redest! Gibt es nicht einen Ort, der Ekeby heißt, und wimmelt es da nicht von Kavalieren?«

»Ja«, sagt Anna, »es gibt einen Ort, der Ekeby heißt, und dort wohnen Männer, die das Mark des Landes aussaugen, die uns untüchtig machen zu ernster Arbeit, die die heranwachsende Jugend verführen und unsere besten Köpfe auf Abwege leiten. Willst du von denen hören? Willst du Liebesgeschichten von denen hören?«

»Ja, das will ich! Ich kann die Kavaliere wohl leiden!«

Da redet Anna Stjärnhök, redet in kurzen Strophen wie ein altes Psalmbuch, denn sie ist nahe daran, von stürmischen Gefühlen erstickt zu werden. Heimliche Leidenschaft zittert unter jedem Wort und die Gräfin muß ihr ängstlich und gespannt zugleich lauschen: »Was ist die Liebe eines Kavaliers, was ist die Treue eines Kavaliers? Eine Geliebte heute, eine morgen, eine im Osten, eine im Westen. Nichts ist ihm zu hoch, nichts ist ihm zu gering: den einen Tag eine Gräfin, den andern Tag eine Betteldirne. Nichts in der Welt ist so geräumig wie sein Herz. Aber wehe der Armen, die einen Kavalier liebt! Sie muß nach ihm suchen, wenn er bezecht am Grabenrande liegt. Sie muß schweigend zusehen, wie er das Heim ihrer Kinder verspielt. Sie muß es dulden, daß er andere Frauen umschwärmt. Ach, Elisabeth, bittet ein Kavalier eine ehrbare Frau um einen Tanz, so sollte sie es ihm abschlagen, gibt er ihr einen Strauß Blumen, so sollte sie ihn zu Boden werfen und mit Füßen treten, liebt sie ihn, so sollte sie lieber sterben als ihn heiraten. – Unter den Kavalieren war einer, der ein abgesetzter Pfarrer war. Er hatte sein Amt verloren, weil er trank. Betrunken war er in die Kirche gekommen. Er trank den Altarwein aus. Hast du von ihm gehört?«

»Nein.«

»Gleich, nachdem er seines Amtes entsetzt war, streifte er als Bettler im Lande umher. Er trank wie ein Verrückter. Er konnte stehlen, um sich Branntwein zu verschaffen.«

»Wie hieß er?«

»Er weilt nicht mehr auf Ekeby. – Die Majorin nahm sich seiner an, schenkte ihm Kleider und überredete deine Schwiegermutter, ihn als Hauslehrer für deinen Mann, den jungen Grafen Henrik zu nehmen.«

»Einen abgesetzten Pfarrer?«

»Ach, er war ein junger, kräftiger Mann und besaß gute Kenntnisse. Es war nichts an ihm auszusetzen, wenn er nur nicht trank. Gräfin Märta nahm so etwas nicht so genau. Es amüsierte sie, dem Propst und dem Kaplan einen Streich zu spielen. Doch befahl sie, daß niemand mit ihren Kindern von seiner Vergangenheit sprechen solle, denn da würde ihr Sohn den Respekt verlieren und ihre Tochter würde ihn nicht geduldet haben; denn sie war eine Heilige.

So kam er denn hierher nach Borg. Er blieb an der Tür stehen, er setzte sich auf die Ecke des Stuhls, er schwieg bei Tische und flüchtete in den Park hinab, wenn Gäste kamen.

Doch da unten, auf den einsamen Wegen begegnete er oft der jungen Gräfin Ebba Dohna. Sie gehörte nicht zu denen, welche die lärmenden Feste lieben, die durch die Säle des Schlosses brausten, seit die Gräfin verwitwet war. Sie gehörte nicht zu denen, die trotzige Blicke in die Welt hinaussenden. Sie war so sanft und so scheu. Selbst nachdem sie ihr siebzehntes Jahr zurückgelegt hatte, war sie so scheu wie ein Kind, aber schön war sie mit ihren braunen Augen und der zarten Röte auf den Wangen. Ihr schlanker Körper war ein wenig gebeugt. Ihre schmale Hand schob sie mit einem schwachen Druck in die unsere. Ihr kleiner Mund war der schweigsamste und dabei der ernsthafteste von allen Mündern. Und dann ihre Stimme, ihre zarte, weiche Stimme, die die Worte so schön und so langsam aussprach, nie aber jugendfrisch, jugendwarm klang, sondern zögernd mit einem matten Tonfall, wie der Schlußakkord eines müden Künstlers.

Sie war nicht wie andere. Ihr Fuß berührte die Erde so leicht, als sei er ein banger Flüchtling. Sie hielt die Augen gesenkt, um nicht gestört zu werden in der Beschauung der Herrlichkeit innerer Bilder. Ihre Seele hatte sich schon, seit sie ein Kind war, von der Erde abgewandt.

Als sie klein war, pflegte ihre Großmutter ihr Märchen zu erzählen; und eines Abends saßen sie beide am Kamin, mit den Märchen waren sie fertig. Die hatten ihre Zeit ausgelebt, die hatten sich wie die Flammen des Feuers in Glanz und Herrlichkeit getummelt; aber nun lagen die Helden erschlagen, und die schönen Prinzessinnen waren verkohlt, bis das neue Feuer sie aufs neue erweckte. – Aber die Hand der Kleinen lag noch immer auf dem Knie der Großmutter, und sie strich über die Seide hin, über dies sonderbare Zeug, das schreien konnte wie ein kleiner Vogel. Und diese kleine Bewegung sollte ihre Bitte bedeuten, denn sie gehörte zu den Kindern, die niemals mit Worten bitten.

Da begann die Alte ganz leise ihr von einem kleinen Kinde im Lande Juda zu erzählen, einem kleinen Kinde, das geboren ward, um ein großer König zu sein. Die Engel hatten die Erde mit Lobgesängen erfüllt, als es geboren ward. Weise aus dem Morgenlande kamen, geleitet von den Sternen des Himmels, und brachten Gold und Räucherwerk, und alte Männer und Frauen weissagten von seiner Herrlichkeit. Dies Kind wuchs heran zu größerer Schönheit und höherer Weisheit als alle andern Kinder. Schon als es zwölf Jahre zählte, war seine Weisheit größer als die der Hohenpriester und Schriftgelehrten.

Dann erzählte die Alte ihr von dem Schönsten, das die Erde gesehen hat, von dem Leben dieses Kindes, während es unter den Menschen weilte, unter den bösen Menschen, die es nicht als ihren König anerkennen wollten.

Sie erzählte ihr, wie das Kind zum Mann heranwuchs, aber die Wunder umstrahlten ihn noch immer. Alles auf Erden diente ihm und liebte ihn, ausgenommen die Menschen. Die Fische ließen sich in sein Netz fangen, das Brot füllte seine Körbe, das Wasser verwandelte sich in Wein, wenn er es wollte.

Aber die Menschen setzten den großen König nicht auf den Thron, gaben ihm keine goldene Krone. Er war nicht umgeben von schmeichelnden Höflingen. Als Bettler ließen sie ihn unter sich wandeln.

Und der große König war doch so gut gegen sie. Er heilte ihre Kranken, gab den Blinden ihr Gesicht wieder und erweckte die Toten.

Aber, sagte die Alte, die Menschen wollten den guten König nicht zu ihrem Herrn haben; sie sandten Kriegsleute nach ihm aus und fingen ihn; sie schmückten ihn höhnend mit Krone und Zepter, hingen ihm einen langen Mantel um und ließen ihn, das Kreuz auf dem Rücken, zur Richtstätte wandern. O mein Kind, der gute König liebte die hohen Berge. Des Nachts stieg er oft auf sie hinauf, um mit den Bewohnern des Himmels zu reden, und am Tage liebte er es, an einem Bergabhang zu sitzen und zu den lauschenden Menschen zu reden. Jetzt aber führten sie ihn auf einen Berg, um ihn zu kreuzigen. Sie schlugen Nägel durch seine Hände und Füße und hängten den guten König an ein Kreuz, als sei er ein Räuber und Missetäter gewesen.

Und das Volk verspottete ihn. Nur seine Mutter und seine Freunde weinten, weil er sterben mußte, ehe er es erreicht hatte, König zu werden.

Ach, wie die toten Dinge bei seinem Hinscheiden trauerten! Die Sonne verlor ihren Glanz, die Berge erbebten, der Vorhang im Tempel riß mittendurch, und die Gräber öffneten sich, damit die Toten herausgehen und ihren Schmerz zeigen konnten. – – –

Da lag die Kleine mit dem Kopf im Schoße der Großmutter und schluchzte, als solle ihr das Herz brechen.

Weine nicht, mein Kind, der gute König ist aus seinem Grabe auferstanden und zu seinem Vater gen Himmel gefahren.

Großmutter, schluchzte die Kleine, bekam er denn niemals ein Königreich.

Er sitzt zu Gottes rechter Hand im Himmel.

Aber das beruhigte sie nicht. Sie weinte so verzweifelt und unaufhörlich, wie nur ein Kind weinen kann.

Weswegen waren sie so böse gegen ihn? Weshalb durften sie so böse gegen ihn sein?

Der Alten ward beinahe bange bei diesem übermäßigen Schmerz des Kindes.

Großmutter, Großmutter, sag', daß du nicht richtig erzählt hast, daß es nicht so endete! Sag', daß sie nicht so böse gegen den guten König waren! Sag', daß er ein Reich hier auf Erden erhielt!

Sie schlang ihre Arme um den Hals der Alten und bat und weinte unaufhörlich.

Kind, Kind! sagte darauf die Großmutter, um sie zu trösten. Es gibt Menschen, die glauben, daß er wiederkommen wird. Da wird er sich die Erde unterwerfen und sie regieren, und da wird die Erde zu einem schönen Reiche werden. Das soll tausend Jahre bestehen. Da sollen die bösen Tiere gut werden, kleine Kinder werden an dem Nest der Nattern spielen, Bären und Schafe werden friedlich beieinander weiden. Die Menschen werden einander kein Leid mehr tun, die Spieße werden in Sensen und die Schwerter in Pflugschare verwandelt werden. Und alles wird Lust und Freude sein, denn die Guten sollen die Ersten der Erde werden.

Da verklärte sich das Gesicht der Kleinen unter Tränen.

Bekommt dann der gute König einen Thron, Großmutter?

Einen goldenen Thron, mein Liebling.

Und Diener und Hofleute und eine goldene Krone?

Ja, das bekommt er alles.

Kommt er bald, Großmutter?

Niemand weiß, wann er kommen wird.

Darf ich dann auf einem Schemel zu seinen Füßen sitzen?

Ja, das darfst du, mein Herz.

Großmutter, ich bin so glücklich! sagt die Kleine.

Abend für Abend, viele Winter hindurch, saßen diese beiden am Feuer und sprachen von dem guten König und von seinem Reich. Die Kleine träumte Tag und Nacht von dem tausendjährigen Reich; sie ward nie müde, es mit all der Schönheit auszuschmücken, die sie sich nur vorzustellen vermochte.

So steht es um viele der schweigsamen Kinder, die wir um uns herum sehen; sie tragen sich mit heimlichen Träumen, die sie nicht auszusprechen wagen. Es regen sich wunderliche Gedanken unter dem weichen Haar, die sanften braunen Augen sehen wunderliche Dinge hinter den gesenkten Lidern. Mehr als eine schöne Maid hat ihren Bräutigam im Himmel; mehr als eine wünscht die Füße des guten Königs zu salben und sie mit ihrem Haar zu trocknen.

Ebba Dohna wagte es nicht, ihre Gedanken auszusprechen, aber seit jenem Abend lebte sie nur für die Wiederkehr des Herrn und für sein tausendjähriges Reich.

Wenn am Abend das Schloß am westlichen Horizont seine goldenen Tore öffnete, dachte sie, ob er wohl nicht jetzt in seinem strahlenden Glanz daraus hervortreten, gefolgt von einer Heerschar von Engeln an ihr vorüberziehen und ihr gestatten würde, einen Zipfel seines Gewandes zu berühren. Sie dachte auch gern an die frommen Frauen, die ihn sicher ebenso heiß geliebt hatten wie sie, und die den Nonnenschleier über den Kopf gehängt und die Augen niemals vom Boden erhoben hatten, sondern sich in die Stille des grauen Klosters verschlossen, in die Finsternis der kleinen Zellen, um stets die strahlenden Gesichte zu sehen, die aus der Nacht der Seele auftauchen.

So war sie herangewachsen, so war sie, als sie und der neue Hauslehrer sich auf den einsamen Pfaden des Parks begegneten.

Ich will nicht mehr Böses von ihm sagen, als ich zu sagen gezwungen bin. Ich will gern glauben, daß er dies Kind liebte, das ihn bald zum Begleiter auf seinen einsamen Wanderungen erwählte. Ich glaube, daß seiner Seele die Schwingen wieder wuchsen, wenn er neben diesem schweigsamen Kinde einherging, das sich niemals einem andern anvertraut hatte; ich glaube, daß er sich da selber wieder wie ein Kind fühlte, fromm und gut.

Wenn er sie aber wirklich liebte, weshalb dachte er dann nicht daran, daß er ihr keine geringere Gaben geben konnte als seine Liebe? Er, einer der Verworfenen dieser Erde, was wollte er, woran dachte er, während er an der Seite des Grafenkindes einherschritt? Woran dachte der abgesetzte Pfarrer, während sie ihm ihre frommen Träume anvertraute? Er, der ein Trunkenbold, ein Raufbold gewesen war, und der es wieder werden würde, sobald sich ihm die Gelegenheit dazu bot, was wollte er an der Seite des jungen Kindes, das von einem Bräutigam im Himmel träumte? Weshalb floh er nicht weit fort von ihr? Wäre es nicht besser für ihn gewesen, als Bettler oder Dieb im Lande umherzuirren, als dort in den schweigsamen Alleen zu lustwandeln und wieder fromm und gut zu werden, wenn das Leben, das er geführt hatte, doch nicht wieder rückgängig gemacht werden konnte und es sich nicht vermeiden ließ, daß Ebba Dohna ihn liebte?

Glaubt nicht, daß er wie ein armer Vertrunkener aussah mit bleichen Wangen und roten Augen. Er war noch immer ein stattlicher Mann, schön und kräftig, mit einer Haltung wie ein König und mit einem eisernen Körper, der dem wildesten Leben Widerstand zu leisten vermochte.«

»Lebt er noch?« fragte die Gräfin.

»Ach nein, jetzt ist er wohl tot – es ist so lange her, seit dies alles geschah!«

In Anna Stjärnhöks Innerem erwacht eine Angst vor dem, was sie tut. Sie beschließt, der Gräfin niemals zu sagen, wer der Mann ist, von dem sie spricht, sondern sie in dem Glauben zu lassen, daß er längst gestorben ist.

»Damals war er noch jung«, fährt sie fort, »die Freude am Leben ward wieder in seiner Seele entzündet, er besaß die Gabe des Wortes und ein feuriges, leicht begeistertes Herz.

Es kam eine Abendstunde, in der er Ebba Dohna von Liebe sprach. Sie antwortete ihm nicht, sie sagte ihm nur, was ihre Großmutter ihr an den Winterabenden erzählt hatte, und beschrieb ihm das Land ihrer Träume. Und dann nahm sie ihm ein Gelübde ab. Sie ließ ihn schwören, daß er ein Verkünder des Wortes werden wolle, einer von denen, die dem Herrn den Weg bereiten, damit seine Wiederkehr beschleunigt werde.

Was sollte er tun? Er war ein abgesetzter Pfarrer, und kein Weg war ihm so verschlossen wie der, den zu betreten sie von ihm forderte. Aber er wagte nicht, ihr die Wahrheit zu sagen. Er wagte es nicht, dies liebliche Kind zu betrüben, das er liebte. Er versprach alles, was sie verlangte.

Einer weiteren Aussprache bedurfte es nicht zwischen ihnen. Es war sicher, daß sie einst seine Gattin werden würde. Es war keine Liebe mit Küssen und Liebkosungen. Er wagte kaum, sich ihr zu nähern; sie war empfindlich wie eine feine Blume. Zuweilen aber erhob sie ihre braunen Augen, um die seinen zu suchen. Wenn sie an mondhellen Abenden auf der Veranda saßen, lehnte sie sich an ihn, und dann küßte er ihr Haar, ohne daß sie es merkte.

Du siehst, seine Sünde bestand darin, daß er Vergangenheit und Zukunft vergaß. Daß er arm und gering war, mochte er gern vergessen, er hätte aber bedenken müssen, daß der Tag nicht ausbleiben konnte, wo sich in ihrem Herzen Liebe gegen Liebe erhob, wo Erde und Himmel miteinander kämpften, wo sie sich gezwungen sah, zwischen ihm und den strahlenden Herrlichkeiten des tausendjährigen Reichs zu wählen. Aber sie war nicht danach angetan, einen solchen Kampf auszuhalten.

Ein Sommer, ein Herbst und ein Winter vergingen. Als der Frühling kam und das Eis schmolz, erkrankte Ebba Dohna. In den Tälern brausten die zu Flüssen angeschwollenen Bäche, die Hügel waren mit Eis und Schneeschlamm bedeckt, die Wege waren unfahrbar für Wagen wie für Schlitten.

Da wollte die Gräfin Dohna nach Karlstad zum Arzt schicken. Es war kein anderer in der Nähe. Aber ihre Befehle waren vergeblich. Weder durch Bitten noch durch Drohungen vermochte sie ihre Diener zu bewegen, sich auf den Weg zu machen. Sie warf sich vor dem Kutscher auf die Knie, er aber sagte nein. Sie bekam Krämpfe und hysterische Anfälle vor Kummer um ihre Tochter – Gräfin Märta ist wild in Schmerz wie in Freude.

Ebba Dohna hatte Lungenentzündung, und ihr Leben schwebte in Gefahr, ein Arzt konnte aber nicht geholt werden.

Da fuhr der Hauslehrer nach Karlstad. Die Fahrt in einem solchen Wetter zu machen, hieß das Leben aufs Spiel setzen – aber er tat es. Es ging über wogendes Eis und halsbrecherisch glatte Hügel, zuweilen mußte er Stufen für das Pferd in das Eis hauen, zuweilen mußte er es aus dem tiefen Schlamm des lehmigen Weges herausziehen. Man erzählte, der Doktor habe sich geweigert, mit ihm zu kommen, er aber habe ihn, die Pistole in der Hand, dazu gezwungen.

Als er zurückkam, war die Gräfin nahe daran, sich ihm vor die Füße zu werfen. Nehmen Sie alles, was ich habe, sagte sie, meine Tochter, mein Gut, mein Geld – sagen Sie nur, was Sie wünschen.

Ihre Tochter, Frau Gräfin, antwortete der Hauslehrer.« –

Da schweigt Anna Stjärnhök plötzlich.

»Nun, und dann, und dann?« fragt die junge Gräfin Elisabeth.

»Jetzt mag es genug sein«, erwidert Anna; denn sie ist eines jener unglücklichen Menschenkinder, die in der Angst und dem Zagen des Zweifelns leben. Das hat sie nun eine ganze Woche lang getan. Sie weiß nicht, was sie will. Was ihr die eine Stunde Recht erscheint, wird schon in der nächsten zum Unrecht. Jetzt wünscht sie, niemals diese Geschichte begonnen zu haben.

»Ich glaube gar, du willst mich zum Narren haben, Anna. Begreifst du denn nicht, daß ich den Schluß dieser Geschichte hören muß?«

»Es ist nicht mehr viel zu erzählen. – Die Stunde des Kampfes war für die junge Ebba Dohna gekommen, Liebe erhob sich gegen Liebe, Himmel und Erde rangen miteinander.

Gräfin Märta erzählte ihr von der lebensgefährlichen Reise, die der junge Mann um ihretwillen gemacht hatte, und sie sagte ihr, daß sie ihm zum Lohn dafür die Hand ihrer Tochter versprochen habe.

Als sie diese Worte vernahm, erhob sie ihre braunen Augen klagend und vorwurfsvoll zu der Mutter und sagte: Mutter, du hast mich einem abgesetzten Pfarrer gegeben, einem, der sein Recht verscherzt hat, Gottes Diener zu sein, einem Manne, der ein Dieb und ein Bettler gewesen ist!

Aber Kind, wer hat dir denn das alles erzählt? Ich glaubte, du ahntest nichts davon.

Ich erfuhr es zufällig. Ich hörte deine Gäste über ihn reden – es war an demselben Tage, an dem ich erkrankte.

Aber Kind, so bedenke doch, daß er dir das Leben gerettet hat!

Ich denke nur daran, daß er mich betrogen hat. Er hätte mir sagen müssen, wer er ist.

Er sagt, daß du ihn liebst.

Das habe ich getan. Ich kann den nicht lieben, der mich betrogen hat.

Wie hat er dich betrogen?

Das kannst du nicht verstehen, Mutter.

Sie wollte nicht mit ihrer Mutter von dem tausendjährigen Reich ihrer Träume sprechen, bei dessen Verwirklichung der Geliebte ihr hatte helfen sollen.

Ebba, sagte die Gräfin, wenn du ihn liebst, sollst du nicht fragen, was er gewesen ist, sondern dich mit ihm verheiraten. Wer sich mit der Gräfin Dohna verheiratet, wird so reich und so mächtig, daß seine Jugendsünden ihm schon vergeben werden.

Bedenke, daß ich ihm mein Wort gegeben habe, Ebba.

Das junge Mädchen wurde leichenblaß.

Mutter, ich sage dir, wenn du mich mit ihm verheiratest, so scheidest du mich von Gott.

Ich habe beschlossen, dein Glück zu machen, sagt die Gräfin. Ich bin überzeugt, daß du mit diesem Manne glücklich wirst. Es ist dir ja schon gelungen, ihn zum Heiligen zu machen.

Ich habe beschlossen, den Standesunterschied zu übersehen und zu vergessen, daß er arm und verachtet ist, um dir die Möglichkeit zu geben, ihn zu retten. Ich fühle, daß ich tue, was recht ist. Du weißt, daß ich alle alten Vorurteile verachte.

Das alles aber sagt sie nur, weil sie es nicht leiden kann, daß sich jemand ihrem Willen widersetzt. Vielleicht meinte sie es auch so, als sie es sagte. Aus Gräfin Märta ist nicht leicht klug zu werden.

Das junge Mädchen blieb lange auf ihrem Sofa liegen, nachdem die Gräfin sie verlassen hatte. Sie kämpfte ihren Kampf. Die Erde rang mit dem Himmel, Liebe lehnte sich gegen Liebe auf, doch der Geliebte ihrer Kinderjahre trug den Sieg davon. Dort, wo sie lag – es war hier auf dem Sofa, sah sie den westlichen Himmel im Sonnenuntergang erglühen. Sie glaubte, daß es ein Gruß von dem guten König sei, und da sie keine Kraft besaß, ihm treu zu bleiben, falls sie leben würde, so beschloß sie zu sterben. Sie konnte nicht anders, da ihre Mutter verlangte, daß sie einem Manne angehören sollte, der kein Diener des guten Königs werden konnte.

Sie trat an das Fenster, öffnete es und ließ die feuchte, kalte Abendluft ihren armen, schwachen Körper durcheisen.

Es war ihr ein leichtes, sich den Tod zuzuziehen. Er war unvermeidlich, falls die Krankheit sich von neuem einstellte, und das tat sie.

Niemand außer mir weiß, daß sie den Tod suchte, Elisabeth. Ich fand sie am Fenster. Ich hörte ihre Fieberphantasien. Sie wünschte mich in den letzten Tagen an ihrer Seite zu behalten.

Ich sah sie sterben, ich sah sie in jener Abendstunde die Hände nach dem glühenden Abendhimmel ausstrecken und mit einem Lächeln scheiden, als habe sie jemand aus dem Glanz des Sonnenuntergangs heraustreten und ihr entgegenkommen sehen. Ich mußte ihm, den sie geliebt hatte, ihren letzten Gruß überbringen. Ich sollte ihn bitten, ihr zu verzeihen, daß sie nicht seine Gattin werden könne. Der gute König habe es nicht erlauben wollen.

Aber ich habe nicht den Mut gehabt, dem Manne zu sagen, daß er ihr Mörder sei. Ich habe nicht den Mut gehabt, ihm die Last einer solchen Qual auf die Schultern zu legen. Und doch – er, der sich ihre Liebe durch Lügen erschlichen, war er nicht ihr Mörder? War er das nicht, Elisabeth?« –

Die junge Gräfin hat schon lange aufgehört, mit den blauen Blumen zu spielen. Jetzt erhebt sie sich, und der Strauß fällt zu Boden.

»Anna, du führst mich die ganze Zeit hinters Licht. Du sagst, es sei eine alte Geschichte, der Mann sei bereits lange tot. Aber ich weiß sehr wohl, daß kaum fünf Jahre seit Ebba Dohnas Tode verstrichen sind, und du sagst ja, daß du selber alles erlebt hast. Du bist nicht alt! – Sage mir nun, wer der Mann ist.«

Anna Stjärnhök fängt an zu lachen.

»Du wolltest ja eine Liebesgeschichte haben! Nun hast du eine bekommen, die dir sowohl Tränen als auch Unruhe gekostet hat.«

»Ist die Geschichte denn nicht wahr?«

»Es ist ein Hirngespinst von Anfang bis zu Ende!«

»Du bist abscheulich, Anna!«

»Das mag sein. Ich bin auch nicht glücklich, damit du es nur weißt! – Aber die Damen sind erwacht und die Herren sind in den Saal gekommen. Laß uns hineingehen!«

In der Tür hält Gösta Berling sie zurück, der gekommen ist, um nach den jungen Damen zu sehen.

»Sie müssen Geduld mit mir haben«, sagt er lachend. »Ich will Sie nicht länger als zehn Minuten quälen, aber jetzt müssen Sie einige Verse anhören.«

Er erzählt ihnen, daß er in der letzten Nacht so lebhaft geträumt habe wie nie zuvor, und zwar habe er geträumt, daß er Verse geschrieben habe. Er, den die Leute den »Poeten« nannten, obwohl er diesen Spottnamen bisher ganz unverschuldeterweise getragen, sei mitten in der Nacht aufgestanden und habe sich, halb im Schlaf, halb wach, hingesetzt, um zu schreiben. Und am Morgen habe er ein ganzes Gedicht auf dem Schreibtisch gefunden. Er habe sich selber nie so etwas zugetraut! Jetzt sollten die Damen es hören. Und er liest:

»Der Mond ging auf, und mit ihm kam die Stunde,
Die in der Seele weckt die träumenden Gedanken.
Vom Mondenlicht bestrahlt, im hellen Silberscheine
Glänzt der Veranda Dach, umwebt von Weinlaubranken.
Im Winde schwankt der Lilie Kelch aus witterndem Gesteine.
Auf der Veranda Stufen, zur abendlichen Runde,
Sind jung und alt vereint, und alter Lieder Weise,
Die noch im Herzen lebt, ertönet sanft und leise,
Wie ferner Zeiten Gruß in weihevoller Stunde.

Vom Resedabeet her umwehn uns liebliche Düfte,
Schatten schweben empor aus der Büsche flüsternden Zweigen
Über des Grases Fläche, von nächtlichem Tau befeuchtet:
Also ringet der Geist, in des Himmels Höhen zu steigen
Aus des Leibes Nacht zum Licht, das ewig uns leuchtet
Aus dem hellen Gewölk, wo klarer und reiner die Lüfte
Und im unendlichen Raum die Sterne den Blicken entschwinden.
Oh, wer mag in der Stille der Nacht der Gefühle Drang überwinden,
Wenn sich Schatten ihm nahn und der Blumen berauschende Düfte!

Gleich dem welkenden Blatt, das müde zur Erde sich senket,
Leise flatternd dahin, wenn ihr Blühen die Rose vollendet,
Nicht vom Sturme geknickt: so wollen dahin wir gehen.
Wie verhallet der Töne Klang, wenn unser Leben sich endet,
Still und stumm, wie im Herbst die Blätter im Winde verwehen,
Und zufrieden mit dem, wie Gott es weise gelenket,
Unsrer Jahre Ziel und den Pfad, den wir wandern sollen hienieden:
Der Tod ist des Lebens Lohn; so laß uns scheiden in Frieden,
Wie der Rose welkendes Blatt zur Erde leise sich senket.

Vorüber flog die Fledermaus lautlos auf ihren Schwingen
Und kehrt zurück im Mondenschein in schnellem Zickzackfluge,
Und wie sie flattert hin und her, steigt auf in unsere Herzen
Das alte Rätsel, ungelöst für Toren wie für Kluge,
Das Rätsel, schwer wie Gram und Leid, alt wie der Liebe Schmerzen:
Wohin geht unser Lebensweg, wohin soll er uns bringen,
Wenn wir nicht mehr auf Erden hier in Wald und Wiese wandern?
Ach, keiner kann des Geistes Pfad geleiten wohl den andern;
Viel eher zeigt' er noch den Weg des Vogels leichten Schwingen.

Und schmiegend fest sich an mich an, legt sie mir Haar und Wangen,
Sie, die mich liebt, an meine Brust und spricht in leisem Flüstern:
›In ferne Welten sollen nie die Seelen ganz entschweben,
Und ob des Todes Schatten auch mein Auge mag verdüstern,
Für dich, du Heißgeliebter, will ich dennoch weiterleben:
Von eines guten Menschen Herz ist dann mein Geist umfangen!‹
O welche Qual, so schweres Leid, so bangen Schmerz zu tragen!
Sie sterben! – Und zum letztenmal soll ich ihr heute sagen:
›Ich hab' dich lieb!‹ und küssen sie auf Mund und Haar und Wangen!

Jahre schwanden dahin – noch oft in nächtlicher Stunde
Such' ich die Stätte mir auf, wo einst ich kosend gesessen,
Wo mein Mund sie geküßt; doch seh' ich vom Monde beleuchtet
Hell der Veranda Dach, dann kann ich es nimmer vergessen,
Wie der Mond es gesehn, daß Tränen ihr Auge gefeuchtet,
Als vom Scheiden sie sprach, die Geliebte mit zitterndem Munde.
O der Erinnerung Qual! Wie soll ich sühnen die Sünde,
Daß den Sturm ich erregt in der Brust dem schuldlosen Kinde
Und sie gefesselt an mich in jener unseligen Stunde!«

»Gösta!« sagt Anna in scherzendem Ton, während die Angst ihr die Kehle zusammenschnürt. »Man sagt von dir, daß du mehr Gedichte erlebt hast, als andere geschrieben haben, die sich doch ihr Leben lang mit nichts weiter beschäftigen; aber du tust sicher am besten, auf deine eigene Art und Weise zu dichten: das Gedicht da ist Nachtarbeit!«

»Du bist kein milder Richter.«

»Und so etwas von Tod und Elend vorzulesen! Schämst du dich nicht?«

Gösta hört nicht mehr auf ihr Reden; unverwandt starrt er die junge Gräfin an. Sie sitzt starr und unbeweglich wie eine Bildsäule. Er glaubt, daß sie kurz davor ist, in Ohnmacht zu fallen.

Aber mit unendlicher Mühe bringt sie ein Wort hervor: »Geh!« sagt sie.

»Wer soll gehen? Soll ich gehen?«

»Der Pfarrer soll gehen«, stammelt sie.

»Elisabeth! So schweig doch.«

»Der vertrunkene Pfarrer soll mein Haus verlassen!«

»Anna! Anna!« fragt Gösta. »Was meint sie nur?«

»Es ist am besten, wenn du gehst, Gösta.«

»Weshalb soll ich gehen? Was hat dies alles zu bedeuten?«

»Anna«, sagt Gräfin Elisabeth, »sag es ihm, sag es ihm.«

»Nein, Gräfin, sagen Sie es selber.'«

Die Gräfin beißt die Zähne zusammen und sucht ihrer Bewegung Herr zu werden.

»Herr Berling«, sagt sie und geht auf ihn zu. »Sie haben ein merkwürdiges Talent, die Leute vergessen zu machen, wer Sie sind. Ich habe es bis auf den heutigen Tag nicht gewußt. Ich habe soeben von Ebba Dohnas Tode erzählen hören und habe erfahren, daß nur die Gewißheit, daß der Mann, den sie liebte, ihrer nicht wert war, sie in den Tod getrieben hat. Aus Ihrem Gedicht ersehe ich, daß Sie dieser Mann sind. Ich begreife nicht, wie ein Mann mit Ihrer Vergangenheit sich vor den Augen einer anständigen Frau sehen lassen darf. Ich verstehe das nicht, Herr Berling. Bin ich jetzt deutlich genug geworden?«

»Frau Gräfin sind deutlich genug geworden. Ich will nur ein einziges Wort zu meiner Verteidigung sagen. Ich habe in dem festen Glauben gelebt, daß Sie alles von mir wußten. Ich habe nie versucht, etwas zu verbergen; aber es ist nicht angenehm, das bitterste Unglück seines Lebens auf Straßen und Gassen ausschreien zu hören, geschweige denn, es selbst auszuposaunen.«

Er geht und im selben Augenblick setzt Gräfin Dohna den schmalen Fuß auf den Strauß blauer Sterne.

»Jetzt hast du getan, was ich wollte«, sagt Anna Stjärnhök hart zu der Gräfin, »aber jetzt hat es auch ein Ende mit unserer Freundschaft. Du mußt nicht glauben, daß ich dir deine Grausamkeit gegen ihn verzeihen werde. Du hast ihn von dir gewiesen, hast ihn verhöhnt und verletzt und ich folgte ihm gern ins Gefängnis und auf die Bettelbank, wenn es sein müßte. Ich will ihn bewachen und bewahren. Du hast getan, was ich wollte, aber ich verzeihe es dir niemals!«

»Aber Anna, Anna!«

»Als ich dir das alles erzählte, glaubst du, daß ich es mit fröhlichem Sinn getan? Habe ich nicht hier gesessen und mir das Herz Stück für Stück aus der Brust gerissen?«

»Weshalb tatest du es denn aber?«

»Weshalb? Weil ich nicht wollte – weil ich nicht wollte, daß er der Geliebte einer verheirateten Frau werden sollte.«

 


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