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Kanton Solothurn

Balmfluh.

Der Ritter horstet an der Balm,
Dem Geier gleich an Gier,
Sein Morgen- und sein Abendpsalm
Des armen Nachbars Zier:
Ein mädchenhaft schüchtern Weib
Seiner Augen Zeitvertreib.

Die Hühnlein, die pickend sich ergehen,
Sie fliehen des Geiers unheimliches Spähen.

Der Ritter lädt sie beid zu Gast;
Die Frau zum Manne spricht:
»Zum Ritter wir? Ich fürcht ihn fast« ...
Er lacht, sie lächelt nicht;
Sie tritt mit dem Ehgemahl
In den finstren Rittersaal.

Die Vöglein in Lüften flattern, zittern
Dem Todfeind entgegen, deß Krallen sie wittern.

Ein Jahr! Und Freunde sind die Zwei,
Daß Tag erschrickt und Nacht;
Der Fraue ist nicht wohl dabei,
Obschon ihr Auge lacht;
Obschon sie ihr Herze schilt,
Daß es angstvoll überquillt.

Die Lämmer, sie sehn in weiten Gleisen
Vom raubenden Vogel sich enger umkreisen.

Der Nachbar sinnt beim Kerzenschein,
In stiller Forscherlust,
Spät überm Pergament allein,
Ein Licht vor seiner Brust;
Das Flickern und Flackern, sag,
Ob's zum Mord verlocken mag?

Die Menschen im Tal, mit Aechzen, Stöhnen,
Unseligen Traumbildern müssen sie fröhnen.

Blinkt nicht das offne Fenster: eil!
Das Licht: nimm mich zum Ziel!
Der Ritter richtet seinen Pfeil,
Halb lüstern, halb im Spiel;
Der Pfeil doch, der spielt nicht! gleich
Macht den Freund er todesbleich.

Die Raben frohlockend sich beraten,
Und krächzen Geschichten von schaurigen Taten.

Der Ritter klagt; sie weint. Ein Jahr!
Sie wird des Finstren Braut;
Schlafwandelnd schier sein Ehweib gar,
Von fremder Macht umklaut;
Ihr goldenes Haar wird grau,
Ihrem Lachen stirbt die Au.

Die Winde ergrimmen, toben, heulen,
Gespenstischer locken todkündende Eulen.

Ein Jahr lang lauscht sie Nacht und Tag
Dem Wort, das ihm entschlüpft,
Dem Traum, der ihr verplaudern mag
Wie Schuld mit Schuld verknüpft;
Stellt leis des Erschossnen Licht
Vor sein Herz ... und es durchsticht.

Die Geier der Balm, sie spähn, sie schlagen
Die Flügel, sie stoßen auf Beute, sie nagen ...

 

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