Selma Lagerlöf
Gösta Berling
Selma Lagerlöf

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Die Dürre

Wenn tote Dinge lieben können, wenn Erde und Wasser einen Unterschied zwischen Freunden und Feinden machen können, dann möchte ich gern ihre Liebe besitzen. Ich möchte gern, daß die grüne Erde meine schweren Schritte nicht als Last empfände. Ich möchte gern, daß sie es mir leichten Herzens verzeihe, daß sie um meinetwillen mit Pflug und Egge verwundet wird, daß sie sich meinem toten Körper willig öffnete. Und ich möchte gern, daß die Welle, deren blanken Spiegel meine Ruder zertrümmern, dieselbe Geduld mit mir hätte, wie eine Mutter sie mit einem unruhigen Kinde hat, wenn es auf ihren Schoß klettert, ohne sich daran zu kehren, daß es ihr seidenes Sonntagskleid zerknittert. Ich möchte in freundschaftlichem Verhältnis zu der klaren Luft stehen, die über den blauen Bergen zittert, und zu der strahlenden Sonne und den schönen Sternen. Denn es will mir oft scheinen, als wenn die toten Dinge mit den lebenden fühlen und leiden. Die Schranke zwischen ihnen und uns ist nicht so groß, wie die Menschen glauben. Wo ist der Teil von dem Staub der Erde, der nicht mit im Kreislauf des Lebens gewesen ist? Ist nicht der wirbelnde Staub der Landstraße einstmals als weiches Haar geliebkost, als gute, hilfreiche Hände geliebt worden? Ist nicht das Wasser in der Wagenspur ehedem als Blut durch pochende Herzen geströmt?

Der Geist des Lebens wohnt noch in den toten Dingen. Was hört er, während er in traumlosem Schlaf schlummert? Gottes Stimme hört er – achtet er auch auf die der Menschen?

Ihr Kinder späterer Zeiten, habt ihr es nicht gesehen? Wenn Unfriede und Haß auf Erden herrschen, müssen auch die toten Dinge vielfach leiden. Da wird die Welle wild und raubgierig wie ein Wegelagerer, da wird das Feld geizig wie ein Geizhals. Aber wehe dem, um dessentwillen der Wald seufzt und die Berge weinen.

Es war ein merkwürdiges Jahr, in dem die Kavaliere regierten. Es sieht mir fast so aus, als wenn die Unruhe der Menschen damals die Ruhe der toten Dinge zerstört hätte. Wie soll ich die Ansteckung bezeichnen, die sich damals über das Land verbreitete? Sollte man nicht glauben, daß die Kavaliere die Götter der Umgegend waren, daß alles von ihrem Geist beseelt war? Von dem Geist des Abenteuers, der Sorglosigkeit, der Zügellosigkeit.

Könnte man das alles erzählen, was sich in jenem Jahr unter den Menschen zutrug, die am Ufer des Löfsees wohnten, da würde die Welt sich wundern. Denn da erwachte alte Liebe, aber auch alter Haß entzündete sich aufs neue. Da flammten alle auf in Begierde nach der Schönheit des Lebens: nach Tanz und Scherz, Spiel und Trunk griffen sie. Da offenbarte sich alles das, was im tiefsten Innern der Seele verborgen liegt.

Von Ekeby ging die Ansteckung dieser Unruhe aus; sie verbreitete sich erst über die Eisenwerke und Begüterungen und verleitete die Menschen zu Unrecht und Sünde. Soweit haben wir sie bis zu einem gewissen Grad verfolgen können, weil die Alten die Erinnerung an die Begebenheiten auf einigen der größeren Güter bewahrt haben, wie sie sich aber weiter unter der Bevölkerung verbreitete, davon wissen wir nur wenig. Niemand aber kann daran zweifeln, daß die Unruhe der Zeit von Dorf zu Dorf, von Hütte zu Hütte schlich. Wo ein Laster verborgen glimmte, da kam es zum Ausbruch, wo ein kleiner Riß zwischen Mann und Frau vorhanden war, da gestaltete er sich zur Kluft; wo sich eine große Tugend oder ein starker Wille verbargen, da mußten die ebenfalls ans Licht. Denn nicht alles, was geschah, war schlecht; aber die Zeit war derartig, daß das Gute zuweilen ebenso verderblich ward wie das Schlechte. Es war so, als wenn der Sturm tief in den Wald einhaut – ein Baum stürzt über den andern, eine Tanne reißt im Fallen die andere mit um, und selbst das Unterholz wird von den stürzenden Riesen mit ins Verderben gezogen.

Ja, wahrlich, die Tollheit griff auch unter den Bauern und dem Gesinde um sich. Überall wurden die Herzen wild und die Köpfe verwirrt. Niemals war es beim Tanz am Kreuzwege so munter hergegangen, niemals war die Biertonne so schnell geleert worden, niemals hatte der Branntweinkessel so viel Korn verschlungen. Niemals waren die Gastmähler so zahlreich, niemals war der Raum zwischen dem bösen Wort und dem Messerstich kürzer gewesen.

Es war eine starke Hand, die die Zügel fallen ließ, als die Majorin Ekeby verließ. Berauscht von der Freiheit stürmten die Menschen dahin zu Zerstörung und Verwirrung. Ein Herr und Meister war ihnen noch geblieben. Ein Herr, den sie liebten – das war der Branntwein. Denn dies war in den schweren Jahren, als man noch keine Rettung, keine Hoffnung für die Bauern erblickte, als man zu glauben begann, daß der Branntwein sie vernichten, sie von der Erde ausrotten werde.

Aber die Unruhe beschränkte sich nicht auf die Menschen. Sie verbreitete sich auf alles Lebende. Niemals hatten Wölfe und Bären schlimmer gehaust, niemals hatten Füchse und Eulen ungemütlicher geschrien oder frecher geraubt, niemals hatten sich die Schafe häufiger im Walde verirrt, niemals hatten so viele Krankheiten unter dem kostbaren Vieh geherrscht.

Wer den Zusammenhang der Dinge sehen will, muß aus den Städten fortziehen und in einer einsamen Hütte am Waldesrande wohnen. Er muß die Nacht hindurch den Kohlenmeiler hüten oder Tag und Nacht, einen ganzen hellen Sommermonat hindurch, auf den langen Seen leben, während das Holzfloß langsam nach dem Wenernsee hinabgleitet; da wird er alle Zeichen in der Natur kennen und beachten lernen, da wird er verstehen, wie abhängig die toten Dinge von den lebenden sind. Er wird sehen, daß der Friede der toten Dinge gestört wird, sobald Unruhe auf Erden herrscht. Das weiß der Bauer. In solchen Zeiten löschen böse Geister den Meiler aus, zertrümmert die Meerjungfrau das Boot, kommen Krankheiten über die Menschen und Seuchen über das Vieh. Und so geschah es auch in diesem Jahr. Niemals hatte der Eisgang im Frühling so viel Schaden angerichtet. Die Mühle und die Schmiede von Ekeby waren nicht seine einzigen Opfer. Kleine Bäche, die sonst, wenn der Frühling ihnen Kräfte verliehen hatte, allerhöchstens imstande gewesen waren, eine leere Scheune fortzuschwemmen, richteten ihre Angriffe jetzt gegen ganze Gehöfte und spülten sie fort. Niemals hatte man gehört, daß die Gewitter schon vor Johannis so viel Schaden angerichtet hatten – nach Johannis merkte man nichts mehr davon, da kam die Dürre.

Solange die langen Tage währten, kam kein Regen. Von Mitte Juni bis Anfang September lag die ganze Gegend in ununterbrochenem Sonnenschein gebadet da.

Der Regen wollte nicht fallen, die Erde wollte keine Nahrung geben, der Wind wollte nicht wehen. Nur der Sonnenschein strömte auf die Erde herab. Ach, der schöne Sonnenschein, der lebenerweckende Sonnenschein – wie kann ich nur von seinem bösen Werke erzählen? Der Sonnenschein gleicht der Liebe: wer kennt nicht die Missetaten, die sie begangen hat, und wer ist imstande, sie nicht zu verzeihen? Der Sonnenschein gleicht Gösta Berling – er erfreut alle Menschen, deswegen schweigen alle von dem Übel, das er ihnen zugefügt hat.

Eine solche Dürre nach Johannis würde kaum in einer andern Gegend so unheilschwanger sein wie gerade in Wermland. Dort aber war der Frühling spät gekommen. Das Gras war noch nicht sehr hoch und wurde auch nicht hoch. Dem Roggen fehlte es an Nahrung gerade zu der Zeit, als er blühen und Körner ansetzen sollte. Die Frühlingssaat, die zu jener Zeit das meiste Brot lieferte, trug dünne, kleine Ähren auf Halmen, die nicht länger als eine viertel Elle waren. Die spät gesäten Rüben wollten gar nicht wachsen, nicht einmal die Kartoffeln vermochten aus dieser versteinerten Erde Nahrung zu saugen.

In solchen Jahren fingen sie droben in den Waldhütten an sich zu ängstigen, und von den Bergen verbreitet sich die Angst bis zu der ruhigeren Bevölkerung in den Ebenen.

»Gottes Hand sucht jemand!« sagen die Bauern.

Und ein jeder schlägt sich vor die Brust und sagt: »Bin ich es? – Ach, Mutter Natur bin ich es? Bleibt der Regen aus Unwillen über mich fort? Wird die strenge Erde aus Zorn über mich hart und trocken? Und strömt dieser ewige Sonnenschein in seiner Klarheit jeden Tag von einem wolkenlosen Himmel herab, um glühende Kohlen auf mein Haupt zu sammeln? Oder, wenn ich es nicht bin, wen sucht denn da die Hand Gottes?«

Während die Roggenkörner in den kleinen Ähren verschmachten, während die Kartoffeln keine Nahrung aus der Erde saugen können, während sich das Vieh mit roten Augen und nach Luft schnappend um die fast ausgetrockneten Brunnen schart, während die Angst vor der Zukunft das Herz zusammenschnürt, werden dort in der Gegend wunderliche Reden geführt: »Eine solche Heimsuchung kommt nicht ohne Grund«, sagen die Leute. »Wen sucht Gottes Hand?«

Es war an einem Sonntag im August. Der Gottesdienst war beendet. In kleinen Gruppen wanderten die Leute über die sonnenheiße Landstraße dahin. Ringsumher erblickten sie versengte Wälder und eine verdorbene Ernte. Der Roggen stand in Hocken, aber die Garben waren dünn und die Ähren klein. Das Urbarmachen durch Absengen war in diesem Jahr eine leichte Arbeit gewesen, aber es war auch gar oft geschehen, daß die dürren Wälder Feuer gefangen hatten. Und was der Waldbrand verschont hatte, das hatten die Insekten verzehrt: die Tannen hatten ihre Nadeln verloren und standen kahl da wie ein Laubwald im Herbst, die Blätter der Birken hingen ausgefranst herab mit bloßgelegten Rippen und zerfressenen Blattflächen.

Den bekümmerten Gruppen fehlte es nicht an Unterhaltungsstoff. Gar manche konnten erzählen, wie es in den Notjahren 1808 und 1809 und in dem kalten Winter 1812 gewesen war, als die Sperlinge erfroren. Die Hungersnot war ihnen nicht fremd, sie hatten ihr schreckliches Antlitz schon gesehen. Sie wußten, wie man Brot aus Rinde backte und die Kühe daran gewöhnte, Moos zu fressen.

Eine Frau hatte einen neuen Versuch gemacht, Brot aus Kronsbeeren und Gerstenmehl zu backen. Sie hatte eine Probe davon mit und ließ die Leute kosten. Sie war stolz auf ihre Entdeckung. Über ihnen allen aber schwebte dieselbe Frage; sie starrte aus aller Augen, sie schwebte auf aller Lippen: »Wen, o Herr, suchet deine Hand? Du strenger Gott, wer hat dir die Opfer des Gebets und der guten Werke vorenthalten, da du uns unser armseliges Brot entziehst?«

Eine harte Strafe von Gott war es, daß die Majorin nun in der Ferne weilte. Infolge des reichlichen Verdienstes, den zu ihrer Zeit der Eisentransport, das Holzfällen und dergleichen ergaben, hatten die Bewohner der Heide ihre vielhundertjährige Gewohnheit, Arbeit fern von der Heimat zu suchen, fast gänzlich abgelegt. Jetzt mußten die Jungen auswandern, aber es blieben doch noch immer genug zurück, die daheim sitzen und hungern mußten.

Ein Mann aus den finsteren Scharen, die westwärts über Sundsbroen gezogen waren und die Brobyer Hügel hinanschritten, blieb einen Augenblick an dem Wege stehen, der zu der Wohnung des geizigen Pfarrers führte. Er nahm einen trockenen Zweig von der Erde und warf ihn auf den Weg zum Pfarrhaus.

»Trocken wie dieser Zweig sind die Gebete gewesen, die er zu Gott emporgesandt hat«, sagte der Mann.

Der ihm zunächst Gehende blieb ebenfalls stehen. Auch er nahm einen trockenen Zweig auf und warf ihn neben den andern.

»Wie der Pfarrer, so das Opfer«, sagte er.

Der dritte in der Schar folgte dem gegebenen Beispiel. »Er ist gewesen wie die Dürre. Reisig und Stroh – das ist alles, was er uns hat behalten lassen.«

Der vierte sagte: »Wir geben ihm wieder, was er uns gegeben hat.«

Und der fünfte: »Zu ewiger Schmach werfe ich ihm dies hin. Möge er hinwelken und verdorren wie dieser Zweig.«

»Dürres Futter für den Pfarrer, der die Dürre über uns gebracht hat«, sagte ein Sechster.

Die Leute, die hinterdrein kommen, sehen und hören, was sie tun und sagen. Jetzt wird ihnen Antwort auf das, wonach sie so lange gefragt haben.

»Gebt ihm, was ihm zukommt! Er hat die Dürre über uns gebracht!« heißt es unter der Menge.

Und alle bleiben sie stehen, ein jeder gibt seinen Spruch dazu und wirft seinen Zweig, ehe er weitergeht.

In den Winkeln zwischen den Wegen lag bald ein Haufen von dürren Zweigen und Stroh – der Schandhügel für den Pfarrer von Broby!

Das war die einzige Rache der Bevölkerung. Niemand erhob die Hand wider den Pfarrer oder sagte ein böses Wort zu ihm selber. Verzweifelte Herzen erleichterten sich teilweise von ihrer Last, indem sie dürre Zweige auf diesen Hügel warfen. Sie nahmen selber keine Rache. Sie zeigten dem Gott der Wiedervergeltung nur den Schuldigen an.

»Haben wir dir nicht gedient wie wir sollten, so ist es die Schuld dieses Mannes. Sei barmherzig, Herr, und laß ihn allein leiden. Wir brandmarken ihn mit Schande und Entehrung. Wir sind nicht eins mit ihm.«

Es wurde sehr bald Sitte, daß jeder, der an dem Wege zum Pfarrhof vorüberkam, einen trockenen Zweig auf den Schandhügel warf. Mögen Gott und die Menschen es sehen, dachte jeder Vorübergehende. Auch ich verachte ihn, der den Zorn Gottes über uns gebracht hat.

Der alte Geizhals bemerkte gar bald den Hügel am Wegesrande. Er ließ ihn wegräumen – einige sagten, daß er damit einheize. Am nächsten Tage hatte sich an derselben Stelle ein ebensolcher Hügel angesammelt, und sobald er den einen wegräumen ließ, wurde ein neuer aufgeworfen. Die dürren Zweige lagen da und sagten: »Schande, Schande über den Pfarrer von Broby!«

Es war in den warmen, trockenen Hundstagen. Schwer von Rauch, gesättigt von Brandgeruch, lag die Luft über der Gegend. Die Gedanken wurden verwirrt in den erregten Gehirnen. Der Pfarrer von Broby war zum Dämon der Dürre geworden. Es war den Bauern, als sitze der alte Geizhals da und bewache die Quellen des Himmels.

Bald ward sich der Pfarrer klar über die Ansicht der Gemeinde. Er verstand, daß man ihn als Urheber des Unglücks bezeichnete. Aus Zorn über ihn ließ Gott die Erde verschmachten. Die Schiffsbesatzung, die auf dem wilden Meer in Not war, hatte das Los geworfen. Er war der Mann, der über Bord sollte. Er versuchte, über sie und ihre trockenen Zweige zu lachen, als es aber eine Woche gewährt hatte, lachte er nicht mehr. Ach, welch eine Kinderei war dies doch! Er begriff sehr wohl, daß ein jahrelang verhaltener Haß nach Gelegenheit suchte, sich Luft zu machen. Nun ja – er war nicht an Liebe gewöhnt.

Milder wurde er hierdurch nicht. Er hatte nach dem Besuch des alten Fräuleins vielleicht den Wunsch gehabt, sich zu ändern; jetzt konnte er es nicht. Er wollte sich nicht dazu zwingen lassen.

Allmählich aber wurde der Hügel ihm zu mächtig. Er mußte stets daran denken, und die Ansicht, die alle hegten, faßte auch bei ihm Wurzel. Es war das entsetzlichste Zeugnis, dies Abwerfen dürrer Zweige. Er betrachtete den Hügel und zählte die Zweige, die jeden Tag hinzugekommen waren. Der Gedanke hieran griff um sich und verdrängte alle andern Gedanken. Der Hügel besiegte ihn.

Mit jedem Tag, der verging, mußte er den Leuten mehr recht geben. Er fiel ab und ward im Laufe weniger Wochen ein Greis. Er bekam Gewissensbisse, so daß er ganz krank davon wurde. Aber es war ihm, als stehe das alles mit diesem Hügel in Zusammenhang. Es war ihm, als müßten die Gewissensbisse schweigen, als würde die Last des Alters wieder von ihm weichen, wenn nur der Hügel nicht mehr da wäre.

Schließlich saß er den ganzen Tag da und gab acht. Aber die Leute waren unbarmherzig, und in der Nacht wurden stets wieder neue Zweige auf den Hügel geworfen.

Eines Tages kam Gösta Berling des Weges gefahren. Der Pfarrer von Broby saß am Wegesrande, alt und abgezehrt. Er saß da und zerrte an den dürren Zweigen und legte sie zu Haufen und Reihen zusammen und spielte damit, als sei er wieder zum Kinde geworden. Gösta jammerte sein Elend.

»Was machen Sie denn da?« sagte er, schnell vom Wagen springend.

»Ach, ich sitze hier und suche die Zweige aus – eigentlich tue ich nichts.«

»Sie sollten nach Hause gehen, Herr Pfarrer, und hier nicht im Staub der Landstraße sitzen.«

»Es wird doch wohl das beste sein, wenn ich hier sitze.«

Da setzt sich Gösta zu ihm. »Es ist nicht so leicht, Pfarrer zu sein«, sagt er, als er eine Weile dagesessen hat.

»Hier unten läßt es sich doch aushalten, hier, wo Menschen sind«, sagt der Pfarrer. »Es ist weit schlimmer da oben.«

Gösta weiß wohl, was er sagen will. Er kennt diese Gemeinden im nördlichen Wermland, wo sich oft nicht einmal eine Wohnung für den Pfarrer findet, die großen Walddistrikte, wo die Finnen in den Rauchhütten wohnen, die armseligen Gegenden mit ein paar Menschen auf jeder Meile, wo der Pfarrer der einzige Gebildete ist. In einer solchen Gemeinde hatte der Brobyer Pfarrer über zwanzig Jahre gewirkt.

»Dahin senden sie uns, wenn wir jung sind«, sagt Gösta. »Es ist unmöglich, das Leben dort zu ertragen. Und dann wird man für immer verdorben. Gar mancher ist dort oben zugrunde gegangen.«

»Dort«, sagt der Pfarrer von Broby, »verdirbt uns die Einsamkeit.«

»Man kommt«, fällt Gösta eifrig ein, »und redet und ermahnt und glaubt, daß alles gut werden kann, daß die Gemeinde bald auf besseren Bahnen wandeln wird.«

»Ja, so ist es!«

»Doch man merkt gar bald, daß Worte nichts nützen. Die Armut steht uns im Wege. Die Armut hindert jegliche Verbesserung.«

»Die Armut«, wiederholt der Pfarrer. »Die Armut hat mein Leben zerstört.«

»Ein junger Pfarrer«, fährt Gösta fort, »kommt da hinauf, arm wie alle die andern. Er sagt zu dem Trunkenbold: ›Laß das Trinken!‹«

»Da antwortet der Trunkenbold«, fällt ihm der Pfarrer in die Rede: »›Gib mir etwas, das besser ist als Branntwein. Der Branntwein ist mir ein Pelz im Winter, gibt mir Kühlung im Sommer. Der Branntwein ist mir eine warme Stube und ein weiches Bett. Gib mir dies alles, dann will ich das Trinken lassen.‹«

»Und dann«, fährt Gösta fort, »sagt der Pfarrer zum Dieb: ›Du sollst nicht stehlen‹, und zu dem bösen Mann: ›Du sollst deine Frau nicht schlagen‹, und zu dem Abergläubischen: ›Du sollst an Gott glauben und nicht an Gespenster und Kobolde.‹ Der Dieb aber antwortet: ›Gib mir Brot‹, und der böse Mann sagt: ›Mach uns reich, dann wollen wir den Unfrieden lassen‹, und der Abergläubische: ›Lehre mich etwas Besseres!‹ Wer aber kann ihnen ohne Geld helfen?«

»Das ist wahr, das ist wahr! Jedes Wort ist wahr!« ruft der Pfarrer aus. »An Gott glaubten sie, mehr aber noch an den Teufel und an die Kobolde in den Bergen und an böse Geister. Alles Korn wanderte in den Branntweinkessel. Niemand konnte das Ende des Elends absehen. In den meisten der grauen Hütten war die Not zu Hause. Heimlicher Kummer machte die Zunge der Frauen bitter. Die Ungemütlichkeit im Hause trieb die Männer zum Trinken. Das Feld und das Vieh wußten sie nicht zu behandeln. Sie fürchteten den Edelmann und machten sich lustig über den Pfarrer. Was sollte man mit ihnen aufstellen? Was ich von der Kanzel zu ihnen sprach, verstanden sie nicht. Was ich sie lehren wollte, glaubten sie nicht. Und niemand, mit dem man sich hätte beraten können, niemand, der mir helfen konnte, den Mut aufrecht zu halten.«

»Es gibt Geistliche, die es ausgehalten haben«, sagt Gösta. »Gottes Gnade ist so reich über einigen von ihnen gewesen, daß sie nicht als gebrochene Menschen von einem solchen Leben zurückgekehrt sind. Ihre Kräfte haben ausgereicht, sie haben die Einsamkeit, die Armut, die Hoffnungslosigkeit ertragen. Sie haben das wenige Gute ausgerichtet, was sie vermochten, und sind nicht verzweifelt. Solche Männer hat es stets gegeben, gibt es auch noch. Ich begrüße sie als Helden. Ich will sie ehren, so lange ich lebe. Ich hätte es nicht durchführen können.«

»Ich vermochte es nicht«, sagt der Pfarrer.

»Der Pfarrer dort oben«, sagt Gösta nachdenklich, »beschließt, daß er ein reicher Mann, ein überaus reicher Mann werden will. Kein Armer kann das Böse bekämpfen. Und dann fängt er an, Geld zu sammeln.«

»Wenn er kein Geld sammelte, würde er anfangen zu trinken«, antwortet der Alte, »er sieht so viel Elend.«

»Oder er würde schlaff und träge werden und alle seine Kräfte einbüßen. Es ist gefährlich dort hinaufzukommen, wenn man nicht da geboren ist.«

»Er muß sich hart machen, um Geld zu sammeln. Anfänglich gibt er sich den Anschein, als wenn er es wäre, und schließlich wird es ihm zur Gewohnheit.«

»Er muß hart gegen sich und gegen andere werden«, fährt Gösta fort. »Es ist schwer, Geld zu sammeln. Er muß Haß und Verachtung erleiden, er muß frieren und hungern und sein Herz verhärten; es ist fast, als vergäße er, weshalb er angefangen hat zu sparen.«

Der Brobyer Pfarrer blickte scheu zu ihm auf. Er fragte sich, ob Gösta dort sitze und sich lustig über ihn mache. Aber Gösta war ganz Eifer und Ernst. Es war, als rede er seine eigene Sache.

»So ist es mir ergangen«, sagt der Alte leise.

»Aber Gott beschützt ihn«, fährt Gösta fort. »Er erweckt die Gedanken seiner Jugend in ihm, wenn er genug gesammelt hat. Er gibt dem Pfarrer ein Zeichen, wenn das Volk Gottes seiner bedarf.«

»Aber wenn der Pfarrer nun dem Zeichen nicht gehorcht, Gösta Berling?«

»Er kann ihm nicht widerstehen«, entgegnet Gösta mit strahlendem Lächeln. »Der Gedanke an die warmen Hütten, bei deren Bau er den Armen helfen soll, ist zu verlockend.«

Der Pfarrer sieht herab auf die kleinen Gebäude, die er aus den dürren Zweigen des Sandhügels aufgeführt hat. Je länger er mit Gösta redet, desto mehr fühlt er sich überzeugt, daß er recht hat. Er hatte stets den Gedanken gehabt, Gutes zu tun, wenn er einmal genug eingesammelt hätte. Er klammert sich daran fest; natürlich hatte er diesen Gedanken gehabt.

»Weshalb baut er denn keine Hütten?« fragt er scheu.

»Er schämt sich. Man könnte ja leicht glauben, daß er aus Furcht vor den Leuten täte, was er stets zu tun beabsichtigt hat.«

»Er kann den Gedanken nicht ertragen, daß man ihn zwingen will; das ist der Grund.«

»Aber er kann doch im Verborgenen helfen. In diesem Jahr bedarf es vieler Hilfe. Er kann sich jemand verschaffen, der seine Gaben austeilt. Ich verstehe das alles!« ruft Gösta aus, und seine Augen strahlen. »In diesem Jahr sollen Tausende Brot von dem erhalten, den sie mit Flüchen überhäufen.«

»So soll es sein, Gösta!«

Ein Rausch überkam diese beiden, die es sowenig verstanden hatten, den Beruf auszufüllen, den sie erwählt hatten. Die Lust ihrer Jugend, Gott und den Menschen zu dienen, überkam sie von neuem. Sie schwelgten in den Wohltaten, die sie ausführen wollten. Gösta sollte der Gehilfe des Pfarrers sein.

»Vor allen Dingen müssen wir Brot schaffen«, sagt der Pfarrer.

»Und Schullehrer müssen wir schaffen. Wir lassen Landesvermesser kommen, die den Grund und Boden aufteilen. Und dann sollen die Leute es lernen, ihre Äcker zu bestellen und das Vieh zu pflegen.«

»Wir wollen neue Wege bahnen und ein neues Dorf bauen.«

»Wir wollen unten am Gießbach Schleusen anlegen, dadurch wird der Weg zwischen dem Löfsee und dem Wenernsee eröffnet.«

»All der Reichtum unserer Wälder wird zu doppeltem Segen werden, wenn der Weg zum Meere frei ist.«

»Die Flüche werden sich in Segenswünsche verwandeln«, ruft Gösta aus.

Der Pfarrer sieht auf. Sie lesen gegenseitig in ihren Blicken dieselbe Begeisterung. Aber im selben Augenblick fällt ihr Auge auf den Schandhügel.

»Gösta«, sagt der Alte, »dies alles erfordert die Kräfte eines starken Mannes, ich aber bin dem Tode nahe. Du siehst, was mir am Leben zehrt.«

»Schaffen Sie es fort!«

»Wie soll ich das machen, Gösta Berling?«

Gösta tritt dicht an ihn heran und sieht ihm scharf in die Augen. »Bitten Sie Gott um Regen«, sagt er. »Sie sollen ja am Sonntag predigen. Bitten Sie Gott dann um Regen.«

Entsetzt sinkt der alte Pfarrer zusammen.

»Wenn es Ihr Ernst ist, wenn Sie nicht den Regen übers Land gebracht haben, wenn Sie dem Höchsten nicht mit Ihrer Härte haben dienen wollen, so bitten Sie Gott um Regen. Das soll das Zeichen sein. Daraus wollen wir erkennen, ob Gott dasselbe will, was wir wollen.«

Als Gösta die Brobyer Hügel hinabfuhr, wunderte er sich über sich selber und über die Begeisterung, die ihn ergriffen hatte. Aber das konnte doch ein schönes Leben werden. Ja, nur nicht für ihn. Von seiner Hilfe wollten sie da oben nichts wissen.

In der Brobyer Kirche war die Predigt gerade beendet und die gewöhnlichen Gebete waren verlesen. Der Pfarrer war im Begriff, die Treppe der Kanzel hinabzugehen. Aber er zögerte. Schließlich fiel er auf die Knie und flehte um Regen.

Er betete, wie ein verzweifelter Mensch betet, mit wenigen Worten, ohne eigentlichen Zusammenhang.

»Ist es meine Sünde, die deinen Zorn erregt hat, so strafe nur mich. Gibt es Barmherzigkeit bei dir, du Gott der Gnade, so laß es regnen! Nimm die Schande von mir! Laß es regnen um meines Flehens willen! Laß Regen herabfallen auf das Feld des Armen. Gib deinem Volke Brot!«

Der Tag war warm, es war unerträglich schwül. Die Gemeinde hatte halb im Schlaf dagesessen, aber bei diesen abgerissenen Lauten, dieser leisen Verzweiflung erwachten alle.

»Wenn es noch einen Weg zur Umkehr für mich gibt, so sende Regen – – «

Er schwieg. Die Türen standen offen. Jetzt kam ein heftiger Windstoß herangesaust. Er fuhr über das Feld, wirbelte bis zur Kirche herauf und sandte eine Staubwolke voller Reisig und Stroh herein. Der Pfarrer konnte nicht weitersprechen; er schwankte von der Kanzel herab.

Die Menschen schauderten. Sollte dies eine Antwort sein?

Aber der Windstoß war nur ein Vorläufer des Gewitters. Es zog sich mit einer Geschwindigkeit ohnegleichen zusammen. Als der Gesang beendet war und der Pfarrer vor dem Altar stand, zuckten schon die Blitze, und der Donner rollte gewaltig, den Klang seiner Worte übertäubend. Als der Küster den letzten Vers spielte, peitschten schon die ersten Regentropfen gegen die grünen Fensterscheiben, und alle Leute stürmten hinaus, um den Regen zu sehen. Aber sie begnügten sich nicht damit zu sehen: einige weinten, andere lachten, während sie den starken Gewitterregen auf sich herabströmen ließen. Ach, wie groß war ihre Not gewesen! Wie unglücklich waren sie gewesen! Aber Gott ist gut. Gott sendet Regen. Welch eine Freude, welch eine Freude!

Der Brobyer Pfarrer war der einzige, der nicht in den Regen hinauskam. Er lag auf den Knien vor dem Altar und erhob sich nicht. Die Freude war für ihn zu gewaltig gewesen. Er starb vor Freude.

 


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