Selma Lagerlöf
Gösta Berling
Selma Lagerlöf

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Gespenstergeschichten

Ihr Kinder späterer Zeiten! Ich habe euch nichts Neues zu erzählen, nur das, was alt und beinahe vergessen ist. Nur Märchen habe ich aus dem Kinderzimmer, wo die Kleinen auf niedrigen Schemeln um die alte Märchenerzählerin herumhockten, von dem flackernden Herdfeuer in der Hütte, um das die Knechte und Tagelöhner im Kreise herumsaßen und schwatzten, während ihre feuchten Kleider dampften und sie ihr Messer aus der ledernen Scheide am Halse zogen, um Butter auf dickes, weiches Brot zu streichen, oder aus dem Saal, wo alte Herren in wiegenden Schaukelstühlen ruhten und vom Grog belebt, von alten Zeiten redeten.

Stand dann ein Kind, das der Märchenerzählerin, den Tagelöhnern, den alten Herren gelauscht hatte, an Winterabenden am Fenster, da waren es keine Wolken, die es am Himmel dahinziehen sah, nein, die Wolken wurden zu Kavalieren, die in wackeligen Gefährten am Horizont dahinzogen; die Sterne waren Wachskerzen, die in dem alten Grafenschloß auf der Borger Landzunge angezündet wurden, und der Spinnrocken, der im Nebenzimmer schnurrte, ward von der alten Ulrika Dillner getreten. Denn der Kopf des Kindes war angefüllt mit den Menschen alter Zeiten, für sie lebte es, für sie schwärmte es.

Wurde aber so ein Kind, dessen ganze Seele mit Märchen gesättigt war, über den dunklen Boden in die Vorratskammer gesandt nach leinenen Tüchern oder Zwiebäcken, da eilten die kleinen Füße, da ging es in fliegender Fahrt die Treppe hinab, über die Diele und in die Küche hinaus. Denn da oben im Dunkeln waren dem Kinde alle die alten Geschichten eingefallen, die es von dem bösen Gutsherrn auf Fors gehört hatte, von ihm, der sich dem Teufel verschrieben hatte.

Der Staub des bösen Sintram weilt längst auf dem Svartsjöer Kirchhof, niemand aber glaubt, daß seine Seele in Gott ruht, wie es auf dem Grabstein geschrieben steht.

Während er lebte, war er einer von jenen, zu denen an langen, regnerischen Sonntagnachmittagen eine schwere, mit schwarzen Pferden bespannte Karosse gefahren kam. Ein eleganter, schwarzgekleideter Herr steigt aus dem Wagen und hilft dem Hausherrn bei Karten und Würfeln die schleichenden Stunden vertreiben, die ihn in ihrer Einförmigkeit zur Verzweiflung gebracht haben. Die Partie wird bis nach Mitternacht fortgesetzt, und wenn der Fremde in der Morgendämmerung abfährt, hinterläßt er stets irgendeine unheilverkündende Abschiedsgabe.

Ja, solange Sintram hier auf Erden weilte, war er einer von denen, dessen Kommen von Geistern angekündigt wird. Es gehen ihnen Warnungen voraus; ihr Wagen rollt auf den Hof, ihre Peitsche knallt, ihre Stimme wird auf der Treppe hörbar, die Haustür wird geöffnet und zugeschlagen. Hunde und Menschen erwachen bei dem Geräusch, so stark ist es, aber es kommt niemand – es sind nur Vorbedeutungen.

Hu! diese entsetzlichen Menschen, die von bösen Geistern heimgesucht werden! Was für ein großer Hund konnte das doch nur sein, der sich zu Sintrams Zeit auf Fors zeigte? Er hatte schreckliche, funkelnde Augen und eine lange feuerrote Zunge, die ihm weit aus dem keuchenden Maul heraushing. Eines Tages, gerade als die Knechte in der Küche beim Mittagessen saßen, hatte er an die Küchentür gekratzt, und alle Mädchen hatten vor Entsetzen aufgeschrien, aber der größte und stärkste von den Knechten hatte ein brennendes Scheit vom Herd genommen, die Tür aufgerissen und es dem Hund in den Rachen geschleudert. Da war er mit entsetzlichem Geheul entflohen, Feuer und Rauch waren aus seinem Maul herausgeschlagen, Funken hatten ihn umwirbelt, und seine Fußspuren schimmerten auf dem Wege wie Feuer.

Und etwas ganz Schreckliches war es, wenn der Gutsherr auf Reisen ging; er fuhr mit Pferden von Hause fort, aber wenn er des Nachts nach Hause kam, hatte er stets schwarze Stiere vor dem Wagen. Die Leute, die an der Landstraße wohnten, konnten die großen schwarzen Hörner sich gegen den nächtlichen Himmel abheben sehen, wenn er vorüberfuhr; sie hörten die Stiere brüllen und entsetzten sich über die funkensprühenden Streifen, die die Wagenräder und Hufe in dem dürren Gras hinterließen.

Ja, die kleinen Füße konnten wohl Eile haben, wenn sie über den großen, dunklen Boden hinüber mußten. Denkt nur, wenn etwas Entsetzliches, wenn er, dessen Namen sie nicht zu nennen wagten, da oben aus einem dunklen Winkel herausgekommen wäre! Wer konnte sicher davor sein? Er zeigte sich nicht nur den schlechten Menschen. Hatte Ulrika Dillner ihn nicht gesehen? Sowohl sie als auch Anna Stjärnhök konnten davon erzählen, wie sie ihn gesehen hatten.

 

Freunde, Menschenkinder! Ihr, die ihr tanzet und lachet! Ich bitte euch so flehentlich, tanzet vorsichtig, lachet leise, denn es kann zu so vielem Unglück Anlaß geben, wenn eure dünnsohligen, seidenen Schuhe auf Menschenherzen treten statt auf Bretter, und euer silberhelles Lachen kann eine Seele in Verzweiflung jagen.

Sicher hatten die jungen Füße zu hart auf das Herz der alten Ulrika getreten, hatte das Lachen der Jungen zu übermütig in ihre Ohren geklungen, so daß sie plötzlich eine unwiderstehliche Sehnsucht nach dem Namen und der Würde einer verheirateten Frau überkam. Sie sagte endlich »ja« zu der langjährigen Werbung des bösen Sintram, folgte ihm als Gattin nach Fors und war so getrennt von den alten Freunden auf Berga, von den ihr liebgewordenen Beschäftigungen und der alten Sorge um das tägliche Brot.

Es ging Hals über Kopf mit dieser Heirat. Um die Weihnachtszeit freite Sintram, und im Februar fand die Hochzeit statt.

Anna Stjärnhök wohnte nun in Hauptmann Ugglas Hause. Sie war ein guter Ersatz für die alte Ulrika, so daß diese ohne Gewissensbisse ausziehen und sich ihren Frauentitel erobern konnte.

Ohne Gewissensbisse, aber nicht ohne Reue. Es war kein guter Ort, an den sie kam; die großen, leeren Zimmer waren mit Schreckbildern angefüllt. Sobald es zu dunkeln begann, grauste und bangte sie sich. Sie war nahe daran, vor Heimweh zu vergehen.

Die langen Sonntagnachmittage waren schlimmer als alles andere. Sie wollten nie ein Ende nehmen, sowenig wie die nagenden Gedanken, die sich durch ihr Gehirn schleppten.

Da geschah es eines Tages, daß Sintram nicht von der Kirche zu Mittag nach Hause gekommen war, und sie ging in den Saal und setzte sich ans Klavier. Das war ihr letzter Trost. Das Klavier mit dem gemalten Flötenspieler und der Hirtin auf dem weißen Deckel war ihr Eigentum, sie hatte es von ihren Eltern geerbt. Dem konnte sie ihre Not klagen, denn es verstand sie.

Aber wißt ihr, was sie spielt? Nur eine Polka – sie, die so tief betrübt ist!

Ach, sie kann nichts weiter als diese eine Polka; die hatte sie gelernt, ehe ihre Finger sich um den Kochlöffel und das Vorschneidemesser steif gekrümmt haben. Die sitzt ihr noch in den Fingern, aber sie kann nicht ein einziges Stück außer dieser Polka, keinen Trauermarsch, keine leidenschaftliche Sonate, nicht einmal eine wehmütige Volksmelodie, nur eine Polka.

Die spielt sie jedesmal, wenn sie dem alten Klavier etwas anzuvertrauen hat. Sie spielt sie, wenn sie lachen möchte, sie spielt sie, wenn sie weinen möchte. Als sie ihre Hochzeit feierte, spielte sie sie, und als sie zum erstenmal in ihr eigenes Heim kam, und so auch jetzt.

Die alten Saiten verstehen sie wohl; sie ist unglücklich – ach, so unglücklich!

Ein Vorüberfahrender, der die Töne der Polka hört, könnte glauben, daß der böse Gutsherr seinen Freunden und Nachbarn einen Ball gäbe, so munter klingt es. Es ist eine flotte, fröhliche Melodie. Damit hat sie in alten Tagen die Sorglosigkeit in Berga hinein- und den Hunger aus Berga herausgespielt; wenn sie ertönte, mußte sich alles im Tanze schwingen. Sie sprengte die Fessel der Gicht und lockte achtzigjährige Greise in den Tanzsaal. Die ganze Welt hätte Lust bekommen, nach der Polka zu tanzen, so munter klingt sie – die alte Ulrika aber weint.

Sie ist von bissigen Tieren und unfreundlichen Dienstboten umgeben. Sie sehnt sich danach, ein freundliches Gesicht und einen lächelnden Mund zu sehen. Und dieser verzweifelnden Sehnsucht soll die Polka Ausdruck verleihen.

Es wird den Leuten so schwer, sich zu erinnern, daß sie Frau Sintram ist. Alle nennen sie Mamsell Dillner. Deswegen soll die Polka ihrer Reue Ausdruck verleihen, daß sie sich von der Eitelkeit hat verlocken lassen, nach dem Frauentitel zu trachten.

Die alte Ulrika spielt, als wolle sie die Saiten zersprengen. Da ist so viel zu übertäuben: Wehrufe von verarmten Bauern, Flüche ausgesogener Arbeiter, Hohngelächter trotziger Dienstboten und vor allem die Schande – die Schande, die Frau eines bösen Mannes zu sein.

Zu diesen Tönen hat Gösta Berling den Tanz mit der jungen Gräfin Dohna aufgeführt. Marianne Sinclaire und ihre vielen Bewunderer haben danach getanzt, und die Majorin auf Ekeby hat sich im Takt zu diesen Tönen geschwungen, als der schöne Altringer noch lebte. Sie sieht sie vorüberwirbeln, Paar auf Paar, vereint in Jugend und Schönheit. Es ging ein Strom von Munterkeit von ihnen auf sie über, von ihr auf sie. Ihre Polka machte ihre Wangen glühen, ihre Augen strahlen. Jetzt ist sie von alledem geschieden. Laß die Polka ertönen – da sind so viele, so viele Erinnerungen zu übertäuben!

Sie spielt, um ihre Angst zu betäuben. Ihr Herz ist nahe daran, vor Entsetzen zu zerspringen, wenn sie den schwarzen Hund sieht, wenn sie die Dienstboten von den schwarzen Stieren flüstern hört. Sie spielt die Polka wieder und wieder, um ihre Angst zu übertäuben.

Da merkt sie, daß ihr Mann nach Hause gekommen ist. Sie hört, daß er ins Zimmer kommt und sich in einen Schaukelstuhl setzt. Sie kennt so gut den Ton, wenn die Gängel den Fußboden knirschend berühren, daß sie sich nicht einmal umzusehen braucht.

Und während sie spielt, fährt das Schaukeln fort – jetzt hört sie die Töne nicht mehr, sondern nur das Schaukeln.

Arme alte Ulrika, vergrämt, einsam, hilflos, verirrt in Feindesland, ohne einen Freund, dem sie ihr Leid klagen kann, ohne einen andern Tröster als das alte, klapperige Klavier, das ihr mit einer Polka antwortet! Es klingt wie ein schallendes Gelächter bei einem Begräbnis, wie ein Trinklied in einer Kirche.

Während aber der Schaukelstuhl fortfährt zu schaukeln, hört sie plötzlich, daß das Klavier ihrer Klage spottet, und sie hält mitten im Takt inne. Sie erhebt sich und sieht nach dem Schaukelstuhl hinüber.

Im nächsten Augenblick aber liegt sie ohnmächtig an der Erde. Dort im Schaukelstuhl saß nicht ihr Mann, sondern ein Wanderer – er, dessen Namen die Kinder nicht zu nennen wagen, er, vor dem sie tot umgefallen wären, wenn sie ihn auf dem einsamen Boden getroffen hätten.

 

Ob wohl derjenige, dessen Seele mit Märchen angefüllt ist, sich jemals von ihrer Macht befreien kann? Der Nachtwind heult da draußen, ein Gummibaum und ein Oleander peitschen mit ihren steifen Blättern gegen das Gitterwerk des Balkons. Der Himmel wölbt sich finster über den langgestreckten Bergen, und ich, die ich zur nächtlichen Stunde allein sitze und bei dem Schein der Lampe und bei aufgezogenen Rouleaus schreibe, ich, die ich jetzt alt bin und klug sein sollte, ich fühle dasselbe Grausein mir am Rückgrat herabkriechen wie damals, als ich diese Geschichte zum erstenmal hörte, und ich muß jeden Augenblick die Augen von der Arbeit erheben, um nachzusehen, ob sich nicht jemand dort in der Ecke versteckt hat; ich muß auf den Balkon hinaus, um zu sehen, ob nicht ein schwarzer Kopf über das Gitterwerk guckt. Er verläßt mich nie, dieser Schrecken, den die alten Geschichten wachrufen, wenn die Nacht finster und die Einsamkeit tief ist, und er gewinnt schließlich eine solche Übermacht, daß ich in mein Bett kriechen und die Decke über den Kopf ziehen muß.

Ich habe mich in meiner Kindheit nie genug darüber verwundern können, daß Ulrika Dillner diesen Nachmittag überlebte. Ich hätte es nicht gekonnt.

Ein Glück war es, daß Anna Stjärnhök gleich darauf nach Fors gefahren kam, daß sie sie im Saal am Fußboden liegend fand und sie wieder ins Leben zurückrief. Mit mir wäre es sicher nicht so gut abgegangen. Ich wäre längst tot gewesen.

Ich will euch wünschen, lieben Freunde, daß ihr davor bewahrt werden möget, die Tränen alter Augen zu sehen. Daß ihr nicht hilflos dastehen möget, wenn sich ein graues Haupt an eure Brust lehnt, um Stütze zu suchen, oder alte Hände sich in schweigendem Flehen um euch falten. Möge es euch erspart bleiben, die Alten in Kummer versenkt zu sehen, den ihr nicht zu lindern vermöget.

Was sind die Klagen der Jungen? Sie haben Kraft, sie haben Hoffnung. Aber welch ein Elend ist es nicht, wenn die Alten weinen, wenn die, die eurer jungen Tage Stütze gewesen sind, in machtlose Klagen hinsinken.

Dort saß Anna Stjärnhök und hörte die alte Ulrika an und sie sah keinen Ausweg für sie. Die Alte weinte und bebte. Ihre Augen rollten wild, sie sprach zuweilen so verwirrt, als wisse sie nicht mehr, wo sie war. Die tausend Runzeln, die ihr Gesicht durchfurchten, waren doppelt so tief wie gewöhnlich, die Hängelocken, die ihr über die Augen hingen, fielen durch die Feuchtigkeit der Tränen aus, und die ganze lange, magere Gestalt erschütterte ein Schluchzen.

Endlich mußte Anna dem Jammer ein Ende machen. Sie hatte ihren Entschluß gefaßt; sie wollte sie mit nach Berga nehmen. Wohl war sie Sintrams Gattin, aber auf Fors konnte sie nicht bleiben. Sie würde ja den Verstand verlieren, wenn sie bei dem bösen Manne bliebe. Anna beschloß, die alte Ulrika mitzunehmen.

Ach, wie freudig erschrak die Alte über diesen Entschluß! Aber sie wagte es wirklich nicht, ihrem Mann und ihrem Heim zu entfliehen. Er war imstande, ihr den großen Hund nachzusenden. Aber Anna Stjärnhök überwand ihren Widerstand, teils mit Scherzen, teils mit Drohungen, und ehe eine halbe Stunde vergangen war, hatte sie sie neben sich im Schlitten. Anna fuhr selber, und zwar mit der alten Disa. Die Wege waren tief, denn es war gegen Ende März, aber es tat der alten Ulrika gut, wieder in dem wohlbekannten Schlitten mit dem alten Pferd davor zu sitzen, es war viele Jahre lang ein treuer Diener auf Berga gewesen – mindestens so lange wie sie.

Da nun diese alte Arbeitssklavin einen guten Humor und einen frischen Sinn besaß, hielt sie mit dem Weinen inne, als sie an Arvidstorp vorüberkamen; bei Högberg lachte sie schon, und als sie an Munkeby vorbeifuhren, war sie ganz vertieft in ihre Jugenderinnerungen und erzählte ihrer Begleiterin, was sich zu der Zeit zugetragen, als sie bei der Gräfin auf Svaneholm war.

Sie bogen nun in die einsame, menschenleere Strecke nördlich von Munkeby ein, wo der Weg hügelig und steinig ist. Er schlängelte sich an allen Höhen hinauf, die er erreichen kann, kroch in langsamen Windungen aufwärts, stürzte sich kopfüber an ihnen hinab und eilte in so gerader Linie wie nur möglich über den ebenen Talboden, um sofort wieder einen neuen Abhang zu finden, an dem er in die Höhe klettern konnte.

Sie waren gerade im Begriff den Vestratorshügel hinabzufahren, als die alte Ulrika plötzlich verstummte und Anna krampfhaft an den Arm faßte. Sie starrte einen großen Hund am Wegesrande an.

»Sieh!« sagte sie.

Der Hund sprang in den Wald davon. Anna hatte ihn nicht recht gesehen.

»Fahr zu!« sagte die alte Ulrika, »fahr, so schnell du kannst! Jetzt erhält Sintram Bescheid, daß ich hier bin.«

Anna versuchte, über ihre Angst zu lachen, aber sie fuhr fort: »Wir werden bald seine Schlittenglocken hören. Wir hören sie, noch ehe wir auf dem nächsten Hügel sind.«

Und während die alte Disa sich einen Augenblick auf dem Gipfel des Elofshügels verschnaufte, erschallte von unten her Schlittengeläute.

Jetzt geriet die alte Ulrika ganz außer sich. Sie bebte, schluchzte und jammerte genau so wie vorhin auf dem Saal zu Fors. Anna wollte Disa zur Eile antreiben, die aber wandte den Kopf ab und sandte ihr einen höchst verwunderten Blick zu. Glaubte sie, daß Disa nicht wisse, wann es Zeit war zu laufen und wann zu gehen? Wollte sie sie lehren, einen Schlitten zu ziehen, die doch seit mehr als zwanzig Jahren jeden Stein, jede Brücke, jeden Zaun, jeden Hügel in meilenweitem Umkreis gekannt hatte!

Inzwischen kam das Schlittengeläute näher und näher.

»Das ist er, das ist er, ich kenne seine Glocken!« jammert die alte Ulrika.

Der Laut kommt immer näher. Zuweilen ist er so unnatürlich stark, daß Anna sich umwendet, um zu sehen, ob Sintrams Pferd mit seinem Kopf schon ihren Schlitten berührt, bald stirbt er völlig hin. Sie hören ihn bald rechts, bald links vom Wege, sehen aber niemand. Es ist, als verfolge sie nur das Geläute der Schlittenglocken.

Wie des Nachts, wenn man aus einer Gesellschaft heimkehrt, so ist es nun: die Glocken klingen in Melodien, singen, sprechen, antworten. Der Wald hallt wider von ihrem Getön. Anna sehnt sich fast danach, daß der Verfolger allmählich so nahe kommen soll, daß sie ihn selber und sein rotes Pferd sehen kann. Ihr wird ganz unheimlich zumute, bei diesem unablässigen Schlittengeläute. Sie ist nicht ängstlich, ist es niemals gewesen, aber diese Glocken peinigen und plagen sie.

»Die Glocken peinigen mich«, sagt sie. Und sofort fangen die Glocken das Wort auf. »Peinigen mich«, klingeln sie, »peinigen mich, peinigen, peinigen, peinigen mich«, singen sie in allen möglichen Tonarten.

Es war nicht lange her, seit sie, von Wölfen verfolgt, diesen selben Weg gefahren war. Sie hatte in der Finsternis die weißen Zähne in dem offenen Rachen schimmern sehen, sie hatte gedacht, daß sie von den wilden Tieren des Waldes zerrissen werden würde. Damals aber war sie nicht bange gewesen. Eine herrlichere Nacht hatte sie niemals erlebt. Schön und kräftig war das Pferd gewesen, das sie zog, schön und kräftig war der Mann, der die Freude des Abenteuers mit ihr teilte.

Ach, dies alte Pferd, diese alte, zitternde Reisegenossin! Sie fühlt sich so machtlos, daß sie gern weinen möchte. Sie kann dies entsetzliche, aufregende Glockengeläute nicht loswerden.

Sie hält still und steigt aus dem Schlitten. Dies muß ein Ende haben. Weshalb soll sie fliehen, als fürchte sie sich vor dem bösen, verächtlichen Schurken?

Endlich sieht sie aus der zunehmenden Dämmerung einen Pferdekopf sichtbar werden, und dem Kopf folgt ein ganzes Pferd, ein Schlitten, und in dem Schlitten sitzt Sintram selber. Sie bemerkt indessen, daß es nicht so aussieht, als seien sie von der Landstraße hergekommen, dies Pferd, dieser Schlitten und dieser Mann, sondern vielmehr, als seien sie plötzlich vor ihren Augen entstanden und allmählich, sowie sie fertig geworden, aus der Dunkelheit herausgetreten.

Anna wirft Ulrika die Zügel zu und geht Sintram entgegen. Er hält das Pferd an.

»Sieh, sieh«, sagt er, »welch ein glücklicher Zufall! Liebes Fräulein Stjärnhök, lassen Sie mich meinen Reisegefährten in Ihren Schlitten setzen. Er will noch heute abend nach Berga, und ich habe Eile, nach Hause zu kommen.«

»Wo ist der Reisegefährte?«

Sintram knöpft den Fußsack auf und zeigt Anna einen Mann, der schlafend am Boden des Schlittens liegt. »Er ist ein wenig betrunken«, sagt er, »aber was macht das? Er schläft wohl. Es ist übrigens ein guter Bekannter, Fräulein Stjärnhök – es ist Gösta Berling.«

Anna schaudert.

»Denn ich will Ihnen nur sagen, daß derjenige, der seinen Geliebten verläßt, ihn dem Teufel verkauft. So bin ich in seine Klauen geraten. Man glaubt natürlich, daß man sich so richtig benimmt; entsagen, das ist das Gute, lieben, das ist vom Bösen!«

»Was meinen Sie damit? Wovon reden Sie?« fragt Anna tief erschüttert.

»Ich meine, Fräulein Anna hätte Gösta Berling nicht von sich lassen sollen.«

»Es war Gottes Wille.«

»Jawohl, so geht es. Die Entsagung ist vom Guten und die Liebe ist vom Bösen. Der gute Gott mag die Menschen nicht glücklich sehen. Er sendet Wölfe nach ihnen aus; aber setzen Sie nun einmal den Fall, daß es nicht Gott war, der sie sandte, Fräulein Anna. Hätte ich es nicht ebensogut sein können, der meine kleinen, grauen Lämmer vom Hochgebirge holte und sie hinter dem jungen Manne und dem jungen Mädchen dreinsandte?

Wenn ich Ihnen nun die Wölfe gesandt hätte, weil ich nicht einen von denen verlieren wollte, die mir gehören? Wenn es nun gar nicht Gott war, der es getan?«

»Sie sollen mich nicht verlocken, an der Sache zu zweifeln«, sagt Anna mit schwacher Stimme, »denn dann bin ich verloren.«

»Sehen Sie einmal her«, sagt Sintram und beugt sich über den schlafenden Gösta Berling, »sehen Sie seinen kleinen Finger an. Die Wunde da heilt niemals. Der entnahmen wir das Blut, als er den Pakt unterschrieb. Er gehört mir. Es liegt eine große Kraft im Blute. Er ist mein. Nur die Liebe kann ihn lösen, aber wenn ich ihn behalten darf, soll er schon gut werden.«

Anna Stjärnhök kämpft und kämpft, um den Zauber abzuschütteln, der sie ergriffen hat. Dies ist ja Wahnsinn, der reine Wahnsinn! Niemand kann seine Seele dem Bösen verschreiben. Aber sie hat keine Macht über ihre eigenen Gedanken, die Dämmerung liegt schwer auf ihr, der Wald steht finster und schweigend da. Sie kann sich nicht von dem unheimlichen Entsetzen des Augenblicks befreien.

»Meint Fräulein Anna vielleicht«, fährt Sintram fort, »daß nicht viel Gutes mehr an ihm ist? Glauben Sie das nicht! Hat er je Bauern geplagt, hat er je arme Freunde betrogen? Hat er je falsch gespielt? Ist er, Fräulein Anna, ist er je der Geliebte einer verheirateten Frau gewesen?«

»Ich glaube, Sie sind der Böse selber!«

»Lassen Sie uns tauschen, Fräulein Anna. Nehmen Sie Gösta Berling und verheiraten Sie sich mit ihm. Behalten Sie ihn und geben Sie denen auf Berga Geld. Ich will ihn Ihnen abgeben, denn Sie wissen ja, daß er mir gehört. Nehmen Sie an, daß nicht Gott in jener Nacht die Wölfe sandte, und lassen Sie uns tauschen.«

»Was wollen Sie als Ersatz haben?«

Sintram grinste.

»Was ich haben will? Ach, ich bin mit wenigem zufrieden.

Ich will nur das alte Frauenzimmer dort in Ihrem Schlitten haben, Fräulein Anna!«

»Satan, Versucher!« rief Anna. »Weiche von mir! Soll ich meine alte Freundin, die sich auf mich verläßt, im Stich lassen? Soll ich sie in deine Gewalt geben, damit du sie um ihren Verstand bringen kannst?«

»Nun, nun, ruhig, Fräulein Anna! Überlegen Sie sich die Sache! Hier ist ein junger, schöner Mann, und da ein altes, verlebtes Weib. Einen von beiden muß ich haben. Wen wollen Sie mir überlassen?«

Anna lachte; ein verzweifeltes Lachen. »Wollen Herr Sintram und ich hier stehen und Seelenhandel betreiben, wie man auf dem Brobyer Markt Tauschhandel mit den Pferden betreibt?«

»Ja, akkurat so! Aber wenn Fräulein Anna es vorzieht, können wir die Sache auch auf eine andere Weise angreifen. Wir können an die Stjärnhöksche Ehre denken.«

Und dann fängt er mit lauter Stimme an, seine Frau zu rufen, die in Annas Schlitten sitzt, und zum unsagbaren Entsetzen des jungen Mädchens gehorcht diese sofort, steigt aus dem Schlitten und kommt schaudernd und bebend zu ihm hin.

»Sieh, sieh! Eine gehorsame Ehefrau«, sagt Sintram. »Fräulein Anna kann nichts dagegen machen, daß sie kommt, wenn ihr Mann ruft. Jetzt hebe ich Gösta aus meinem Schlitten und lasse ihn hier. Ich verlasse ihn für immer, Fräulein Anna. Wer da will, kann ihn jetzt nehmen.«

Er beugt sich hinab, um Gösta aufzuheben, da aber beugt Anna sich tief zu ihm herunter, so daß sie fast sein Antlitz berührt, durchbohrt ihn mit ihrem Blick und zischt wie ein wildes Tier: »In Gottes Namen, fahr nach Hause! Weißt du nicht, wer dort im Saal im Schaukelstuhl sitzt und auf dich wartet? Wagst du es, den warten zu lassen?«

Es ist für Anna fast der Höhepunkt von allen Schrecken des Tages, zu sehen, wie diese Worte auf den bösen Mann wirken. Er rückt an den Zügeln, wendet den Schlitten und fährt heimwärts, das Pferd mit Peitschenschlägen und wilden Rufen zum Galopp antreibend. Den schrecklichen Abhang hinab geht die lebensgefährliche Fahrt, während ein langer Streifen von Funken unter den Schlittenkufen und den Pferdehufen in dem dünnen Märzschnee sichtbar wird.

Anna Stjärnhök und Ulrika Dillner bleiben allein auf dem Wege zurück, aber sie reden nicht ein einziges Wort. Ulrika schaudert vor Annas wilden Blicken, und Anna hat der armen Alten, um derentwillen sie den Geliebten geopfert hat, kein einziges Wort zu sagen.

Sie hätte weinen, rasen, sich auf dem Wege wälzen und ihr Haupt mit Sand und Schnee bestreuen können. Bisher hatte sie die erhebende Wirkung der Entsagung empfunden, jetzt fühlte sie nur die Bitterkeit. Was war das, seine Liebe zu opfern, gegen das Entsetzliche, den Geliebten zu opfern.

Sie fuhren nach Berga, ohne ein Wort zu wechseln, als sie aber da waren und die Tür zum Wohnzimmer geöffnet wurde, da fiel Anna Stjärnhök zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben in Ohnmacht. Da drinnen saßen Sintram und Gösta Berling und unterhielten sich in aller Ruhe. Dichter Tabaksqualm erfüllte das Zimmer, sie waren mindestens eine Stunde dort gewesen.

Anna Stjärnhök fiel in Ohnmacht, die alte Ulrika aber stand ruhig da. Sie hatte sehr wohl gemerkt, daß es nicht seine Richtigkeit hatte mit dem, der sie auf der Landstraße verfolgte.

Später ordneten der Hauptmann und seine Frau es so mit dem bösen Sintram, daß die alte Ulrika bei ihnen auf Berga blieb.

Er wolle sie wahrhaftig nicht verrückt machen, sagte er.

Ihr Kinder späterer Zeiten! Ich verlange ja nicht, daß jemand diese alten Geschichten glauben soll. Es kann ja nichts weiter sein als Lügen und Hirngespinste. Aber die Reue, die über dem Herzen hin und her wiegt, bis es kreischt und jammert wie die Dielenbretter in Sintrams Saal unter den Gängeln des Schaukelstuhls, und der Zweifel, der in den Ohren klingelt, wie die Schlittenglocken vor Anna Stjärnhöks Ohren in dem einsamen Walde erklangen, wann werden die zu Lügen und Hirngespinsten?

Ach, daß sie es werden könnten!

 


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