Isolde Kurz
Hermann Kurz
Isolde Kurz

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In der Frone der Freiheit

Paul Heyse hat die Zeit, die mein Vater am »Beobachter« verbrachte, die »sieben mageren Jahre« genannt: sie waren es nicht nur wegen des dürftigen Jahrgehalts von achthundert Gulden, der zum Teil den flüchtigen Kollegen mit ernähren musste, sie waren es vor allem im Sinne seiner wahren Bestimmung. Dass er in der gemeinen Bedeutung des Wortes keine Seide spann, ist man schon an ihm gewohnt, jetzt aber spann er auch die Seide der Poesie nicht mehr, sondern den dürren Hanf der Tagespolitik. Seine redaktionelle Tätigkeit an dem »Deutschen Familienbuch« in Karlsruhe hatte ihm doch noch die Zeit gelassen, die vier ersten Kapitel des »Sonnenwirts«, die tiefsinnige Einleitung zum »Tristan«, den satyrischen »Kampf mit dem Drachen« und eine Reihe kleinerer Erzählungen zu schreiben. Dass während der Tätigkeit am »Beobachter« etwas Poetisches zustande gekommen wäre, ist mir nicht bekannt.

Es war ein schlechtes Omen, dass gleich der erste Schritt auf der neuen Laufbahn ihn um seinen alten Herzensfreund Mörike, die Verkörperung der Poesie, brachte. Freilich hatte sich schon in den Jahren, die unterdessen vergangen 171 waren, der Unterschied der beiden Naturen viel stärker entwickelt. Mörike weilte noch immer in Orplid, mein Vater aber, der mit seiner Zeit lebte, konnte diesen Quietismus des Freundes nicht mehr verstehen. Zwar wo er den seltenen neuen Spuren von Mörikes Genius begegnete, da begrüsste er sie stets mit demselben freudigen Entzücken, aber persönlich waren beide einander ferne gerückt. Es war auch ein starkes Stück von Mörike, dass er seit ihrem zärtlichen Abschied im Walde von Cleversulzbach im Oktober 1840 dem mit solcher Liebe umfassten jüngeren Freund aus reiner Bequemlichkeit keine Zeile mehr gesandt hatte, und als er gelegentlich an dessen Bruder Ernst über den Entfernten schrieb: »Karlsruhe ist mir einmal genannt worden, woselbst er eine Zeitung dirigiere,« und »ich habe diese lange Zeit her tausendmal gewünscht, ihm ein Zeichen zu geben« »ich werde dies unmittelbar auch demnächst tun« (was natürlich nie geschah), so ärgerte mein Vater sich über diesen Ton, den er den »alten romantischen Kanzleistil« nannte.

Auf der Königsstrasse in Stuttgart führte jetzt der Zufall die beiden einst so brüderlich vertrauten Dichter nach fast zehnjähriger Trennung wieder zusammen. Hermann Kurz im ersten Feuer seiner politischen Tätigkeit begrüsste jenen mit den Gedanken der neuen Zeit auf den Lippen, Mörike, der Unpolitische, Zeitlose, äusserte sich kühl und ablehnend, und es scheint sich nun 172 zwischen der jugendlichen Begeisterung und der Skepsis des kühleren Alters eine Szene entsponnen zu haben, wie zwischen Tasso und Antonio, nur ohne persönliches Motiv. Nach einer unverbürgten Überlieferung hätte Mörikes Verstocktheit endlich meinen Vater zu dem fassungslosen Ausruf getrieben: »Wer heute keine Partei ergreift, von dem heisst es: Pfui über dich Buben hinter dem Ofen,« wobei ich jedoch Anstand nehme, mir meinen Vater, den ich als die Selbstbeherrschung in Person gekannt habe, so masslos zu denken. Er selber scheint sich später an die Form ihres Bruches nicht mehr erinnert zu haben, denn im Jahr 1870 schrieb er an Heyse darüber: »Wie wir auseinander gekommen sind, das ist in keiner Metaphysik, geschweige in Mythen oder Mären zu finden.« – Wie die beiden Dichter lebenslang um ihre Freundschaft stille Trauer getragen haben und wie der überlebende Mörike einmal dieser Trauer mir gegenüber ergreifenden Ausdruck gab, habe ich schon erzählt.

Den Kreis politischer Glaubensgenossen, der damals meine Eltern umgab, kenne ich teilweise noch aus eigener Erinnerung. Ich war zwar erst drei Jahre alt, als wir definitiv von Stuttgart wegzogen, doch blieben ja die hervorragendsten unter ihnen meinen Eltern auch fernerhin verbunden. Da war vor allem »der alte Tafel«, der Nestor der Volkspartei und Patriarch nicht nur im Kreise seiner weitverzweigten Familie, sondern auch der Vater seiner jüngeren Freunde. Ihn habe ich 173 nicht selber gekannt, weiss aber, dass er dem Dichter in väterlicher Liebe anhing. Dann der Rechtskonsulent und ehemalige »Reichsregent« Becher, der glänzendste Redner der Partei und einer der wenigen, die, mit ästhetischen Organen begabt, meinem Vater auch als Künstler gerecht werden konnten. Wenn ich ihn charakterisieren will, so kommt mir als erstes das Wort Gentleman in den Mund, schon weil er sich gerne an die englische Kultur anlehnte. Bei distinguiertem Äusseren besass er künstlerische Bildung und einen Blick, der über die Kleinstädterei und Kleinstaaterei des damaligen Schwabentums hinaus ins Weltgetriebe ging, nicht nur theoretisch und literarisch, sondern auch praktisch und sozial. Jahrzehntelang sass er auf der Linken des Landtags, obgleich er als ästhetischer Aristokrat nicht so recht dahin passte, was ihn denn auch mit der Zeit notwendig in eine etwas schiefe Stellung brachte. Dass er zu den Gemässigten der Partei gehörte, versteht sich bei solchen Eigenschaften von selbst. Gefeiert war er vor allem als Verteidiger. Man wusste von ihm, dass er, wenn die Rechtsgründe versagten, unmittelbar auf die Herzen der Geschworenen zielte, um seine Klienten zu retten, und dass er hierin starker Wirkung fähig war, eine Gabe, die verfeinerte psychologische Organe voraussetzt und daher in Deutschland seltener als in den Ländern lateinischer Rasse gefunden wird. Auch im Privatleben spürte man ihm den Redner an, und eine gewisse 174 Feierlichkeit war von seinem Auftreten unzertrennlich. Meinem Vater war Becher lebenslang ein treuer, immer bereiter Freund, und die beiden gleichzeitig gegründeten Familien haben später die Freundschaft der Väter fortgesetzt. Von ganz anderm Schlage war Julius Hausmann, einer der Ultras der schwäbischen Demokratie, Parteimann vom Wirbel bis zur Sohle, das politische Interesse über jedes andere stellend, von energischer und imposanter Persönlichkeit, ein schöner Mann noch im Alter, dem die scharfausgeprägten Züge, die gebietenden blauen Augen und der starke Schnurrbart das Aussehen eines Offiziers in Zivil gaben. Er war der Intimus des um jene Zeit flüchtigen Ludwig Pfau, des ewig Heimatlosen und doch so Heimatbedürftigen, der in Hausmanns gemütvoller Häuslichkeit jederzeit seine Heimstätte fand. Während unsrer Stuttgarter Zeit lebte Pfau als Flüchtling in Paris, doch kam er vor der Amnestie einmal heimlich ins Vaterland und hielt sich acht Tage lang in meinem Elternhause versteckt. Er war ein untersetzter, etwas beleibter Mann mit rotem Haar und stark vortretenden blauen Augen, nach Erscheinung und Aussprache ein Stockschwabe, dem man äusserlich den langen Aufenthalt in Frankreich, dessen Kultur er gründlich studiert hatte, nicht ansah. Bekannt war seine Unergiebigkeit im Gespräch, das er meist bloss mit einem dumpfen Knurren begleitete oder ab und zu durch ein Kraftwort vom schwersten Kaliber bereicherte, um gleich wieder in tiefes 175 Schweigen zu versinken. Was er an angesammelten Gedanken in sich trug, brachte er nur mit seiner geistreichen Feder zutage. Überhaupt war sein Wesen voll von Widersprüchen. Von höchst revolutionärer Gesinnung, hielt er doch die grössten Stücke auf seine persönliche Ruhe. Ein grosser Freund materieller Genüsse opferte er alles dem Ideal. Von äusserst sesshafter Natur schweifte er ewig ruhelos durch die Welt. Die Form war ihm heilig in der Kunst, aber im Leben verachtete er sie. Er stand mit meinem Vater auf keinem sehr intimen Fusse; bei aller gegenseitigen Anerkennung waren sie zu verschieden in den Instinkten. Sehr gut verstand er sich dagegen mit meiner Mutter, die ihn von Zürich her kannte und die ohnehin für alles, was zur Partei gehörte, Feuer und Flamme war. Mit jener Unbeweglichkeit, die alle seine Freunde an ihm kannten, sass er als Peter in der Fremde nachmittagelang in der Sofaecke langsam seinen Kaffee schlürfend, während mein Vater auf der Studierstube war, oder er ging mit meiner Mutter eifrig politisierend im Zimmer auf und ab, wobei ihm meine damals noch sehr kleine und unruhige Wenigkeit beständig überquer kam und den politischen Spaziergang störte, was er mir noch vorzuwerfen pflegte, als ich schon erwachsen war.

Mit Pfau und Hausmann bildete Karl Mayer, der Sohn des gleichnamigen, zur Zeit der Schwäbischen Dichterschule viel genannten Lyrikers, das Triumvirat der Volkspartei. Er war der typische 176 Agitator und Volkstribun, sogar im Äusseren, ein breitschultriger, untersetzter Mann von starkem, beweglichem Temperament und zündender, auf die Menge wirkender Rhetorik. Daneben besass er umfassende literarische Kenntnisse und galt im Freundeskreise für einen brillanten schlagfertigen Gesellschafter. Von seiner lyrischen Begabung sind nur wenige Proben an die Öffentlichkeit gedrungen; sie wecken aber die Vermutung, dass er auf diesem Punkte seinem Vater, der mehr durch seine Nachbargestirne Uhland und Schwab als durch eigenes Licht geglänzt hatte, bedeutend überlegen gewesen sei. Dagegen war Karl Schnitzer, der klassische Philologe, eine richtige Gelehrtennatur von altschwäbischem Schlage, zäh und tiefgründig, auch er einer der Getreusten meines Vaters. Von unsrem intransigenten Freunde Hopf, dem Verrina der schwäbischen Volkspartei, wird bei späterer Gelegenheit die Rede sein. Jener dicke Gottlieb Finkh, genannt »der Ostjäck«, den die Leser meines Vaters aus dem »Wirtshaus gegenüber« kennen, war gleichfalls unter die »Roten« geraten und gehörte zu den Intimen unsres Hauses, desgleichen Ludwig Seeger, dessen Ruhm als Lyriker und Übersetzer jetzt mit Unrecht halbverklungen ist. Seine Persönlichkeit steht nur noch in ganz dämmernden Umrissen am fernsten Horizonte meiner Kindheitserinnerungen; er muss nach meinem Vater die bedeutendste Erscheinung dieses Kreises gewesen sein: eine breitangelegte Natur voll Kraft 177 und Feuer, derb und saftstrotzend, ein Sohn des Volks, dabei mehr glühender Patriot als eigentlicher Parteimann, so schilderten ihn später die Überlebenden. Mein Vater hat ihm zur Hochzeit ein Gedicht gewidmet, das an gemeinsam durchschwärmte, brausende Jugendtage mahnt, eine Erinnerung, die auf die Universitätszeit zurückzuweisen scheint, wo Seeger mit Finkh dem Kauslerschen Freundeskreis angehörte.

Dieses war der politische Zirkel, der in den fünfziger Jahren den früheren literarischen abgelöst hatte und der dem geistigen Leben des Landes ein völlig anderes Gepräge gab. Jetzt war es mit der patriarchalischen Gemütlichkeit gründlich vorbei: ein Riss ging mitten durch das Land, alte Freunde mieden sich oder waren Todfeinde geworden, und manche, die sich innerlich widerstrebten, wurden durch ein Parteiprogramm zusammengebunden.

Im Juni 1849, unmittelbar nach der Sprengung des »Rumpfparlaments«, hatte mein Vater den Beobachter, an dem er seit einem Jahre beschäftigt war, zum erstenmal als verantwortlicher Stellvertreter neben dem eigentlichen Redakteur Adolf Weisser unterzeichnet. Nachdem dieser schon im Juli desselben Jahres, politisch schwer kompromittiert, in die Schweiz entflohen war, führte Hermann Kurz die Redaktion allein weiter, obgleich er erst vom Januar 1851 ab, nach Weissers Tode, als Redakteur zeichnete. Doch hatte er schon die ganze Zeit her die Last allein 178 getragen. Er schrieb, wie ich von meiner Mutter weiss, fast das ganze Blatt: Leitartikel und Kammerberichte, zum grossen Teile auch das Feuilleton; Beiträge für das letztere bezahlte er noch von seinem eignen mageren Gehalt. Er machte sich's zur Ehrensache, seine Leser auch kulturell an sich heranzuziehen und hob daher das Feuilleton des kleinen Volksblattes auf eine literarische Höhe, die den Ansprüchen einer grossen Zeitung genügt hätte, indem er dabei doch immer den populären Standpunkt festhielt. Oft hörte ich ihn später sagen, für das Volk wie für die Kinder sei nur die beste geistige Kost gut genug.

Als mit zunehmender Bedrückung das freie Wort immer gefährlicher wurde und auch die Reihen der Kampfgenossen sich durch Exil und Übertritt lichteten, liess er sich niemals entmutigen und harrte unbeirrt in seinem Redaktionslokal aus, jeden Augenblick darauf gefasst, von Frau und Kindern weggerissen und ins Gefängnis geführt zu werden. Der Beobachter, der als Oppositionsblatt die Pflicht hatte, jeden Missbrauch, jedes Unrecht ans Licht zu ziehen, war in immerwährende Kämpfe verwickelt. Die Konfiskationen jagten sich; häufig wurde nicht einmal der Grund der Beschlagnahme angegeben. Tag für Tag welch ein Verbrauch der edelsten Kraft. Und dabei hatte der Dichter ja nicht die derben Organe seiner Parteigenossen, er fühlte alle Aufregungen und Bitternisse, allen Ekel dieses Ringens mit einer verknöcherten Bureaukratie, 179 einem gewalttätigen Reaktionsregiment. Eine ganze Mustersammlung von beleidigenden privaten Zuschriften, die dem Redakteur des Beobachters galten, habe ich noch jüngst in seinem Nachlass entdeckt. Der »Märzminister« Römer sandte ihm eines Tages eine Herausforderung auf Säbel, worauf mein Vater die Antwort gab, er sei kein Korpsstudent und stehe nur auf Pistolen bei fünf Schritten Distanz zu Diensten, was dann die Folge hatte, dass das Duell unterblieb. Ein andermal erhielt er von anonymer Seite die Zeichnung einer russischen Knute zugesandt mit der Drohung, der Einsender würde sich nächster Tage mit diesem Instrument bei ihm einfinden, um ihn selbst und seine Frau und Kinder (die damals im Wickelkissen lagen!) für seine Artikel gegen den Kaiser Nikolaus zu züchtigen. Mein Vater druckte den ganzen Brief nebst der Knute im Beobachter ab und fügte die Aufforderung hinzu, der edle Anonymus möge doch so bald wie möglich kommen, um aus dem Lauf seiner Pistole die einzige Antwort entgegenzunehmen, die auf eine so bestialische Drohung möglich sei. Es brauchte die ungeheure Spannkraft meiner Mutter, ihre bis zum Fanatismus gehende Hingebung an die Sache, der er diente, um ihn als Frau in dieser Lage nicht durch Kleinmut herabzuziehen, ja ihn noch länger zum politischen Märtyrertum zu spornen, als es sich mit seiner höheren Sendung vertrug.

Im Herbst 1853 stand er zum zweiten Male 180 wegen Pressvergehens vor dem Esslinger Schwurgericht, aber diesmal entriss ihn Bechers glänzende Beredtsamkeit einer Verurteilung.

Jetzt kam die Reihe auch an meine Mutter. In dem Bureau einer kleinen demokratischen Zeitung zu Dresden, deren Redakteur verhaftet war, wurde ein politisches Gedicht gefunden, das keine Unterschrift trug. Es war an Gottfried Kinkel gerichtet, der zur Zeit der Abfassung im Spandauer Zuchthaus am Spinnrocken sass, und schloss mit einem vehementen Ausfall auf das herrschende Regiment. Das Gedicht war ungedruckt, somit wäre eine gerichtliche Verfolgung zu vermeiden gewesen, wenn nicht die Frau des Redakteurs, die zuvor von meiner Mutter viele Unterstützungen empfangen, sie sogleich und ohne Not als Verfasserin angegeben hätte. Ein Verfahren musste eingeleitet werden, ganz gegen den Geschmack der württembergischen Regierung, die gerne unnötigen Skandal vermied. Mein Vater war ausser sich und fest entschlossen, lieber auszuwandern als seine Frau eine Strafe absitzen zu lassen. Mit einer ganzen Schar befreundeter Advokaten begleitete er sie, die sehr munter und gutes Mutes war, denn sie hätte gerne auch ein bischen Märtyrertum gehabt, vor das Schöffengericht in Stuttgart, und unterwegs suchte ihr Becher noch genau einzuprägen, wie sie sich verhalten solle. Der Richter stellte auch seine Fragen auf eine Weise, dass es ihr ein leichtes gewesen wäre sich herauszuwinden, aber ihr rasches 181 Temperament ging mit ihr durch. Auf die Frage, ob sie das inkriminierte Gedicht geschrieben habe, antwortete sie nicht nur mit Ja, sondern setzte aus freien Stücken hinzu, die darin ausgesprochenen Ansichten seien noch jetzt die ihrigen. Der wohlwollende Richter, der um keinen Preis eine Märtyrerin machen wollte, verstand es dennoch, zu einem freisprechenden Erkenntnis zu gelangen. Nach Verkündigung des Urteils sagte er heimlich zu meiner Mutter: »Ich muss Ihnen mein Kompliment machen: das Gedicht ist gut.«

Einige Wochen nach diesem Vorfall kam ich zur Welt; meine stillschweigende Anwesenheit bei der Sitzung mag den Freispruch mit beeinflusst haben. Wer weiss, ob nicht meine angeborene und schon ganz frühe ausgeprägte Abneigung gegen jede Art von politischer Dichtung dem Umstande zuzuschreiben ist, dass ich schon im Mutterleib durch einen Prozess wegen politischer Verse inkommodiert worden bin.

Die in der Frone der Freiheit verbrachten Jahre sind derjenige Abschnitt im Leben meines Vaters, über den ich die wenigsten Nachrichten habe. Er selber berührte diese Kämpfe, deren Wunden ihn wohl noch lange schmerzten, niemals. Auch schriftliche Belege sind darüber so gut wie gar nicht vorhanden, seine sonst so lebendige Korrespondenz mit den Jugendfreunden Rudolf Kausler und Adalbert Keller stockte damals ganz; sie standen seinen politischen Idealen nicht feindselig aber gleichgültig gegenüber. 182 Seine Waffengefährten sind alle tot und haben, so viel ich weiss, keine Aufzeichnungen über jene Tage hinterlassen. Wie mannhaft und aufopferungsvoll er in der schwersten Zeit der Reaktion auf seinem bedrängten Posten standhielt, dafür habe ich ausser den Erinnerungen meiner Mutter nur das poetische Zeugnis, das Karl Mayer, einer seiner Nachfolger am Beobachter, viele Jahre später an dem frischen Grabe des Dichters niedergelegt hat; es war die einzige Stimme der Dankbarkeit und Anerkennung, die sich damals für den Geschiedenen aus den Reihen seiner einstmaligen Kampfgenossen erhob, und ein um so wertvolleres Zeugnis, als Karl Mayer nicht zu den intimeren Freunden unsres Hauses gehörte.

Ohne Dank, ohne Freude, selbst ohne das tröstliche Gefühl einen inneren Beruf zu erfüllen, harrte der Dichter aus, nur um seinem Gewissen zu genügen. Ob er ihm volle Genüge tat, ob nicht zuweilen eine heimliche Stimme ihn mahnte, dass er einer höheren Gottheit gehören sollte, die über den Zeitkämpfen schwebt, ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass diese Vergeudung seines Talents noch verhängnisvoller war als das drangvolle Übersetzerhandwerk, dem er zur Zeit seines ersten Stuttgarter Aufenthalts hatte frönen müssen. Damals war er ja noch jung, und Selbstverschwendung gehört zum Wesen der Jugend. Jetzt aber trat er in das Alter, wo die Zeit immer kostbarer wird und wo jedes der wahren Bestimmung 183 entzogene Lebensjahr einen unersetzlichen, ewig peinigenden Verlust bedeutet. Und wenn er auch im Feuilleton sich einen Ausweg ins Zeitlose, Geistige offen hielt, so blieb doch immer der Abstand zwischen ihm und seinem Publikum viel zu gross, um ihn hier die genügende Entschädigung finden zu lassen.

Auch die Geldsorgen hatten sich zeitig in der Ehe eingestellt. Das Brunnowsche Vermögen war schon beim Tode meines Grossvaters sehr zusammengeschmolzen, denn der alte Kriegsmann, der mit der Verwaltung nichts zu tun haben mochte, hatte es grösstenteils in Sparkassen angelegt, die eine um die andere fallierten. Das Haus in Oberesslingen mit Garten und Wiesengründen hatte meine Mutter, weil es nicht vermietet werden konnte, bei der Heirat in Eile um einen Spottpreis verkauft. Da beide Eltern sich bewusst waren, von Geschäften nichts zu verstehen, liessen sie sich durch den Rat gleichfalls unpraktischer Freunde leiten, und so ward ein Besitz, in den mein Grossvater Brunnow ein für jene Zeit nicht unbeträchtliches Kapital gesteckt hatte, für wenige tausend Gulden verschleudert, die in den ersten Jahren aufgezehrt wurden. In einem Geheimfach seiner Schatulle hatte der alte Herr vor seinem Tode noch eine stattliche Anzahl von Goldstücken versteckt, hoffend, seine Marie werde einmal gerade im rechten Augenblick, wenn sie des Geldes bedürftig sei, den Schatz entdecken, was denn auch richtig 184 eingetroffen ist – ich vermute, dieser Augenblick war bei ihr immer. Einen ähnlichen Glücksfund und zu ähnlich gelegener Stunde tat übrigens auch einmal mein Vater; allerdings hatte er das Gold selber versteckt. Er besass ein Kunstblatt, den »Verhungerten Dichter« darstellend, eine abgezehrte, im Lehnstuhl zusammengebrochene Gestalt, neben der ein trauerndes Weib in dürftigem Aufzug stand. Das Bild hatte ihn einmal noch in seiner brausenden Junggesellenzeit als plötzliches Memento erschüttert, und da er zufällig gerade bei Kasse war, hatte er in eine umgebogene Ecke des Blattes ein Goldstück geklebt, um es später bei wiederkehrender Ebbe da zu finden. Allein, obgleich die Ebbe jedenfalls früh genug eintrat, blieb die Existenz des Goldstücks doch vergessen, bis er eines Tages, schon als Familienvater, den weggeworfenen Holzschnitt wieder aus dem Papierkorb holte, etwas Hartes zu fühlen bekam und dem »Verhungerten Dichter« dankbar seinen wohlbehüteten Sparpfennig abnahm. – Die Reste des grossväterlichen Vermögens waren um jene Zeit auch noch bei Privaten angelegt, besonders bei Untertürkheimer Bauern, die regelmässig am Termin den Zins nicht zahlen konnten. Der Schultheiss des Ortes, ein politischer Gegner, erklärte meinem Vater eines Tages, dass man bei der Armut der Leute kein anderes Mittel hätte, den Zins oder die Summe selbst wieder einzutreiben, als indem man ihre Äcker pfänden liesse. Meine Eltern erliessen hierauf den Ärmsten 185 ihrer Gläubiger den Zins zusamt der Schuld. Dies machte solchen Eindruck auf den Schulzen, dass er die Partei wechselte und auf den Beobachter abonnierte, denn, sagte er, eine Partei, zu der solche Menschen gehörten, müsse es wirklich mit dem Volke gut meinen.

Noch einer anderen merkwürdigeren moralischen Eroberung meines Vaters soll hier gedacht werden. Eines Tages trat in sein Redaktionslokal ein sehr unheimlicher Besucher, der Scharfrichter. Er erzählte meinem Vater, er habe seine Artikel gegen die Todesstrafe gelesen, und klagte bitter, dass er, der selbst ein prinzipieller Gegner der Todesstrafe sei, sich zu diesem fürchterlichen Handwerk gezwungen sehe. Er sei blutarm, jeder andere Beruf sei ihm verschlossen; was er tun solle? Mein Vater antwortete, wenn er die Mittel hätte, würde er ihm gerne helfen, so aber könne er ihm nicht einmal raten, denn es handle sich hier nicht um das Wohl der Menschheit, sondern lediglich um sein eigenes. So lange die Todesstrafe bestehe, würden sich immer wieder Leute finden, sein Amt zu übernehmen. Die kleine Begebenheit mag als Beispiel dafür dienen, was nach Karl Mayers Zeugnis

– »dieses Dichters Rat und Spruch im Land
In Häusern und in Hütten damals galten«.

Die Wege des Geistes sind geheimnisvoll. Ein schärferes Auge als das unsrige könnte vielleicht heute noch die verwischten Lichtspuren wahrnehmen, die von ihm zu seinem Volke 186 hinunterführen und von da wieder hinaus ins Grosse und Allgemeine.

Gegen Mitte der fünfziger Jahre begann sich die demokratische Partei in Württemberg zu spalten. Ein Teil neigte sich den Ansichten des späteren Nationalvereins zu, indem er unter Beibehaltung der Forderungen von Achtundvierzig einen engeren Anschluss an Preussen verlangte. Die Brüder Ludwig und Adolf Seeger und der feinsinnige Fetzer, gleichfalls eine Poetennatur, standen an der Spitze der Sezessionisten. Mein Vater dagegen war Anhänger der grossdeutschen Idee. Er hatte in einer im Beobachter erschienenen Schrift über die deutsche Trias einen Bund der Kleinstaaten mit gesondertem Parlament und ein Schutz- und Trutzbündnis mit Preussen und Österreich befürwortet; zu ihm standen Becher, Schnitzer, Hopf und Hausmann mit dem Kern der Partei. Ich erinnere mich noch aus einer etwas späteren Zeit, dass ich oft meine Mutter den Namen »Trias« mit Sehnsucht und Ehrfurcht aussprechen hörte, und bei dem sonoren Klang dieses Wortes schwebte mir ein am fernsten Horizont befindliches Wunderland, eine Art glückseliger Insel vor. – Diese Entzweiung innerhalb der Partei reifte in meinem Vater, den der Genius in Gestalt des Sonnenwirts immer gebieterischer drängte, den Entschluss, die Redaktion des Beobachters niederzulegen. Natürlich stiess er auf heftigen Widerstand, und die Freunde suchten vor allem durch seine Frau auf ihn 187 einzuwirken. Ich habe es meiner Mutter immer hoch angerechnet, dass sie diesem Drängen gegenüber zu meinem Vater stand und die Besucher mit dem Bescheid entliess, ihr Mann habe nun genug für die Partei getan; die Redaktion des Beobachters könne auch ein anderer führen, den »Sonnenwirt« schreiben könne keiner als er. 188

 


 


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