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VIII.
»Erst mein Chef, dann ich«

Ah, da ist er ja!

Mit diesen Worten Urbans wurde Franz empfangen, als er das Haus in der Nachbarstraße betreten hatte. Die ganze Familie war im großen Balkonzimmer versammelt, dessen Kristallkrone im Lichterglanze funkelte. An jedem ersten Mittwoch im Monat während der Winterzeit pflegte Frau Urban ihrer Töchter wegen eine kleine Gesellschaft zu geben. Die heutige war die erste, seitdem sie ihren Witwenstand aufgegeben hatte. An solchen Abenden wurden nur der Familie nahestehende Personen eingeladen, unter denen selbstverständlich die jungen Männer nicht fehlen durften. Es wurde musiziert, gesungen, ein kleiner Scherz arrangiert; man aß und trank gut (eine Beschäftigung, die gewöhnlich am längsten ausgedehnt wurde), klatschte ein wenig, verabredete größere gesellschaftliche Zusammenkünfte, wagte zum Schluß ein kleines Tänzchen und trennte sich erst nach Mitternacht mit der gegenseitigen Versicherung, seit langer Zeit ein derartiges Amüsement nicht genossen zu haben – eine Redensart, die jeder so nachdrücklich äußerte, als wollte er das Recht ihrer Erfindung für sich in Anspruch nehmen.

Seitdem Urban Herr im Hause war, hatte er die Absicht, die Gesellschaften zu jener Höhe zu erheben, die seiner Meinung nach der Klang seines Namens erforderte. Die schlichtbürgerlichen Familien, mit denen seine Frau seit vielen Jahren eng befreundet war, behagten ihm nicht mehr. Mit dem Gelde, das die neue Ehe gebracht hatte, war ein kleiner gesellschaftlicher Größenwahn bei ihm eingezogen. Baute er nicht eine riesige Fabrik, hoffte er nicht alle kleinen Konkurrenten totzumachen, Reichtümer auf Reichtümer zu häufen? Was konnte ihm also dereinst fehlen! Gleich seinem langen Schlingel von Lehrling träumte er bereits mit offenen Augen von einem Kommerzienratstitel, diversen Orden und einem ewigen Denkmal in der industriellen Entwicklung seines Landes.

Es war überhaupt merkwürdig, wie in vielen Dingen Herr Ferdinand Friedrich Urban, dessen Schädel bereits hin und wieder die lichten Stellen der Erkenntnis durch das Haar schimmern ließ, mit dem kaum flügge gewordenen Franz Timpe sympathisierte. Der kluge Geschäftsmann hätte keine Welterfahrung besitzen müssen, um nicht zu bald das Strebertum in dem angehenden Kaufmanne zu entdecken. Aus manchem gewitzten Einfall, den Franz im Kontor bekam, sprach so viel gesunder Menschenverstand, daß der Fabrikant mit der Zeit vor dem jungen Manne eine gewisse Achtung bekommen hatte, die noch dadurch gesteigert wurde, daß Franz an guten Manieren und Bildung den meisten seiner Kollegen weit überlegen war. Und nicht zuletzt fühlte er sich durch die hübsche Erscheinung Timpes junior gefesselt. Mit wenig Worten: es war ein gewisses instinktives Gefühl der Zusammengehörigkeit, das den kleinen Chef und seinen in die Höhe geschossenen Lehrling leitete, bei jeder Gelegenheit ihre Weisheit auszutauschen und wie zwei Menschen zu verkehren, deren Zuneigung den Unterschied der Jahre und den Abstand ihrer sozialen Stellung vergessen macht.

So war es denn erklärlich, wenn Urban Franzens Eintreten mit einem kleinen Artilleriefeuer von Worten begrüßte, das hauptsächlich darauf hinauszielte, aus dem jungen Manne eine gewichtige Person zu machen. Das rotseidene Taschentuch wie eine Flagge in der Hand schwingend, eilte er ihm sofort entgegen, nahm ihn unter den Arm und schritt auf die fremden Herrschaften zu, um ihn vorzustellen. Und Franz, der diese Auszeichnung zu schätzen wußte und dadurch sicher gemacht wurde, verbeugte sich vor den Damen sehr galant, lächelte verbindlich und küßte der Frau vom Hause die Hand. Jedesmal wenn er wieder zurückschnellte und sich emporgerichtet hatte, betrachtete er kokett die Spitzen seiner glattsitzenden Handschuhe und gab sich die möglichste Mühe, mit einer Augenverrenkung die Widerspiegelung seines eigenen Ichs in einem Kristalltrumeau zu erhaschen, der hinter ihm das Bild des Abends zurückstrahlte.

Sämtliche Anwesende saßen zerstreut in dem großen Salon umher; die jungen Leute etwas entfernt in den äußersten Ecken und die älteren im Halbkreis um Frau Urban, die, ganz in schwarze Seide gekleidet, äußerst imponierend sich ausnahm. Zu ihrer Rechten sitzend, in eine bauschige, blaßrote Robe gehüllt, die den Lehnstuhl förmlich vergrub, machte sich Frau Ramm, die Gattin des Dachpappenfabrikanten in der Köpnickerstraße, bemerkbar. Ihr auffallend kleines Gesicht zeigte so gesunde, rote Wangen, daß man es erst mit einiger Mühe aus dem Gewirr von gleichfarbigen Spitzen und Busenschleifen heraus erkennen konnte. Wenn sie sprach, lispelte sie nur, so daß die meisten ihrer Worte verlorengingen und sie aus alter Angewohnheit, ohne daß sie gefragt wurde, jeden Satz dreimal wiederholte. Der große, mit Federn besetzte Atlasfächer bewegte sich schwirrend wie ein Riesenschmetterling auf und ab, wobei in den weiten Ärmeln ein sehr knöcherner Unterarm sich zeigte, der den stillen Kummer ihres Gemahls bildete. Dieser selbst, ein hagerer, langer Herr, der, bevor er in das Gespräch sich mischte, seine Frau ausreden ließ, stand hinter ihr, auf die hohe Lehne eines geschnitzten Stuhles gestützt, und nickte sehr verbindlich nach jedem Worte, das Frau Urban zu ihm sprach, so daß auf die Dauer die Ähnlichkeit mit einem riesigen Spaßvogel des Berliner Weihnachtsmarktes nicht ausgeschlossen bleiben konnte. Er hielt sich äußerst zurück und wagte selten eine eigene Meinung. Eingeweihte behaupteten, diese Neutralität hinge mit der Tatsache zusammen, daß Frau Kirchberg, gewordene Frau Urban, eine erste Hypothek auf seinem Grundstück besitze, deren Kündigung jeden Tag erfolgen könne.

Außerdem gehörten zu diesem Cercle noch drei andere Ehepaare: ein sehr vermögender Weingroßhändler nebst Frau, dem man sein Gewerbe sehr deutlich an der Nase ansah und welcher bei jeder neuen Zusammenkunft die heilige Versicherung bereit hatte, daß Paris, wo er einige Jahre gelebt hatte, unbestreitbar die großartigste Stadt der Welt sei; ein korpulenter, sehr für Kunst schwärmender Rentier mit einer Gattin, die in Verzückung geriet, wenn ihr Mann sprach, und ein reicher Tuchhändler aus der Königsstadt, dessen viel jüngere Ehehälfte ihm an Bildung weit überlegen war und daher jeden günstigen Moment benutzte, bei geistreichen Gesprächen für ihren Mann das Wort zu ergreifen. Dieser gab dann den Kampf sehr bald auf und zog sich in eine stille Ecke zurück, wo er in Gesellschaft des Weingroßhändlers über die Verfälscher des edlen Rebensaftes das Todesurteil fällte und ein Glas nach dem andern leerte. Der letztere glaubte dann den Augenblick gekommen, der eine Überreichung seines Preiskurantes notwendig mache. Der Tuchhändler versprach zu bestellen, tat es aber niemals. Er besaß bereits eine ganze Kollektion derselben Karten. »Soll ich einmal meiner Frau imponieren und eine Rede halten?« sagte er dann in seliger Stimmung. – »Tun Sie es lieber nicht. Die Wirkung dieses Weines, der aus meinen Kellern stammt, ist unberechenbar. Sie könnten in Schwung kommen und heute nicht mehr aufhören«, riet der Weinhändler ihm ab. Man trank dann ruhig weiter.

Interessant für den Schönheitsenthusiasten war jedenfalls nur die jüngere Generation, die größtenteils in enger Beziehung zu der älteren stand. Fräulein Therese Ramm, die intime Freundin Emmas, pflegte an solchen Abenden gesprächiger zu sein und den jungen Männern gegenüber viel von ihrer Schüchternheit zu verlieren. Ihre Mutter hegte in derartigen Minuten die größten Hoffnungen und verfolgte sie mit leuchtenden Blicken, sobald sie wahrnahm, daß einer der jungen Männer ein längeres Gespräch mit ihr angeknüpft hatte.

»Sehen Sie nur, meine Liebe«, sagte sie dann leise zu Frau Urban, »sieht meine Therese nicht reizend aus? Sie wird gewiß noch einmal eine glänzende Partie machen.«

Der Weingroßhändler hatte seinen Sohn mitgebracht, einen sehr liebenswürdigen, blondgelockten jungen Mann, der in einem Konservatorium Musik studierte, den ganzen Abend über von Beethoven schwärmte und sehnsüchtig auf den Augenblick wartete, wo die Damen ihn auffordern würden, sich ans Piano zu setzen, um von seiner Kunstfertigkeit etwas zu hören. Ramms glänzten ebenfalls durch einen Sohn, der Kontorist im Geschäfte seines Vaters war, eine ausgezeichnete Kenntnis der Dachpappenfabrikation besaß und die Angewohnheit hatte, fortwährend an seinem Schnurrbart zu kauen – eine unausstehliche Beschäftigung, der er bereits den Verlust eines Teiles seiner Manneszierde zu verdanken hatte. Die jungen Damen fanden das abscheulich, während Frau Ramm es mit seiner Nervosität entschuldigte. Die Eltern brachten ihn nur um deswegen mit, weil sie der Hoffnung lebten, es könne sich zwischen ihm und Fräulein Bertha Kirchberg, der zweiten Tochter Frau Urbans, ein zur Ehe führendes Verhältnis entspinnen – ein wohlüberlegter Plan, der aber an der Abneigung der am meisten beteiligten Personen zu scheitern drohte. Fräulein Bertha hatte ihn nämlich im geheimen mehrmals für einen »Grässel« erklärt. Trotzdem gab Herr Ramm junior seine erneuerten Anläufe nicht auf, schwamm vielmehr schon beim bloßen Anblick der Stillgeliebten in jenem seligen Wonnemeer, aus dem der unglücklich Liebende nur durch eine rauhe Hand oder einen kalten Wasserstrahl gerettet werden kann.

Alwine, das älteste Fräulein Kirchberg, durfte sich bereits glückliche Braut nennen. Ihr Verlobter, ein sehr begabter Architekt von einnehmender, echt männlicher Erscheinung, stammte aus einer sehr wohlhabenden Familie, die durch langjährige Freundschaft mit Frau Urban verbunden war. Da man es hier mit einer tadellosen, glänzenden Partie zu tun hatte, in der beide Teile »gleich schwer wogen«, so erregte das junge Pärchen den geheimen Neid aller derjenigen Mütter, die sich bisher einer derartigen glücklichen Aussicht für ihre Töchter nicht erfreuen durften. Und da Fräulein Alwine mehr durch Erziehung und Bildung als durch Schönheit glänzte, so war es von allen Frau Ramm, welche oft zu der Frau des Rentiers die Meinung äußerte, daß der »Herr Architekt« auch noch »eine andere« bekommen könnte. Es war wohl nur der reine Zufall, wenn nach diesen Worten ihr Blick zu Theresen hinüberglitt.

Unter den jungen Leuten, die sonst noch die Gunst der Hausfrau zusammengeführt hatte, dürfte außer dem Geschäftsführer Herrn Urbans nur noch Herr Knispel erwähnenswert sein: ein blutjunger Mann von fast mädchenhafter Zierlichkeit, dessen Humor keine Grenzen kannte, der jede Minute bereit gewesen wäre, aus Aufmerksamkeit gegen die Damen sein Leben zu lassen, und infolgedessen bei diesen sehr beliebt war, wennschon man ihn wie einen kleinen, lustigen Kobold behandelte, dem gegenüber man glaubte, sich alles erlauben zu dürfen.

Urban sorgte dafür, daß sein Lehrling mit den anwesenden, ihm fremden Personen sehr rasch vertraut wurde; und Franz verstand es auch, sich so artig zu benehmen, so wohlgesetzte Komplimente zu machen, das Vorteilhafte seines Äußeren so vortrefflich in das gehörige Licht zu bringen, daß Frau Häberlein, die junge und geistreiche Gattin des Tuchhändlers, zu der Gastgeberin die inhaltschwere Bemerkung machte: »Man sieht doch bei einem jungen Manne auf den ersten Blick, was die Erziehung macht. Ein liebenswürdiger, netter Mensch!«

Wenn das Timpe der Älteste gehört hätte!

Die Lebensgefährtin des Weingroßhändlers, Frau Rosé (ihr Mann hatte, als er aus Paris zurückgekehrt war, es für vorteilhafter gehalten, seinen echt deutschen Namen durch das Hinzufügen eines Zeichens in einen französischen zu verwandeln), lobte seinen schönen Wuchs. Zum Schluß vermochte auch die Frau Rentiere mit ihrer Bewunderung nicht zurückzuhalten.

»Er sieht wie ein junger Fähnrich aus«, sagte sie, zu Frau Urban gewendet.

Frau Ramm lachte bei dieser Bemerkung hörbar hinter ihrem Fächer.

»Er stammt gewiß aus gutem Hause, nicht wahr, meine Liebe?« fragte Frau Häberlein, worauf sich hinter dem Riesenfächer ein diesmal verstärkteres Lachen vernehmen ließ. Da Frau Ramm durch ihre Tochter Therese bereits erfahren hatte, welche Begünstigung Franzen in diesem Hause zuteil wurde, und sie sich dabei der Zurücksetzung ihres Sohnes von Seiten Berthas erinnerte, so brachte sie Timpe junior gerade keine Sympathie entgegen.

»Er ist weder das eine noch das andere«, erwiderte Frau Urban. »Seine Eltern sind einfache Handwerksleute, die es mit der Zeit zu einem gewissen Wohlstand gebracht haben und infolgedessen alles aufwenden, um ihrem einzigen Sohn den Weg in die besseren Kreise der Gesellschaft zu bahnen ... Der junge Mann ist Lehrling in unserem Geschäft.«

Frau Häberlein war nun sehr enttäuscht darüber, daß sie mit dem »Fähnrich« nicht das Richtige getroffen hatte; und Frau Rosé sagte sehr naiv: »Wie man sich doch manchmal täuschen kann! Fast hätte ich behauptet, er wäre ein angehender Referendär.«

Nach diesen Worten ließ sich zum dritten Male das kichernde Lachen der Frau Dachpappenfabrikant vernehmen, dem dann die Bemerkung folgte:

»Es wird noch gute Weile haben, ehe er das erreicht haben wird, was mein Arthur ist ... Die jungen Leute von heute legen allen Wert auf das Äußerliche, wogegen doch der innerliche Mensch das Maßgebendste ist. Mein Arthur zum Beispiel gibt auf diesen Firlefanz nichts; dafür ist er aber ein tüchtiger Kaufmann, der seine Frau glücklich machen wird. Er liebt das Gediegene.«

»Ein tüchtiger Kaufmann wird der junge Mann dereinst auch werden, meine liebe Frau Ramm; und durch seine äußerlichen Vorzüge wird er jedermann doppelt willkommen sein«, erwiderte Frau Urban sehr verständnisvoll für die kleine Dame im mattroten Kleide, um dem unleidlichen Thema eine andere Wendung zu geben.

Franz gesellte sich zu den jungen Leuten, die ihm sehr freundlich entgegenkamen; ausgenommen Arthur Ramm. Dieser hatte bemerkt, daß der junge Timpe auch von Bertha sehr herzlich begrüßt worden war, und begann daher ärger als sonst an seinem Schnurrbart zu kauen. Erst als er sah, daß Franz und Emma in ein Nebenzimmer sich zurückzogen und sie verstohlen außerordentlich zärtlich taten, änderte sich seine Stimmung, vertrieb die alte Hoffnung die aufgestiegene Eifersucht. Emma fühlte sich glücklich, als sie mit Franzen die ersten Liebesworte an diesem Abend austauschen konnte. Da Therese in ihr Geheimnis gezogen war, so hatte dieselbe das Amt einer Beschützerin übernommen. Sie stand mit ausgestreckten Armen mitten in der Tür, drehte dem Pärchen den Rücken zu und schaukelte sich hin und her. Sie glaubte, so jedermann den Eingang verwehren zu können.

»Es hat doch bis jetzt niemand etwas von unserem Verhältnis bemerkt?« fragte Franz.

»Ich traue Alwine nicht«, erwiderte Emma; »sie macht hin und wieder so sonderbare Anspielungen, daß ich befürchte, sie hat uns einmal in der Konditorei gesehen oder meine Schreibmappe durchkramt.«

»Nun gedulde dich nur, mein süßes Schäfchen,« sagte Franz darauf mit der ganzen Würde, die ihm zu Gebote stand; »die Zeit wird auch kommen, wo ich mich deiner Mutter in aller Form erklären werde.« Mit der ganzen Keckheit seiner jungen Jahre drückte er sie herzhaft an sich und brachte seine Lippen mit den ihrigen in Berührung.

In demselben Augenblick ertönte ein leiser Zuruf Theresens, begleitet von einem Wink; aber beides war nutzlos und ohne Wirkung, denn der kleine Herr Urban hatte sich bei Fräulein Ramm vorbei durch die Tür gedreht und den herzlichen Gefühlsaustausch seiner Stieftochter und seines Lehrlings mit angesehen.

Sein Gesicht erweiterte sich zu einer eigentümlichen Grimasse, die ungefähr den Mittelpunkt zwischen Weinen und Lachen hielt. Einige Augenblicke stand er regungslos auf einem Fleck und blickte, das linke Auge listig zusammengekniffen, mit schräg gesenktem Haupte über die Brille hinweg zu beiden hinüber. Die rechte Hand bewegte sich mit dem rotseidenen Taschentuche hin und her. Dann kicherte er leise, erhob den Kopf mit einem plötzlichen Ruck nach hinten, so daß die Nase den Höhepunkt des ganzen Menschen bildete, und schritt auf das Fenster zu.

»So weit seid ihr schon? Die Sache ist ja recht feierlich, wenn die Geschichte sich auch machen wird ... Wer gab Ihnen das Recht, Herr Timpe, die Güte Ihres Chefs auf so hinterlistige Art und Weise zu mißbrauchen? Sie haben wirklich den Mut, sehr hoch hinaus zu wollen.«

Er versuchte, sehr ernst zu erscheinen; es gelang ihm aber um deswillen nicht, weil er in einer derartigen Verfassung komischer als sonst wirkte. Franz wurde sehr verlegen und schwieg wie ein Schuljunge, der beschämt vor seinem Lehrer steht. Emma aber war sehr rot geworden und wandte sich ab, um ihr Antlitz zu verbergen. Daß ihr Stiefvater es gerade sein mußte, der zuerst ihr Herzensgeheimnis entdeckte! Sie ärgerte sich mehr darüber, als sie Furcht empfand. Und da sie aus ihrer Abneigung gegen den zweiten Mann ihrer Mutter niemals ein Hehl gemacht und längst den Augenblick herbeigesehnt hatte, wo sie dieser Antipathie einmal gehörig Luft machen könne, so drehte sie sich plötzlich um und sagte mit einem Trotz, der auf Urban geradezu verblüffend wirkte:

»Jawohl, wir sind schon so weit, um uns gern zu haben! Sie werden davon gehört haben, daß Herr Timpe mein Jugendgespiele war, und da wird Ihnen manches erklärlich erscheinen. Was mich betrifft, so will ich es von jetzt ab niemand verschweigen, daß ich Herrn Timpe sehr zugetan bin. Gewisse Leute aber haben sich gar nicht darum zu kümmern, am allerwenigsten alte, wunderliche Herren, die auf Gummischuhen herangeschlichen kommen, um den Spion zu spielen.«

Franz war entsetzt über diese Worte; während seine Augen von dem jungen Mädchen zu seinem Chef irrten, sagte er:

»Aber Fräulein Emma, Sie vergessen sich!«

Urban aber schien den Groll seiner jüngsten Stieftochter nicht besonders tragisch aufzufassen.

»Sehen Sie, lieber Timpe«, begann er ruhig, »da haben Sie das Resultat einer falschen Erziehung; nehmen Sie sich ein Beispiel daran, wenn Sie dereinst Kinder haben sollten. So etwas muß man sich gefallen lassen, wenn man drei erwachsene Töchter mitgeheiratet hat, die einen um Kopfeslänge überragen. Ich soll ein Spion sein, soll auf Gummischuhen daherschleichen, der ich in meinem Leben keine getragen habe! ... Was soll ich darauf erwidern? Soll ich mich ärgern? Ich weiß wohl, daß viele Menschen es gern sehen würden, aber ich tue ihnen nicht den Gefallen! Es ist Prinzip bei mir, mich nicht zu ärgern; denn ich habe in meinem Leben keinen Pfennig dabei verdient; und ein sehr schlechter Kaufmann, der Zeit auf Dinge verwendet, die ihm nichts einbringen ... Ihnen bin ich nicht böse. Kommen Sie, ich habe mit Ihnen zu reden ... Unverständige junge Mädchen überläßt man am besten dem Alleinsein.«

Und wie am heutigen Abend bereits einmal, erfaßte er den Arm seines Lehrlings und zog diesen mit sich fort in das große Balkonzimmer, Emma in einer nichts weniger als angenehmen Stimmung zurücklassend; denn sie war durch die Liebenswürdigkeit, mit der Urban Franzen immer aufs neue entgegentrat, entwaffnet. Um aber ihrem Stiefvater zu beweisen, daß sie sich durchaus nicht getroffen fühle, unterdrückte sie ihren Unmut mit Gewalt und kehrte ebenfalls zu der Gesellschaft zurück.

Hier begann nach und nach die Gemütlichkeit sich zu steigern. Herr Knispel, der Allerweltshumorist, nahm auf einige Zeit die Aufmerksamkeit der Herrschaften in Anspruch. Dem Drängen der Damen nachgebend, hatte er sich vor der Glastür des Balkons auf einen Rohrsessel gestellt und deklamierte ein plattdeutsches Gedicht von Reuter mit einer solchen Ausdrucksfähigkeit und Komik, daß der Frau Rosé, die eine geborene Mecklenburgerin war, vor Lachen die Tränen über die Wangen liefen, alles in die heiterste Stimmung geriet und selbst der lange, hagere Herr Ramm aus seiner Reserviertheit heraustrat und die Behauptung wagte, Fritz Reuter sei doch wirklich ein bedeutender Humorist gewesen. Urban, der bei jeder Gelegenheit beweisen wollte, daß er für alles Verständnis besitze, rief mehrmals sehr laut »Bravo! Bravo!« und klatschte zum Schluß gewaltig in die Hände. Die jungen Damen waren mit diesem einen Vortrag nicht zufrieden. Sie umringten den Deklamator und flehten in allen Tonarten: »Ach noch etwas anderes, lieber Herr Knispel«, »Sie haben ja so viel davon auf Lager, bester Herr Knispel« ...

Frau Urban machte jedoch dem Zureden ein Ende, indem sie zur Tafel ins Nebenzimmer bat. Es wurde den Besuchern an derartigen Abenden gewöhnlich mit Tee und kaltem Aufschnitt aufgewartet; heute dagegen hatte man auf Wunsch des Hausherrn die weitgreifendsten Vorbereitungen getroffen, um den Gästen einen würdigen Begriff von der neuen Ehe zu geben. Man erhob sich denn auch ziemlich laut und geräuschvoll und konnte den leuchtenden Gesichtern der Ehepaare anmerken, wie freudig die Mitteilung der Hausfrau aufgefaßt worden war. Der Weingroßhändler, von dem es bekannt war, daß er gern den Galanten spiele, wurde von Frau Urban um seinen Arm gebeten; der letzteren Gatte hakte Frau Rosé unter; der kleine Herr Knispel engagierte Fräulein Bertha, zum großen Ärger Herrn Ramms und seiner Gemahlin, welche die vergeblichen Bemühungen ihres Sohnes um diese Ehre mit ansehen mußten. Sie waren nur insofern etwas beruhigt, als sie die Freude erlebten, ihre Tochter Therese von dem jungen Herrn Rosé, dem angehenden Virtuosen, zu Tisch geführt zu sehen. Emma war glücklich, am Arme Franzens zu hängen. Und so zog man denn lachend und scherzend in einer langen Reihe durch die geöffneten Flügeltüren. Zuletzt folgte der Rentier mit seiner Frau, die beim Eintritt die Nasenflügel sehr merklich dehnte und leise flüsterte: »Es gibt Gänsebraten, du weißt, ich esse ihn so gern.« – Es war das eine der vielen prosaischen Bemerkungen, die ihren für Kunst schwärmenden Mann in Verzweiflung brachten. »Du verstehst auch über nichts anderes zu reden als über das Essen«, gab er sehr unmutig zurück, worauf sie die Nase rümpfte und antwortete: »Mein Gott, davon lebt man ja ...« Er war, wie so oft, auch diesmal geschlagen und bedauerte zum hundertsten Male, einen Fehlgriff bei der Wahl seiner Lebensgefährtin getan zu haben.

Während der Tafelei war die Fidelität so gestiegen, daß man nach ihrer Aufhebung in der rosigsten Laune sich befand, musizierte, sang und in dem ausgeräumten Balkonzimmer das Tanzbein schwang. Herr Rosé junior wechselte mit dem Architekten den Platz am Klavier. Das junge Volk drehte sich im lustigen Kreise; und selbst die Alten, die in den Nebenzimmern gemütlich beisammensaßen, verschmähten es nicht, hin und wieder ein Tänzchen zu wagen.

Urban war der seligste von allen. Selbst seine ältesten Bekannten hätten den ehemaligen, verbissenen Junggesellen nicht wiedererkannt. Er lief von einem Zimmer ins andere, sorgte für neue Weinbatterien und gab sich die redliche Mühe, gegen seine Gäste so aufmerksam als möglich zu sein. Da er dem Glase tapfer zusprach, so geriet er schließlich in jene Stimmung, in welcher ein Parvenü nicht mehr recht die Grenze zwischen dem, was sich schickt und nicht schickt, innezuhalten weiß. Er lief bald zu diesem, bald zu jenem, machte derbe Witze, über die er am lautesten lachte und welche Herr Ramm, der sich seiner freundlichen Gesinnung versichern wollte, für äußerst treffend und geistreich erklärte.

Endlich konnte man ihn in der entferntesten Ecke eines nur spärlich erleuchteten Zimmers mit seinem langen Lehrling an einem Tischchen sitzend erblicken, wo er sich nicht scheute, mit dem jungen Manne wie mit einem intimen Bekannten anzustoßen und auf das Wohl der zukünftigen Fabrik zu trinken. Und Franz, der bereits einen kleinen Rausch weghatte, erblickte in ihm schließlich einen väterlichen Freund, dessen Gesellschaft man am besten zu würdigen glaubt, indem man ihm ein über das andere Mal ein »Prosit! Prosit!« zuruft, zu allen seinen Behauptungen ja sagt und ihn im Innern für einen der vortrefflichsten Menschen erklärt, den die Erde jemals getragen hat.

»... Das soll hier noch anders werden, viel großartiger, Timpe, verlassen Sie sich darauf! ... Diese spießbürgerliche Gesellschaft muß man sich vom Halse schaffen. Das kommt nur her, um zu essen und zu trinken und die Nase in alle Ecken und Winkel zu stecken. Sie besitzen etwas Gentlemanartiges, Sie werden mich verstehen ... Meine Frau ist leider zu gut und zu schwach, um diese Leute abzuschütteln; aber ich werde es tun. Was haben wir überhaupt von der ganzen Sippschaft? Der eine kommt her, um seinen faulen Wein an den Mann zu bringen, der andere möchte die Hypothek nicht gekündigt sehen, und der dritte mokiert sich im stillen über die schlechten Ölbilder an der Wand ... Die Leute kenne ich ... Wenn ich den Wein heute so überreich fließen lasse, so hat das seinen guten Grund: Ich will aufräumen mit der Sorte, die nach dem Korken schmeckt... Wenn meine Fabrik fertig ist, dann sollen Sie einmal sehen, was für Menschen ich zu dem Feste einladen werde. Das muß Chic und Noblesse besitzen. Man muß von den Leuten etwas profitieren, durch sie emporkommen, sie ausnutzen, denn umsonst ist der Tod. Gebe ich tausend Taler aus, so müssen sie mir das Dreifache bringen ...«

Er war ordentlich in Feuer gekommen, machte eine Pause, während welcher ihm Franz seine Zustimmung zuteil werden ließ, und fuhr dann fort:

»Halten Sie sich nur recht brav, lieber Timpe, nehmen Sie nur meine Interessen wahr, dann sollen Sie sehen, was Sie an mir haben ... Wenn Sie dem Mädel, der Emma, gut sind und die Liebe zwischen euch beiden hält an: mein Gott, weshalb sollte aus euch beiden nicht noch ein Paar werden! Sie sind jung, Sie können noch warten. Sie müssen vor allem erst ein tüchtiger Kaufmann werden, sich in meinem Geschäfte bewähren, dann bin ich nicht abgeneigt, Fürsprecher bei meiner Frau zu werden. Das macht sich überhaupt nachher ganz von selbst. Aber, wie gesagt: meine Interessen wahrnehmen, rücksichtslos als Kaufmann sich zeigen, Zahlenmensch durch und durch werden, immer denken: Erst mein Chef, dann ich! Dann werden Sie auch zu etwas kommen. Wer weiß, was im Leben noch alles geschehen kann: schon mancher Chef hat seinen Untergebenen zu sich emporgezogen, wenn er sich der Treue desselben versichert halten durfte. Vertrauen entgegenbringen – so heißt das Band, das uns zusammenhält...«

Franz hatte die weinumnebelten Augen groß aufgerissen und seinen Chef angestarrt. Ein Paradies der Zukunft entstand in seiner Phantasie und zauberte ihm lachende Bilder vor das Auge, die seine kühnsten Hoffnungen übertrafen. Niemals hätte er sich träumen lassen, daß man in diesem Hause seine Absichten so leicht verstehen würde. Was er da vernahm, war ein halbes Zugeständnis seiner geheimsten Wünsche. Er wollte etwas sagen, aber Urban, der in seiner gewohnten Weise ihn mit einem listigen Blick über die Brille hinweg fixiert hatte, ließ ihn nicht zu Worte kommen.

»... Sehen Sie, Timpe, ich habe Sie in mein Herz geschlossen«, begann er aufs neue, mit lallender Stimme, die Worte abgebrochen hervorstoßend, aber doch den Sinn jedes einzelnen berechnend. »Sie sind ein ganz anderer Kerl als Ihr Vater. Der ist bockig, starrsinnig wie ein orthodoxer Jude, der am Glauben seiner Väter hängt. Wenn es nach solchen Leuten ginge, so würde die Welt keine Neuerung erleben ... Raten Sie ihm nur vom Bauen ab, und verdrehen Sie ihm den Kopf nicht noch mehr, indem Sie ihn dazu bringen, seine Artikel kaufmännisch zu vertreiben. Bleiben Sie hübsch bei mir, kehren Sie nicht mehr in den beschränkten Dunstkreis des Handwerks zurück: Sie, so ein Mensch, dem die ganze Welt offensteht! ... Was ich gleich sagen wollte –«

Er brach kurz ab, machte eine Pause erkünstelter Verlegenheit und steuerte dann direkt auf sein Ziel los.

»Richtig: Lieber Timpe, eine Liebe ist der anderen wert, Sie könnten mir einen kleinen Gefallen erweisen ... Ihr Alter hat da gewisse Modelle hängen, an deren näherer Besichtigung mir sehr viel liegt. Er würde mir dieselben jedenfalls sehr gerne leihen, sagte ich ihm nur ein Wort. Aber seit heute mittag ist mir das unmöglich ... Wenn Sie vielleicht die Liebenswürdigkeit haben wollten ... Es sind die Nummern dreizehn, zwanzig und dreißig ... Jedoch möchte ich nicht gern, daß Ihr Vater etwas davon erfährt. He, wollen Sie? Schlagen Sie ein. Prosit! Wir stoßen noch einmal an auf das Gelingen der Fabrik und auf Ihre Zukunft! ... Verlassen Sie sich darauf: Sie werden noch ein großer Mann.«

Wenn Urban weiter nichts verlangte! ... Franz schätzte sich unendlich glücklich, seinem Chef für all die Liebenswürdigkeit, die ihm entgegengebracht wurde, einen kleinen Gegendienst leisten zu dürfen. Wer konnte wissen, ob diese kleine Gefälligkeit nicht die erste Staffel zu der einstigen Kompagnieschaft bildete ...

Aus dem großen Balkonzimmer schallten die leisen Rhythmen eines Walzers und das gleichmäßige Scharren der Tanzenden herein. Ein eigentümlicher Duft berührte Franz: es war die Atmosphäre der Wohlhabenheit und bürgerlichen Genußsucht, die ihn zu berauschen begann. Wohin er blickte, sah er die Früchte gediegenen Reichtums, die Macht des Geldes, den Überfluß erkauften Glückes ... Und vor seinen schweren Augenlidern zog die bescheidene Häuslichkeit seiner Eltern vorüber: mit ihren vorväterlichen, abgenutzten Möbeln, der Entbehrung jeglichen Luxus, der verkörperten Beschränktheit gutmütiger, aber in der Entwicklung der Gesellschaft zurückgebliebener Leute. Ein Geruch von Arbeit, von herabfallenden Spähnen, Staub und Schweiß, der das ganze Haus durchzog, stieg vor ihm auf ... Und hier, wie anders die Luft, wie rein, verheißungsvoll...

»Morgen, Herr Urban, mein Wort darauf!«

»Bravo, mein lieber Timpe, ich hatte das von Ihnen erwartet... Wahrhaftig, man will schon aufbrechen, sehen Sie nur. Aber zuvor stoßen wir noch einmal an: auf das, was wir lieben ...«

Als Franz Timpe nach ungefähr zehn Minuten einen herzhaften Händedruck von Emma empfangen und das Haus verlassen hatte, begann in der Weinlaune seine Phantasie sich mächtig zu entfalten, so daß er einmal halblaut vor sich hin sprach: »Urban und Timpe! Hört sich nicht schlecht an, wahrhaftig nicht! ...«


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