Isolde Kurz
Hermann Kurz
Isolde Kurz

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Heirat

Es war am 24. Februar 1848, dem Geburtstag der Revolution, dass Hermann Kurz und Marie v. Brunnow auf einem Maskenball im Saale des Museums zu Esslingen sich zum erstenmal sahen. Die Begegnung war keine zufällige: eine Freundin hatte es dem jungen Mädchen verraten, dass der Verfasser der »Heimatjahre«, der sich damals, von Karlsruhe zurückgekehrt, zu kurzem Besuch bei seinem Bruder in Esslingen aufhielt, mit mehreren seiner Freunde von der badischen Opposition den Ball besuchen werde, und diese Nachricht weckte in ihr den glühenden Wunsch, den seit lange verehrten Dichter persönlich kennen zu lernen.

Die »Heimatjahre« hatten trotz des schlechten buchhändlerischen Erfolges im ganzen Lande gezündet, und zwar geschah es, wie es oft geschieht, dass gerade die schwächeren Stellen des Buchs, die romantischen Lauraszenen, am stärksten auf die Phantasie der am Stofflichen hängenden Leser wirkten. Die ganze Jugend schwärmte für Laura und ihre Zigeuner. Meine Mutter hatte den Roman erst wenige Monate zuvor gelesen oder, besser gesagt, verschlungen; das stille Plätzchen 156 unter ihren Bäumen in Oberesslingen, wo sie sich, mit dem Buche versteckt hielt, bis sie unter Herzklopfen damit zu Ende war, blieb ihr für immer unvergesslich. Bei ihr kam noch die innere Verwandtschaft mit der Heldin hinzu, um den Eindruck zu verstärken. Gehörte sie doch von Geburt derselben Kaste an, deren Konvenienzen und Vorurteile jene launenhafte Schöne mit Füssen trat, und wie Laura hasste auch sie den Zwang und hätte gerne in den Schluchten des Schwarzwalds lebendige Zigeunerromantik getrieben, auf die Gefahr hin, sich den leibhaften Hannikel auf den Hals zu ziehen. Ihr Jubel über die Möglichkeit einer Begegnung mit dem Dichter war ohne Grenzen, und sie beschloss, ihm unter der Maske seiner Heldin eine Huldigung darzubringen. Aus einem pompösen roten Samtmantel, den ihr Grossonkel Dillen als Maltheserritter getragen und später ihrer Mutter geschenkt hatte, fertigte sie sich ein kleidsames Laurakostüm von halb weiblichem, halb knabenhaftem Schnitt, wie es zu ihrer kleinen beweglichen Gestalt passte. Ein hübscher, wohlgewachsener Student aus benachbartem Hause wurde veranlasst, sie in der Maske des Zigeuners Tony zu begleiten. Fast hätte im letzten Augenblick ein tragikomischer Zwischenfall die ganze Anstalt vereitelt. Das junge Mädchen hatte nämlich am Morgen des Balltages im Übereifer, sich schön zu machen, und gänzlich unerfahren in der Kosmetik, ihr blendend weisses Gesicht mit Soda gewaschen, weil sie gesehen 157 hatte, dass die gute Josephine dieses Mittel zum Bleichen der Wäsche verwandte. Das hatte zur Folge, dass ihre zarte Haut aufschwoll und sich hässlich rötete, so dass die Entzündung mit kalten Umschlägen bekämpft werden musste. Jede andre hätte sich durch einen so widrigen Umstand vom Besuche des Balles abschrecken lassen. Nicht so meine Mutter, die genau wusste, dass der Eindruck ihres Wesens nicht von Einzelheiten der Erscheinung abhing, sondern von ihrer gesamten Persönlichkeit. Ebensowenig liess sie sich durch die ihr zugeraunte Mitteilung irremachen, dass das Herz des Dichters bereits in festen Händen sei, und dass der Gegenstand seiner Neigung den Ball gleichfalls besuchen werde, denn ihre Bewunderung hatte noch mit persönlichen Wünschen und Hoffnungen nichts zu tun.

Als sie im Geleite ihres Morgenländers und unter der Ägide eines würdigen Ballvaters – ihr eigener Vater kränkelte damals schon – den Saal betrat, zog ein hochgewachsener schlanker Mann mit braunem Haar und Bart, die ein blasses Gesicht mit tiefglänzenden Augen umrahmten, ihre Aufmerksamkeit auf sich, und sie vernahm mit freudigem Erstaunen, dass es der Gesuchte war, der nun auch äusserlich ihrem Ideal der Männlichkeit entsprach. Sie wusste es einzurichten, dass sie ihm im Vorüberschlüpfen ein auf rosa Papier geschriebenes Sonett in die Hand drückte, worin der Dichter als »Heinrich Roller« angeredet und aufgefordert wurde, seiner Dame 158 in den Schwarzwald zu folgen. Er eilte ihr ins Maskengewühl nach und hatte sie auch bald an den nickenden roten Federn ihres Baretts wieder ausfindig gemacht. Als sie dann in eine lange Unterhaltung verwickelt nebeneinander sassen, kam Toni eifersuchtentflammt herangestürzt. »Wo brennt's?« fragte ihn Laura ärgerlich über die Störung. »Bei Ihnen!« zischte er ihr in die Ohren und wandte sich voll Grimm ins Tanzgewühl zurück. Das Auge der Eifersucht hatte richtig gesehen; es war der bekannte Blitzstrahl, der auf den ersten Blick bei ihr gezündet hatte. Dem Dichter seinerseits konnte der Eindruck, den er auf ein so pikantes und aussergewöhnliches junges Mädchen gemacht hatte, auch nicht gleichgültig sein, und ebenso zog ihn ihr feuriges Eintreten für die gemeinsamen politischen Ideale an. Noch hallten die Sturmglocken, die eben jetzt Frankreich erschütterten, nicht bis über den Rhein, aber schon vibrierte es in den Lüften, und eine Erregung ging durch alle Gemüter. In dieser gespannten Atmosphäre, in der gemeinsamen Erwartung des Neuen, Ausserordentlichen fanden die beiden sich innerlich schnell zusammen. Beim Souper stellte er ihr seine badischen Freunde vor, und sie tranken einander in Champagner das Wohl der heranbrausenden Revolution zu. Von Liebe war nicht zwischen ihnen die Rede, aber sie blieben für den Rest des Abends unzertrennlich und verabredeten noch auf den folgenden Tag ein Wiedersehen in 159 befreundeter Familie. Danach aber gingen ihre Wege auf lange Zeit wieder auseinander. Mein Vater siedelte nach Stuttgart über und trat dort in die Redaktion des »Beobachters« ein. Meine Mutter wurde durch das Leiden des Grossvaters, das ihn nach Jahresfrist zum Tode führen sollte, ans Haus gefesselt. Doch blieb der Eindruck jenes Ballabends so mächtig in ihr haften, dass sie noch Wochen später wie im Traume umherging. Wenn sie in den Strassen von Esslingen des Dichters Bruder Ernst begegnete, der ihm an Gang und Gestalt ähnlich war, so klopfte ihr das Herz, und sie liess sich unzählige Male täuschen, obwohl die Brüder sich nur aus der Entfernung glichen. Mit den Kindern ihres späteren Schwagers knüpfte sie Freundschaft an und lud sie nach Oberesslingen zu ihren Obstbäumen und Johannisbeerhecken ein, um ab und zu aus dem Munde der Unschuld den Namen des Onkels Hermann hören zu können. Ohnehin fühlte sich alles, was an der grossen Zeitbewegung teilnahm, wie von einem gemeinsamen Familienbande umschlungen; so brauchte sie in den Angehörigen meines Vaters keine Fremden zu sehen, denn auch sein Bruder Ernst, nachmals die Friedensliebe selbst, war damals von dem allgemeinen Sturme miterfasst und trug bei den Festen die schwarz-rot-goldene Fahne der Bürgerwehr durch die Strassen.

War ihr nun auch der Gegenstand ihrer Schwärmerei räumlich entrückt, so trat sie doch 160 in eine stille, aber eifrige Beziehung zu ihm, indem sie seine täglich erscheinenden politischen und ästhetischen Aufsätze im »Beobachter« las. Jeder brachte ihr einen Hauch seines Geistes, und sie lebte mit ihm fort, als wären alle diese Worte an sie gerichtet. Das mehrfach zitierte Vaterlandslied: »Sammle die zerbrochnen Glieder«, das in den kurzen Esslinger Tagen gedichtet war und jetzt im »Beobachter« erschien, erfüllte sie mit Entzücken. Dennoch fiel es ihr niemals ein, zu bedauern, dass ein solcher Genius seinem eigentlichen Berufe entrissen war, und die Klage seiner Freunde, dass der gewaltige »Sonnenwirt«, dessen erste Kapitel das »Morgenblatt« gedruckt hatte, jetzt auf lange Zeit unvollendet bleiben müsse, fand bei ihr kein Echo, denn ihr schien der unmittelbare praktische Dienst der Freiheit und des Menschentums noch preisenswerter als der Umweg über das künstlerische Schaffen.

Die lange Pause, die in ihrem äusseren Verkehr mit dem Dichter eintrat, und der Tod ihres Vaters dämpften doch allmählich die Stärke jener ersten Empfindung. Sie hielt sich vor, dass sie nichts zu hoffen hatte, da ja der Gegenstand ihrer Neigung schon gebunden war. Einem aussichtslosen Traume nachzuhängen, sich den Stachel einer unerwiderten Liebe tiefer und tiefer in die Seele zu drücken, das lag nicht in ihrer raschen Natur. Als sie im nachfolgenden Frühjahr eine Reise nach dem Elsass und der Schweiz antrat und Hermann Kurz sie in Stuttgart freundschaftlich 161 ruhig an den Eilwagen begleitete, ohne ein Wort zu sprechen, das wie eine Aufforderung zum Bleiben klang, da nahm sie sich fest vor, ihre persönlichen Gefühle zu ertöten, sich nicht die Begeisterung für ihn, wohl aber den Traum, dass er einmal ihr gehören könne, aus der Seele zu reissen. Ihre bewegliche Natur und die neuen Eindrücke, die ihrer auf fremdem Boden warteten, machten ihr die Erfüllung dieses Gelübdes nicht schwer. Sie hatte ja bisher von der Welt fast nichts gekannt als ihr väterliches Landgut mit seiner Umgebung, und auch ihre gesellschaftlichen Beziehungen reichten nicht über die Kreise der nahe gelegenen Residenz hinaus. Jetzt sah sie den Rhein und die Vogesen, erfreute sich an den feineren Formen und der munteren Lebendigkeit der französischen Gesellschaft in Colmar, besuchte die Schweiz und fand bei den dort lebenden deutschen Flüchtlingen, die ihr als der Verkörperung ihres Freiheitsideals huldigten, bewundernde Freundschaft und eine Fülle neuer Anregungen, die sie mit Feuer ergriff. Das liebliche Zürich mit seinem von bunten Wimpeln durchzogenen See erschien ihr als das Paradies auf Erden. Mächtig wirkte auf sie der Anblick des Rigi und der gewaltigen Häupter des Berner Oberlandes, das sie mit den neuen Freunden zu Fuss durchwanderte. Sie erstieg die Grimsel und Furka, besuchte den Rhonegletscher und sandte vom Gotthardpass sehnsüchtige Blicke ins Land Italien hinunter.

162 Eine solche Reise war in jener Zeit primitiver Verkehrsmittel für eine alleinstehende junge Dame kein geringes Unterfangen, und es gehörte der ganze Wagemut und unerschöpfliche Humor meiner Mutter dazu, um bei den geringen Mitteln, die sie aufzubieten hatte, die Flügel so weit auszuspannen. Um nur mit ihrem Gelde ein möglichst grosses Stück Welt zu sehen, fuhr sie auf der Eisenbahn (wo es eine solche gab) am liebsten in der vierten Wagenklasse, deren freien Rundblick sie nie genug rühmen konnte; auf dem Schiff benutzte sie das Zwischendeck, das ihr obendrein erwünschte Gelegenheit bot, sich mit der von ihr im idealsten Lichte gesehenen niederen Volksschicht zu unterhalten. Ihre Unempfindlichkeit gegen jede Art von Witterung, ihre absolute Bedürfnislosigkeit, die kaum das Recht des Körpers auf Nahrung gelten liess und jede Bequemlichkeit verschmähte, machten es ihr möglich, auch da noch zu geniessen, wo andre nur die Stacheln empfunden hätten. Diese Reise blieb denn auch immerdar ein Glanzpunkt in ihrer Erinnerung. Doch fand sie sich nach der Heimkehr auch wieder mit derselben Genügsamkeit in ihrem stillen Oberesslingen zurecht, wo sie mit dem kleinen Brüderchen und ihrer Josephine einsam weiter hauste, die Leere der Tage durch Korrespondenz mit den abwesenden Freunden und mit eifrigem Anteil an den öffentlichen Dingen ausfüllend. Trotz ihrer leidenschaftlichen Parteinahme für die Sache des Volkes war sie aber 163 keineswegs gesonnen, wie das »Fräulein von Malpeire« zu endigen. Denn als einer ihrer Parteigenossen, der weiter keinen Ruhmestitel für sich hatte, als ein Proletarier zu sein, ihr zumutete, von der Theorie zur Praxis zu schreiten und ihm ihre Hand zu reichen, da wies sie das Ansinnen doch sehr erstaunt zurück und gab zu verstehen, dass sie zwar den Adel der Geburt für nichtig halte, aber auf den der Bildung nimmermehr verzichten könne.

Um diese Zeit hatte sich Hermann Kurz wegen eines Pressreats vor dem Esslinger Schwurgericht zu verantworten. Der Prozess endigte mit Verurteilung zu sechswöchentlicher Festungshaft. Beim Austritt aus dem Sitzungssaale überreichte ihm Marie v. Brunnow, die an allen Verhandlungen teilgenommen hatte, einen Blumenstrauss, und während die Freunde den Verurteilten umringten, ging sie in ihrer explosiven Art auf den Staatsanwalt zu, der seinerzeit selber an der Achtundvierziger Bewegung teilgenommen hatte, und nannte ihn ohne weiteres einen Verräter – ein Zwischenfall, der übrigens, trotzdem er öffentlich stattfand, keine Folgen nach sich zog, ein Zeichen, wie wenig die Reaktion in Württemberg zum Terrorismus neigte. Diese stürmische Parteinahme galt aber nur noch dem Glaubensgenossen, der für seine Überzeugung stritt, nicht mehr dem Mann ihrer Träume. Während mein Vater auf dem Asberg seine Strafzeit absass, wechselten sie ein paar freundschaftliche Briefe, doch seiner 164 Aufforderung, ihn einmal oben zu besuchen, leistete die »Bürgerin Brunnow«, wie er sie scherzweise nannte, keine Folge.

Auf dem einst so gefürchteten »Berg der Seufzer«, wo einige der glänzendsten Kapitel der »Heimatjahre« spielen, wurde übrigens meinem Vater die Haft nicht schwer gemacht. Seit den Tagen Schubarts war es auf dem Asberg gründlich anders geworden, kein feuchtes Kerkerloch erwartete den Dichter dort, kein Oberst Rieger verfolgte ihn mit lästigen Bekehrungsversuchen, er genoss vielmehr volle Festungsfreiheit, konnte sich nach Belieben auf den Wällen ergehen und den weiten Ausblick auf sein geliebtes Schwabenland geniessen oder ungestört in seinem wohleingerichteten Zimmer bei der Arbeit sitzen; auch hatte er einen Soldaten zur Bedienung, der ihm die Postsendungen besorgte. So war es ihm möglich, in der Gefangenschaft die Redaktion des »Beobachters« fortzusetzen und der Druckerei täglich seine Artikel zu liefern. Ein freundlicher Genius hatte es zudem gefügt, dass sein Bruder um jene Zeit Vorstand des Arbeitshauses in Markgröningen war, in welcher Eigenschaft ihm auch die Verwaltung von Hohenasberg unterstand; und wenn mein Vater auch auf der Festung nicht so liebevolle Wurzeln schlug, wie später in den siebziger Jahren der behagliche Ludwig Pfau in seinem Heilbrunner Gefängnis, aus dem er nach Ablauf der Strafzeit mit List herausgelockt werden musste, weil er es aus freien Stücken gar 165 nicht mehr verlassen hätte, so fand er doch keinen Grund, über seine unfreiwillige Sommerfrische zu klagen.

Drei Jahre waren seit der ersten Begegnung verflossen, und noch immer waren die beiden Menschen, die das Geschick für einander bestimmt hatte, sich nicht näher gerückt. Endlich im Frühjahr 1851 fand in einem Wirtsgarten bei Esslingen eine neues, entscheidendes Zusammentreffen statt, und zwar diesmal auf Antrieb des männlichen Teils, der eine in Esslingen lebende Verwandte, die zugleich mit meiner Mutter befreundet war, um Vermittlung angegangen hatte. Meine Mutter war nicht wenig erstaunt, als ihr dort unter dem Blätterdach statt der Freundin zuerst eine männliche Gestalt entgegentrat und sie nach langer Zeit wieder einmal in die wohlbekannten glänzenden Augen blickte. Er erzählte ihr auf dem Nachhauseweg, dass seine Verlobung aufgelöst sei, und dass ihn sein Herz nun wieder zu seiner Laura ziehe; sie meinte aber, es sei nun doch seit jenen Tagen eine zu lange Zeit verstrichen und der erste Zauber verflogen. Das Verhältnis hatte sich zwischen den beiden umgekehrt: er wurde jetzt der beflissene, sie der zurückhaltende Teil. Er fuhr nun häufig nach Schluss der Redaktion noch nach Esslingen, um den Abend bei ihr auf dem Lande zu verbringen. Da erwachten auch bei ihr allmählich die alten Empfindungen wieder, und als er ihr einmal von den Opfern und Gefahren sprach, die eine Frau 166 an seiner Seite erwarteten, flog sie ihm jauchzend an den Hals, und unter Blumen und Leuchtkäfern wurde der Bund fürs Leben geschlossen.

Durch die Reihe von Liebeserfahrungen, die mein Vater nunmehr hinter sich hatte, war ihm der etwas spiessbürgerliche Typus des »Lottchen« – ehedem sein Frauenideal – gründlich verleidet worden. Teils vor, teils nach dem Karlsruher Aufenthalt und einmal während desselben hatte er Herzensbündnisse eingegangen, die jedesmal an seinen ungünstigen Glücksumständen gescheitert waren. Es haben sich nachmals so viele gemeldet, die einen Platz in seiner Herzensgeschichte beanspruchten, dass es mir nicht möglich gewesen ist, eine chronologische Ordnung in diese Ansprüche zu bringen. Aber durchgängig scheint sich wiederholt zu haben, was ihm schon als Studenten bei seiner ersten Liebe widerfahren war, dass die wohlerzogene Tochter auf väterlichen Befehl entsagte, um einen andern zu heiraten. Er selber hätte bei seiner ritterlichen Natur nie mit einem Mädchen, das ein Recht auf ihn besass, gebrochen; aber in mehr als einem Falle mochte er die Lösung des Verhältnisses mit stiller Erleichterung hinnehmen. Jetzt endlich fand er weibliche Kraft und weiblichen Opfermut, nicht jenen duldenden, entsagenden, der auf ein väterliches Machtwort hin verzichtet, sondern die weltüberwindende Hingabe einer starken Seele. Das erkannte er freudig an, als er in Marie von Brunnow das völlige Widerspiel dessen, was er 167 sonst an der Weiblichkeit gepriesen hatte, in sein Haus führte, und er hing ihr trotz grosser innerer Verschiedenheiten dankbar an bis zu seiner letzten Stunde.

Die Trauung fand am 20. November desselben Jahres in dem Dorfkirchlein von Oberesslingen im Beisein weniger Freunde statt. In Stuttgart stieg die junge Frau zuerst in der Junggesellenwohnung ihres Mannes ab, bis die gute Josephine mit der fahrenden Habe aus Oberesslingen nachkam und die neue Wohnung in der Sophienstrasse einrichtete. Am ersten Abend, den das neue Paar im eigenen Heim verbrachte, überraschte sie der Männerchor des Liederkranzes durch eine schöne Serenade, die trotz der wirbelnden Schneeflocken mit dem Lied meines Vaters »Der Himmel lacht und heitre Lüfte spielen« begann.

Der Himmel lachte nun wirklich über dem neuen Paar. Die ersten Jahre, die folgten, stehen in der Erinnerung meiner Mutter als die schönsten, ungetrübtesten ihrer Ehe. Denn solange mein Vater ausschliesslich mit der redaktionellen Tätigkeit beschäftigt war, wurde der Zwiespalt zwischen den Ablenkungen des Familienlebens und dem Stimmungsbedürfnis des Dichters noch gar nicht fühlbar. Er war heiter und voll Zukunftsmut und hielt auch in der veränderten Zeitströmung seine Fahne vertrauensvoll aufrecht. Meine Mutter, gläubig und überschwenglich, teilte seine Hoffnungen und nahm seine politische Mission vielleicht ernster, als gut war. Sie lebte 168 ganz für ihn; völlig bedürfnislos und völlig ichlos wünschte und brauchte sie nie das geringste für sich selbst. Es bedurfte einer Verschwörung, um sie zur Annahme eines neuen Kleides zu bewegen, wenn das alte abgenutzt war, und man musste es alsdann rot wählen, um sie durch die »Farbe der Freiheit« mit der für sie gemachten Ausgabe zu versöhnen. Unterhaltung und äussere Anregung suchte und wollte sie trotz ihrer geselligen Natur nicht; seine Gegenwart war ihr ein beständiges Fest, dass er auch andern Frauen gefiel, ihr höchster Stolz. Nur wo ihre Überzeugungen und Prinzipien in Frage kamen, liess sie sich auch von ihm nicht beeinflussen, denn sie stand immer ein paar Schritte weiter links als er. Ihre Ehe wurde deshalb von den Freunden des Hauses die »violette Republik« genannt, um sowohl die freiheitliche Konstitution des neuen Hausstandes, als die merkwürdige Mischung der ultraradikalen »blutroten« Gesinnung der Gattin mit der gemässigten »blauen« des Mannes zu bezeichnen.

Die Witwe des Dichters in ihrem 70. Lebensjahr

Freilich von den berühmten schwäbischen Frauentugenden hatte sie nur die einer exemplarischen Sparsamkeit ins Haus gebracht; eine eifrige Wirtschafterin war die junge Frau nicht und sollte es niemals werden, denn die Natur hatte sie mehr für die grossen Schicksalsstunden als für die Anforderungen des Alltags ausgerüstet. Eine komfortable, wohleingerichtete Häuslichkeit übte nie einen Reiz auf sie; wäre es nach ihr gegangen, so hätte sie am liebsten in einem Nomadenzelte 169 gewohnt. Mein Vater pflegte sie daher mit ihrer russischen Abkunft zu necken, die er für diese Eigenheit verantwortlich machte, und in der Tat, ich habe einen ähnlichen, sich über alle äusseren Dinge wegsetzenden Drang ins Grosse später nur noch bei den Damen der russischen höheren Stände wiedergefunden; auch das Familieninteresse hinter das öffentliche zurückzustellen, ist nicht deutsche Frauenart. Doch zum Glück besass sie an ihrer Josephine einen guten Geist, der nicht nur eine Schar von Dienstboten, sondern auch das immer wachsame Auge der Herrin selbst ersetzte.

Es versteht sich, dass das Halbbrüderchen Otto sie in das neue Leben begleitete und bei ihr blieb, bis seine Mutter, ein Mädchen aus dienendem Stande, sich verheiratete und das Kind zum grössten Leid Josephinens nach Amerika mitnahm, wo die beiden mit der Zeit verschollen sind. Doch bald blühte jetzt der treuen Pflegerin ein reicher Ersatz, denn am 16. Januar 1853 kam als Erstling der jungen Ehe ein bildschöner, adlig feiner Knabe, mein Bruder Edgar Konrad, zur Welt. Die Ankündigung des freudigen Ereignisses druckte jenes Tages der »Beobachter« mit goldenen Lettern. 170

 


 


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