Isolde Kurz
Hermann Kurz
Isolde Kurz

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Unsere Kinderstube

In den letzten Tagen desselben Jahres, das bei seinem Aufgang meinen Eltern ihren Erstling Edgar beschert hatte, zu Stuttgart erblickte ich das Licht der Welt. Es ist mir oft erzählt worden, dass ich wie im Märchen durch den glühenden Wunsch der Eltern nach einer Tochter dem Schicksal abgedrungen worden sei und dass ich schon vor der Geburt mit Geschlecht, Namen und persönlichen Zügen in ihrer Phantasie gelebt hätte. Da die Mutter gleich unter die Sterne der Poesie gegriffen und für mich den Namen Isolde heruntergeholt hatte, der ihr aus der Tristan-Bearbeitung ihres Gatten teuer war, so gab der Vater mir noch die Namen Clara Maria mit, für den Fall, dass die Romantik sich späterhin mit der Wirklichkeit nicht vertrüge. Unter den Julien, Luisen und Amalien, die damals die Welt bevölkerten, befand sich eine Isolde von vornherein in einer Ausnahmestellung, und wer eine solche einnahm, konnte auf dem Boden meiner Heimat seines Lebens nicht froh werden. Dies hatte mein Vater wohl bedacht, als er mir 215 durch die Nebennamen Clara und Maria einen Notausgang öffnete, doch das Ungestüm meiner Mutter liess solche Rücksichten nicht gelten, und es blieb allein mein Rufname an mir haften, der späterhin in der kleinstädtischen Umgebung, wo ich heranwuchs, mir vieles Ungemach zuzog.

Da meine Geburt der Welt nicht mit goldenen Lettern angekündigt wurde wie die des Bruders, so sorgte ich nun selbst dafür, dass mein Dasein nicht unbeachtet blieb, indem ich mich durch das ganze erste Lebensjahr durchschrie, ja, ich soll sogar schon geschrien haben, bevor ich in die Erscheinung trat. Mein Bruder Edgar war um jene Zeit nach den Schilderungen der Mutter ein schönes blasses grossäugiges Kind, das wenig Lärm machte, dem aber schon die ganze Intensität seiner Seele aus den durchdringenden Augen blickte. Doch sollte er seine ganze Knabenzeit hindurch körperlich zart und psychisch reizbar bleiben, bis er sich im Heranwachsen durch freiwillige Abhärtung eine dauernde Gesundheit erzwang. Die Mutter pflegte jedem der Kinder ein Schicksalsliedchen an der Wiege zu singen, worin ihm seine Art und Zukunft gedeutet wurde. Das an Edgar lautete:

Ich bin ein kleiner Träumer,
Ein Erdengutversäumer,
Ein Dichter und ein Denker,
Wohl nie ein Schlachtenlenker,
Doch in des Geistes Reichen
Da werd' ich keinem weichen.

216 Von diesem Vers, der auf das sinnende Wesen des Knaben genau zu passen schien, sollten jedoch später nur die zwei letzten Zeilen in Erfüllung gehen, denn gerade ihn führten Naturell und Umstände in ein höchst aktives und verantwortungsreiches Leben, während die Poesie, die ihm gleichfalls im Blute lag, nur eine liebe Nebenbeschäftigung für ihn blieb. Die Verse, die mir auf den Lebensweg mitgegeben wurden, begannen:

Ich bin ein kleines Mädchen,
Hab' Augen wie Feuerrädchen

und veranlassten den besonnenen Vater gleichfalls poetisch einzugreifen und

Der kleinen Feuerwerkerin
Ein wenig Vicar-of-Wakefield-Sinn

mit allerlei häuslichen Tugenden hinzuzuwünschen, was aber der Mama keineswegs einleuchtete, denn ihr war das Goldsmithsche Idyll, das der Dichter damals mit grossem Wohlgefallen las, viel zu hausbacken.

Solch ein leises Mahnen durch die Blume war die einzige Form, unter der er zuweilen mässigend in ihre Leitung eingriff, wenn es gar zu stürmisch über Stock und Stein dahinging. Denn im Ganzen liess er ihr völlig freie Hand. Er sei für das Mutterrecht der alten Naturvölker, pflegte er scherzend zu sagen. Es blieb ihm auch nichts übrig als abzudanken, da er gar keine Zeit für uns hatte, während die Mutter sich einzig und ausschliesslich mit uns beschäftigte und eifrig 217 bestrebt war, uns nach ihrem Sinne zu modeln.

Ich war des Bruders völliges Widerspiel, ein rundes kerngesundes Stück Natur, das seinen Ernst durch jauchzende Daseinslust erhellte; wir entwickelten uns gegenseitig aneinander und sahen jedes im andern das Mass der Dinge. Ich sprach schon im ersten Jahre ganz geläufig; er, der durch Kränklichkeit etwas aufgehalten worden war, lernte es erst im Wettstreit mit mir. Dagegen blickte ich mit inniger Bewunderung zu ihm auf, als er seinen ersten Gehübungen oblag, und pflegte ihm auf dem Boden sitzend mit grosser Geschwindigkeit von einer Zimmerecke in die andere nachzurutschen, was mir freilich nur durch die Erzählungen der Erwachsenen bekannt ist.

Dem zarten wachsbleichen Knaben, der von einer Kinderkrankheit in die andere fiel, verordnete der Arzt zu seiner Stärkung die Schwarzwaldluft. Man mietete einen Omnibus, der mit Hausrat vollgepackt wurde, Eltern und Kinder nebst der getreuen Josephine, die jetzt Fina hiess, stiegen dazu ein, und fort ging es, dem anmutigen kleinen Badeort Liebenzell entgegen. In Ehningen wurde ein paar Stunden Rast gemacht, die stolze Equipage fuhr vor dem Pfarrhaus vor, wo das Mohrsche Ehepaar die junge Familie begrüsste und gastlich bewirtete. Der alte Pfarrer wurde ein warmer Verehrer meiner Mutter, und die Tante Mohr, in der die Seele ihrer Schwester 218 fortlebte, bemühte sich, uns Kindern die grossmütterliche Liebe, die das Schicksal uns vorenthalten hatte, zu ersetzen.

In Liebenzell bezogen wir eine Wohnung im Städtchen bei dem meinem Vater befreundeten Stadtpfarrer, doch konnten wir Kinder den grössten Teil des Tages in den würzigen Tannenwäldern spielen, denn das Wetter war trotz der frühen Jahreszeit mild und sonnig. Der Vater schrieb währenddessen seinen Weihnachtsfund gleichfalls im Grünen. Keines seiner Werke ist ihm so leicht geworden wie dieses, das er, erlöst vom Stadtlärm und mitten in der ländlichen Welt, die ihm den Stoff geliefert hatte, in einem Zuge aufs Papier warf. Die Liebenzeller Tage gehörten später zu seinen liebsten Erinnerungen: das freudige Gelingen der Arbeit, das Wiederaufblühen des kranken Knaben, die hoffnungsreiche Verbindung mit dem neuen Verleger, die leider so bald ihr Ende finden sollte, das alles hatte in seinem Gemüt eine Sonnenspur zurückgelassen, dass er sogar auf unsren Kinderspielen mit Vergnügen in der Erinnerung weilte. Besonders gerne erzählte er mir, wie wir des Morgens mit zwei kleinen Hämmerchen bewaffnet nach einer nahegelegenen Töpferwerkstatt auszogen, um dort glühend von Pflichteifer, der sich durch nichts beirren liess, halbe Tage lang die auf der Strasse herumliegenden Scherben kleinzuschlagen.

Noch wonniger genoss meine Mutter diese Tage der Erquickung und das Glück, ihren von
219 den Ärzten schon aufgegebenen Liebling dem Leben entgegenblühen zu sehen.Zwei Sonette, die sie in Liebenzell auf seine Genesung schrieb, mögen hier ihren Platz finden.
 
                                    I.
Die Sonne siegt; die schlanken Tannen heben
Das dunkle Haupt aus grauem Nebelmeer,
Der Kühe Glöcklein tönet ringsumher,
Und es beginnt im Walde reges Leben.
 
Tautröpflein hängen dort wie Perlen schwer
Im dunklen Moose, und es zieht daneben
Der Waldbach murmelnd durch das Tal einher,
Den Wiesen sein befruchtend Nass zu geben.
 
Hieher, mein zarter Knabe, lass dich bringen,
Wo Morgenlüfte kosend dich umweh'n,
Der Tannen Düfte stärkend zu dir dringen.
 
Hier lass ich dich des Waldes Wunder seh'n,
Indess die Bächlein dich in Schlummer singen
Und holde Blumen nickend dich umsteh'n.
 
                                    II.
Schon liegt er schlafend jetzt in meinem Schosse,
Leis atmend und die Augen halb geschlossen,
Von sanftem Rot die Wangen übergossen,
Mit seinen Härchen spielt der Westwind lose.
 
Ein Zauber scheint auf alles ausgegossen,
Und knisternd regt sichs neben mir im Moose,
Als hörte man die kleinen Blüten sprossen:
Erdmännlein sinds im traulichen Gekose.
 
Sie schlingen um mein Kind den Elfenreigen,
Sie küssen es auf Wange, Stirn und Mund
Und flüstern, wie sie sacht sich zu ihm neigen:
 
»Wir küssten dich, o holdes Kind, gesund!«
Verschwunden sind sie, wieder tiefes Schweigen,
Und dankend stand ich auf vom Waldesgrund.
Seit der Stunde seiner Geburt füllte dieses Kind, dessen zartes Leben immerdar an einem Faden schwebte, all ihre Gedanken aus; selbst der Vater, der einem solchen Rivalen nicht grollen konnte, musste vor ihm zurücktreten. Er wurde wie ein kleiner Prinz behandelt und ging stets mit kostbaren Stoffen und Spitzen aus der Brunnowschen Garderobe phantastisch angetan. Kaum war seine Heilung vollendet und auch das Werk des Dichters zu gutem Ende gediehen, als die bevorstehende Ankunft des dritten Kindes die Familie zu schleunigem Aufbruch trieb. Zwei Tage nach unserer Rückkehr, am 220 4. August 1855, kam mein Bruder Hermann Alfred zur Welt. Er war ein sehr kräftiges und schönes Kind, das seine ersten Lebensmonate ganz mit Trinken und Schlafen ausfüllte und seiner Umgebung wenig Mühe machte. Vielleicht beginnen gerade deshalb meine deutlichen Erinnerungen an ihn erst später, in der Zeit, wo er durch seine unbändige Kraftnatur den Frieden der Kinderstube zu erschüttern anfing. Um seiner putzigen Streiche willen und weil er im Jahr nach der Vollendung des Sonnenwirts geboren war, gab Ludwig Pfau, als er unter unsrem Dach verweilte, ihm den Namen »Sonnenwirtle«, was aber der kleine Dicke sich nicht gefallen liess, denn er selber nannte sich »Butte« oder »Butzel«.

Zunächst blieb noch für lange Zeit der Bruder Edgar mein einziges Gegenüber. Er hiess damals 221 in unserer Kindersprache, die auch von den Grossen adoptiert wurde, der Sninke und ich die Meta. Edgar soll ein frühreifes, ganz besonderes Kind gewesen sein mit ausgesprochenen Zu- und Abneigungen, die sich besonders gegen die Besucher des Hauses äusserten. Als einmal eine Bekannte zu seiner Mutter kam und dem Knaben der Besuch länger als billig zu dauern schien, ging er aus der Ecke, wo er still für sich gespielt hatte, ruhig nach der Tür und rief dem Stubenmädchen, sie solle einen Besen bringen und den Unrat hinauskehren. Diese kam eiligst mit dem Besen gelaufen und sah sich um, welchen Unrat er meine, da sagte der Kleine laut und nachdrücklich: »den, der bei Mama auf dem Sofa sitzt«. Am Schwesterchen hing er zärtlich, wir hatten alles gemeinsam und wurden jeden Tag im grünangestrichenen Kinderwägelchen zusammen spazieren geführt, wobei das Prinzchen den Vordersitz inne hatte, ich als die Jüngere rückwärts fuhr. Auf einer dieser Ausfahrten sahen wir zum erstenmal den Schnee. Der Anblick der grossen, weissschimmernden Fläche entlockte mir ein Jubelgeschrei, wir waren beide einig, dass es Zucker sei, aber über die Aussprache dieses Wortes gerieten wir sofort in Streit, denn als ich begeistert »Didde!« rief, belehrte mich der Bruder, dass man »Zidde!« zu sprechen habe. Ich wollte mir die Zurechtweisung nicht gefallen lassen, denn da die Grossen, wenn sie mit mir sprachen, sich meiner Sprechweise anbequemten, 222 musste ich glauben, im Rechte zu sein. Wir strampelten voll Entrüstung mit den Beinen gegeneinander unter den vergeblichen Beschwichtigungsversuchen der guten Josephine: »Es heisst Zidde!« – »Nein, Didde! Didde! Didde!« dass die Vorübergehenden stehen blieben und grollend sagten: »Was für unartige Kinder!« Eine so lebhafte Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und mir gehörte jedoch zu den Seltenheiten, gewöhnlich lebten wir in inniger Harmonie, da sein reiferes Alter und sein gemessenes Wesen ebenso wie die besonderen Rücksichten, die ihm von den Erwachsenen erwiesen wurden, mir eine tiefe Ehrfurcht einflössten.

Deutlich erinnere ich mich einer Phantasiegeburt, die wir gemeinsam ausgeheckt hatten und der wir Tag für Tag mit leidenschaftlicher Schöpferfreude nachhingen. Es waren zwei von uns erfundene Fabeltiere, das Schnuffeltier und das Buffeltier, die wir uns am Anfang der Zeiten auf einer noch unbewohnten Erde heimisch dächten und deren Taten wir jeden Morgen in unsere Chronik, ein uns zu diesem Zweck überlassenes ungeheures Rechenbuch, eintrugen in einer Bilderschrift, die ihren Sinn nur unsern eigenen Augen offenbarte, denn die Erwachsenen konnten nichts sehen als ein Gewirr kühnschweifender Striche, in denen sich mit einigem gutem Willen etwa das Horn des Buffeltiers oder die lange Schnauze des Schnuffeltiers erkennen 223 liess. Bei diesem Spiele schieden sich schon deutlich die Geschlechter, denn das aggressive, alles für sich begehrende Buffeltier war männliche Erfindung, das friedliche, aber höchst naseweise Schnuffeltier dagegen war das Werk meiner Phantasie.

Sehr frühe wurden wir in die Buchstabenwelt eingeführt. Als meine Mutter den vierjährigen Knaben im Lesen und Schreiben zu unterrichten begann, fand sie es rätlich, das dreijährige Mädchen gleich zuzuziehen, teils um ihr Lehramt dadurch zu vereinfachen, teils auch, um den gegenseitigen Wetteifer anzustacheln. An einem kleinen Tischchen sitzend, wurde buchstabiert; auf jedes der Kinder kam eine halbe Stunde, und wer sich besonders auszeichnete, erhielt eine Belohnung. Diese bestand in einer kleinen, buntfarbigen Schachtel, deren die Mutter eine Serie auf dem Schrank vor unsern Augen aufgestellt hatte, immer eine in der andern steckend, bis herab zum Liliputformat. Aber auch ohne die Prämien, die uns sehr ergötzten, gab das gemeinsame Lernen schon an sich eine köstliche Unterhaltung ab, denn was waren die Buchstaben damals für eine amüsante Gesellschaft! Ein jeder hatte, besonders wenn er beim Schreiben etwas abnorm ausfiel, sein eigenes Gesicht. Ein i, dem das Tüpfelchen fehlte, war ein Blinder, das d, wenn seine Schleife zu lang ward, ein Major mit gezogenem Degen; da gab es ferner Knieschlotterer, Dickbäuche, Kropfige und mit 224 andern Geschwülsten Behaftete. Mitunter glich so eine geschriebene Seite einem Siechenhaus. Bald stellte sich aber auch der Kunsttrieb ein und half dieser bresthaften Gesellschaft auf die Beine. Im Handumdrehen konnten wir kleine Uhlandsche Gedichte diktiert schreiben und behielten dabei die Verse gleich auswendig, denn beide hatten wir für alles Metrische von klein auf ein sehr glückliches Gedächtnis. Auch brachten wir den Gedichten, die man uns jetzt in grosser Anzahl lesen und lernen liess, mit unsern drei und vier Jahren schon die ausgesprochenste Zu- oder Abneigung entgegen, wobei unser Geschmack durchaus nicht immer übereinstimmte. Wenn die gute Fina uns eins von Edgars damaligen Leibliedern »Der Winter ist ein harter Mann« vorsang, ein Lied, das mich in der Seele verdross, so suchte ich ihr den Mund zuzuhalten und verlangte flehentlich ein anderes, wobei man sich gewöhnlich nach einigem Streit auf den Rinaldo Rinaldini einigte, der uns beiden teuer war. Darin kam eine Stelle vor, die den Knaben, dessen Sinn früh auf die Ergründung technischer Schwierigkeiten gerichtet war, durch ihre Unverständlichkeit lange umtrieb, ohne dass ihm seine verschlossene und selbständige Natur gestattet hätte, bei anderen Aufklärung zu suchen. Bei dem Verse: »Er lad't doppelt sein Gewehr« zog nämlich sein Ohr zwei Worte in eins zusammen, das »ladoppelt« lautete, und jahrelang verfolgte ihn das Problem, was das »Ladoppeln« eines 225 Gewehrs für eine Manipulation sein möchte. Ich dagegen verfuhr mit den unverständlichen Stellen in Josephinens Liedern sehr leichtfertig und kümmerte mich nie um den wahren Sinn, weil mir gerade die verstümmelten oder ineinandergezogenen Worte die zauberhaftesten Bilder vor die Augen führten. Ein durch Josephinens Aussprache veranlasstes Missverständnis hat sich mir sogar erst in reifen Jahren aufgeklärt. Zu ihren und unsern Leibstücken gehörte »Bertrands Abschied«, ein in ihrer Jugend von jedem Leierkasten gespieltes Lied, das aber damals schon im Verhallen war. Wenn sie nun sang:

Ich war in Ruhm und Glück stets sein Gefährte,

so vernahm mein Ohr regelmässig:

Ich war in Rom und Glückstadt sein Gefährte,

worauf sich dann ganz natürlich anschloss:

Ich will nun auch in Leyden bei ihm sein.

Doch stammt diese geographische Phantasmagorie, die mich durch mächtige Raumvorstellungen erbaute, aus einer etwas späteren Zeit. Alle Lieder unserer Fina wurden übrigens so ziemlich nach der nämlichen Melodie gesungen, die mit geringen Variationen dem jeweiligen Versmass angepasst war und uns durchaus befriedigte. Etwas anderes war es freilich, wenn zuweilen des Abends der Vater mit seiner Flöte in unser Schlafzimmer kam, um uns durch Musik zur Ruhe zu bringen. Er war sehr musikalisch, und es war eine Lust, ihm zuzuhören, wenn er auch nicht eigentlich sang, sondern nur mit 226 gedämpfter Stimme in einer Art Rezitativ die Lieder vortrug, deren Melodie er uns danach auf der Flöte in den schmeichelndsten Nachtigallentönen blies. Wie ging uns das Geschick des armen »Häsulein« zu Herzen, wenn er so ergreifend sang:

Ich fresse ja nur die Blätterchen
Um mich daran zu sättigen

und dann den Vorwurf des guten geschundenen Tierchens in langgezogenen Klagelauten auf der Flöte austönte. Noch schöner aber war es, wenn er uns das auf Mozarts Namen getaufte Schlummerliedchen blies: »Schlafe mein Kindchen, schlaf ein.« Die holdselige Weise dieses Liedchens hat sich mir so tief in die Seele geprägt, dass ich noch jetzt zuweilen ganz plötzlich seine Stimmung beim Einschlafen empfinde, jenen unbeschreiblich süssen Frieden der nächtlichen Kinderstube, wenn das Nachtlicht prasselnd auszugehen beginnt und mit dem Gefühl der treuen Hut und sichern Geborgenheit die tiefe Ruh sich niedersenkt.

Mein Vater soll in jungen Jahren ein grosser Kinderfreund gewesen sein und sich wunderbar mit dem kleinen Völklein verstanden haben. Als er selber Familienvater geworden war, kam ihm diese Gabe mehr und mehr abhanden. Er hing mit unendlicher Zärtlichkeit an uns, trug uns auch, solange wir klein waren, im Wettstreit mit der Mutter und der guten Fina, halbe Nächte umher, aber sein ernstgewordener Sinn konnte nicht 227 mehr so recht auf die kindliche Welt eingehen, auch pflegte ihn der Lärm aus dem Kinderzimmer zu vertreiben. Daher lernten wir schon früh, uns vor ihm zusammen zu nehmen, und dieser Zwang, der einzige, der uns auferlegt war, liess kein so vertrautes Verhältnis wie mit der Mutter zu. Diese mit ihrem explosiven Temperament erschien uns immer wie eine Gleichaltrige, mit der man sich mitunter stark entzweite und dann wieder aufs innigste vertrug, denn Autorität verlangte sie keine. Den Vater aber, der nur zärtliche und gute Worte für uns hatte, verehrten wir wie ein höheres Wesen, dem man sich nicht mit seinen kleinen Wünschen und Klagen zu nahen hat. Und so blieb es auch späterhin: so stürmisch es im Hause zuging, vor der Studierstube des Vaters legten sich die wilden Wellen. Es versteht sich, dass man sie nie unaufgefordert betrat und dass keine Aufregung dorthin mitgenommen werden durfte; nur des Abends wurden wir hineingerufen, ihm einzeln gute Nacht zu sagen, während er langsam seine Pfeife rauchte, zu der er sich aus alter Gewohnheit noch immer mit dem Zündstein das Feuer schlug. Ab und zu brach wohl auch der alte Humor wieder bei ihm durch, dann erzählte er uns kleine Schnurren und Eulenspiegeleien aus alten Historien, deren ich mich nicht entsinne; nur ihr urdeutsches Schrot und Korn ist mir als etwas Charakteristisches im Gedächtnis geblieben.

Von der äusseren Szenerie, die uns in 228 Stuttgart umgab, weiss ich wenig zu sagen. Die schöne Gartenwohnung in der Paulinenstr. Nr. 5, wo wir drei Ältesten geboren sind, ist völlig für mich im Nebel versunken. Das umgebende Grün machte dieses Haus meinen Eltern sehr lieb, bis ein pensionierter Offizier, der in dem oberen Stockwerk einzog, sie durch fortgesetztes Gehämmer auf dem Klavier zum Auszug nötigte. In der Militärstrasse, wo sie sich nun einmieteten, kam der Dichter vom Regen in die Traufe, denn kaum war die Einrichtung vollendet, so wurde ein Nebenhaus abgebrochen und umgebaut, und vor dem Krachen und Poltern musste man abermals flüchten. Zum Glück fand sich nun in dem sogenannten »Königsbad«, einem zwischen Stuttgart und Berg gelegenen, ehemals königlichen Anwesen mit grossen, hohen Zimmern und parkähnlichem Garten der rechte Ort. Hier gab es Stille für das schaffende Dichterhirn und prächtige Spielplätze für uns Kinder; ich kann sie in nebelhaften Umrissen gerade noch erblicken. Der berühmte Nesenbach – eines der Wahrzeichen des damaligen Stuttgart – der heute völlig überbaut und sogar aus der Phantasie der Kindheit verschwunden ist, wälzte sich trübe und übelriechend am Haus vorüber. Gleichwohl war er die Wonne unsrer Jugend. Es war uns freilich verboten, an dem Bach zu spielen, sowohl um seiner Miasmen willen als wegen der Gefahr des Hineinfallens, aber dieses Verbot machte uns seine mit Scherben und anderem Unrat stets beworfenen 229 Gestade erst recht anziehend. Und wie herrlich tollte sich's in dem grossen, abwechslungsreichen Garten mit den steilen, grünen Hängen, die man eins hinter dem andern hinabkugelte. Die gute Fina stand dabei und wusch hernach geduldig die Grasflecken aus den Kleidern. Eines Tages war über dem Spielen und Jagen unvermerkt ein schweres Gewitter aufgezogen; als der erste Donner krachte, riss Josephine erschrocken den kleinen Alfred auf den Arm, ihren Liebling Edgar nahm sie an die andere Hand und lief, so schnell sie konnte, den langen Kiesweg nach dem Hause hinab, während ich schreiend nachfolgte. Da schlug ein greller Blitzstrahl mit mächtigem Zischen hart neben mir in den Boden, dass von der Erschütterung alle Scheiben im Hause klirrten. Das riss den Vater aus seiner Studierstube; entsetzt rannte er in den Garten und trug sein Töchterchen den andern nach ins Haus. Diesem Blitz verdanke ich's, dass mir die Lokalität im Gedächtnis geblieben ist, er steht als ein flammendes Ausrufungszeichen über dem Kiesweg mit seinen niedern Buchsbaumhecken.

Die Innenräume unserer Wohnung waren mit den Resten einer einst kostbaren Einrichtung, teils im Stil des Empire, teils in dem der Biedermeierperiode angefüllt: den alten Oberesslinger Herrlichkeiten, soweit sie nicht schon zu Gelde gemacht waren. Diesen aristokratischen Erbstücken aus dem eigenen Hause mochte es schlecht in den engen Räumen der 230 Mietwohnungen, durch die sie sich jetzt schleppen lassen mussten, behagen, aber bald sollten sie ihrer unebenbürtigen Umgebung nur zu ähnlich werden, als wir Kinder anfingen, unsere Kräfte an ihnen zu erproben. Die Mutter war der Meinung, dass man den kindlichen Zerstörungstrieb austoben lassen müsse um ihn unschädlich zu machen und gab uns die schönen Geräte preis, auf deren Erhaltung sie bei ihrer wahrhaft asketischen, allen Komfort und Luxus verachtenden Sinnesart keinen Wert legte. Wenn der Geist der Tollheit über uns kam, sprangen wir von den eingelegten Tischen auf den Flügel, dass es hoch aufrauschte, und wieder vom Klavier in die damastenen Polster des Divans hinab; nach Bildern und Gipsbüsten schossen wir mit der Armbrust. So gab es bald kaum ein Möbel mehr im Hause, das seinen ursprünglichen Glanz bewahrt hätte, und nur die ausserordentliche Gediegenheit und Dauerhaftigkeit dieser Geräte machte, dass sie uns doch noch durch eine lange Reihe von Jahren, freilich in fast unkenntlicher Gestalt, begleitet haben.

Nur ein Möbel gab es im Hause, das heilig und unverletzlich war wie die Bundeslade der Hebräer und von ebenso geheimnisvollen Schauern umschwebt: die Kommode Josephinens, Sie barg die merkwürdigsten Gegenstände, alle vom unschätzbarsten Affektionswert, lauter Erinnerungen an die Grosseltern Brunnow, teils direkt von ihnen geerbt, teils meiner Mutter abgebettelt und dadurch unsern verderblichen 231 Händen entrückt. Da gab es Armbänder und Ringe aus Haaren, gemalte Blumen, unvollendete Stickereien, kleine Schmucksachen und Miniaturbildchen der Grossmutter. Eine zerdrückte Schachtel enthielt eine unendliche Auswahl von Bändern in allen erdenklichen Schattierungen, weiche Atlasbänder in hinsterbenden Rokokofarben, vielfarbig geflammte und gewässerte Bänder: die ganze Poesie der Schäferzeit samt dem kalten Prunk des Empire barg sich in dieser Bänderschachtel. Dann kamen die Basteleien meines Grossvaters, geschnitzte und gedrechselte Sächelchen, selbstfabrizierte Seifen, der schwarzrotgoldenen Tochter zuliebe in diese Farben gehüllt, und andere Spielereien. Solche aufgespeicherten Schätze nehmen mit der Zeit völlig die Natur ihrer Besitzer an. Wie hat Gottfried Keller das öde nüchtern barocke Wesen der Jungfer Züs durch ihre abgeschmackten Raritäten charakterisiert. Die unserer Fina waren im Gegenteil ganz Gemüt und Seele geworden. Da war nicht ein Gegenstand, der sich gleichgültig verhielt, wenn man ihn berührte. Mit diesem Spitzentüchlein hatte sie einst der toten Ottilie, um die sie ewig trauerte, das Gesichtchen zugedeckt, in jener angefangenen Straminarbeit war noch das letzte Geschenk erhalten, womit das kranke Kind seine Pflegerin hatte erfreuen wollen, das Nadelbüchschen aus geschnitztem Elfenbein erzählte von den kunstgeübten weissen Fingern unserer Grossmutter. An einem Bande waren verkleinerte goldene Nachbildungen der 232 Ordenssterne und -Kreuze des Grossvaters aufgereiht und erweckten mir phantastische Bilder von Kriegszügen und Abenteuern in fernen Ländern. Edgar dagegen erbaute sich am liebsten an Grossvaters Hausapotheke, einem Holzgestell mit niedlichen verkorkten und etikettierten Fläschchen, die ihn vielleicht den künftigen ärztlichen Beruf voraus empfinden liessen. Wollte Josephine auf ein paar Stunden Ruhe vor uns haben, so hob sie einfach den Deckel von der Kommode ab und setzte uns in das tiefe obere Fach mitten unter ihre Sachen hinein, und die Heiligkeit dieser Gegenstände redete dann so vernehmlich zu uns, dass wir ängstlich bedacht waren nichts zu beschädigen.

Mit eben solcher Treue pflegte sie die historischen Erinnerungen des Brunnowschen Hauses. Sie war es, die uns immer wieder des Grossvaters Erlebnisse aus dem russischen Feldzug erzählte, vor allem den unvergesslichen Augenblick, wo der junge Offizier aus Napoleons eigenem Munde die Instruktion zur Besetzung eines Dorfes empfing – das »Oui, Sire« des Grossvaters sprach sie immer mit grösster Feierlichkeit nach, und der Wert, den sie auf das Ereignis legte, liess uns lange Zeit glauben, dass jenes Dorf in Russland durch die militärische Besetzung des Grossvaters unser Eigentum geworden sei. Dann von abenteuerlichen Einquartierungen, von der sibirischen Gefangenschaft und der kühnen Flucht, die er in Gesellschaft seines 233 treuen Burschen quer durch Russland bewerkstelligte. Viele Jahre später lernte ich jenen Burschen als ehrsamen Familienvater in Weilheim unter Teck, wo ich ihn mit meiner Mutter von Kirchheim aus besuchte, kennen; da vernahmen wir aus seinem Munde die Bestätigung aller dieser Geschichten und freuten uns, wie das Gesicht des Mannes sich belebte und verjüngte, wenn er seines Herrn gedachte.

Im Königsbad vermehrte sich die Familie noch um einen zarten goldhaarigen Knaben, der die Namen Erwin Dietbald erhielt. Er wurde am 13. April 1857 geboren. Wir waren nun unser viere geworden, und das wachsende Häuflein mochte wohl einigen Stoff zum Nachdenken geben, da des Vaters rastloses künstlerisches Schaffen so ganz ohne materiellen Erfolg blieb. Doch liess man sich die gute Laune noch nicht durch Sorgen trüben. Wir teilten damals das Haus mit einer nahe befreundeten Familie, die sich in ähnlichen Glücksumständen befand. Wenn der Steuereinnehmer kam, so versteckten sich die beiden jungen Frauen hinter den Bäumen des Gartens und liessen ihm durch die Dienstmädchen sagen, sie seien ausgegangen. Der Mann verstand und entfernte sich wohlwollend mit dem Versprechen, gelegentlich wieder einmal nachzufragen. Es war allgemeiner Lebensstil, dergleichen nicht schwer zu nehmen; dass solche Verhältnisse in der geistig bevorzugten Klasse häufig vorkamen, machte sie für die Betroffenen 234 erträglich. Man nahm es mit dem Schicksal auf, das dann immer nach einiger Zeit auch wieder nachgab. Im Optimismus waren meine beiden Eltern sich völlig gleich. Was auch für Enttäuschungen kommen mochten, nie wurde in meiner Mutter der Glaube schwankend, dass ihr Dichter endlich durchdringen, sein Volk zu sich heranziehen werde, und ihre Begeisterung war es, was ihm in den schwersten Zeiten den Glauben an sich selbst nicht sinken liess. Ebenso wetteiferten sie in der persönlichen Bedürfnislosigkeit. In den zweiundzwanzig Jahren ihrer Ehe hat sie sich nur ein einzigesmal, auf acht Tage, von Hause entfernt, von einer Freundin fast gewaltsam weggeschleppt und auf jedem Schritt sich die Erholung missgönnend, weil er sie nötiger gehabt hätte. Dagegen konnte sie es auch nur mit Mühe durchsetzen, dass er sich zuweilen auf eine kleine Erholungstour begab oder den Abend mit Freunden zubrachte. Sie selber wollte nie dabei sein trotz ihrer geselligen Natur; ihr einziger Umgang waren ihre Kinder. Im Königsbad wurde ihr Glück zum erstenmal ernstlich getrübt durch jene schwere Nervenattacke, die meinen Vater nach der Vollendung der »beiden Tubus« befiel. Es war die Suggestion ihrer Liebe, die uns wildem Heere trotz unserer zarten Jahre und unserer völligen Disziplinlosigkeit damals die Einsicht gab, uns viele Tage lang musterhaft zu verhalten und durch keinen Laut den Fortgang der Genesung zu beeinträchtigen. 235

 


 


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