Isolde Kurz
Hermann Kurz
Isolde Kurz

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Der Fremdling

Mit dem Umzug nach Oberesslingen beginnt in meines Vaters Leben deutlich die absteigende Kurve. Der Aufenthalt war zuerst nur provisorisch gemeint, bis sich in Stuttgart, aus dem wir durch den Verkauf des »Königsbads« vertrieben worden waren, eine neue passende Wohnung gefunden hätte, aber man blieb, und dieses Bleiben wurde dem Dichter verhängnisvoll, denn das Landleben ist für den Schaffenden nur als Erholung, nicht als dauernder Zustand günstig. Hier traf es noch mit einer Zeit der tiefsten Enttäuschung zusammen. Seine Schöpferkraft, die, so lange er noch durchzudringen hoffte, auch in den schlimmsten Drangsalen immer neue Blüten getrieben hatte, begann angesichts der völligen Hoffnungslosigkeit zu versagen. Er wusste jetzt, die Masse der Leser war für seine Kunst nicht reif, und wie er es auch angriffe, er würde ihren Geschmack niemals treffen. Als im Jahr 1861 der letzte Band seiner Erzählungen erschien und ebenso schlechtes Glück machte wie alle seine Vorgänger, da entsank ihm endlich Lust und Schaffensmut: die übrigen teils erst geplanten, teils schon entworfenen Novellen blieben in der Feder stecken. Nur 262 ein wenig Luft zum Atmen, eine kurze Erfrischung in veränderter Umgebung, und die versiegten Quellen hätten neu gesprudelt. Allein die Lebenssorgen versperrten ihm jeden Schritt ins Freie, und es gab aus dieser Enge keinen Ausweg mehr, denn seine politische Vergangenheit verschloss ihm die Möglichkeit einer Anstellung im Staatsdienst.

Die Schwierigkeit der Existenz vermehrte sich von Tag zu Tage. Jetzt wanderte nach und nach all das schwere Brunnowsche Silbergerät, der schöne Samowar und andere wertvolle Erbstücke zum Verkauf. Uns Kindern blieb gleichwohl das Gefühl der Not ferne, und wäre nicht ab und zu meiner Mutter ein leidenschaftliches Wort entfahren, das von meinen sechsjährigen Ohren aufgefangen wurde und mir des Nachts in Gestalt schrecklicher Träume wiederkehrte, so hätte ich an jene Zustände schwerlich eine persönliche Erinnerung. Dass der Genius ihres Dichters in dieser Drangsal einer unaufhaltsamen Zerstörung entgegen ging, konnte auch sie zum Glück nicht übersehen. Man hatte damals in Laienkreisen noch wenig physiologische Einsicht, und niemand dachte daran, er selber vielleicht am wenigsten, dass seine wachsende Nervosität mit seiner Lebensweise zusammenhing. Er wetteiferte jetzt an Frugalität mit seinem Pfarrer von Y . . . burg. In Oberesslingen bestand seine Hauptmahlzeit gewöhnlich aus einem Teller schwarzer Brotsuppe, seiner spartanischen Suppe, wie er sie nannte; 263 darauf folgte noch ein Butterbrot mit Kräuterkäse bestrichen, den er seines pikanten Geschmacks wegen liebte. Statt des Weines trank er lange Zeit Essig mit Wasser vermischt, und da er das Rauchen nicht entbehren konnte, wickelte er sich, als der Tabak ausging, Zigarren aus getrockneten Erdbeerblättern. Zwar seine Frau und Josephine überboten ihn fast noch an Enthaltsamkeit, aber ihn trafen die Folgen verderblicher, denn sein angegriffener Kopf musste noch fortfahren zu produzieren. Später, als die Verhältnisse sich besserten, blieben seine Verdauungsorgane geschwächt und zwangen ihn, die kärgliche Lebensweise der schlimmen Tage beizubehalten. Die nächste Folge war eine Unruhe und Reizbarkeit, die mit physischer und seelischer Depression abwechselten und auch seinem geistigen Schaffen, das so lange den Verfolgungen des Schicksals siegreich widerstanden hatte, die Spur der Ermüdung aufdrückte. Sehr mit Unrecht nannte man diesen Zustand sein Nervenleiden: eine Riesenkonstitution begann endlich nach heroischem Kampf dem Druck des Lebens zu erliegen.

Dennoch arbeitete er rastlos weiter. Die Beschäftigung mit dem Weisserschen Kunstatlas zog ihn in archäologische Forschung hinein, für die er von je ein starkes Interesse gehabt hatte, denn bloss Gelerntes und Gelesenes wiederzugeben, wie es für solche populären Arbeiten gefordert wird, war ihm seiner Natur nach 264 unmöglich; die Intensität und Vielseitigkeit seines Geistes zwang ihn, jedem Gegenstand, mit dem er sich gerade beschäftigte, seinen innersten Gehalt abzufragen. Bei diesem Ausflug auf das Gebiet der Archäologie entdeckte er als erster die wahre Bestimmung des Tempels von Aegina, ein Fund, der erst in diesen letzten Jahren von den Fachkreisen gewürdigt worden ist.

Da seine dichterischen Schöpfungen ihm nicht die Mittel zur Erhaltung der Familie lieferten, glaubte er jetzt eine Zeitlang ganz zur Historie übergehen zu sollen, denn dass die unzünftige Wissenschaft ihren Mann noch weniger nährt als die Poesie, wusste er bei seiner Welt- und Geschäftsunkenntnis nicht. Er griff nach einem vaterländischen Stoff, dessen Szenerie ihn umgab, nach Studien aus der Zeit der französischen Invasion von 1688, wofür er in Esslingen, das unter den Greueln der Melacszeit mit am meisten gelitten hatte, reiches Material fand. Doch das Bedürfnis nach einer künstlerischen Darstellung überlieferter historischer Ereignisse, auf das er zählte, war nirgends vorhanden, und er fand für diese Arbeiten erst recht keine Teilnahme. Mit Mühe brachte er sie nach vielen Fehlversuchen im Morgenblatt unter. Es war ein Zug, der durch sein ganzes Leben ging, dass jedesmal, wenn er für den Broterwerb schaffen wollte, der Ertrag noch am allerdürftigsten ausfiel.

Übrigens war ihm die mit den freundlichsten Illusionen begonnene Arbeit nicht einmal nach 265 Wunsch gelungen: er selber klagte gegen Kausler, dass er zu tief in das Gestrüppe des Stoffes geraten sei. Hier zeigt sich zum erstenmal in seinem Schaffen die deutliche Spur der Erschöpfung, die die Folge einer entkräftenden Lebensweise war. An vielen seiner Entwürfe aus jener Zeit erkennt man, wie die Übersicht des Stoffs dem ermüdeten Hirn zu fehlen begann, während es noch eine Fülle von Einzelgestaltung hervorbrachte. Schon bei dem liegengelassenen »Heiligen Florian« hatte er sich in ein Wirrsal von Nebendingen verstrickt, die den Gang der Erzählung aufhielten; das gleiche sollte ihm in späteren Jahren beim Versuch einer Fortsetzung der »beiden Tubus« abermals begegnen. Die anmutigen, echt epischen Mäander, die er immer liebte und die ihn sonst so sicher ans Ziel führten, hier wurden sie zu Abwegen, wo er sich selbst nicht mehr zurecht fand.

Und doch raffte sich gerade zu dieser Zeit der zu Tode misshandelte Dichtergenius, als er mit einem seiner Natur verwandten Stoffe zusammentraf, noch einmal auf zu einem mächtigen Fluge ins Land der Poesie. Eine Redaktion hatte ihn um einen poetischen Beitrag angegangen und ihm dazu das Motiv von dem im Rabenneste ausgebrüteten Adlerjungen geliefert. Wie der Gegenstand ihn ergriff und unter seinen Händen zu einem Bilde der Erdenlaufbahn des Genius emporwuchs, davon kann jeder Leser des »Fremdlings« sich überzeugen. Dass ihm auch sein eigenes Schicksal dabei vorschwebte, ist klar: diese 266 Symbolik lag ja schon im Stoffe, und er hätte ihr gar nicht ausweichen können; auch mögen ihm bei dem Strafsermon des Oberkorax und der öden Lebensklugheit des Rabenfräuleins eigene Jugendeindrücke vorgeschwebt haben. Aber es war damals doch ein gröbliches Missverstehen von seiten der Freunde, dass sie meinten, in diesem Gedicht den Ausdruck der Verbitterung wegen persönlich erlittener Kränkungen finden zu müssen; vielmehr lag ja schon in der Allgültigkeit des Symbols vom Lose der Grossen die innere Versöhnung. Noch mehr lag sie in der grandiosen Schlussapotheose, die zugleich des Dichters eigene Laufbahn grossartig abschloss. Wie der aus der Rabengemeinschaft Ausgestossene in dem vorüberschiessenden Königsadler seine eigene Gestalt wiederfindet und endlich jubelnd sich selbst erkennt, dann der Sturm im Hochgebirge und das Gemälde der Alpennacht mit dem nachfolgenden Sonnenaufgang, endlich des Adlers letztes Verschweben im Blau: es war der höchste lyrische Flug, der dem Dichter selber noch gestattet war, ehe er mit gebrochenen Flügeln niedersank. In diesem Liede hat er seine poetische Kraft ausgehaucht; dass er von da an fast ganz verstummte, gereicht seinem Gesamtbild nicht zum Schaden.

In einer Rebenlaube zu Oberesslingen wurde das Gedicht geschrieben. Ich kann noch die majestätische Gestalt des Dichters vor mir sehen, wie er mit glänzenden Augen den schmalen Wiesenweg neben der Gartenmauer auf und 267 nieder schritt und dabei wie im Traum zuweilen mit einem langen Stecken die vom Wind herabgerissenen Ranken der wilden Rebe an der Stakete befestigte, da sie seinen Ordnungssinn störten; wir Kinder mussten unsere wilden Spiele damals in einen andern Teil des Gartens verlegen.

Es war am Schluss des Schillerjahres 1859, dass der »Fremdling« entstand, und wohl mögen die Eindrücke des Festjubels, der von weitem in seine stille Klause drang, durch ihren Gegensatz mit dem Erdenlose des Gefeierten auf die Dichtung mit eingewirkt haben. Auch bei diesem Feste sollte er es noch einmal an eigener Person erfahren, was die Nation für ihre lebenden Dichter übrig hatte. Die Francksche Buchhandlung hatte eine Festausgabe von »Schillers Heimatjahren« veranstaltet, die übrigens nur eine Titelauflage war und dem Verfasser nichts eintrug. Diese buchhändlerische Spekulation stand, wie man denken musste, unter den günstigsten Aspekten, denn die Schiller-Publikationen lagen zu jener Zeit noch in der Wiege, und die »Heimatjahre«, die ja ganz auf Quellenstudium beruhen, waren so ziemlich das einzige Werk, aus dem Schillers Landsleute bei der Jahrhundertfeier seiner Geburt sich mit Schillers Jugend vertraut machen konnten. Vergebens, auch diese Ausgabe – die Festkrebsausgabe, wie ihr Autor sie erbittert nannte, – fiel gänzlich ins Wasser; das Publikum wollte seine Begeisterung gratis beziehen. Was Wunder, dass Hermann Kurz 268 damals den ganzen Schillerkultus für Heuchelei erklärte und jede Beteiligung am Feste ablehnte.

Sein Leben war nur eine Kette von Kampf und Mühsal gewesen. Jetzt begann das Schlimmste, das Vergessenwerden. Wie lange graue Fäden spann sich's um ihn, die allmählich unzerreisslich wurden. Die Werke, die er mit seinem Herzblut genährt und mit seiner feinen Künstlerhand gebildet hatte, lagen verschollen, wie in einen tiefen Brunnen versunken. Niemand erhob die Stimme für ihn. Wenn er je noch von einer literarischen Zeitschrift zu Beiträgen aufgefordert wurde, so war es ein Ereignis. Selbst die alles verschlingenden Anthologien vergassen ihn. Halb der Vergangenheit, halb der Zukunft gehörig, hatte er keine Gegenwart mehr. Und der Menschenumgang, wenn er ihn überhaupt noch pflegen musste, wurde ihm zur Qual. Auch sein Briefwechsel, sonst mit Feuer betrieben, flaute ab; was hatte er den Freunden noch zu sagen?

Im Spätherbst 1859 schrieb er an Kausler:

– – »Auch meine politischen Illusionen sind zu Ende. Da steckt man sich hinter den alten Kaiser, wie man sich hinter Schiller steckt. Genug davon. Ich habe nach und nach das Mittel gefunden, auch ohne Glauben zu arbeiten. Lasst mir die Einsamkeit unbeschrien, sie ist ein gutes Kraut. Ich fühlte mich neulich zu Stuttgart in der Gesellschaft weit einsamer als hier.«

Die Öde von Oberesslingen spann ihn immer tiefer ein. Wohl hatte er noch sorgende Liebe 269 und Treue um sich, aber niemand, der auf sein Künstlertum erfrischend wirkte, der ihn zu neuer Tatenlust, zu Hoffen und Glauben wecken konnte. Und die Originale unsres Oberesslinger Verkehrs, die für uns Kinder so anregend waren, mochten ihn zuweilen wie ein Gestrüpp des Unsinns überwuchern. Sich ohne eine Hand von aussen diesen Verhältnissen zu entwinden und anderswo von vorne zu beginnen, war eine Unmöglichkeit: der tägliche Bedarf einer Schar von Kindern gestattete keine Geld und Zeit erfordernden Versuche mehr.

Ein neidischer Dämon schien ihm auch die kleinste Erfrischung zu missgönnen. Ich erinnere mich noch eines Herbsttages, wo er in dem leichten Röckchen, das er immer trug, zu Fusse auszog, um Rudolf Kausler in Klein-Eislingen zu überraschen. Meine Mutter hatte nicht geruht, bis er sich zu dem Ausflug entschloss. Aber als er fort war, befiel sie plötzlich eine heftige Unruhe und das unabweisliche Gefühl, dass ihm etwas zugestossen sei. Sie schickte ihm unser Kindermädchen Christine nach, das ihn in der Nähe von Plochingen bei schneidender Kälte ganz verkrümmt und hilflos auf einem Steinhaufen an der Landstrasse sitzend fand und mit grosser Aufopferung den schweren Mann, der sich auf sie stützen musste, bei sinkender Nacht wieder nach Hause brachte. Dieses Ereignis, das in mein siebentes Lebensjahr fiel, steht mir noch in deutlicher Erinnerung. Er selbst berichtete darüber 270 in seiner humoristischen Art an Kausler, dass er unterwegs durch einen rheumatischen Anfall von wahrhaft grandiosem Auftreten beinahe zum Ludwig Tieck zusammengezogen worden sei.

Die Oberesslinger Jahre sind die trübsten seines Lebens gewesen. Dennoch war er auch damals kein Verbitterter und sollte es niemals werden. Resignation war es wohl, was ihn trieb, sich in so langem tiefem Schweigen von der Welt abzuwenden, aber keine Verbitterung. Nie entfuhr ihm ein herbes Wort gegen die Glücklicheren und Verdienstloseren. Er musste nach langem schwerem Ringen einsehen, dass seine Zeit ihn nicht trug. Er grollte ihr nicht – vorübergehende Stimmungen ausgenommen – er verwünschte sie nicht, er zog sich schweigend von ihr zurück und lebte da, wo es keine Zeit gibt, unter den Grossen, die alle Zeitgenossen sind. Wäre er verbittert gewesen, so hätte man seine Stimme vernommen, denn die Menschenhasser machen immer Karriere. Dass ich, die ein so frühreifes und feinhöriges Kind war, die Tragödie seines Lebens fast nur historisch und wenig aus persönlichen Eindrücken kenne, zeigt, wie er den kristallnen Spiegel seiner Seele von jeder Trübung rein zu halten wusste.

Auch war er ja ein viel zu liebender Vater, um nicht unser freudiges Wachstum für einen Ausgleich des Schicksals hinzunehmen, so wenig er sich fähig fühlte, einen bestimmenden Einfluss darauf zu üben. Er hatte uns nichts geben können als sein Blut, denn seine Zeit und seine Kräfte 271 hatte er der Allgemeinheit geopfert, aber so wild und gesetzlos er uns aufschiessen sah, er zweifelte nicht, dass dieses Blut ein jedes von uns den rechten Weg durchs Leben führen würde. Nur dass ihn sein reizbarer Zustand auch um die Freuden des Familienlebens betrog. Er war zu spät Vater geworden und blieb darum inmitten der Seinigen ein Einsiedler und Junggeselle. Sobald er sich nur auf einen Tag von Frau und Kindern entfernte, befiel ihn quälendes Heimweh, und dennoch litt er vom Zusammenleben. Ich erinnere mich, so weit ich zurückdenken mag, nicht einer einzigen Mahlzeit, die er mit uns gemeinsam eingenommen hätte. Freilich wäre die brodelnde Unruhe unserer Häuslichkeit auch für stärkere Nerven zuviel gewesen. So fand zwischen ihm und der heranblühenden Jugend wenig Wechselwirkung statt. Unsere geistige Welt dankten wir weit mehr der Mutter, und sie trug auch ein von der seinigen etwas verschiedenes Gepräge. Er verleugnete in der Kunst und im Leben den alten Theologen nicht, seine Bildersprache bezog sich auf die Bibel. Durch den »Bilderatlas« hatte er zwar den Anstoss zu unsrer Bekanntschaft mit der griechischen Mythe gegeben, allein er selber war ihr nicht so unmittelbar mit allen Fasern verwachsen, wie es bei uns der Fall war; viel näher lag ihm die Welt der Edda, weshalb wir frühe auch diese in unsern Vorstellungskreis aufnahmen. Unvergesslich ist mir, wie er einmal, als ich beim Fallen das Knie verstossen hatte, 272 mir mit tiefer raunender Stimme als Heilsegen den Merseburger Zauberspruch vorsagte: »Phol ende Wôdan fuorun zi holza,« der durch meine Freude an dem »Balderes Volon«, das ich leibhaft als weisses Füllen vor mir sah, seine Trostwirkung vollkommen tat.

Während jener dunkelsten Zeit fand auch der Genius der Freundschaft, der von je die Ungerechtigkeiten des Schicksals an ihm gut zu machen gestrebt hatte, von neuem den Weg in sein Leben. Paul Heyse, damals noch in seiner apollohaften Jünglingsgestalt, schon vom frühen Ruhm umglänzt, suchte den Einsiedler in seiner stillen Klause auf. Er war der erste gewesen, der die »Erzählungen« öffentlich nach ihrem Werte anerkannt und damit in dem erfolglos ringenden Dichter den Glauben an ein endliches Verstandenwerden wieder erweckt hatte; – dass es ein Norddeutscher war, der für ihn die Stimme erhob, tat dem in seiner Heimat Totgeschwiegenen doppelt wohl. Ein Briefwechsel hatte sich darauf entsponnen, der bald zum innigsten Herzensbund führte. Paul Heyse hat selbst in seinem Vorwort zu den Gesammelten Werken meines Vaters das Entstehen und den Fortgang dieser seltenen Freundschaft geschildert, und ich darf mich füglich enthalten, seiner dem unmittelbaren Erleben entquollenen Darstellung noch aus zweiter Hand etwas hinzuzufügen.

Woran es meinem Vater so lange gefehlt hatte, das trat jetzt von auswärts in sein Dasein. 273 Gewiss, die alten Freunde, allen voran sein Rudolf Kausler, standen zu ihm wie je, und er vergass der ersten Liebe nie; aber selber alternd, resigniert, konnten sie ihm keine Erfrischung mehr bieten. Hier kam das Neue, eine junge Liebe – und die grossen Verschiedenheiten des Alters, des Stammes, der Individualität dienten nur dazu, die Anziehung zu erhöhen. Weit mehr als bloss das künstlerische Verständnis, das ihm so nottat, war ihm mit dieser Freundschaft zu teil geworden. Auch was wir Kinder ihm hätten geben sollen und nicht geben konnten, weil der Abstand der Jahre ein zu grosser war und er unser Heranreifen nicht mehr erlebte, das fand er in dem jüngeren, seinem Herzen so nahen Freund: das Wiederaufglänzen der Jugend und den Zusammenhang mit der Gegenwart. Es war jedesmal ein Trunk aus dem Jungbrunnen, wenn er, wie von jetzt an alljährlich geschah, ein paar Tage lang mit Heyse sein Schwabenland zu Fuss durchstreift hatte, denn es versteht sich, dass dieser nun vor allem seine Heimat kennen lernen musste. – Meine Mutter war die Dritte im Bunde, sie umfasste die neue Erscheinung mit dem ganzen Feuer ihrer Natur, sonnte sich in seinen Briefen wie in seinen Dichtungen, und die schönen Wandertage der beiden genoss sie aus ganzer Seele mit, indem sie zu Hause blieb. Nur selten kam der Gefeierte unter unser Dach, und wir wildes Heer wurden dann vorsichtigerweise in einiger Entfernung gehalten, denn es war mit unseren Umgangsformen, die nach einer 274 unbewohnten Insel schmeckten, nicht viel Ehre einzulegen. Eines Besuchs in unseren Tübinger Jahren erinnere ich mich, wo wir, noch immer stark insularisch und mit einigem Zagen elterlicherseits, dem berühmten Gaste vorgeführt wurden, dessen Erscheinen nicht nur für unser Haus ein festliches Ereignis war: halb Tübingen, besonders der weibliche Teil, schwärmte hernach für den glänzenden Fremdling (ein Preusse war dazumal in Schwaben noch als ein Fremdling angesehen). Nur unser vierjähriger Bälde, befremdet von dem norddeutschen Akzent des Gastes, meinte kopfschüttelnd, dieser könne nicht sprechen; ein Vorwurf, der dem wortgewandtesten unter den deutschen Dichtern wohl nur dieses eine Mal gemacht worden ist.

Nicht nur den Bann des Verkanntseins nahm Heyse von der Seele des Einsamen, er machte sich jetzt auch zu seinem Mentor in weltlichen Dingen. Denn alles Welt- und Geschäftswesen war meinem Vater lebenslange ein schlüpfriger Boden, auf dem er sich unsicher bewegte. Daran hatte wohl zum Teil die Poetennatur, gewiss aber in nicht minderem Grade Stammeseigentümlichkeit und Seminarerziehung schuld. Er selbst kannte diese Schwäche wohl; hatte er doch schon als junger Mann anlässlich seiner Simplizissimusstudien einmal an A. Keller in seiner launigen Weise geschrieben, er möchte sich selbst einen Titel beilegen, und da er seinem Namen nicht die drei englischen Buchstaben hinzufügen könne, die 275 ein ungelehrter Vetter für Eskimo genommen habe, so gedenke er sich künftig zu schreiben: H. Kurtz, Simpl.

Von Geld zu reden war ihm schon abscheulich, er verliess sich im geschäftlichen Verkehr auf den guten Willen und die Anständigkeit seines Gegenüber. Am stolzesten trat er auf, wenn es ihm am schlechtesten ging, und solche Situationen wurden oft genug von fremder Seite durchschaut und ausgenutzt. Die Freunde seiner ersten Zeit waren ihm wie in vielem anderen so auch hierin zu ähnlich; man pflegte vielleicht sogar in seinen früheren Kreisen die Unweltläufigkeit ein wenig als eine besondere nationale Form des Idealismus. Wie ganz anders hätte sein Leben sich gestaltet, wäre einer unter ihnen gewesen, der mit der hohen Kultur und dem warmen Freundeswillen auch den praktischen Weltsinn verbunden hätte, den Heyse als Sohn der Grossstadt von Hause aus besass. Von ihm erfuhr jetzt mein Vater zum erstenmal, welche Ansprüche der Schriftsteller zu machen und wie er seine Erzeugnisse richtig zu verwerten habe. Wie ein im dunklen Walde Verirrter, kindlich froh und dankbar ergriff der Vielgeprüfte die Hand des jungen Freundes, der ihm den Weg aus dem Dornengestrüpp zeigte und sich dafür oft im Scherz seinen Vater nannte.

Der Briefwechsel der beiden Freunde, der das letzte Jahrzehnt meines Vaters umfasst, liegt von der Hand des Überlebenden geordnet in zwei starken Mappen da und wird gewiss früher oder 276 später vor die Öffentlichkeit treten. In ihm hat Hermann Kurz die Summe seiner späteren Existenz niedergelegt, denn was ihn geistig und gemütlich beschäftigte, das teilte der Ungesprächige, aber innerlich Sprudelnde dem Freunde brieflich mit. Nicht geringeres hat Heyse gegeben, ja diese Briefe gehören vielleicht zum schönsten was aus seiner Feder gekommen ist und werden seinem Bilde einmal nicht unwesentliche Züge hinzufügen. Die späteren Jahrgänge sind mehr literarhistorisch wertvoll, denn sie sind fast ganz mit der Redaktion des »Novellenschatzes« ausgefüllt und bilden eine fortlaufende kritische Heerschau über die neuere erzählende Literatur vom höchsten künstlerischen Standpunkt aus. Desto menschlich-interessanter sind die früheren Jahre, wo es sich vor allem um das Persönliche handelt, um die gegenseitige Förderung der eigenen Produktion und um den Ausgleich der inneren Gegensätze. Mit dem Enthusiasmus der Jugend und mit der reifen Klarheit, die ihn so früh auszeichnete, gab Heyse dem Verkannten, was die Mitwelt ihm verständnislos vorenthielt, und suchte ihn zu neuen Taten zu spornen, ja ihm Stoffe die seiner Natur entsprachen förmlich aufzudrängen. Das alles kam nur leider um zehn Jahre zu spät. Dass mein Vater in jener schwersten Zeit wieder Lebensfreudigkeit fasste, war vor allem Heyses Werk, aber das Verhängnis, das sich schon leise vorbereitete, konnte auch er nicht mehr aufhalten. Nach dem Tode des 277 Freundes tat er dann noch das letzte, was der Treue zu tun übrig blieb: er sammelte die zerstreuten Werke des Dichters und legte die Grundzüge seines persönlichen Bildes für die Nachwelt fest. In einem Sonett hat er sie später noch einmal knapp zusammengefasst:

Wann hat ein Kämpfer lachender gestritten?
Wann hat ein Starker Süsseres gespendet?

Zwei unvergessliche Zeilen aus denen meines Vaters Angesicht leibhaftig blickt!

Der Verkauf des Hopfschen Gutes im Sommer 1862 machte unsrem Oberesslinger Idyll ein Ende. Aber von einer Rückkehr in grössere Verhältnisse war keine Rede, es fragte sich nur, in welches der kleinen schwäbischen Nester man sich jetzt vergraben würde, denn das Gemüt des Dichters schien die Berührung mit der Welt nicht mehr ertragen zu können. Die Wahl fiel auf Kirchheim, ein am Fusse der Teck gelegenes altertümliches Städtchen, das mit ganz besonderen stimmungsvollen Reizen in meiner Erinnerung lebt. Die Gegend war bedeutender als unsere seitherige Umgebung; mein Vater hatte ihr aus der Zeit, da er in Weilheim unter Teck den Vorstudien zu den Heimatjahren oblag, eine Vorliebe bewahrt. Von der anmutigen Kette der Schwäbischen Alb umsäumt und von zwei Flüsschen, der Lauter und der Lindach, durchschnitten, besass sie hinlängliche landschaftliche Abwechslung um die von der Einförmigkeit der Tage erdrückte Dichterphantasie wieder zu beleben, wovon sich bald die 278 erfreulichen Folgen zeigten. Er selbst fühlte sich zufrieden. Am 7. August 1862 schrieb er darüber an einen Freund:

»Wir sind seit acht Tagen hier und ›soweit‹ gern hier. Gestern nämlich war der grosse Tag (ihr Geburtstag), an welchem meiner Frau ein Licht darüber aufgegangen ist, dass wir, so wie wir sind, nirgends urbium hintaugen würden, dass also Kirchheim für uns gerade so gut ist wie irgendein anderes Nest. Damit ist natürlich nur das Innere gemeint, denn mit dem Auswärtigen ist es fürtrefflich bestellt. Beweis: wir sind mit dem Einräumen noch weit zurück, weil wir viel in der Gegend herumgehen, daher denn auch kein Tag mit Ächzen und Krächzen beschlossen wird. Mir ist das ein ganz neues Leben. Den Tag über läuft die Arbeit nach Wunsch, dann folgt der behaglichste Feierabend. Dass die Berge wohl tun, versteht sich von selbst, aber auch die Menschen draussen, sowie man nur einen Schritt vor die Stadt tut, haben's meiner Frau ordentlich angetan. Mir ist der Schlag ja von alters her bekannt, drum bin ich so gern in die Gegend gezogen.«

Jeden freien Tag, den er sich gönnte, benutzte er zu einem Besuch seiner alten Berge, die er nicht um die Jungfrau und ihre Gesellen hingegeben hätte. Uns Kindern benannte er von der unmittelbar hinter dem Städtchen ansteigenden »Plochinger Staige« aus alle die ragenden Häupter vom Hohenstaufen bis zum Hohenzollern: die 279 Teck mit ihrer Mauerkrone, den schlanken Neuffen, den Breitenstein, Rauber und Sattelbogen, die Bassgeige und wie sie alle hiessen; wenn er aber auf einen besonders graziösen Kegel deutend sagte: »Kinder, dies ist die Achalm!« so legte er einen geheimnisvoll-ehrerbietigen Ton in die Worte, wie ein Sakristan, der den Besuchern das Allerheiligste enthüllt. Denn alles was zu seiner engeren Heimat gehörte, blieb für ihn von magischem Licht umflossen. Auch die berühmte Wagenspur der Sibylle zeigte er uns im Grün der Wiesen und Felder. Die gute Fina aber erstieg mit uns die nahen Berge selbst, liess uns durch die Ruinen der Teck und des Neuffen klettern und in den halbverschütteten Eingang des Sibyllenlochs kriechen. – Wie aus fernen Träumen dämmert mir das Bild des Städtchens, das ich seitdem nie wieder gesehen habe: die alte Kirche, an deren Aussenmauer die Gebeine Konrad Wiederholds, des tapfern Verteidigers von Hohentwiel ruhen, ein festes Schloss mit hohem Wallgarten und Graben im Stadtinnern – dass die Bäume dieses Gartens ihre Wurzeln hoch über meinem Haupte hatten, erfüllte mich damals mit staunender Bewunderung – ferner ein Frauenstift von klösterlicher Bauart, wo meine Mutter einmal Besuch machte und mich samt dem allgefürchteten Butzel mitnahm, der in einem unbewachten Augenblick nichts eiligeres zu tun hatte, als im Hof den Schweinestall aufzuschliessen und die grunzenden Bewohner mit wildem Halloh 280 durch den langen engen Gang des Stiftes zu jagen, dass die entsetzten Stiftsdamen sich schreiend in ihren Zimmern einriegelten.

Das Haus, das wir zuerst bewohnten, lag in einer engen Gasse, deren Lauf die Lauter als ein trüber schmutziger Bach begleitete. Am Tage des Einzugs, während der Möbelwagen abgeladen wurde, sass Alfred mit einer Brotrinde in der Hand unter der Haustür, als ein Mann aus dem Volke stehen blieb und, um auf dem kürzesten Weg über die neuen Mitbürger ins klare zu kommen, den Kleinen ohne weiteres fragte: »He du, seid ihr reich?« »Nein, da täten wir uns schämen,« antwortete dieser trotzig, auf beiden Backen kauend; so wenig hatte er je Anlass gefunden, die Lage der besser Gestellten zu beneiden. Zwar sollte auch in Kirchheim das ökonomische Missgeschick noch fortdauern, doch war man mittlerweile durch das Eingreifen der im Schillerjahr gegründeten Schillerstiftung wenigstens über die schlimmste Zeit hinweggekommen – für den Dichter lag etwas versöhnendes darin, dass es sein Schiller war, der dem Ringenden endlich die Hand zur Hilfe gereicht hatte.

In der dumpfen Gasse war unseres Bleibens nicht lange; schon im Frühjahr 1863 zogen wir in eine freundliche Gartenwohnung, die ausserhalb der Stadt an der nach der Teck führenden Dettingerstrasse lag. Die Lauter, hier noch klar und rein, schnitt den langgestreckten, blumenreichen Garten in zwei Hälften, 281 die durch einen schmalen Steg verbunden waren; wir plätscherten, sobald die Sonne über die eisigen Lüfte der Alb einige Macht erhielt, den ganzen Tag im Wasser herum. Lustiger Vogelgesang durchschmetterte den Garten, ein hoher Birnbaum streckte seine Zweige bis in Papas Arbeitszimmer, und zu allen Fenstern blickte die mauergekrönte Teck herein.

Wir hatten nun wieder die ländliche Freiheit, ohne die es für uns kein Leben gab, aber der schöne Griechentraum war seit unserer Ankunft in Kirchheim zu Ende. Edgar besuchte die Lateinschule, wo er sich so auszeichnete, dass er gleich zwei Klassen überspringen konnte; sein Fleiss und ein ihm eigener zurückhaltender Anstand gaben ihm von vornherein bei Lehrern und Mitschülern eine ganz besondere Stellung. Auch Alfred sass auf der Schulbank und hatte zunächst viele Not seine Aufmerksamkeit konzentrieren zu lernen. Da von einem Schulzwang für Mädchen damals noch keine Rede war, bekam ich die Brosamen, die von des älteren Bruders Tische abfielen, denn an seinen nach Hause gebrachten Heften stärkte die Mutter ihr Latein und beeilte sich dann, mir das neuerworbene mitzuteilen. Die beiden Jüngsten waren noch im glücklichen Alter, wo man nur die Aufgabe hat zu wachsen und stark zu werden. Mein Vater, dessen Nerven ruhten, ging mehr als sonst auf unser Leben ein. Mich nahm er besonders gerne zu Spaziergängen mit. Lebhaft erinnere ich mich an einen 282 Oktoberabend, wo wir zusammen am Rand eines hochliegenden, schon vom Herbste berührten Waldes hinschritten, während zu unsrer Linken eine tiefe Talmulde sich öffnete, über die der Blick frei hinweg nach den gegenüberliegenden Bergen ging. Plötzlich flammte von einer der Höhen ein mächtiges Feuer auf, dem bald das nächste Berghaupt mit einem andern Flammenzeichen Antwort gab, dann folgte ein drittes, und so ging es weiter die ganze Albkette vom Staufen bis zum Zollern entlang – ein wunderbares, nie gesehenes Schauspiel. Mein Vater weidete sich an meiner Überraschung, und da ich nicht wusste, was diese Höhenfeuer bedeuteten, erzählte er mir von der Leipziger Völkerschlacht, deren fünfzigster Jahrestag an diesem Abend gefeiert wurde. Ich hatte bis dahin von der Napoleonischen Zeit nur durch die Brunnowschen Erinnerungen gewusst, und der völlig veränderte historische Standpunkt, auf den ich plötzlich gestellt wurde, blieb mir mit Feuerschrift in die Seele geschrieben.

In Kirchheim kehrte der Dichter von seinen historischen Ausflügen auf das ihm natürlichere Gebiet der Erfindung zurück, wo ihm noch ein kurzer Nachsommer blühte. Damals entstand unter anderm »Sankt Urbans Krug«, ein novellistisches Meisterstück, das sich an Frische des Tons, an Humor und sicherer Knappheit der Darstellung getrost neben die Werke seiner besten Zeit stellen kann. Es erschien ebenso wie eine andere in Kirchheim geschriebene Erzählung in 283 einem Münchener Blatt; von der letzteren konnte nachmals kein Exemplar mehr aufgetrieben werden, weshalb ich sie nie zu Gesicht bekommen habe und nicht einmal den Titel kenne. Eine kleine historische Skizze »Die Schenke am Rhein«, die schon in Oberesslingen geschrieben war, wurde um jene Zeit im Beobachter gedruckt. Zugleich beschäftigte ihn die gänzliche Umarbeitung des »Tristan« im Sinne seines freien Schlusses. Ein nicht unbeträchtliches Stück des Anfangs ist damals auch wirklich zustande gekommen, wovon ein Gesang »Rivalin und Blancheflur« in Seegers deutschem Dichteralbum aus Schwaben erschien. Der Rest des Manuskriptes soll bei Seegers unerwartetem Tode unter dessen Papieren verschwunden sein. Kleinere Fragmente haben sich jedoch neuerdings beim Durchsuchen alter Mappen meines Vaters gefunden. Den Anfang des Gesanges »Tristan das Kind«, der ein Gedicht für sich bildet und auch seinerzeit als solches in einem, wenn ich nicht irre, von Freiligrat herausgegebenen Dichteralbum gedruckt worden ist, gebe ich als charakteristische Probe seiner Behandlung des Stoffes diesen Blättern bei. Ähnlich zeigt sich auch bei seinem Schluss des »Tristan« das Bedürfnis, den geschlossenen Gang des Epos je und je durch eine solche lyrische Abschweifung zu unterbrechen, die das Einzelgeschick dem allgemeinen Menschenlose verknüpft.

Es war vor allem ein äusserer Anstoss, der viel zu der erneuten Produktivität beitrug. Im 284 April 1863, gerade während unsres Umzugs in die neue Wohnung, bei dem die aus Oberesslingen herbeigeeilte Tante Bertha half, hatte sich mein Vater, einer dringenden Einladung Heyses folgend, nach München begeben, um dort den Boden zu erforschen. Es war nämlich mit einem Male nichts geringeres als das Projekt unserer Übersiedlung in die bayrische Residenz aufgetaucht. Dort verbrachte Hermann Kurz nach seinem eignen Zeugnis »goldene Wochen«, teils unter Heyses Dach, der damals Witwer war, teils bei seinem alten Freunde, dem Maler Bernhard Fries. Schon die Reise, die längste, die er je gemacht hat, war für ihn, der jedes Landschaftsbild innerlich verarbeitete, ein Erlebnis. Ein noch grösseres war seine Rückkehr ins gesellschaftliche Leben. Der Einsiedler, den sie in seiner Heimat als Menschenfeind verschrien, liess die neuen Eindrücke mit der Begeisterungsfähigkeit eines Jünglings auf sich wirken. Die Briefe, die er damals nach Hause schrieb, heben sich von seiner übrigen Korrespondenz ab wie ein einzelner sonnbeschienener Fleck inmitten einer gewitterdunklen Landschaft. Es war ja auch der erste Lichtblick, der nach langen langen Jahren in sein gequältes Dasein fiel, und gleich begannen die versiegten Quellen seines Inneren wieder zu sprudeln. Neben dem Freunde, den er seinen »Einzigsten« nannte, schloss er sich vor allen an seinen Landsmann Wilhelm Hertz, den Dichter und Gelehrten, an, dessen Wesen ihm wohl am nächsten stand und 285 mit dem er sich auf dem ganzen Feld seiner Interessen berührte, ferner an den »grundehrlichen« Melchior Mayr und an Julius Braun, den originellen und geistreichen Egyptologen, der ihm aus den Karlsruher Tagen ins Herz gewachsen war und in dessen jungem Hausstand er jetzt heitere Stunden verbrachte. In Heyses Schwiegermutter, Frau Clara Kugler, verehrte er »ein wahres Trostexempel, wie schön und liebenswürdig Frauen im Alter sein können, wenn sie eine geistige Jugend gehabt haben«. Mit dem feinen Catullübersetzer Theodor Heyse, dem Oheim des Dichters, der, wie mein Vater schrieb, »Berlin und Rom vereinigte«, wurden unterweilen Catullsitzungen abgehalten. Auch die Musik trat wieder an ihn heran: Peter Cornelius, der Jüngere, suchte ihm einen Komponisten für den auf einem Byronschen Sujet beruhenden Operntext »Die Insel«Dieser Text, der von grossem lyrischem Schmelz gewesen sein soll, ist noch zu meines Vaters Lebzeiten spurlos verloren gegangen und R. v. Hornstein brachte ihm seine Komposition der »Klage des Abenceragen«.

Er sah nun, dass er doch kein Verschollener war, und dieser ganze Kreis angeregter Menschen versetzte ihn nach der langen Entbehrung in einen wahren Rausch. Die literarischen Anknüpfungen, die sich dem Vereinsamten boten, gaben Aussicht auf eine befriedigende Wirksamkeit, der auch ihre goldenen Früchte nicht fehlen würden. Sein sanguinisches Temperament schwoll über und 286 liess ihn die Zukunft im glänzendsten Lichte sehen. Von unsrem Umzug nach München sprach er schon als von einer abgemachten Sache – nur die Impffrage schuf ihm noch Bedenken, denn als ein leidenschaftlicher Anhänger des damals sehr bekannten Impfgegners Nittinger hatte er es durch jahrelangen Kampf mit den württembergischen Behörden dahin gebracht, seine Kinder vor der Pockenimpfung zu bewahren, und er fürchtete nun, in Bayern geringerer Toleranz zu begegnen als in der Heimat. (Es mag hier der Merkwürdigkeit halber erwähnt werden, dass später mein Bruder Edgar in seinem ärztlichen Beruf den Kampf, den der Vater als Laie geführt hatte, mit dem Rüstzeug der Wissenschaft fortsetzte.) – Ein Kalender, dessen Herausgabe gemeinsam mit Paul Heyse geplant war, sollte die pekuniären Mittel zu unserer Übersiedlung liefern; der Verleger sowie die literarischen und künstlerischen Mitarbeiter waren schon gewonnen, und der eigene Beitrag für den ersten Jahrgang, ein Schwank in Versen nach Hans Sachsscher Manier, reifte auf langen Gängen ins Freie der Vollendung entgegen. Auch für seine wissenschaftlichen Arbeiten, die ihm neben den poetischen stets am Herzen lagen, eröffnete ihm der Kalender ein aussichtsvolles Absatzgebiet. Das Unternehmen sah so wohlgegründet aus, dass gar kein Zweifel mehr aufkommen konnte, meine Mutter teilte des Vaters Jubel, und es gab in jenen Wochen landauf, landab keine zukunftsreichere Familie als die 287 unsrige. Nur die schönen Sommermonate wollte er noch an der geliebten Teck verbringen – das sollte der letzte Liebeszoll an die Heimat sein – und dann hinaus in eine grössere freiere Welt, deren Vorteile vor allem dem jungen Geschlecht zugute kommen sollten. Und da er schon im Zuge war, baute er dem schönen Luftschloss noch einen weiteren ganz phantastisch-kühnen Flügel an: er wollte alle, die uns in der Heimat Liebe und Treue erwiesen hatten, in sein neues Leben nachziehen und, den alten mit dem neuen Freundeskreis verschmelzend, eine Kolonie von Auserwählten begründen. Dass diese auf so ganz verschiedenen Voraussetzungen fussenden Menschen sich alle gegenseitig verstehen und mit gleichem Enthusiasmus umfassen würden, daran zweifelte sein Jünglingsgemüt keinen Augenblick. Aber als der Plan der Übersiedlung reifen sollte, da sagte das Schicksal nein: der erste Jahrgang des Kalenders kam nicht zustande, weil der Illustrator seine Arbeit nicht ablieferte, die glückverheissende Verbindung löste sich auf, und das ganze Unternehmen, an dem die Gestaltung unserer Zukunft hing, fiel ins Wasser. Die Winternebel zogen heran und hüllten die alten Berge ein, und wir lagen noch immer, wie mein Vater sich ausdrückte, »an unserer Polarstation vor Anker, bis etwa eine Wasserstrasse frei und die Durchfahrt für irgend eine Atlantis sichtbar würde.« 288

 


 


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