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I.
Frühmorgens, wenn die Hähne krähn –

Berlin schlief noch, aber es lag in jenem leisen Schlummer, der dem Erwachen vorhergeht. Eingelullt in süße Träume, ahnte es nichts von den Sorgen und Kämpfen des kommenden Tages, von dem unerwarteten Glück, den zermalmenden Schlägen des Schicksals. Nur an einzelnen Stellen stieß der tausendköpfige Koloß seinen Atem aus. Dunkler, zu gewaltigen Ringen geballter Qualm entstieg, von Feuergarben begleitet, den geschwärzten Schloten; wie der Gigantenlunge eines unsichtbaren Ungeheuers entstoßen, strömte er dem graublauen Äther zu, verwob er sich allmählich mit der Dunstwolke, die den Horizont noch verschleierte.

Es war zwischen drei und vier Uhr an einem der letzten Tage des Monats April – in jener Stunde, wo die Straßen plötzlich menschenleer erscheinen, als hätte selbst der letzte Kneipenschwärmer das Bedürfnis gefühlt, noch vor dem jähen Wechsel von Nacht und Tag im Schutze des Dunkels sein Heim zu erreichen. Hinter dem äußersten Häuserring tauchte der erste fahle Schein der Morgendämmerung auf, der wie das geisterhaft bleiche Antlitz eines Riesen aus dem Dunkel sich erhob und immer höher und höher stieg. Die Häuser erschienen wie bleigetränkt, die Perspektive der Straßen verkürzte sich: Berlin glich einer toten Stadt, in der jeder Tritt, jedes leise Geräusch ein Echo abgibt, das weit vernehmbar die Luft durchzittert.

In diesem Zwielicht taumelte Franz Timpe durch die Straßen, dem Hause seines Vaters zu, um Ruhe für seinen schweren Kopf zu suchen. Die Augen fielen ihm fast zu, sein Gang war unsicher, so daß er sich mit Gewalt beherrschen mußte, um auf den Beinen zu bleiben. Auf dem jugendlichen, nicht unschönen Antlitz zeigten sich die Spuren einer durchzechten Nacht: jene Merkmale der Überanstrengung, welche ein schwacher Körper noch nicht zu überwinden vermag. In der eigentümlichen Beleuchtung des heranbrechenden Morgens, hervorgerufen durch den Kampf der letzten Schatten der Nacht mit dem grüngelben Luftschein am Horizont, erschien sein Gesicht fahl und grau, hatte es harte, ausdruckslose Linien angenommen. Den Paletot lose um die Schultern gehängt, den Hut in den Nacken gerückt, das Pincenez schief auf die Nase geklemmt, fuchtelte er mit dem dünnen Spazierstöckchen in der Luft herum, versuchte er jedem Laternenpfahl seine Fechterkünste zu beweisen.

In seiner Phantasie standen die Häuser schief, machten sie einen fremdartigen Eindruck auf ihn, trotzdem ihm jedes einzelne durch die Firmenschilder, die an ihm klebten, die Eigentümlichkeiten, die ihm anhafteten, genau bekannt war. In diesem Stadtviertel war er geboren, hatte er die Tage seiner Kindheit verlebt, war er zum Knaben und zum Jüngling gereift. Selbst jetzt, wo das Fehlen der flutenden Menge und rasselnden Wagen, die herabgelassenen Rouleaus und geschlossenen Jalousien den Gebäuden eine veränderte Physiognomie gaben, waren ihre Absonderlichkeiten seinem Gedächtnisse eingeprägt, denn es war nicht das erste Mal, daß er spät nach Mitternacht an ihnen vorüberschritt. Seit beinahe einem halben Jahre, seitdem ihn der Weg von der Schule direkt ins Comptoir der Firma Ferdinand Friedrich Urban geführt hatte, war fast keine Nacht vergangen, während welcher er nicht das nächtliche Leben Berlins durchkostet hatte.

Die frische Morgenluft wirkte endlich wohltuend auf ihn ein. Seine Haltung wurde sicherer, sein Gedankengang klarer, nur die Müdigkeit wollte nicht von ihm weichen. Um sich munter zu erhalten, begann er halblaut ein Lied zu summen, das er aber wieder abbrach, weil die Kehle ihren Dienst versagte.

Er befand sich in jenem Gewirr enger Straßen des Ostens von Berlin, die sich wie ein Überbleibsel aus alter Zeit bis heute noch erhalten haben. Altehrwürdige Giebeldächer mit Mansardenfenstern blickten auf ihn herab. Unregelmäßig standen die Gebäude am schmalen Trottoir, hier eines von schiefer Haltung, wie von der Last der Jahre vornübergebeugt, dort eines weit hinter die Front gerückt, geziert mit einem kleinen Vorgarten, dessen Efeu die schmalen Fenster umrankte und bis zum Dache hinauflief. Nur vereinzelt überragte ein vierstöckiger Steinkasten, wie ein schlank gewachsener Jüngling zusammengeschrumpfte Greise, die vorväterlichen Wohnstätten, um, einem stummen Wahrzeichen gleich, den Segen der neuen Zeit zu verkünden. In der Stille dieses patriarchalischen Viertels vernahm man weiter nichts als die schallenden Schritte des jungen Mannes und das schrille Pfeifen eines Bäckerjungen, das wie die ersten Mißtöne des erwachenden Tages aus der Entfernung herüberklang.

Als Franz Timpe um die nächste Ecke bog, erblickte er endlich das Haus seines Vaters. Wie von Angst und Reue erfüllt, bannte er seine Schritte und drückte sich an die Häuser. Er befürchtete, gesehen zu werden, und schämte sich seines Nachhausekommens um diese Stunde. Beim Weiterschreiten richtete er den zaghaften Blick auf die gegenüberliegenden Fenster, hinter welchen noch friedliche Ruhe herrschte; dann rechts und links die Straße entlang. Er versuchte den Nachtwächter zu erspähen, der ihm wie gewöhnlich das Haus öffnen sollte.

Krusemeyer, ein bereits alter Beamter, dessen kugelrundes Gesicht von einer silbergrauen Bartfraise umrahmt wurde, hatte auf ihn gewartet. Er stand mit einem Schutzmann plaudernd unter dem Torbogen eines neuen Gebäudes auf der anderen Seite der Straße und beobachtete das Näherkommen des jungen Mannes. Seit fünfzehn Jahren verschloß er die Häuser in diesem Revier, konnte sich aber nicht entsinnen, jemals einen besseren Kunden gehabt zu haben, als Franz Timpe es war. Er hielt sich daher mit Vorliebe in diesem Teile der Straße auf, um sich das übliche Zehnpfennigstück nicht entgehen zu lassen. Der Länge der Zeit, während welcher er hier seinem nächtlichen Berufe obgelegen, hatte er es zu verdanken, daß er mit den Geheimnissen der Hausbewohner vertraut war, ihre Tugenden und Sünden, Freuden und Leiden kannte. Wenn er hätte sprechen dürfen, was würde man da vernommen haben! Vormittags holte er den verlorenen Schlaf der Nacht nach. Nachmittags betrieb er sein Geschäft als Flickschuster, bis die Zeit zum Abendappell ihn rief. Auf den einsamen Gängen durch die dunklen Straßen hatte sich mit der Zeit ein Philosoph aus ihm gebildet, der, in des Wortes bester Bedeutung, sein Licht nur im dunkeln leuchten ließ. Und da ein Philosoph mindestens einen vertrauten Abnehmer seiner Ideen haben muß, so hatte sich denn auch im Laufe der Jahre ein solcher in einem gleichaltrigen, bereits mit einer stattlichen Zahl Dienstjahre befrachteten Schutzmann des Reviers gefunden, welcher den seltenen und merkwürdigen Namen Liebegott führte.

Herr Alexander Liebegott erfreute sich eines behäbigen Körperumfanges, der den Neid seiner sämtlichen Kollegen und die Freude aller derjenigen zweifelhaften Individuen bildete, welche in nächtlicher Stunde auf der Flucht vor ihm begriffen waren und denen er niemals auf den Fersen zu bleiben vermochte. Auf den Schultern ruhte ein Riesenkopf, in dessen kürbisfarbenem Gesichte eine etwas groß geratene Nase in sanftestem Violett erstrahlte und ein mächtiger Schnurrbart traurig seine ungedrehten Spitzen hängen ließ, so daß das würdige Antlitz dem eines Seelöwen glich. Krusemeyer und Liebegott waren, soweit die Gelegenheit sich darbot, auf ihren nächtlichen Gängen ein unzertrennliches Paar, dessen Hang zu philosophischen, höchst sonderbaren Gesprächen ebenso groß war wie die uneigennützige Freundschaft zueinander und die Liebe zu gewissen alkoholduftenden »Erheiterungstropfen«, die in kalten Winternächten dazu dienen mußten, das Gespräch über die großen Vorgänge dieser Welt zu gleicher Zeit mit der Wachsamkeit anzufeuern. Im übrigen waren sie zwei pflichtgetreue Beamte, welche die Achtung ihrer Vorgesetzten genossen und beim Publikum allgemein beliebt waren. Die Autorität, die sie in den Augen ihrer Kollegen besaßen, war bereits eine derartige, daß ein Streit unter ihnen mit den vielbedeutenden Schlußworten: »So sagt Krusemeyer«, oder: »So sagt Liebegott«, zugunsten des diese Behauptung Aufstellenden als beendet betrachtet werden durfte.

Wenn die Ansichten der beiden zeitweilig auseinandergingen, so geschah es über die Frage nach dem höchsten Ziele ihrer Wünsche. Liebegott hegte nur den einen Wunsch: während seines nächtlichen Dienstes von niemandem belästigt zu werden, um seine teure Haut nicht zu Markte tragen zu brauchen; Krusemeyers höchster Wunsch ging dahin: durch eine seltene Heldentat sich diejenigen Lorbeeren zu erwerben, die unbedingt nötig waren, um seine soziale Stellung nach Kräften aufzubessern. Er hatte es besonders auf nächtliche Einbrüche abgesehen, lebte daher in der Einbildung, eines Nachts irgendeinen Juwelier oder einen reichen Fabrikanten durch seine Aufmerksamkeit vor einem Verlust bewahren zu können, wodurch ihm dann eine reichliche Belohnung zuteil werden würde; ganz abgesehen von der amtlichen Belobung und Auszeichnung, die zu erwarten waren. Seine Phantasie hatte sich während der Jahre so sehr mit dieser dereinstigen Heldentat beschäftigt, daß sein Spürsinn in jedem einigermaßen verdächtig aussehenden Passanten jene gefährliche Person witterte, deren verbrecherisches Treiben ihn endlich zum Helden seiner Umgebung machen sollte. Da er obendrein ein arger Bücherwurm war, der die geringe freie Zeit, die ihm am Tage während der Pausen beim Essen zur Verfügung stand, redlich dazu benutzte, abenteuerliche Romane zu lesen, in denen das Verbrechertum eine Hauptrolle spielte, so war sein Kopf mit den Erinnerungen an allerlei grausige Dinge erfüllt, die in einsamen Nachtstunden erst recht ihre Wirkung taten.

»Ich erreiche es doch noch«, sagte er mit Bezug auf die größte Zukunftstat seines Lebens.

Liebegott schüttelte das schwere Haupt und erwiderte:

»Ich glaube es nicht. Hier in dieser Gegend, wo jeder darauf wartet, daß man ihm etwas ins Haus trage! Laß den Gedanken daran fallen. Und bedenke nur: Wenn der Kerl ausrückt und du laufen müßtest, verstehst du? Ich sage laufen – –«

Alexander Liebegott beendete den Satz nicht. Es war ihm schon entsetzlich genug, nur an die Möglichkeit einer schnellen Fortbewegung zu denken. Er starrte vielmehr vor sich hin, lächelte dann im Gefühle seiner Sicherheit und klopfte leise mit der flachen Hand auf den wohlgenährten Bauch, während Krusemeyer listig die Augen zusammenkniff und sagte: »He, he, dann rufe ich dich, du fängst ihn gewiß.«

»Keine Anspielung«, brummte Liebegott mit komischem Ernst.

Die Annäherung Franz Timpes gab dem Gespräch eine andere Wendung. Das laute Krähen eines Hahnes ließ sich in der Nachbarschaft vernehmen. Aus der Ferne klang schwach die Antwort eines zweiten und dritten herüber.

»Recht so, melde dich, alter Junge«, begann Krusemeyer wieder. »Die Stunde muß angezeigt werden, in welcher der hoffnungsvolle Sohn nach Hause kommt ... Sage mal, Liebegott, hast du es auch so in deiner Jugend getrieben, he?«

»Wäre so etwas gewesen, Krusemeyer! Birke und Weide hätten einen Walzer auf meinem Buckel aufgeführt, und mein Alter wäre der Tanzmeister gewesen, der die Hände dabei bewegt hätte«, erwiderte der Angeredete mit unterdrücktem Lachen.

»Meister Timpe muß einen Narren an seinem Jungen gefressen haben, daß er so etwas duldet; aber das machen die Kneipmädels, die den Bengels die Köpfe verdrehen und das Geld aus der Tasche ziehen«, philosophierte Krusemeyer, als er sich anschickte, dem Rufe des jungen Mannes Folge zu leisten. Bevor er über den Damm ging, wandte er sich noch einmal an den Genossen.

»Hörst du nichts, Liebegott? Mir war's, als knarrte hier hinter uns eine Tür. Sollte vielleicht ein Dieb –«

»Beruhige dich nur, es ist nichts. Du wirst es nicht erreichen, verlaß dich darauf«, erwiderte Liebegott und schritt dann bedächtig die Straße nach der anderen Seite hinunter, um seinen Genossen an der nächsten Ecke zu erwarten.

Das Schlüsselbund des Wächters knarrte, die schwere Tür drehte sich in ihren Angeln und schloß sich dann leise hinter Franz Timpe, der horchend stehenblieb. Im Hause war noch alles ruhig. Durch die geöffnete Hoftür fiel ein fahler Schein auf die roten Steinfliesen des Flurs, der sich schmal und lang, gleich einer Kegelbahn, durch das altertümliche Haus zog. Links befand sich die Werkstatt des Vaters, rechts die Wohnung der Eltern. Auf dieser Seite führte eine schmale, gebrechliche Stiege zum einzigen Stockwerk des Hauses empor, in dem zwei kleine, bewohnbare Stuben sich befanden. In der einen schlief Franz, in der anderen Gottfried Timpe, der Großvater.

Der Großvater! Bei dem Gedanken an ihn erzitterte der junge Mann, denn der Greis pflegte mit den Hühnern aufzustehen, war begabt mit einem wunderbar feinen Gehör und der einzige Feind, den er im Hause besaß.

Franz Timpe lauschte noch eine Weile, dann zog er behutsam die Stiefel von den Füßen und schlich mit angehaltenem Atem die leise ächzende Treppe empor. Oben angelangt, tappte er die Wand entlang, denn hier herrschte noch völliges Dunkel. Er mußte bei der Tür des Großvaters vorüber, um zu der seinigen zu gelangen. Lautlose Stille umgab ihn. Er atmete auf. Als er aber in seinem Zimmer angelangt war, vernahm er durch die dünne Wand deutlich das laute Husten des Großvaters: die ihm längst bekannte Begrüßung, welche in aller Frühe zu ertönen pflegte, als ein Zeichen, daß der steinalte Mann das Nachhausekommen seines Enkels gehört habe.

Franz Timpe preßte vor Ärger die Lippen fest aufeinander; dann suchte er totmüde sein Lager auf, um sich während einiger Stunden für den kommenden Tag zu stärken. Durch das dünne Rouleau drang das Licht des immer mehr heraufziehenden Morgens gedämpft herein und ließ in dem Halbdunkel nur das bleiche Gesicht des Schläfers leuchten.


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