Isolde Kurz
Hermann Kurz
Isolde Kurz

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Das Brunnowsche Haus

Die Familie meines Grossvaters von mütterlicher Seite, des Freiherrn Anton August v. Brunnow, stammt aus Kurland und hatte sich von da nach Russland verbreitet. Sein Vater Siegfried jedoch wanderte nach Deutschland aus und liess sich in Sachsen-Meiningen nieder; ein Bruder desselben ging nach Frankreich und änderte seinen Namen in de Bruneau; ein andrer lebte in Petersburg in diplomatischer Stellung. So wurde die Familie Brunnow weit auseinandergesprengt. Mein Grossvater, der noch zwei Brüder besass, wurde in der Kadettenanstalt zu Berlin erzogen und kam als junger Leutnant nach Württemberg, wo ihn König Friedrich seines alten Adels wegen in die Garde einreihte. Er war ein grosser Bewunderer Napoleons und machte mit Freuden den Feldzug gegen Russland, das er nicht liebte, mit. Lebenslang war es ihm eine heilige Erinnerung, dass er einmal Aug in Auge vor dem grossen Kaiser gestanden hatte, als dieser ihm persönlich den Befehl gab, ein russisches Dörflein zu besetzen. Nach erfolgter Einnahme trat er in das Haus des Popen und kam gerade dazu, wie seine eigenen Leute den Popen, weil er nicht mit dem 131 verlangten Geld, das er vielleicht gar nicht besass, herausrücken wollte, auf eine Bank gebunden hatten und Miene machten, Stroh darunter anzuzünden. Er hieb mit dem Degen auf die schnapstrunkenen Soldaten ein und befreite das unglückliche Opfer ihrer Brutalität. Im Verlauf des Feldzugs geriet er in russische Gefangenschaft und wurde samt seinem Diener nach Sibirien verschleppt. Beim Auswechseln der Gefangenen wurden die beiden vergessen und hatten eine ziemliche Zeit dort zu verbringen. Da aber die Gouverneurstochter an dem jungen Franzosen Gefallen fand – der Gefangene galt dort als Franzose – fiel die Gefangenschaft nicht allzu hart aus. Er konnte frei im Hause des Gouverneurs verkehren und lernte von seiner Dame das Russische. Sie war schön, aber wenig von europäischer Kultur beleckt, und in ihrem Haar soll zuweilen auch noch andres zum Vorschein gekommen sein als die Diamanten, mit denen sie am hellen Tag prunkte. Sie hielt ihren Gefangenen für einen grossen Künstler, weil er sie mit dem Storchschnabel abkonterfeit hatte, und wollte nun auch von ihm gemalt sein. Er versprach, ihr Bild auf Goldgrund in den schönsten Farben anzufertigen, nur müsse er die Farben in der nächsten, ziemlich weit entlegenen Stadt holen. Sie verschaffte ihm zu diesem Zweck einen Pass von ihrem Vater, er reiste ab, indem er seinen Diener mitnahm, und beide kamen nicht wieder. In Bauernkleidern, die sie sich statt der Farben kauften, 132 legten sie die ungeheure Strecke bis zur preussischen Grenze teils in irgendeiner elenden Telega, wo sie gelegentlich aufsassen, teils auf einem geliehenen Klepper, meist aber zu Fusse zurück. Auch eine Ziege führten sie mit und waren durch die Milch ihrer Begleiterin besser genährt als auf ihren militärischen Märschen in Russland, wo es vorkam, dass sie sich an »Wasserriebele« aus ganz schwarzem Mehl sättigen mussten, die mit Pulver gesalzen und mit Talg »geschmälzt« waren. So kamen die beiden Wanderer nach Württemberg zurück; der junge Offizier avancierte sogleich und erhielt Auszeichnungen aller Art, darunter einen hohen, geldtragenden Orden, später auch den Kammerherrnschlüssel. Jetzt heiratete er meine Grossmutter, ein Fräulein Wilhelmine v. Oetinger, die Nichte des allmächtigen Staatsministers, Grafen v. Dillen. Dieser Dillen hat in der Geschichte des Landes wie im Leben der Familie eine zu wichtige Rolle gespielt, um ihn hier mit Schweigen zu übergehen. Der Vielberufene, der sich ursprünglich Dillenius schrieb, studierte in Tübingen die Medizin, als König Friedrich bei einem Besuche daselbst den bildschönen, hochgewachsenen Studenten erblickte, ihn, wie es seiner Laune gefiel, aufgreifen liess und den Widerstrebenden mit sich nach Stuttgart nahm, wo er ihn erst in den Marstall, dann ins Militär steckte. Hier durchflog der junge Mann alle Chargen bis zum General; dann wurde er Staatsminister und der Mächtigste im Lande nach 133 dem König. Er soll ein kluger und tatkräftiger Mann gewesen sein wie sein Monarch; den Dank des Landes jedoch hat sich keiner von beiden erworben. Der König erhob seinen Günstling zum Baron und gleich darauf zum Grafen von Dillen, wobei er ihm die Dörfer und Schlösser von Dätzingen und Rübgarten zum Geschenk machte. Es heisst, die Dillenius, eine aus Belgien eingewanderte Hugenottenfamilie, seien in früheren Zeiten adlig gewesen und hätten erst in Württemberg den Adel abgelegt und, da alle Mitglieder dem Gelehrten- und Theologenstand angehörten, die lateinische Namensendung angenommen; der König habe somit nur ihren alten Adel aufgefrischt. Ich weiss nicht, wie es sich damit verhält; jedenfalls erkannte das Land diese Renovierung nicht an, denn der Volkswitz sang:

Der König ist kein Freund von jus,
Er liebt nur seinen Willen,
Drum macht er aus Dillenius
Den Herrn Baron von Dillen.

Dies war der Gewaltige, den das Land nur mit unterdrückter Empörung als das Geschöpf und Werkzeug der Despotenlaune nannte, der aber den Zauber einer bezwingenden persönlichen Liebenswürdigkeit besass, daher er in der Familie ebenso geliebt wie anderwärts gehasst und gefürchtet war. Nicht nur meine Grossmutter, die in seinen glänzenden Zirkeln aufwuchs, hing mit grösster Liebe und Verehrung an ihm, sondern auch meine nachmals so radikale Mutter 134 schwärmte in ihrer Jugend für diesen Grossonkel. Später freilich, als sie im Geschichtsunterricht durch ihren Lehrer erfuhr, welch verderbliche Rolle dieser Mann im Lande gespielt hatte, weinte sie bittere Tränen, und das Gefühl, dass sie etwas am Volke gutzumachen habe, wurde ein Hauptanstoss zu ihrer späteren ultrademokratischen Gesinnung.

Meine Grossmutter war die einzige Tochter des Oberstleutnants v. Oetinger; ein Bruder von ihr liess als junger Offizier auf der Beresinabrücke sein Leben. Ihr Vater hatte mit neunzehn Jahren die noch nicht fünfzehnjährige Schwester des Günstlings geheiratet, und das junge Pärchen, das noch wie Kinder zusammen tollte und schmollte, führte ein sehr lustiges Leben. Sie hielten sich für unerschöpflich reich, weil er der Erbe zweier von seiner Mutter verwalteter Rittergüter, Hollach und Archshofen, war, daher der noch unmündige Ehemann, den die eigene Mutter knapp hielt, um selber zu verschwenden, es nicht schwer fand, Gelder aufzunehmen. Als diese starb, waren die Güter zerronnen; der Sohn sah sich am Abgrund, und da des Königs Strenge gegen Schuldenmacher unerbittlich war und der Schwager ihm nicht zu Hilfe kam, gab er sich durch eine Kugel selbst den Tod – diese Kugel lag noch als düsteres Wahrzeichen in einer Familienschatulle, als ich ein Kind war. Die Witwe,Ihre Büste, von der Hand Danneckers, befindet sich in der Akademie der Künste zu Stuttgart. 135 eine pikante, feurige Erscheinung, deren Bild, von der Simanowitz gemalt, sich noch bis vor wenigen Jahren in unserm Hause befand, nahm nun ihrerseits von dem reichen, mächtigen Bruder keine Unterstützung an, sondern lebte von ihrer kleinen Pension in engen Verhältnissen und stickte Fahnen für die napoleonischen Regimenter. Als sie aber noch in jungen Jahren starb, setzte der Bruder ihr auf dem Ludwigsburger Friedhof ein kostbares Denkmal.

Ihre Tochter, die meine Grossmutter war, wurde bei diesem Onkel erzogen und entsagte auf seinen Befehl einer Jugendneigung, um meinen Grossvater zu heiraten, der in sehr geordneten Verhältnissen lebte und einiges Vermögen besass. Die Ehe fiel glücklich aus und wurde nur getrübt durch das Wegsterben der ganzen männlichen Nachkommenschaft. Von sechs Kindern blieb nur meine Mutter am Leben, die am 6. August 1826 zur Welt kam und Eva Maria getauft wurde. Ein jüngeres Schwesterchen, Ottilie, ein stilles, sanftes, ganz aufs Häusliche gerichtetes Kind, das völlige Widerspiel meiner Mutter, erreichte nur das elfte Lebensjahr.

Nachdem König Wilhelm die Garde als ein zu aristokratisches (oder zu kostspieliges?) Korps aufgehoben hatte, wurde mein Grossvater zur Infanterie versetzt und nahm nach verschiedenen Garnisonswechseln als Oberst seinen Abschied.

Man kann diesen Mann in Anbetracht seines Standes und der Stellung, die er bekleidete, ein 136 Original nennen. Er soll bei seinen Untergebenen im höchsten Grade beliebt gewesen sein, bei den Kameraden nur teilweise und ganz und gar nicht bei den Vorgesetzten, denen sein unbefangener Freimut schlecht behagte. Bei Hofe aber war er geradezu das enfant terrible, denn er sagte jedem, selbst dem despotischen Landesherrn, mit der gelassensten Miene die Wahrheit ins Gesicht. Für die äusseren Dinge hatte er gar kein Auge, eine Eigenschaft, die auch auf meine Mutter überging, wie diese denn überhaupt ganz nach dem Vater artete. Nach seiner Pensionierung kaufte er ein Landgut in Oberesslingen bei Esslingen, das er selbst bewirtschaftete. Da er von Landwirtschaft und Gärtnerei, die er mit Leidenschaft betrieb, nicht viel verstand, so hatte er manches Lehrgeld zu zahlen; es wird ihm sogar nacherzählt, er habe die Blumenzwiebeln verkehrt in den Boden gesteckt und sich gewundert, dass sie nicht wachsen wollten. Er war von äusserst heiterem Humor und hatte einen unendlichen Tätigkeitstrieb: er drechselte, schreinerte, bastelte; mit dem Hahnenschrei stand er auf und war emsig beschäftigt bis zum Nachtessen. Auf Weihnachten verfertigte er für alle Schulkinder des Ortes kunstgerecht broschierte Schreibhefte. Seine Hauptliebhaberei aber war die Medizin: er war nie so glücklich, als wenn die Bauern kamen, sich von ihm ein Pflaster schmieren, einen Arnikaverband anlegen zu lassen. Den Schwererkrankten, an die er sich mit seiner Kunst 137 nicht wagen konnte, wurde Fleischbrühe und Wein ins Haus geschickt. Er lebte selbst sehr einfach, hielt wenig auf das Äussere, pflegte aber in seinem Haus eine ausgedehnte Gastfreundschaft. Wenn er Gäste hatte, floss der Champagner; war er allein, so trank er ein selbstgebrautes Bier aus Zucker und Cybeben, bei dessen Herstellung ihm eine Jugenderinnerung an »Braunschweiger Mumme« vorgeschwebt haben soll. Ihm selber mundete dieses Bier vortrefflich; andre fanden, dass es ein abscheuliches Produkt sei. Ich vermute, dass mein Vater, der als Verlobter noch die Reste des schwiegerväterlichen Kellers kennen lernte, aus diesem Gebräu die Inspiration zu dem berühmten »Korruptionsgesöff« in den »beiden Tubus« geholt hat, von dem sich aber meines Grossvaters Mischung dadurch unterschied, dass sie alles eher als eine Ersparnis war.

Meine Grossmutter Brunnow muss eine pompöse Erscheinung gewesen sein. Zwei Miniaturbildchen in Empiretracht stellen sie in der Zeit ihrer höchsten Blüte dar: ein sanft lächelndes und zugleich pikantes Rokokogesichtchen vom zartesten Blondinenkolorit und eine Büste von vollendeter Schönheit. An Charakter erinnert sie an meine Grossmutter väterlicherseits, freilich innerhalb viel grösserer Lebensformen: sie war eine sanfte, selbstlose, duldende Natur, die nur für andere lebte und ihr frühes Siechtum zu verbergen suchte, um die Jugend der Tochter nicht zu trüben. 138 Sie war eine geschickte Blumenmalerin, machte kunstvolle Stickereien, besass überhaupt sehr viel Sinn und Handfertigkeit für jede Art von Nadelarbeit. Da aber ihr ganzes Leben ausgefüllt war von Kummer um die schnell wegsterbenden Söhne, und Kränklichkeit sie schon in jungen Jahren befiel, wurde stille Resignation der Grundton ihres ganzen Wesens. Alle, die sie kannten, schätzten und liebten sie, ihre Jugendfreundinnen hielten unverbrüchlich an ihr fest, und auch der einstige Verlobte, ein Baron Moltke, der nun in treuer Freundschaft an ihr hing, kam oft sie zu besuchen und wurde von meinem Grossvater stets aufs freundlichste und kameradschaftlichste empfangen. Sie hatte eine Vorliebe für italienische Literatur, die sie auf meine Mutter übertrug, denn sie schenkte ihr schon zu ihrem zwölften Geburtstag die »Göttliche Komödie« und das »Befreite Jerusalem«, wie denn die Damen der adligen Kreise damals eine viel höhere Bildung besassen, als die der bürgerlichen. Um sich zu zerstreuen, arbeitete sie das ganze Jahr hindurch für die Kinder von Oberesslingen; Hauben, Schürzen, Röcke und Strümpfe wurden verfertigt; bei der Puppenfabrikation half ihr das Töchterchen, während der Vater Schulhefte broschierte oder Federröhren drechselte. Jahr um Jahr, solange die edle Frau lebte, wurde der Schule ein fröhliches Weihnachtsfest bereitet, wozu die gute Josephine, das Faktotum des Hauses, ganze Waschkörbe voll Lebkuchen buk. Im Andenken an die früh 139 Dahingegangene fuhr ihre völlig anders geartete Tochter noch lange fort, Kinderkleider für die dörflichen Bedürfnisse anzufertigen, obgleich ihr die Werke der Nadel eigentlich ein Greuel waren.

Wilhelmine von Brunnow starb schon am 3. September 1842 während eines Besuchs bei ihren Verwandten in Dätzingen und liegt dort auf dem ländlichen Friedhöfchen an der Seite ihres Onkels Dillen begraben.

Solange das Temperament meiner Mutter durch diese sanfte Macht gefesselt war, trat die Opposition gegen die Welt, der sie durch ihre Geburt angehörte, noch nicht so stark hervor: wie die junge Baronesse ihrem Stand entsprechend gekleidet ging, fühlte sie sich ihm auch innerlich verbunden; ja bei ihrer Neigung zum Extremen gab es sogar eine Zeit, wo sie die Adligen für die einzig berechtigten Lebewesen ansah; eine Meinung, an der ihre liberalen Eltern gänzlich unschuldig waren. Freilich zeigten sich auch schon im Kindesalter die sozialistischen Regungen, denn als sie zum erstenmal Arme sah, wurde sie von der ungleichen Verteilung der Glücksgüter so erschüttert, dass sie in den Keller lief und ungesäumt die feinsten Bordeauxflaschen ihres Vaters den Bettlern schenkte. Überhaupt war sie von frühster Kindheit an anders als andre Kinder. Sie nahm nie von einem Menschen ein Geschenk, ausser von ihren Eltern. Geld hielt sie für das Allergemeinste und Beschimpfendste; mit Geld konnte sogar ihre heissgeliebte Josephine sie in 140 die Flucht treiben, wenn die Kleine ihr in der Küche lästig fiel. Niemals mochte sie mit andern Kindern spielen; wenn solche zu Besuch kamen, so gab sie ihnen schnell ihr sämtliches Spielzeug hin und versteckte sich dann im entlegensten Zimmer, um nichts mit ihnen zu tun zu haben. Das grosse Mitleid mit den Tieren lag gleichfalls von Kindheit an in ihr; sah sie ein Kalb zur Schlachtbank führen, so wurde sie den ganzen Tag nicht mehr froh. Als sie einmal von einem Hasen gegessen hatte, träumte ihr des Nachts, dass das Tier sie in grauenhafter Gestalt als abgenagtes Gerippe verfolge und sein Fleisch von ihr zurückverlange. Von da an wies sie alles Wild mit Abscheu zurück und fasste einen Widerwillen gegen Fleischnahrung überhaupt, der sich mit der Zeit zu völligem Vegetarianismus entwickelte. Da niemand ihr wehrte, wuchsen alle diese Eigentümlichkeiten mit ihr und machten sie zu einer ureigenen, mit niemand sonst zu vergleichenden Persönlichkeit. Sie lebte ganz und gar in einer phantastischen Welt. Auf Bällen erregten ihre Partner ihr nicht einmal den Eindruck, dass sie Menschen, geschweige dass sie andern Geschlechts seien. Sie schienen ihr nur angezogene Tanzbeine, kostümierte Besenstiel während sie selbst in lange geheimnisvolle Liebesgeschichten mit gefangenen Rittern verwickelt war, die im Verliess ihres Schlosses schmachteten. Eigentlich waren diese Liebesritter Giesskannen und andres Gerümpel, das in einer 141 Kammer des Erdgeschosses lag und bei ihrer höchsten Ungnade von niemand berührt werden durfte. Überhaupt gewöhnte sie sich daran, die Realität der Dinge nicht anzuerkennen, wofür dann freilich die Dinge sie auch beständig mit ihrer Rache verfolgten, was aber weniger von ihr selbst als von ihrer Umgebung empfunden wurde.

Von klein auf war es ihr ein zwingendes Bedürfnis, ihre Gedanken und Empfindungen in Versen auszudrücken, mit denen sie im Umsehen ganze Hefte vollschrieb. Meist wurden sie noch in der frischen Begeisterung ihrer Josephine vorgelesen, und diese verbreitete ihren Ruhm weiter. Sie fanden in Freundeskreisen eine unbegrenzte Bewunderung. Ein Klagegesang, den sie auf den Tod des von ihr schwärmerisch verehrten Grafen Alexander von Württemberg gedichtet hatte, zirkulierte in Abschriften bei Hofe und trug ihr den Namen einer Sappho ein. Besonders der alte Freiherr glaubte, dass es nichts Erhabeneres geben könne, als die Poesien seiner Tochter. Dafür bedachte sie auch ihn einmal mit einer poetischen Huldigung. Sie verfasste zu seinem Geburtstag zwei Sonette, wovon das eine seine Kriegstaten feierte und ihm den Lorbeer zuerkannte, das andre sein ländliches Friedenswirken in einem Feldblumenkranz symbolisierte. Zum Feste hüllte sie sich selbst in Helm und Harnisch als Viktoria, eine zu Besuch anwesende junge Freundin wurde als Flora angetan, und in einem mit Laubwerk ausgeschmückten Zimmerchen vor einem 142 kerzenflammenden Hausaltar begrüssten die beiden Gottheiten den Überraschten jede mit ihrem Sonett, das sie ihm hierauf geschrieben nebst dem dazu gehörigen Kranz überreichten. Der Lorbeer war freilich vom Oleanderbaum gepflückt, was aber der Feierlichkeit keinen Abbruch tat. Der alte Herr weinte Freudentränen, indem er die jungen Mädchen in die Arme schloss. Die Sonette steckte er voll Wonne in die Westentasche; er glaubte in ihnen den höchsten Gipfel der Poesie erstiegen und teilte sie in glücklichem Vaterstolz allen seinen Freunden mit. Es wurde ihm sogar nachgesagt, dass er einmal auf einem Spazierritt eine vorbeifahrende Equipage angehalten habe, indem er vom Pferd herab sich auf das Trittbrett schwang, um den überraschten Insassen die Sonette seiner Tochter vorzulesen. Diese selbst war die einzige, die ihren poetischen Erzeugnissen mit Kritik gegenüberstand, ja in späteren Jahren pflegte sie sogar ihr Talent unter seinem wahren Werte einzuschätzen.

Obgleich sie in den grossen Werken der Dichtkunst schwelgte, vermochte doch bei ihrer mehr rationalistischen als künstlerischen Anlage die Poesie ihr Inneres nicht ganz auszufüllen. Quälende Fragen nach dem letzten Grund der Dinge verfolgten sie von Kindheit auf. Das religiöse Dogma, dem sie sich nie hatte hingeben können, wurde unter heftigem innerem Ringen abgeworfen, worin ihr übrigens merkwürdigerweise das jüngere, völlig anders geartete 143 Schwesterchen ganz selbständig vorangegangen war: ein Zeichen, dass die Zeitströmungen auf geheimnisvollen Wegen wirksam sind. Mit brennender Gier warf meine Mutter sich auf die Lektüre der Philosophen, die ihr aber das innere Ungenügen auch nicht hoben, bis schliesslich die Achtundvierziger Ideale mit solcher Gewalt von ihr Besitz nahmen, dass sie fortan die Welt nur von diesem Standpunkt aus begreifen konnte.

Ihre sorglosesten Jugendtage verlebte sie auf einem benachbarten Edelsitz, dem Schlösschen Boihingen, bei der Familie von Thumb, die zu den historischen Geschlechtern des Landes gehört. In Boihingen herrschte ein sehr munteres und anregendes Treiben: dort fand der junge Adel des Landes sich zusammen; man ritt und tollte in den grossen Wäldern umher, man dilettierte in Poesie, wie man heutzutage in den bildenden Künsten dilettiert, man war romantisch und zugleich liberal, was ebenfalls zum Ton der Zeit gehörte. Die jungen Edeldamen, an die sich noch die gebildete bürgerliche Frauenwelt anschloss, schwärmten im Hyperion und lasen zusammen den Homer; die Kavaliere schwelgten in Lenau und Heine und kokettierten sogar mit der herannahenden Revolution. Bei meiner Mutter fielen die Lehren des neuen Evangeliums auf den fruchtbarsten Boden. Sie soll der Stern dieses Kreises gewesen sein, wie mir andre erzählten. Sie besass zwar nicht die imposante Gestalt, noch die milde, herrschende Anmut, durch die meine Grossmutter geglänzt 144 hatte, aber ihre pikante und äusserst bewegliche Erscheinung, das Gefunkel ihrer »Fixsternaugen«, wie mein Vater sie nachmals nannte, fand noch mehr Bewunderung als wirkliche Schönheit. Sie wurde vom männlichen Geschlecht sehr ausgezeichnet und verstand es, sich die abgewiesenen Bewerber zu Freunden zu machen. Dabei hatte sie das seltene Glück, beim eigenen Geschlechte keinen Neid zu erwecken, was sie ausser ihrer grossen Güte gegen die Freundinnen zum Teil dem Umstand verdanken mochte, dass sie bei ihrer völligen Gleichgültigkeit gegen die Toilette auf äussere Ansprüche ganz zu verzichten schien. Sie war in jungen Jahren sehr unternehmend und kannte keine Furcht: um nach Boihingen zu gelangen, musste sie drei Stunden Wegs zu Fusse durch Wälder zurücklegen und watete wohl auch durch den dort nicht tiefen Neckar. Als einzige Waffe trug sie eine Schnupftabaksdose bei sich, mit deren Inhalt sie sich im Notfall zu verteidigen gedachte; zum Glück kam sie nie in diese Lage, denn es gab dazumal keine Stromer. Dabei ging sie gerne in Bauernkleidung, nicht aus Koketterie, sondern der Bequemlichkeit halber; denn seit dem Tode ihrer Mutter war niemand mehr, der über ihren Anzug wachte; gelegentlich aber legte sie auch für ihre Wanderungen irgendeine ganz phantastische Tracht an, wie die einer Neapolitanerin oder gar der Jungfrau von Orleans. In ihren Kreisen liess man sie 145 völlig gewähren, die bürgerlichen Freundinnen ahmten wohl auch die junge Baronesse nach, das Landvolk aber meinte, es müsse so sein. Sie fand bei Männern und Frauen glühendste Verehrung und treueste Freundschaft, die sie lebenslang durch alle Wandlungen der Zeit begleitet haben und noch begleiten.

Zu den Freunden meiner Mutter gehörten auch verschiedene junge Studenten bürgerlicher Abkunft, die ihre Ferien in Oberesslingen verbrachten. Diese revolutionär gefärbte Jugend sang das junge Freifräulein als die Muse ihrer politischen Lieder an. Mein Grossvater, der, obgleich liberal, doch für seine Person ganz als Edelmann fühlte, liess sich diesen demokratischen Umgang seiner Tochter gefallen; er zog ihn sogar der Gesellschaft der jungen Kavaliere vor, denen er als Weltmann und Menschenkenner weniger traute. Unbehindert konnte sie mit diesem oder jenem ihrer bürgerlichen Verehrer halbe Nächte allein auf dem Neckar rudern, in Träumen von Volksbeglückung und Menschheitsverbrüderung schwelgend.

In jene Zeit fiel auch die tolle Episode des Franzosenschrecks, die ich als Kind oft von unsrer Josephine erzählen hörte. Es war an einem Feiertag im Frühjahr 1S48, als plötzlich vom Schwarzwald her wie ein Lauffeuer die Kunde drang, die Franzosen seien mit bewaffneter Hand über die Grenze gebrochen. Der Ruf »Sie kommen!« flog von Ort zu Ort, überall einen wilden 146 Aufruhr erweckend. Vor dem Tübinger Rathaus kam der Oberamtsrichter von Sulz in voller Karriere angesprengt, um bewaffnete Hilfe zu holen, weil in der Stadt Sulz schon der Feind stehe: bei seinem Ausritt seien die Franzosen eben von der andern Seite eingezogen. Bürgerschaft und Studenten bewaffneten sich in Hast und wurden von den nicht Wehrhaften, worunter viele Frauen, unter Abschiedstränen eine weite Strecke begleitet. Unterwegs stiessen sie auf andre bewaffnete Scharen, die von anderswo alarmiert worden waren, denn die Panik, die sich weit ins Badische hinein verbreitete, hatte in Württemberg nicht nur den ganzen Schwarzwaldkreis, sondern auch einen Teil des Neckarkreises ergriffen. Allerorten spielten sich die wunderlichsten Szenen ab. Auch in Esslingen rauschte die Welle des Unsinns an und brachte sogar das stille Oberesslingen auf die Beine. Zwei Söhne benachbarter Häuser, sonst ergrimmte Rivalen, die der Witz Josephines in einer naheliegenden Verketzerung ihrer Namen Romulus und Remus nannte, beide bildschöne stattliche junge Männer, erschienen des Nachts einer um den andern in der kleidsamen Uniform der Bürgerwehr und bis an die Zähne bewaffnet vor der Tür des Fräuleins und erklärten sich einmütig bereit, ihr Leben für sie zu lassen. Von Josephine mit den grossväterlichen Weinen gelabt, zogen sie wieder ab, um den Feind, der schon auf Esslingen zumarschieren sollte, zu rekognoszieren. Aber des andern Tags 147 war der Wahnsinn verflogen; von allen Seiten kam die Nachricht, dass man sich durch einen blinden Lärm hatte täuschen lassen, und Romulus und Remus legten mit dem ganzen Landsturm beschämt die Waffen nieder. Wie die Panik entstanden war, ist niemals aufgeklärt worden. Viele glaubten, irgendein Spassmacher habe die ganze Geschichte angezettelt, dafür war aber die Erregung viel zu elementar und zu allgemein; es scheint vielmehr, dass die Gärung, die damals durch die beiden Länder ging, von selbst diese seltsame Form der Entladung gefunden habe. Denn, wenn ich meiner Chronistin glauben darf, so war gleichzeitig jenseits der Rheingrenze derselbe Schrecken ausgebrochen, und die Bevölkerung flüchtete im Glauben, von den Deutschen angegriffen zu sein, in wilder Hast landeinwärts. Noch bis heute ist im Schwabenland dieser Tag mit seinen Schwabenstreichen unter dem Namen des Franzosenfeiertags bekannt, und F. Th. Vischer hat das lustige Motiv in seine dramatische Posse »Nicht I A« verflochten.

Als die Revolution ausbrach, gehörte Marie v. Brunnow zu ihren feurigsten Aposteln. Der Vorzug ihrer Geburt erschien ihr als ein Unrecht, das sie durch Einsetzung ihrer ganzen Person für die Sache des Volkes zu sühnen strebte. Sie stürzte sich in den Strom ohne zu fragen, wohin er sie tragen würde; sie besuchte Volksversammlungen, verteilte Manifeste und Wahlzettel, und die gleichgesinnte Jugend scharte sich um sie wie um eine 148 Fahne. Es lief freilich viel Spielerei und Mummenschanz bei diesen schwarz-rot-goldenen Begeisterungen mit unter. Ich kenne ein gewisses, für die Zeit höchst charakteristisches Büchelchen, das »Rote Album«, das meiner Mutter von Gesinnungsgenossen im Jahre 1849 bei einem häuslichen Fest überreicht wurde: in Rot gebunden, mit roter Tinte auf rote Blätter geschrieben, voll von Karikaturen und Knittelversen, auf jeder Seite von Tyrannenblut triefend, die tollste Selbstpersiflage der Revolution. Etwas Kinderei scheint durchweg zum Jahr Achtundvierzig gehört zu haben; doch bedeutete diese Bewegung für ihre Zeit gewiss die Spitze des Wachstums, und jeder Fortschritt ging damals denselben Weg, wenn auch die Keime, die der Frühlingssturm durch die Lüfte trug, erst viel später und in ganz andrer Gestalt reifen sollten. Bei vielen, die in jener Zeit mitliefen, war es Modesache, und die ersten Niederlagen vertrieben ihnen schnell die revolutionären Gelüste. Meiner Mutter aber waren die Ideen von Achtundvierzig eingeboren und hatten nur auf den äusseren Anstoss gewartet, um herauszutreten und sich ihrer Person zu bemächtigen. Ich darf hier an eine andre deutsche Frau erinnern, die, aus ähnlicher Atmosphäre stammend, dieselbe Entwicklung nahm: Malwida von Meysenbug. Das Schicksal beider Frauen hat viel Analoges, wie es sie denn auch schliesslich in späten Jahren auf italienischem Boden noch zusammenführte. Nur war Malwidas Bruch mit 149 ihren Traditionen mühseliger und schmerzlicher. Er war das Resultat einer unter Kämpfen gewonnenen Erkenntnis; bei meiner viel feurigeren Mutter war er gleichsam ein Naturereignis, eine blitzschnell sich vollziehende »Wahlverwandtschaft« zwischen ihrer eigenen Natur und den neuen Elementen der Zeitströmung. Auch zog in der milderen süddeutschen Luft der Übertritt einer jungen Aristokratin in die Reihen der Volkskämpfer keine grausamen Familienkonflikte nach sich; mein Grossvater liess der einzigen Tochter, die sein Abgott war, freie Hand, ohne sich für oder wider in die Sache zu mischen. Als ihr eines Abends der Liederkranz des Esslinger Volksvereins zum Dank für ihre Propaganda mit wehenden Fahnen ein Ständchen brachte und die junge Revolutionärin in den Garten hinaustrat, um eine Ansprache zu halten, was damals beim weiblichen Geschlecht noch etwas sehr Ungewöhnliches war, hörte der gute Vater hinter einem Baum versteckt zu und weinte helle Tränen der Rührung über die seiner Tochter dargebrachten Huldigungen. Die gleiche Toleranz fand sie in ihrem elterlichen Freundeskreis. Wenn sie in Stuttgart bei der zu den Hofkreisen gehörigen Familie v. R. zu Besuch war und von dort aus die demokratischen Versammlungen besuchte, gab ihr der alte Baron den Bedienten zur Begleitung mit, obgleich er recht gut wusste, dass sie unterwegs den Burschen, der sich verlegen bemühte, die vorgeschriebene Distanz einzuhalten, 150 für die Propaganda bearbeitete und ihn, um keine Gelegenheit zu versäumen, gleich mit in den Saal nahm. – Ich muss es dieser Aristokratie nachrühmen, dass sie auch späterhin ihr entsprungenes Schäfchen, wenn es ihr zufällig wieder begegnete, stets mit Pietät und Courtoisie behandelt hat, im Gegensatz zu den bürgerlichen Parteien, bei denen der politische Hass gegenseitig kein billiges Urteil aufkommen liess.

Mein Grossvater Brunnow starb am 20. Januar 1850, bevor er das siebzigste Lebensjahr erreicht hatte. Sein Vermögen war durch unglückliche Verwaltung sehr vermindert; noch mehr sollte es in den nachfolgenden Jahren durch die Freigebigkeit der Tochter für politische Zwecke zusammenschmelzen. Ihre erste Handlung nach seinem Tode war etwas für ihren Charakter sehr Kennzeichnendes: sie nahm einen illegitimen Sprössling ihres Vaters, dessen Dasein er ihr verheimlicht hatte, zu sich ins Haus und liess durch die treue Josephine das kleine Brüderchen aufs zärtlichste pflegen, ohne nach den erstaunten Augen der Leute zu fragen. Den Vorschlag reicher Verwandten, sie ganz zu sich zu nehmen, wies sie ab und hauste mit der Getreuen allein auf ihrem Dörfchen in der väterlichen Wohnung weiter.

Das Bild meines grosselterlichen Hauses und später ebenso das des elterlichen wäre unvollständig, wenn ich nicht auch der Gestalt Josephinens, die darin eine so wichtige Rolle spielte, hier einen Platz vergönnte. Es war dieser Guten 151 nicht an der Wiege gesungen, dass sie einmal unter florentinischen Zypressen ihren letzten Schlaf schlafen sollte. Von der bayrischen Grenze gebürtig, als Tochter eines Gärtners auf den gräflich Fuggerschen Gütern, war sie mit zwanzig Jahren in den Dienst meiner Grosseltern gekommen, als meine Mutter eben geboren war. Der ideale Zug, der durch ihr ganzes Leben ging, äusserte sich in der Jugend in einem Drang nach der Bühne; die wenigen Theaterstücke, die sie zu sehen Gelegenheit hatte, brausten ihr im Kopfe wie junger Wein. Da sie keine Mittel hatte, sich auszubilden, musste sie sich mit der Lektüre der klassischen Dramen, die sie sich verschaffen konnte, begnügen. Daher ihr höherer Sprechstil und die gereinigte Ausdrucksweise, die sie gänzlich von ihrem eigenen Stande trennten. Nicht als ob ihr Reden etwas Gespreiztes gehabt hätte – sie sticht vielmehr unter den vielen Gestalten meiner Kindheit, die häufig zur Karikatur neigten, durch das Gehaltene, Massvolle, Harmonische ihres Wesens ab – nur klang alles, was sie sagte, so gebildet, dass ein Fremder es schwer mit ihrer Aschenbrödelbeschäftigung in Einklang bringen konnte.

Ihr taktvolles Benehmen, ihr reger, aufgeweckter Geist, vor allem ihre ungeheure Brauchbarkeit wandelten ihre Stellung in meinem grosselterlichen Hause bald in die einer Vertrauten. Sie soll eine regelmässige Schönheit gewesen sein, mit tiefleuchtenden Augen, die auch im 152 Greisenalter, als schon ihre Sehkraft gelitten hatte, den Glanz nicht verloren. Sie wurde von den Unteroffizieren, die aus dienstlichen Gründen das Brunnowsche Haus betraten, sehr umworben, aber sie schlug alle Freier aus, »denn,« sagte sie zu meiner Grossmutter, »die meines Standes sind, die fühle ich geistig unter mir, und die Gebildeten, die mir gefallen, nehmen mich doch nicht, wenn sie mir auch hofieren; also bleibe ich ledig.« So begleitete sie ihre Herrschaft von Garnison zu Garnison, bis sie mit in Oberesslingen landete. Sie pflegte die Kinder, die nacheinander kamen und wieder verschwanden, und wurde später die besorgte Wärterin meiner leidenden Grossmutter. Daneben versah sie die Küche, den Garten, den Hühner- und Ziegenstall und kochte auch noch mit der grössten Bereitwilligkeit für die Kranken des Dorfes. Häufig kam sie nach der schweren Arbeit nicht einmal zu Bette, da sie Nächte hindurch meine nach Atem ringende Grossmutter frottierte. Meiner Mutter verschwieg sie so viel wie möglich diese traurigen Nächte, um das junge Mädchen nicht vor der Zeit aus dem sorglosen Jugendtraum zu reissen. Dafür wurde sie auch mit zur Familie gerechnet und von den Freunden des Hauses gleichfalls mit grösster Anerkennung behandelt. Nach dem Tode meiner beiden Grosseltern (die kleine Ottilie, ihren Augapfel, hatte sie schon vorher begraben müssen) wurde ihr von Dillenscher Seite der Posten einer Verwalterin von Dätzingen angetragen, wo sie die 153 angenehmste, unabhängigste Stellung bei hohem Gehalt gehabt hätte. Aber sie zog es vor, bei ihrer Baronesse, die jetzt allein stand, weiterzudienen, auch ohne Lohn in Zeiten, wo dieser das Geld ausging. Sie wandte nun ihre ganze Liebeskraft auf das verwaiste Mädchen, indem sie nicht nur für ihr körperliches Wohl sorgte, sondern sich in ihr ganzes Wesen einlebte. Sie nahm teil an ihrer Lektüre, und als meine Mutter das Lateinische zu treiben begann, lernte sie die Vokabeln, sowie Deklinationen und Konjugationen mit, ebenso wie sie im Jahr Achtundvierzig an der politischen Ekstase ihrer jungen Herrin teilgenommen und sich die neuen Ideen anzueignen gesucht hatte. Ihre ausserordentliche Frugalität kann nur mit der meiner Mutter selbst verglichen werden, die auf diesem Punkt mit ihr wetteiferte. Oft bestand ihre gemeinsame Nahrung nur aus einem Topf Kaffee mit Zichorie zugesetzt. Nichts für sich selber zu gebrauchen, war lebenslang das Prinzip beider; was das junge Mädchen damals erübrigen konnte, das schenkte sie der Propaganda oder wandte es den politischen Flüchtlingen zu, die durch die Reaktion brotlos wurden. Es versteht sich, dass später, als Marie v. Brunnow sich verheiratete, die Getreue ihr in das neue Haus folgte, um auch an ihren Kindern all das Gute zu tun und dort dieselben Lasten auf sich zu nehmen wie zuvor im Brunnowschen Hause. Sie blieb, solange sie lebte, ein Glied der Familie, von uns fast wie eine Grossmutter angesehen, wenn auch 154 leider der kindliche Unverstand uns dies nicht immer richtig zum Ausdruck bringen liess. In ihren Armen ist mein Vater gestorben. In meinen Erinnerungen an das elterliche Haus wird noch oft von ihr, die sein unscheinbarer Schutzgeist war, die Rede sein. Sie war schon siebzig, als sie das letzte grosse Opfer ihres Lebens brachte, indem sie sich vom Heimatboden losriss, für immer von ihrer Schwester und deren Familie Abschied nahm und mit uns in ein fremdes Land auswanderte, wo sie niemand kannte und dessen Sprache sie nicht verstand. Als aber dort nach ein paar Jahren ihre eigene, schmerzlich langsame Auflösung begann, da hat ihr meine Mutter die lange Hingabe vergolten, durch eine Pflege, wie man sie sonst nur den allernächsten Blutsverwandten zuteil werden lässt. Die Getreue starb am 20. November 1883 zu Florenz in unserm Hause. 155

 


 


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