Isolde Kurz
Hermann Kurz
Isolde Kurz

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Oberesslingen

Im Frühjahr 1859 nahmen meine Eltern den Vorschlag ihres alten Freundes, des Expfarrers und Landtagsabgeordneten Hopf, der lange Zeit in den inneren politischen Kämpfen Württembergs eine Rolle gespielt hat, an und zogen zu ihm nach Oberesslingen, in die alte Heimat meiner Mutter. Dieser Entschluss, aus der Not geboren, sollte für Hermann Kurz verhängnisvoll werden, da er ihn dem freilich schon längst stagnierenden literarischen Leben der Hauptstadt entrückte, um ihn der tiefsten Vereinsamung entgegenzuführen; uns Kindern hat er freilich eine Reihe idyllisch schöner Jugendjahre gesichert. Zunächst wirkte die ländliche Stille und die stete Berührung mit der Natur sowie der tägliche Umgang des zuverlässigen, gleichmässig gestimmten Freundes wohltätig auf des Vaters reizbar gewordenes Nervensystem. Meine Mutter war selig die Orte wiederzusehen, wo sie ihre Jugend und die ersten Monde einer glücklichen Liebe verbracht hatte. Noch war das Dörflein ganz das alte; der Neckar floss still und klar zwischen flachen Weidenufern vorüber. Dorthin wanderten wir an den Sommerabenden gross und klein um im Freien zu baden, und ich erinnere mich gut, 236 wie einmal mein Vater an tieferer Stelle auf einem mosigen Steine ausglitt und mich vom Arme fallen liess, dass ich untersank und bewusstlos wieder aufgefischt wurde. Das Hopfsche Haus, das wir bewohnten, lag nur wenige Schritte von dem ehemaligen Besitz meiner Mutter entfernt in einer grossen Obstwiese, die von Hühnern und Pfauen bevölkert und von einer Mauer eingefasst war; es sollte das Paradies unserer Kindheit werden. Wir hatten zwar nur eine kleine Mansardenwohnung; dafür konnten wir Kinder aber fast die ganze Zeit im Freien verbringen, daher ich mich auf die Innenräume nicht mehr deutlich besinne. Meines Vaters Zimmer war ziemlich geräumig, aber niedrig und hatte nur kleine Mansardenfenster, doch lag es zum Glück vom Lärm des Haushalts abgesondert. Wir kleines Volk hatten Garten und Wiese zur fast unbeschränkten Benutzung und erhielten von dem Hausherrn, der ein grosser Kinderfreund war, noch jedes seine eigene Rabatte zugeteilt, die wir bebauen durften, auch gingen wir seinen jugendlichen Töchtern in der Gartenarbeit zur Hand oder glaubten es wenigstens zu tun, da wir ihnen wohl mehr im Wege standen als halfen. Freund Hopf hatte damals die Redaktion des »Beobachters« inne, die seit meines Vaters Rücktritt schon durch verschiedene Hände gegangen war, und fuhr jeden Abend von Stuttgart nach Oberesslingen heim. Der kleine bewegliche Mann mit der rötlichen Löwenmähne und eben solchem 237 Bart widmete sein ganzes Leben den Interessen der unteren Volksschicht. Eine Feuerseele mit praktisch-nüchterner Richtung und ausgesprochen pädagogischer Anlage, war er von der Natur zum direkten Erzieher und Lehrer der niederen Klassen geschaffen. Er gehörte der Generation von Moerike und Bauer, Strauss und Vischer an, war seinerzeit wegen burschenschaftlicher Tendenzen aus dem Stift ausgewiesen worden, hatte dann später als Pfarrer sich die dürftigste Gemeinde ausgesucht, um recht ein Helfer und Schirmer seiner Herde sein zu können. Er pflegte das Landvolk auf der Kanzel über alles was ihm nützlich sein konnte bis herab zur besten Düngerbereitung aufzuklären. Als er zur Strafe für die Befreiung politisch Verurteilter, darunter des bekannten »Reichskanarienvogels« Rössler von Öls, von der ihm liebgewordenen Gemeinde weg zu einer anderen versetzt wurde, liess er sich nicht beirren, sondern begann an dem neuen Orte gleich sein Liebeswerk von vorn. Er speiste und kleidete die Armen, liess die Mädchen in Handarbeiten unterrichten und sorgte praktisch für seine Schafe. Durch grobe Rechtsverletzung, die zu späterer Revision führte, von der Kanzel vertrieben, kaufte er sich dann ein Gut im Schwarzwald um als Bauer zu leben, und seine dankbaren Anhänger sandten ihm einen Wagen voll Saatkorn zum Einstand in sein neues Leben nach. Aber lange duldete es den tätigen Mann nicht in der Stille, er gab seinen Besitz wieder 238 auf und übernahm die Führung des Beobachters, die ihm noch die Zeit liess, das kleine Gütchen in Oberesslingen zu bebauen. Nachdem der württembergische Landtag gegründet war, vertrat er dort durch allen Wechsel der Zeitströmungen in seiner Person die äusserste Linke. »Dieser Rote, dieser Hopf,« so übersetzte einmal ein aufgeräumter Politiker das Sprichwort Hic Rhodus, hic salta. Für die bruchlose Ganzheit und Einfachheit seines Wesens kann man nur unter den Gestalten des Tell einen Vergleich suchen. Furchtlos wie sein Wahlspruch »Gradaus«, den er später zum Titel einer mit Opfern gegründeten und lange aufrecht erhaltenen kleinen Volkszeitung machte, ging er ohne rechts und links zu sehen, seinen Weg; an seiner absoluten Uneigennützigkeit haben auch seine Gegner nie gezweifelt. Seine Wähler hielten denn auch durch siebenundzwanzig Jahre an ihm fest, sogar sein glänzender Mitbewerber um das Vaihinger Mandat, F. Th. Vischer, musste vor ihm die Segel streichen. Hopf war auch philosophisch und humanistisch gründlich unterrichtet, ein Verehrer der alten Literatur, doch ohne künstlerisches Bedürfnis, ganz aufs Moralische gerichtet. Es gehörte zu den Eigentümlichkeiten der Achtundvierziger, dass sie abweichende Meinung als einen Flecken im Charakter betrachteten, davon hat Hopf eine rühmliche Ausnahme gemacht und sich in den politischen Kämpfen, die so oft in persönliche ausarteten, seine Toleranz und Menschenliebe 239 zu bewahren gewusst. An meinem Vater wie an allem, was er liebte, hing er mit einer Kraft der Treue und Aufopferung, die ihresgleichen selten findet. In allen Schwierigkeiten wusste er einen Ausweg. In Zeiten der Überreizung verstand er es liebevoll klug auf die Stimmungen des Dichters einzugehen und ablenkend zu wirken. Sein Auge war immer wachsam über dem Schicksal meiner Eltern, und wir Kinder hatten in seinem Haus für alle Zeit eine Heimstätte.

Als wir in Oberesslingen einzogen, waren die alten Freunde und Nachbarn meiner Mutter noch alle am Leben; auch die Dorfleute, die der Grossvater Brunnow sich einst verpflichtet hatte, kamen herzu, und alles überschüttete uns mit Freundschaftsbeweisen. Das Kindergemüt meiner Mutter jubelte, als ihr beim Einzug eine Nachbildung des Asbergs aus Zucker geformt, die Wälle mit Kaffeebohnen aufgefüllt, überreicht wurde. Die Geberin des sinnigen Geschenks, das auf die dort verbüsste Festungsstrafe meines Vaters anspielte, war ein altes Fräulein aus der Nachbarschaft, von uns wie von aller Welt die »Tante Bertha« genannt. Hier steht sie wieder vor mir, die unvergessliche Freundin unserer Kindheit mit dem weissen Scheitel, worauf ein schwarzes Fransentüchlein gefühlvoll schwankte, den lebhaften blauen Augen und den schmalen, von Begeisterung stets geröteten Wangen. Sie war die Hilfe der Bedrängten, der Trost der Klagenden, ein Feuerbrand gegen alle Tyrannen, eine 240 flatternde Fahne der Freiheit. Noch ganz erfüllt von den Achtundvierziger Idealen, machte sie sich zur Agentin der Volkspartei und verstand es geschickt, die demokratischen Wahlzettel in dem Bezirk unterzubringen. In ihrem Kopf thronten die erhabensten Vorstellungen von Freiheit und Völkerglück; dabei vernachlässigte sie aber auch ihren kleinen Kramladen an der unteren Dorfstrasse nicht. Jedem Bauern, der sich eine Cigarre kaufte, legte sie seine Bürgerpflicht, freisinnig zu wählen und den »Beobachter« zu lesen, ans Herz. Sie hatte die Gewohnheit, jede Steck-, Näh- und Haarnadel vom Boden aufzuheben, und wenn ein Häuflein beisammen war, zu sortieren, zu polieren und wieder zu verkaufen. Die Fadentrümmchen, die da und dort hängen blieben, wickelte sie sorgfältig auf ein Kärtchen und nähte damit ihren eigenen Bedarf. Wer sie so zusammenklauben sah, musste sie für die geizigste Person von der Welt halten, und doch war sie gerade das Gegenteil. Sie sparte bloss an sich selbst, gönnte sich nur das Schlechteste, berührte, wenn sie zu Gaste war, die Speisen kaum, nahm keinen Zucker in den Kaffee, aber für andere wusste sie immer etwas zurückzulegen, und kein Armer ging unbeschenkt aus ihrem Hause. Das seltsamste war, dass sie aus unwiderstehlichem Triebe jedem Leichenzug folgen musste, gleichviel ob sie den Verstorbenen gekannt hatte oder nicht; auch an fremden Orten, wo sie sich nur vorübergehend aufhielt, befolgte 241 sie diesen Brauch, ja sogar den politischen Gegnern, die sie sonst grimmig hasste, weihte sie am Grab ihre Zähre, und man konnte wirklich von ihr sagen:

Ob er heilig, ob er böse,
Jammert sie der Unglücksmann.

Überhaupt war sie in immerwährender Bewegung. Hatte sie politische Geschäfte in Stuttgart, so übergab sie den Kramladen einer ihrer Nichten, marschierte nach Esslingen und dampfte von dort in die Residenz. Sie half bei jedem Umzug, und war irgendwo in befreundeter Familie eine Krankheit ausgebrochen, so erschien sie als Pflegerin. Trotzdem fand sie immer noch Zeit zum Lesen und beschäftigte sich besonders gerne mit geschichtlicher Lektüre, durch die sie sich wie durch etwas Gegenwärtiges aufregen liess. Ich habe sie einmal ganz unvermittelt bei Tische in Tränen ausbrechen sehen über den Tod des Sokrates. Uns Kindern pflegte sie auf Spaziergängen, zu denen sie uns häufig mitnahm, mit hohler, von Bewegung zitternder Stimme die Polenlieder vorzutragen, die in der Zeit ihrer Jugend allenthalben verbreitet gewesen waren. Der »tapfere Lagienka« und der »sterbende Kosciusko« wurden durch sie unser täglicher Umgang, und wenn sie gar die »letzten Zehn vom vierten Regiment« aufmarschieren liess, so war es unmöglich, nicht mit ihr an den Ufern der blutgeröteten Weichsel zu jubeln und zu trauern. Unter den Gliedern ihrer eigenen Familie teilte 242 nur ihre jüngste Nichte, ein blasses herzkrankes Mädchen, ihren Schwung. Diese war als Kind von meiner Mutter, die stets das Bedürfnis hatte, andere an ihrer geistigen Welt teilnehmen zu lassen, in Geschichte, Mythologie, Literatur und auch ein wenig im Französischen unterrichtet worden und hatte darin einen Ersatz für die versagten Jugendfreuden gefunden, so dass sie ihre kurze Lebenspanne heiter verbrachte, sehr viel las, auch Verse und Komödien schrieb, was ihr in ihrem eigenen Kreise Bewunderung und Überschätzung eintrug, meiner Mutter aber die rührendste Anhänglichkeit und Dankbarkeit von ihrer Seite.

In dem ehemalig Brunnowschen Hause wohnte um jene Zeit ein ganz merkwürdiges Paar, der alte Baron von Rieger mit seiner geistreichen, ihm in allem unähnlichen Gemahlin. Er war ein später Abkömmling jenes Obersten Rieger, berufenen Andenkens aus »Schillers Heimatjahren«, ein sehr gelehrter Herr, der in seiner Jugend als Gesandtschaftsattaché weite Reisen gemacht hatte und den Hafis und Tausend und Eine Nacht in der Ursprache las. Aber im Kopfe war es bei ihm nicht ganz richtig. In seinem niegelüfteten Zimmer hielt er eine grosse Anzahl Papageien, die ihm in den verschiedensten Sprachen entgegenkreischten; noch meine ich seine durchdringende Stimme zu hören, wie er seinem Liebling, einem grossen weissen Kakadu Achille! Achille! rief. In jungen Jahren hatte er durch 243 Spiel und Verschwendung ein ungeheures, von seiner englischen Mutter stammendes Vermögen durchgebracht; er soll ein so schlechter Haushälter gewesen sein, dass er Kapitalscheine und Banknoten haufenweise am Boden liegen liess, wo sie von den freilebenden Papageien zerbissen oder auch vom verschütteten Badewasser der Vögel eingeweicht wurden. Jetzt lebte er mit seiner Frau in tiefster Armut. Man sah ihn oft im grauen, schlotternden Schlafrock, ein kleines schmieriges Mützchen auf dem Kopf und rote Pantoffel an den Füssen durch die Felder schweifen; dass ihm dabei die Gassenjungen nachliefen, beachtete er nicht, denn er sprach arabische Verse vor sich hin. Nach vier bis fünf Schritten blieb er jedesmal stehen und betrachtete über die Schulter seine aufgehobene Sohle; wegen dieser Gewohnheit hiess er im Dorfe der »Absatzbaron«, und man behauptete, er sehe sich noch immer um, ob ihm nicht eine Banknote am Schuh hänge. Ich stand als kleines Kind einmal dabei, wie er in den Laden der Tante Bertha trat und für einen Kreuzer rot und weisses Baumwollband kaufte um seinen Schlafrock damit zu gürten. Die Elle wollte um seinen hageren Leib doch nicht reichen, deshalb schnitt ihm die Tante Bertha noch um einen zweiten Kreuzer ab und knüpfte die Stücke zusammen, worauf er mit zwei Knoten um den Leib versehen abzog. Dass die Tante Bertha ihn »Gnädiger Herr« titulierte, sich aber doch nicht dazu verstand, für seine zwei 244 Kreuzer ihm ein neues, ganzes Stück abzuschneiden, verfolgte mich lange mit peinlicher Kontrastwirkung. Die befreundeten Familien sorgten für die Küche des verarmten Hauses, indem sie Speisen und Vorräte hinüberschickten. Doch hinderte die Not ihn nicht, von Zeit zu Zeit nach der Stadt zu gehen, und in einem bekannten Spielwarenladen teures und für jene Zeit sehr kompliziertes Kinderspielzeug einzukaufen, an dessen Mechanik er sich einsam vergnügte. Da gab es grünlackierte Brunnen, aus denen man Wasser pumpte und Mühlwerke, die unter Gerassel das oben eingegossene Mehl an anderer Stelle wieder von sich gaben. Wir Kinder durften zuweilen, wenn wir krank waren, hinter dem Rücken des Besitzers mit diesen Herrlichkeiten spielen, und einmal führte uns Frau von Rieger heimlich auf ihren Speicher, wo die Schätze des Barons aufbewahrt lagen, und liess uns da in einen ganzen Himmel blicken. Das Hauptstück war ein rot- und weissgestrichenes blechernes Schifflein, das leicht uns Kinder selbst hätte fassen können; es einmal heimlich herabzuholen und auf dem Neckar schwimmen zu lassen, blieb für Edgar und mich ein unerreichbarer Herzenswunsch.

Frau von Rieger war die intimste Jugendfreundin meiner Grossmutter gewesen und hatte nach deren frühem Tod ihre Liebe auf meine Mutter übertragen. Äusserlich glich sie einer Nippesfigur. Alles an ihr war klein und zierlich, 245 der Anzug äusserst sorgfältig gehalten, die braunen Haare in Löckchen geringelt. Von Zeit zu Zeit zog sie eine niedliche blaue Dose hervor und führte mit einem kleinen goldenen Löffelchen etwas Tabak an die Nase; eine Marquise vom Hofstaat Ludwigs des Fünfzehnten konnte sich dabei nicht stilvoller bewegen. Überhaupt war sie in ihrem ganzen Wesen eine Nachzüglerin des graziösen, leichtlebigen und tapfern achtzehnten Jahrhunderts, an dessen Ausgang sie das Licht erblickte. Aus grossem Reichtum in die äusserste Dürftigkeit versetzt, schien sie unter ihrer Verarmung nicht zu leiden, denn sie war immerzu geistig beschäftigt, lesend und schreibend oder auf langen, einsamen Spaziergängen durch die Gegend streifend, wobei sie sich in die vergangene Zeit versenkte. Meinen Vater, der der winzigen, etwas tauben Dame stets mit zartester Ritterlichkeit begegnete, liebte sie ausnehmend und nannte ihn den »schönen Herkules«. Wie der französische Emigrantenadel wusste sie sich in die beschränkteste Lage zu finden, ohne von der Vornehmheit ihres Auftretens das geringste einzubüssen. Sie ass nur wie ein kleiner Vogel und trank niemals Wein, aber jeden Morgen erhob sie sich vor Sonnenaufgang und wanderte nach dem eine Stunde entlegenen »Zeller Brünnlein«, um dort ein grosses Glas frisches Wasser zu trinken. Nur ihre ästhetischen Zirkel konnte sie nicht verschmerzen. Des Abends deckte sie sich jetzt selbst den Teetisch mit der gewohnten 246 Eleganz und Pünktlichkeit, denn ihr Silberzeug hatte sie gerettet; die silberne Zuckerdose enthielt auch noch Zucker, aber Tee und Rahm fehlten, doch die Gäste, die sich einfanden, machten keine Ansprüche: bei jeder Tasse lag eine Visitenkarte als Repräsentant irgendeiner abwesenden oder wohl auch schon verstorbenen Persönlichkeit, und sie soll abendelang mit der stillen Gesellschaft die angeregteste französische Konversation geführt haben. Ob sie dieses Auskunftsmittel von dem berühmten »Justizrat Hasentreffer« entlehnt hatte oder ob sie selbständig darauf verfallen war, weiss ich nicht. Tatsache ist, dass sie sich auf diese Weise für die verlorenen geselligen Genüsse schadlos hielt, und ich erinnere mich genau, dass eines Abends meine Mutter von einem Besuch bei ihr nach Hause kam und erzählte, wie soeben die alte Dame sie mit einem wehmütigen Lächeln entlassen habe, weil sie ihre stillen Gäste erwartete. Dies geschah jedoch ohne eine Spur von Mystizismus, denn Frau von Rieger huldigte einer Aufklärung im Sinne Voltaires und seiner Zeitgenossen. Ihre Kultur war eine französische, obwohl reines deutsches Blut in ihren Adern floss, und sie soll sich erst vom Jahre Achtundvierzig an, als sie an eine Zukunft Deutschlands glauben lernte, zu der deutschen Sprache bequemt haben. Die feine Aristokratin las sogar mit grossem Wohlgefallen die derben Schriften eines Johannes Scherr, weil sie darin die Verherrlichung des 247 Vaterlandes fand. Im Jahre Siebzig loderte sie in Flammen der Begeisterung auf, allein wie sehr sie nun auch jeden Einfluss des »Erbfeindes« abschwor, das Gepräge ihres Geistes, die Art ihrer Konversation und ihr ganzer Lebensstil war und blieb französisch, doch ein Französisch des achtzehnten Jahrhunderts. Es hat mir immer an ihr gefehlt, dass sie nicht einen schnupfenden Abbé mit Schnallenschuhen zur Begleitung hatte.

Ein freundliches Geschick wollte, dass sie kurz nach unserm Wegzug von Oberesslingen von Seiten der englischen Verwandten ihres unterdessen verstorbenen Mannes die Nutzniessung eines Nabob-Vermögens erbte. Sie benutzte das Geld fast ausschliesslich zum Wohltun, zur Linderung von Armut, deren Druck sie selbst empfunden hatte, und zur Förderung gemeinnütziger Interessen, indem sie für sich selbst nur wenig verbrauchte. Die Zeit erschien machtlos dieser seltsamen Persönlichkeit gegenüber; als ich sie fünfzehn Jahre nach den Esslinger Tagen in Cannstadt wiedersah, hatte sie noch dieselbe schlanke, zierliche Gestalt, denselben aristokratischen Kopf mit den braunen, vollen Locken, und auch das goldene Löffelchen in der blauen Tabatière war noch in Tätigkeit. Sie sollte ein nahezu biblisches Alter erreichen, ohne dessen Trübsal zu kosten, denn ihre Seele schien im Genuss des Wohlstandes nur immer noch frischer und jugendlicher zu werden. In den 80er Jahren plante sie noch einen Besuch bei uns in Florenz, 248 der aber nicht mehr zustande kam. In ihren letzten Briefen an meine Mutter erzählte sie in Makamenform, welche Dichtart ihr bei der rein verstandesmässigen Anlage ihres Geistes offenbar besonders zusagte, drollige Erlebnisse einer Schweizerreise und ergoss über einen »unreifen Springinsfeld von siebzig Jahren«, der der reifen Neunzigerin seine Hand angeboten hatte, noch einmal die Fülle ihres französischen Esprits.

Zu den originellen Gestalten, von denen das kleine Oberesslingen wimmelte, gehörte auch ihre Nachbarin und Freundin, das alte Fräulein von Bär. Auch diese war eine von den Intimen meiner Grossmutter gewesen und hatte ihre Neigung auf die nachwachsenden Generationen vererbt. Obgleich nicht gross, war sie von imposanter Erscheinung, brünett, ein wenig beleibt und trug sich immer weiss mit einem grossen, nickenden Gartenhut nach einer längst verschollenen, aber mit dem idyllischen Charakter des Ortes harmonierenden Mode. Aus einer verarmten Adelsfamilie stammend, war sie in ihrer Jugend als Gouvernante in ein vornehmes Haus nach Italien gekommen; von dort hatte sie wohl die anmutige Grandezza ihres Wesens mitgebracht. Nach ihrer Rückkehr erhielt sie ihrer aussergewöhnlichen Bildung wegen den Posten einer Vorsteherin am »Katharinenstift« in Stuttgart, wo sie sich grosser Beliebtheit erfreute, aber ein zunehmender Mystizismus, mit dem sie auch die Schule zu färben suchte, machte ihre Stellung 249 unhaltbar. Nach ihrer Pensionierung liess sie sich von meinem Grossvater, der nach allen Richtungen dilettierte, das kleine, niedliche, einem Spielzeug gleichende Schweizerhäuschen bauen, das sie noch zu unserer Zeit mit ihrer schwachsinnigen Schwester bewohnte; auch die Tannen, die es ringsum beschatteten, waren von seiner Hand gepflanzt. Wieviel sie aber auch auf den alten Herrn hielt, in ihrem Geisterglauben, der seinem Rationalismus sehr zuwider war, liess sie sich nicht von ihm irre machen. Sie geriet vielmehr mit den Jahren immer tiefer in den Bann der »Seherin von Prevorst«. Unter ihren Tannen ging sie oft gestikulierend auf und nieder und unterredete sich auf italienisch mit der Geisterwelt, weil dies die Sprache ihres frühverstorbenen Jugendgeliebten war. Den sektirerischen Reiseprediger Gustav Werner liess sie Vorträge in ihrem Gartensalon halten. Das hinderte sie aber durchaus nicht, seine Weltdame mit politisch-fortschrittlicher Gesinnung zu sein. In ihrem Zimmer hing ein lebensgrosses Bildnis Garibaldis, für den sie schwärmte. Von ihr war die Vorliebe für alles Italienische auf meine Mutter übergegangen, die wiederum uns schon in den frühsten Jahren auf italienische Sprache und Literatur hinwies.

Auch unseres Nachbars sei hier gedacht, des schönen Nimrods Rommel mit den gewaltigen Hunden, für den alle Dorfmädchen glühten, und der von früher Jugend an meine Mutter 250 schwärmerisch verehrt hatte. Jetzt übertrug er seine Liebe auf die Kinder, besonders auf das Töchterchen, das er zu ihrer höchsten Wonne bisweilen im Hofe auf seinem hochbeinigen Rappen reiten liess. – All diesen originellen Menschen war eins gemeinsam: sie lebten in einer Enge, die man sich heute kaum mehr vorstellen kann, und trugen die Weite der ganzen Welt in ihren Herzen.

Äussere Ereignisse gab es in dem kleinen Dorf keine; die Zeit stand vollkommen still. Höchstens, dass ab und zu ein Zigeunertrupp durchzog und die Zigeunerweiber zum Betteln und Wahrsagen im Haus erschienen. Waren sie jung und schön, so eilte meine freigebige Mutter an einen grossen Schlafdiwan, dessen als Truhe dienender Hohlraum die Reste verschwundener Pracht, Hofkleider der Grossmutter, gewirkte Schals und Schärpen, Spitzen und Stickereien barg. Da holte sie irgendein rot- oder gelbseidenes Prunkstück hervor, um den braunen Zigeunernacken damit zu schmücken. Dann wurde mein Vater gerufen, damit er sich mit der Beschenkten auf Rotwelsch unterhalte. Ihm war der Zigeunerjargon geläufig aus den Zeiten, wo er wegen der Studien zu den »Heimatjahren« und zum »Sonnenwirt« mit dem fahrenden Volk im Lande herumgezogen war, um ihre Sprache, ihre Gebräuche und Anschauungsweise kennen zu lernen, vor allem, um die mündlichen Überlieferungen vom Hannikel zu sammeln. Die Zigeuner sind bekanntlich sehr zurückhaltend 251 mit allem, was ihren Stamm und seine Erinnerungen betrifft; gegen meinen Vater aber waren sie nicht karg gewesen, wie die zwei grossen Romane bezeugen, und meine Mutter suchte jeder durchziehenden Zigeunertruppe den Dank dafür durch Geschenke abzutragen, die bei dem dauernden Geldmangel des Hauses nur in solchen vererbten Putzstücken bestehen konnten. Da der Inhalt besagter Truhe mich immer lebhaft beschäftigte, wollte mein Vater mich einmal hinter dem Rücken der Mutter damit erfreuen; er zog den schweren Deckel in die Höhe, aber im Augenblick, wo ich mich niederbeugte, blieb ihm der lederne Griff in der Hand, und der Deckel fuhr schmetternd zu, dass ich gerade noch den Kopf zurückziehen konnte. Der namenlose, versteinernde Schrecken, den ich in seinem völlig erbleichten Gesichte las, gab mir für diesen Tag in meinen eigenen Augen eine nicht unbehagliche Wichtigkeit.

Um jene Zeit schrieb er den Text zu Weissers »Bilderatlas zur Weltgeschichte«. Die in seinem Zimmer aufgestellten Stiche und Zeichnungen nach den schönsten Antiken, nach Statuen und Reliefs, nach Vasen und Gemmen machten auf unsere Kinderseelen einen unauslöschlichen Eindruck. Wir mühten uns sie ohne Anleitung nachzuzeichnen und liebten sie auch noch in den Ungestalten, die wir selbst hervorbrachten. Die Mutter kam diesem Interesse entgegen, indem sie uns mit der homerischen Götter- und Heroenwelt bekannt machte, die schon ihre eigene 252 Jugend durchleuchtet hatte. Mein Grossvater Brunnow mit seinem Sinn für drastische Komik hatte dereinst der Tochter die Blumauersche Travestie der Aeneide in die Hände gegeben, aus der sie, den niedrigen Ton ignorierend, das reinste Entzücken am Gegenstande sog: sie gab uns dafür die Ilias. Alsbald wurden die schönen Gestalten des Bilderatlasses lebendig, sie stiegen aus den Blättern herunter und lebten mit uns selbständig weiter, in viel höherem Masse, als die Erwachsenen wussten. Wir führten in unseren Spielen ihre Taten auf und verwuchsen ganz mit ihnen. Es gab eine Zeit, wo wir schlechtweg an die griechischen Mythen glaubten, und die schönen, stummen Götterbilder gewannen mehr Einfluss auf uns, als die ganze lebende Umgebung, die ja häufig einen Stich ins Groteske hatte. Wie oft wurde in unserem Grasgarten die heilige Troja mit ihren Mauern aus Lehm aufgeführt, dann verteidigt und gestürmt und schliesslich dem Erdboden gleich gemacht. Die Mutter liess uns Helme und Schilde aus Pappe und Goldpapier sowie hölzerne Lanzen anfertigen; Pfeile und Bogen machten wir uns selbst, dazu bekamen wir noch Sandalen an die Füsse, und ich erhielt ausserdem ein Panzerhemd, worauf ein goldenes Medusenhaupt leuchtete, denn ich hatte nichts geringeres als die Gestalt der Athene gewählt, um sie in meiner Person darzustellen – vielmehr war sie mir ganz von selber zugefallen, weil Edgar, der überall der Erste sein musste, 253 sofort in die Rolle des Achilleus gefahren war, und unser zartes gegenseitiges Verhältnis es mit sich brachte, dass ich ihm als Helferin zur Seite trat. Wir hatten auch vereinte Kräfte nötig, um unsrem Alfred, genannt »Butzel«, zu widerstehen, der gerade damals ein Stadium unbezähmbarer Wildheit durchmachte. Er, der an natürlicher Güte uns alle weit übertraf, war zu jener Zeit und noch lange danach in seinen Kraftausbrüchen fast unnahbar. Da ihm am wohlsten war, wenn er wie ein Eber daherrennen oder sich brüllend am Boden wälzen konnte, so gab es nur einen Gott, dessen Züge ihm passten, den tobenden Kriegsgott, und er hat auch seine Aresrolle stets mit der tiefsten Überzeugung gespielt. Auch unsern kleinen Erwin nötigten wir, sich mit Pfeil und Bogen an den wilden Kriegsspielen zu beteiligen, woran er aber bei seinem zarten Alter weniger Gefallen fand. Er war übrigens jetzt nicht mehr der Jüngste; am 18. Mai 1860 war noch ein Nachzügler erschienen, ein vierter Knabe, zwar ungerufen, aber nicht minder willkommen. Da meine Mutter sich um jene Zeit für die Befreiung Italiens begeisterte, verlangte sie, ihm den Namen Garibaldi zu geben. Mein Vater willigte ein, weil er sich erinnerte, dass irgendein alter Langobardenherzog Garibald geheissen, weshalb er den Namen als einen deutschen ansprach; er stiftete aber noch den zweiten, Winfried, hinzu, denn dieses Reservatrecht hatte er sich gewahrt. Wir Geschwister aber nannten ihn Bälde, und diesen 254 Namen behielt er fortan; so fehlte ihm nur einer zu dem jugendlichen Sonnengott der Germanen, an den er später durch seine strahlende, von keinem Leiden je zu trübende Heiterkeit und durch seinen Jugendtod nur allzusehr erinnern sollte.

Wie auf einer weltfernen Insel hausten wir hinter unserer Gartenmauer, die zwar nicht hoch aber doch bedeutend höher war als wir selbst, auf den Raum eines Obstgartens angewiesen, den wir für ein Stück Griechenland hielten, und wussten nichts, rein gar nichts von der Aussenwelt, noch von dem Jahrhundert, in dem wir lebten. Ein Besucher verdarb es einmal schwer mit uns, indem er uns dem Kostüm nach für Perser hielt, welches doch unsere Erbfeinde waren. Im Dörflein aber erregte unser Treiben, von dem man nichts begriff, Kopfschütteln und Ärgernis. Die Welt war nicht mehr so harmlos wie in der Jugendzeit des Fräuleins von Brunnow, das unbehelligt als Jungfrau von Orleans durch die Felder spazieren konnte; uns war die Dorfjugend aufsässig, die das Blinken unsrer goldenen Waffen für eine Herausforderung ansah, und sobald wir den Fuss aus den Mauern setzten, waren wir in Feindesland. Dies nahm uns auch nicht wunder; denn in den groben Bauernjungen, die uns Schimpfwörter und Steine in den Garten warfen, sahen wir feindliche Barbarenvölker, als was sie sich schon durch ihre rauhe Aussprache darstellten. Der Edle von der Mancha hat nicht 255 überzeugter für seine Irrende Ritterschaft gestritten als wir für unser eingebildetes Griechentum. Wir gaben ihre Würfe tapfer zurück, wozu die Rosskastanien unterm Haus die Geschosse lieferten, und wagten auch gelegentlich einen Ausfall durch ein Seitenpförtchen, wenn so ein Trupp vorüberkam. Doch nicht alle waren uns feindgesinnt, es gab auch solche, die unser Zustand erbarmte, und unvergesslich ist mir das zwölfjährige Bauernmädchen, das einst zu einer Missionsreise über die Nachbarmauer stieg, glühend von Nächstenliebe und mit einem grossen Korb voll Birnen von der feinsten Sorte ausgerüstet, um uns durch wohlgemeinte aber ganz unverdaute Brocken aus der Kinderlehre von der Nacht des Götzendienstes, der sie uns verfallen wähnte, zu erlösen. Das alles hatte die Beschäftigung unsres Vaters mit dem Weisserschen Bilderatlas in folgenschwerer Verkettung nach sich gezogen.

Unter den Geschwistern standen Edgar und ich uns immer noch am nächsten; wir hatten ja schon ein Menschenleben in verkleinertem Massstab zusammen durchlebt, bis die andern uns nachkamen. Er war das anerkannte junge Oberhaupt des Hauses und hielt darauf, in seinen Vorrechten nicht verkürzt zu werden. Mit seinen Sachen, auf die er bei seinem starken Ichgefühl grossen Wert legte, durfte nur ich spielen, und auch ich nur, wenn er bei Laune war; er forderte mich dann wohl einmal schriftlich dazu auf. Wir beide pflegten aus der lauten Ausgelassenheit 256 ganz tief in uns selbst zurückzukehren, wobei ein jedes seinen eigenen Weg ging: er beobachtete alsdann stille die Natur, fing Salamander, Wasserspinnen, Kaulquappen, während ich von fernen, raunenden Rhythmen rastlos umhergetrieben war. Dabei griff er alles anders an als andere und führte es auf seine Weise hartnäckig ans Ziel. Er lernte spielend, man kann es kaum lernen nennen, denn womit er in Berührung kam, das fasste er und hielt es fest. Auch mir fielen die Dinge von selber zu, allein sie fielen ebenso leicht wieder von mir ab, während er das seinige nicht mehr los liess. Aber seine nervöse Reizbarkeit und ein Mangel an derberer Lebenslust, der ihm noch von den kränklichen Kinderjahren anhaftete, schuf dem Hause viele Not. Beim Anblick des gedeckten Tisches entlief er gewöhnlich in den Garten; seine Fina, die ihn anbetete, lief ihm dann mit dem Suppenteller die kreuz und quer nach und suchte ihn durch das Versprechen eines Sechsers zum Essen zu verführen. Solche Freiheit konnte er sich erlauben, weil das wirkliche Familienhaupt an der Mahlzeit keinen Teil nahm. Dem Vater musste das Essen aufs Zimmer gebracht werden, wo er stehend und gehend ein paar Bissen zu sich nahm. Er kam wohl zuweilen zur Mittagsstunde herüber um einen raschen Blick auf unsre blonden Köpfe zu werfen und sich an unserer Esslust zu freuen, denn wir andern waren keine Kostverächter, aber das Gewirr jugendlicher Stimmen konnte er schon damals nicht auf längere Zeit ertragen.

257 Unser Unterricht lag nach wie vor in den Händen der Mutter, nachdem ein Dorfschullehrer vorübergehend zugezogen und bald wieder entlassen worden war, weil er den lebhaften Alfred nicht zu behandeln verstand. Sie weihte uns jetzt in die lateinische Grammatik ein, die sie sich selber einstmals zum grössten Teil auf autodidaktischem Wege angeeignet hatte. Gewöhnlich musste aber der Unterricht unter dem Drang der Umstände noch mit irgend einer häuslichen Verrichtung verbunden werden, so dass die Aufmerksamkeit der Schüler wie der Lehrerin eine sehr geteilte war. Mir brachte sie noch überdies des Morgens die Anfangsgründe des Französischen und Italienischen bei und strählte dazu meine langen unbezähmbaren Haare, weshalb dieser Teil des Stundenplans meist mit Geschrei und Tränen endigte. – Als ich später Goldonis Locandiera, die wir so zusammen lasen, auf italienischen Bühnen wiedersah, da wunderte ich mich über die lachende Grazie dieses Stücks – aus unsrer Kämm- und Sprachstunde war es mir nicht in so sonniger Erinnerung geblieben. Unser Unterricht war also ein sehr sprunghafter, dagegen zeichnete er sich durch ausserordentliche Vielseitigkeit aus; ein bisschen Ordnung und Zusammenhang musste ich mir später mit Mühe dazu erwerben, was den Brüdern durch die Schule leichter gemacht wurde.

Vollkommen verboten waren mir dagegen die weiblichen Handarbeiten, für die ich eine von der 258 Grossmutter Brunnow ererbte Neigung hatte: mein Mütterlein verachtete sie tief und wollte sie deshalb, wenn nötig, eher selber tun, als gestatten, dass ihre Tochter sich damit befasste. Ich musste also dieser Vorliebe, die mir auf keine Weise auszutreiben war, heimlich frönen, wodurch sie sich erst recht in mir befestigte. Wie oft sass ich mit Nadel und Scheere in irgend einem Winkel versteckt um mir aus dem Inhalt der alten Truhen und Schränke irgendein Gewandstück zurechtzuschneidern, ja ich erinnere mich, einmal mit dem schlechtesten Gewissen von der Welt heimlich Alfreds zerrissene Höschen geflickt zu haben, denn wenn ich mich über der Arbeit ertappen liess, so wurde sie mir unnachsichtlich weggenommen und durch eine lateinische Grammatik ersetzt. Nicht einmal bei Josephinen, sonst der Vertreterin des juste milieu, fand ich in solchen Fällen Unterstützung: so ganz war sie eins geworden mit ihrer Herrin, dass sie mich immer schleunigst aus der Küche entfernte, wenn ich ihr etwas von ihren Künsten ablernen wollte.

Besonders eine Heimlichkeit gab es im Hause, von der ich strenge fern gehalten wurde und die mit dem Reiz einer verborgenen Kulthandlung auf mich wirkte. – In später Nachmitternachtsstunde kamen je und je unheimliche, nornenhaft aussehende Weiber mit Laternen aus dem Dorfe angerückt, um sich unter Josephinens Leitung in der Waschküche zu versammeln. Es war das Mysterium der Monatswäsche, die nach uraltem 259 Brauch, wovon Josephine nicht lassen wollte, in tiefer Stille der Nacht vor sich ging, denn am Tag wäre nach ihrer Überzeugung kein Segen bei dem Werke gewesen. In solchen Zeiten war der Morgenkaffee dünner als sonst, ein Seifengeruch ging durchs ganze Haus, und die Reissuppe, die es alsdann am Mittag gab (auch das gehörte zum Ritus), schmeckte gleichfalls nach Seife. Da mir trotz aller Bitten das Zusehen nie gestattet wurde, schlich ich mich einmal heimlich ein mit dem Schauer des Uneingeweihten der sich zur Isisfeier drängt. Ich wohnte der heiligen Handlung des Laugebereitens bei, sah die Schicksalsfrauen reibend und spritzend am Waschtrog stehen, wo der Seifenschaum klatschte, und hörte, wie sie ihre intimen Erfahrungen über die Vorgänge in den Nachbarhäusern austauschten. Josephine stand ernst und edelmilde unter ihnen und sprach nur um die Seifenschlacht zu dirigieren. Es war das Schöne an ihr, dass sie gegen die Angehörigen ihres eigenen Standes gar keinen Hochmut zeigte, sondern ihre höhere Kultur bloss durch das schweigende Ablehnen des Klatsches und der Kleinlichkeit an den Tag legte. Erst als eine der Waschfrauen die besorgte Frage stellte, ob wohl der Morgen gutes Aufhängewetter bringen werde, öffnete sie den Mund und antwortete mit ihrem tiefen wohlklingenden Organ: »Das wissen die Götter!« – Die Gute war, ohne es zu bemerken, gleichfalls in den homerischen Stil geraten.

Dieses edle Herz, dessen Hülle damals zu 260 schrumpfen begann, diente nicht nur in jener kargen Zeit ganz ohne Lohn weiter, sondern verwendete noch ihr Erspartes zur Ausbesserung häuslicher Schäden und zu Geschenken für die Kinder. 261

 


 


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