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XVII.
Der neue Heiland

Seit der Abwicklung dieses Geschäfts konnte man Timpe mit einem Dachs vergleichen, der tagelang in seinem Bau hockt und nur durch den Hunger getrieben wird, ihn zu verlassen. Er beschränkte sich jetzt nur noch ganz auf die große Werkstatt und seine Arbeitsstube, die zugleich sein Schlafzimmer war. Die »gute Stube« hatte er seit Monaten nicht gesehen, und das Wohnzimmer betrat er nur in Ausnahmefällen. Er fürchtete sich, durch ihm liebgewordene Gegenstände an den Großvater und Karoline erinnert zu werden. Die Läden, die nach dem Winkel vor dem Hause hinausgingen, wurden mit Ausnahme des einen halben, der zum Fenster der Modell- und Schlafstube gehörte, gar nicht mehr geöffnet. Die Haustür war den ganzen Tag über geschlossen; ein mächtiger Riegel war vorgeschoben.

Timpe stand pünktlich auf, hielt seine Mahlzeiten regelmäßig und legte sich Abend für Abend um dieselbe Zeit nieder. Von früh bis spät drehte er ein und dieselbe Arbeit: Stuhlbeine für Luxusstühle, die er bereits mit Beyer zusammen gedrechselt hatte. Als das wochenlang so fortging, merkte er, daß seine Augen schwach wurden; sie fingen an zu tränen, so daß er das Drehwerkzeug absetzen und längere Zeit pausieren mußte. So ging er denn eines Morgens in aller Frühe zu einem Arzt und ließ sich eine blaue Brille verschreiben, mit der er sich sehr sonderbar ausnahm; aber es ging doch besser. Erlahmte er trotz alledem, so griff er zum »Sorgenbrecher«, wie Meister Klatt den Schnaps nannte. Er trank nicht viel, aber gerade genug, um zu neuer Arbeit angefeuert zu werden und sich in einen seligen Zustand des Vergessens zu versetzen. Eines Abends vor Feierabend hatte er noch einen so kräftigen Zug genommen, daß ihm im Stehen die Augen zufielen, er sich mechanisch auf einen Schemel niederließ und sanft entschlummerte. Durch ein klirrendes Geräusch erwachte er. Der Zylinder der Arbeitslampe war gesprungen und ein Stück davon auf die Drehbank gefallen. Er schreckte zusammen und rieb sich verwundert die Augen. Die Werkstattuhr zeigte bereits zehn Uhr. Drei lange Stunden hatte also sein Schlaf gewährt. Ein süßer Traum hatte ihn umfangen gehabt: Er saß in der Vorderstube mit dem Großvater und seiner Frau am großen runden Tisch, als sein Sohn hereintrat, auf ihn zustürzte und ihn herzte und küßte.

Nach einer Viertelstunde starrte er immer noch auf denselben Punkt und ließ das Traumgebilde an sich vorüberziehen. Große Tränen rollten dabei langsam über seine Wangen. Als er dann nach und nach in die Wirklichkeit zurückkam und sich in dem großen Raum umblickte, schauerte er zusammen, denn ihn fröstelte. Die Einsamkeit des stillen Hauses wirkte mit allen Schrecknissen auf ihn ein. Da erblickte er die Schnapsflasche, die auf der Drehbank stand; in ihr saß der Teufel, der ihn in diesen Traum versenkt hatte. Und er wollte nicht solche Träume haben –nicht solche verlockenden Gaukeleien, in denen die Küsse seines Sohnes, die sich niemals bewahrheiten würden, eine Rolle spielten! Er nahm die Flasche und warf sie mit solcher Kraft in den entferntesten Winkel, daß sie in Scherben zerfiel; dabei gelobte er sich, keine zweite mehr an den Mund zu setzen. Zwei Tage lang hielt er das Gelöbnis; aber bei der Arbeit rückte er unruhig gegen die Bank, blickte sich so oft nach der Stelle um, von wo er gewohnheitsmäßig die Flasche zu langen pflegte, daß er am dritten Tage bereits mechanisch eine neue in der Küche ausspülte und sie mit dem »Sorgenbrecher« füllen ließ, als er in der Morgenstunde seine gewöhnlichen Einkäufe machte. Er wunderte sich dann, wie wohl ihm wieder beim ersten Schluck wurde, als er die Drehbank in Bewegung setzte.

Worauf er gar nicht mehr Wert legte, war sein Äußeres. Er übte nach wie vor Reinlichkeit, vernachlässigte aber seine Kleidung und vergaß ganz und gar, daß er mit der Zeit immer magerer geworden war, während die Weite seiner Röcke dieselbe blieb. Seit Monaten trug er im Hause einen fadenscheinigen Sommerüberzieher und ging damit auch des Morgens über die Straße. Es war die völlige Gleichgültigkeit, in die er sich mit der Liebe zur Flasche und zur völligen Einsamkeit teilte.

Den ganzen Sommer hindurch war sein Dasein immer dasselbe; er stand frühmorgens um sechs Uhr auf, drechselte den langen Tag über seine Stuhlbeine, die des Sonnabends regelmäßig abgeholt wurden, öffnete mittags Punkt zwölf Uhr die Haustür, wenn das Mittagessen gebracht wurde, und legte sich abends Punkt neun Uhr schlafen. Er verdiente gerade so viel, daß er existieren und die Zinsen ersparen konnte. Besondere Bedürfnisse hatte er gar nicht. Selbst die »Warte«, die ihm sonst so lieb und teuer war, bestieg er nicht mehr, denn der Anblick alles dessen, was außerhalb seiner Wände lag, war ihm verhaßt.

Die Bewohner des ganzen Viertels sprachen nur noch von ihm als von einem Sonderling, und geschah das von böswilligen Zungen, so wurde noch das Wort »verrückter« hinzugesetzt. Es gab Leute, die einen weiten Weg machten, um sein Haus zu sehen und sich eine Vorstellung von dem Bewohner zu machen. Trotzdem er niemandem etwas zuleide tat, gab es Mütter, die ihre Kinder warnten, in der Abendstunde bei des Meisters Haustür vorüberzugehen, denn geistesgestörten Menschen müsse man aus dem Wege gehen, weil sie gefährlich werden könnten. Dieses Urteil der öffentlichen Meinung trug viel dazu bei, das Verhältnis seines Sohnes zu ihm von einer ganz anderen Seite zu betrachten und das Fernbleiben desselben von dem Elternhause gerechtfertigt zu finden. Wer mitten unter zivilisierten Leuten das Leben eines Waldmenschen führte, mußte mit einem ganz anderen Maße gemessen werden. Was hatten die Leute sich schon alles von ihm erzählt! Wie er aufziehe, das Haar lang wachsen lasse, mit einer großen Tasche in der Hand frühmorgens wie ein richtiges altes Weib Kaffee und Brot einhole, ja oftmals sogar Kartoffeln, die er wahrscheinlich ungewaschen mit der Schale röste, um sie frisch aus dem Feuer zu verzehren.

Nur zwei Menschen gab es, die oft zusammentrafen, um ein besseres Urteil über Timpe abzugeben und gegenseitig ihre Gedanken auszutauschen: Beyer und Nölte. Beide hatten zu verschiedenen Malen den Versuch gemacht, ihn zu besuchen, ohne jedoch Einlaß zu finden. Der Klempner hatte ihn dann eines Morgens auf der Straße getroffen, sich mit ihm eine Weile unterhalten und dabei gefunden, daß Timpe durchaus bei Verstande war.

In den ersten Tagen des Oktobers wurde Timpe durch eine Kündigung der neuen Hypothek überrascht. Dieser Schlag traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er glaubte zu träumen, dann dachte er an einen schlechten Scherz. Am späten Nachmittag war die Nachricht eingetroffen; sofort suchte er den Darleiher des Geldes auf. Hier bewies er, wie vernünftig er noch denken und reden konnte. Ob man sich denn nicht erinnere, daß man ihm die feste Versicherung gegeben habe, die Hypothek würde in den ersten zehn Jahren nicht gekündigt werden? Achselzucken war die Antwort. Man könne sich nicht mehr darauf besinnen ... nur was man schwarz auf weiß besitze, sei von Gültigkeit. Auf lange Auseinandersetzungen dürfe man sich nicht einlassen, denn das Geld würde nötig gebraucht. Der Meister, eingedenk der bereits einmal gemachten trüben Erfahrungen, bot alles auf, um die Hypothek zu behalten. Er versprach höhere Zinsen, aber als Antwort bekam er immer dasselbe: Achselzucken und nochmals Achselzucken. Als er sah, daß hier die schönsten Worte verschwendet waren, ging er, um aufs neue sein Heil bei Geldmenschen zu versuchen. Binnen einer Stunde war er wieder in das aufregende Gewühl des Weltstadtlebens hinausgeschleudert. Sechs Wochen lang bemühte er sich abermals vergeblich. Zuletzt schwand ihm aller Mut, und die Hoffnungslosigkeit bemächtigte sich seiner in nie erwartetem Maße. Es war weniger der Gedanke an den Vermögensverlust, der ihn so tief ergriff und schmerzte, als der, daß er aus seinem Heim vertrieben werden könnte. Die Mitleidslosigkeit grinste ihn nun in tausendfacher Gestalt an. Ekel vor der Welt überkam ihn, und zum zweiten Male in seinem Leben tauchte ein unheilvoller Dämon vor ihm auf, zerrte an ihm und ließ ihn nicht mehr los. Er trug diesmal nicht die sanften Züge Thomas Beyers, sondern ein abschreckend häßliches Antlitz: Es war der Haß gegen die bestehende Ordnung im Staate.

»Beyer hat recht«, sprach er vor sich hin, als er wieder einmal eine Wanderung unternommen hatte und seine Bemühungen wie gewöhnlich resultatlos geblieben waren. »Beyer hat recht!« Als er zum zweiten Male diese Worte wiederholte, blieb er stehen und starrte vor sich hin. Der Dämon hatte sich plötzlich vor seinen Augen in einen Abgott verwandelt. »Beten Sie den neuen Heiland an«, hatte Beyer zu ihm gesagt. Den ganzen Tag über unterbrach er seine Grübeleien immer mit denselben vor sich hingemurmelten Worten: »Der neue Heiland ... der neue Heiland ... bete den neuen Heiland an!«

Seit acht Tagen hatte er die Drehbank nicht getreten. War er halberschöpft von seinen Gängen zurückgekehrt, so durchmaß er mit großen Schritten die Werkstatt und rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was der Altgeselle ihm gepredigt hatte. Was hätte er jetzt darum gegeben, wenn Thomas Beyer plötzlich vor ihm aufgetaucht wäre, um noch einmal das zu wiederholen, was er ihm so oft gesagt hatte. Als hätte trotz seines physischen Elends sein Geist plötzlich eine wunderbare Kraft erlangt, fielen ihm ganze Bruchstücke der Agitationsreden des Altgesellen ein: »... Die Leute, die Sie zugrunde richten, sind Ihre natürlichen Feinde, gegen welche Sie sich aufbäumen müssen ... Gott will nicht, daß ein Gerechter leide um hundert Ungerechter willen ... Die moderne Gesellschaft mit ihrem Produktionsschwindel hat Sie auf dem Gewissen ...«

Er sprach diese Sätze wohl ein dutzendmal laut vor sich hin und gab sich alle Mühe, ihre Wahrheit zu ergründen und sie bis ins einzelne zu zergliedern. Eine förmliche Wut überkam ihn, die neue Lehre immer mehr in sich aufzunehmen und sich an ihr zu berauschen. In der guten Stube standen einige Bücher, darunter ein altes Lexikon. Mit Eifer stürzte er sich darüber her und suchte nach irgendeiner Erklärung des Wortes »Sozialdemokratie«. Er wurde aber nicht befriedigt; was er fand, war ihm zu gelehrt. Als er beim großen Wandspiegel vorüberkam, schreckte er vor seinem eigenen Bilde zusammen. Gespensterhaft starrte ihm sein Antlitz entgegen. Er war so überrascht, daß er sich umblickte, als stände noch ein anderer hinter ihm. Je länger er sich aber betrachtete, je komischer kam er sich vor. Schließlich amüsierte er sich über seinen Aufzug, beschaute sich wie ein Komödiant, der in den nächsten Minuten auf die Bühne gehen soll, von allen Seiten und nickte sich freundlich zu. Es war der Schnapsteufel, der aus ihm sprach und ihm diese Scherze eingab. Dann ging er nach der Küche und hob die ganze Herdplatte in die Höhe, weil er in dem Wahne lebte, es könnte von den verbotenen Schriften Beyers, die er vor langer Zeit verbrannt hatte, noch etwas übriggeblieben sein.

Es kamen nun Stunden, wo die Einsamkeit, die bisher sein einziges Glück ausmachte, ihm zur Last wurde, wo er seine größte Befriedigung darin gefunden hätte, mit einem vertrauten Menschen zu sprechen, um alles von sich zu wälzen, was seine Seele bedrückte. Er schloß die Haustüre auf, öffnete die Läden, blickte nach der Straße mit einer Sehnsucht und Erwartung, als müsse jeden Augenblick die Gestalt Beyers vor ihm auftauchen und ihn laut begrüßen. Aber Beyer kam nicht; nur einige Leute blieben stehen und blickten ihn sehr erstaunt an; ein kleines Mädchen lief erschreckt über den Damm, und an den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser zeigten sich neugierige Gesichter, die zu ihm hinüberglotzten, als könnten sie die plötzliche Veränderung in der Physiognomie des Hauses nicht begreifen.

Endlich nahm er sich vor, Beyer selbst aufzusuchen. Als er aber vor der Haustür eine Gruppe Neugieriger erblickte, verschloß er wieder Laden und Haustür und vergrub sich aufs neue in seiner Burg.

An diesem Tage fand er noch einmal Gelegenheit, seine Aufmerksamkeit der Außenwelt zuzuwenden. Ein Geräusch von vielen Stimmen hatte ihn nach einer der Giebelstuben hinaufgelockt. Die ganze Straße war schwarz von einer wogenden Menschenschar, in deren Mitte die Helme der Schutzleute auftauchten. Es war an einem Montag. In der zehnten Stunde hatten plötzlich zweihundert Arbeiter der Urbanschen Fabrik ihre Beschäftigung niedergelegt. Es handelte sich um eine Lohnreduktion, die man sich nicht bieten lassen wollte. In einer anderen Knopffabrik, die in einer der Nebenstraßen lag, war in der vergangenen Woche bereits ein Strike ausgebrochen. Wie der Blitz hatte sich bei diesen arbeitslosen Gesellen der Vorgang in der Urbanschen Fabrik verbreitet; sie kamen in hellen Haufen herbeigezogen, um zum Aushalten aufzumuntern oder ihrem Unmute Luft zu machen. Zum großen Verdruß Urbans legte auch gegen Mittag ein Teil der Elfenbein- und Horndrechsler ihre Drehwerkzeuge nieder und zog von dannen. Was man den Knopfarbeitern abzuziehen gedachte, das verlangten sie als Erhöhung ihres Lohnes. Das hatte man nicht erwartet, denn eine große Bestellung fürs Ausland war eingegangen und sollte schleunigst ausgeführt werden. Aber Urban ließ auch sie gehen, ohne ihnen irgendwelche Zugeständnisse zu machen.

Etwa sechshundert Arbeiter belagerten das Fabriktor und schritten vor demselben in langen Zügen auf und ab. Trotzdem herrschte eine musterhafte Ruhe; nur ein dumpfes Murmeln, wie das Grollen eines leichtbewegten Meeres, durchhallte die Luft. Hin und wieder ertönte ein lauter Zuruf oder ein greller Pfiff, der an anderer Stelle beantwortet wurde. Das Murmeln erhob sich dann zu einem lauten Stimmgewirr, ein dichter Menschenknäuel entstand, und die Schutzleute brachen sich Bahn, um ihn zu zerteilen und zum Auseinandergehen aufzufordern. Dann wogte die dunkle Lawine wieder die Straße entlang. Zeitweilig trat ein unheimliches Schweigen ein, das angesichts der Menschenmenge etwas Beklemmendes, Furchterregendes barg. Einen Gegensatz zu diesen herausfordernden Gestalten bildeten die helleuchtenden Gesichter der Frauen, Mädchen und Kinder, die in den geöffneten Fenstern lagen und bis in das Dach hinauf eine lebende Garnitur an den Häusern bildeten. Timpe hatte eine aufrichtige Freude an diesem Anblick.

»Dacht' ich's mir doch, daß es eines Tages so kommen würde«, sagte er mit einem vergnügten Lächeln vor sich hin; »wenn nur die ganze Fabrik zum Teufel ginge, das wäre ein wahrer Segen.«

Am liebsten wäre er sofort hinuntergegangen und mitten unter die Streikenden getreten, um ihnen Ferdinand Friedrich Urban bis auf die spitze Nase so eindringlich zu schildern, daß sie ihn aus dem Effeff kennengelernt hätten. Er empfand ordentlich Lust, irgendeine Heldentat zu begehen; diesen armen Leuten dort, die vielleicht nicht wußten, wo sie am andern Tage das Brot zum lieben Leben herbekommen sollten, seinen eigenen Untergang vor Augen zu halten, ihnen den Fluch der Armut und die Macht des Kapitals in glühenden Farben zu schildern, sie zum Ungehorsam gegen die Gesetze aufzufordern, Worte der Empörung in ihre Reihen zu schleudern. War er denn jetzt mehr als sie, stand ihm nicht dasselbe Schicksal bevor: gleich ihnen, mit der Blechkanne in der Hand, des Morgens nach irgendeiner Fabrik zu gehen, um als lebende Maschine in der Legion der Enterbten sein Tagewerk zu verrichten? O er war nahe daran, die Grausamkeit des Lebens bis zum letzten Tropfen zu durchkosten! Es kochte förmlich in ihm, er fühlte, wie die Zunge sich im nächsten Augenblick lösen würde, um alles das, was er dachte, in die Massen hineinzuschreien.

Aber er kam nicht dazu. Einige junge Burschen hatten ihn erblickt, wiesen auf ihn hin und schienen sich allem Anschein nach über ihn lustig zu machen. Eine Gruppe bildete sich, und hundert Köpfe wandten sich nach ihm. Viele traten bis an den Zaun heran und gafften zu ihm wie zu einem Wundertier empor. Timpe ließ sich sehen? Das war neu.

Ein junger, bartloser Mensch, der kaum die Lehrlingsschuhe ausgezogen haben konnte und dem die Skandalsucht im Gesicht geschrieben stand, rief dann plötzlich laut: »Seht doch den alten Meergreis da oben ...« Gelächter ertönte.

Der Meister wollte das Wort »dummer Junge« gebrauchen, besann sich aber auf seine Weisheit, klappte das Fenster zu und verschwand.

Am Nachmittage tauchten Schutzmänner zu Pferde auf, welche im Schritt die Straße durchritten und jede Gruppe, die sich bildete, sofort auseinandertrieben. Nach und nach verteilten sich die Massen. Als der kurze Wintertag zur Dämmerung sich neigte, zerstreuten sich auch diejenigen der Strikenden und Neugierigen, die am längsten ausgeharrt hatten. Nur die Schutzmannsposten, die langsam vor dem Fabriktor auf und ab wanderten, und das laute Leben in den Schankwirtschaften deuteten auf die Ereignisse des Tages hin.

Nach zwei Tagen fand die Ersatzwahl zum Reichstage statt. In diesem ungeheuren Stadtviertel des Proletariats, das sich von den Frankfurter Linden bis nach dem Schlesischen Busch und von dort bis zum Kottbuser Tor erstreckte, hatte ein Arbeiterkandidat den Sieg davongetragen, aber zugunsten eines anderen Wahlkreises auf dieses Mandat verzichtet.

Es war ein naßkalter Wintertag. Der Schnee hatte sich in Wasser aufgelöst, und ein feiner, kaum sichtbarer Regen vermehrte die Schmutzlachen und durchfeuchtete die Kleidung der Menschen. An solchen Tagen macht Berlin einen unangenehmen Eindruck. Es gleicht einem Menschen, der plötzlich seine Stimmung und mit ihr seine Kleidung gewechselt hat. Es zieht sich in sich selbst zurück und läßt sich nur von außen betrachten. Selbst Fenster, hinter denen man selten Licht erblickt, sind erleuchtet, die Läden leerer als sonst, und um die Lampe im Wohnzimmer sieht man seit langer Zeit wieder die ganze Familie versammelt. Die flackernden Flammen der Gaslaternen verstärken den unangenehmen Eindruck. Die Schatten werden dunkler, die Wasserpfützen leuchten greller, die Häuser starren um so schwärzer zum dunklen Himmel empor. Wie Irrlichter huschen die bunten Flämmchen der Wagenlaternen über die Straße und wirken um so unheimlicher, je weniger man die Gefährte erkennen kann.

Seit frühmorgens war Timpe unterwegs, ohne den hülfsbereiten Menschen gefunden zu haben, der ihm Ersatz für die gekündigte Hypothek verschaffen würde. Er hatte durch die ewige Aufregung seine Arbeit bereits so vernachlässigt, daß sie in der Werkstatt unausgeführt in großen Haufen lag. Noch niemals war ihm eine ähnliche Gleichgültigkeit gegen sich selbst, gegen alles, was das Leben noch zu bieten vermochte, überkommen wie in den letzten Tagen. Er kam sich wie ein Vagabund vor, wie ein alter Landstreicher, der durch die Straßen zieht, um für Brot und Nachtlager zu betteln.

Es fing bereits an zu dunkeln. Der Schnee klatschte bei jedem Schritt gegen seine Füße, der Regendunst hatte sein langes Haar erweicht, sich in jede Falte seiner Kleidung gesetzt, so daß die Hand feucht wurde, wenn er sie berührte. So näherte er sich wieder allmählich seiner Straße. In tiefe Gedanken versunken, blieb er abwechselnd stehen und blickte zum Himmel empor. Dann kam der Name »Karoline« wie ein langer Seufzer unsagbaren Schmerzes über seine Lippen. Er suchte vergeblich nach einem Ausdruck seiner Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft; alles dessen, was ihn bewegte und die ewigen Widersprüche in ihm entfachte. Endlich hatte er ihn gefunden: es war der Lebensüberdruß, der an ihm nagte und ihn zum Sterben schlaff und willenlos gemacht hatte. Das Wort schien ihm so entsetzlich und doch verlockend, daß er mitten auf dem Fahrweg stehenblieb und vor sich hinstarrte. Eine Peitsche knallte vor seinen Ohren, und ein »Heda!« weckte ihn aus seiner Betäubung. Einige Sekunden später, und die Räder hätten ihn zermalmt. Ein Wagen rollte an ihm vorüber, in dem sein Sohn saß. Ein flüchtiger Blick hatte genügt, um ihn Franz erkennen zu lassen. Ein Schauer durchrieselte ihn, der ihm kälter dünkte als all dieser unermeßliche geschmolzene Schnee, der ganz Berlin durchtränkte. Mit schlotternden Knien ging er weiter. Plötzlich bannte er seine Schritte vor dem hellerleuchteten Torweg eines Hauses, das ihm bekannt erschien. Große rote Zettel prangten an beiden Seiten der Haustür, ganze Züge von Menschen gingen aus und ein, und auf der Straße standen dunkle Gestalten, die jeden neu hinzu Eilenden anredeten und ihm ein Stück Papier in die Hand zu drücken versuchten.

Johannes befand sich vor dem Wahllokale, in dem auch er seit vielen Jahren sein Recht als Bürger auszuüben pflegte. Er blieb stehen und blickte in den Torweg hinein, wie jemand, der noch überlegt, ob er weitergehen oder das Haus betreten soll. Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter. Thomas Beyer stand vor ihm.

»Meister, es ist die höchste Zeit ... gehen Sie hinein. Sie haben noch keinen Zettel? ... Hier ... Sie stehen gewiß in der Liste.«

Er hatte leise gesprochen und reichte ihm nun einen zusammengefalteten Zettel hin.

»Was steht drauf?«

Der Altgeselle lächelte und betrachtete ihn von oben bis unten mit einem Blick, den nur Timpe verstand.

»Zögern Sie auch jetzt noch?«

Der Meister schwankte einen Augenblick; dann sagte er mit fester Stimme: »Nein!«, beschritt den Torweg und stieg rechts die Stufen zum Lokal empor.

Nach wenigen Minuten kehrte er zurück. Er wollte sich entfernen, aber Thomas Beyer hielt ihn fest. Ob er schon wisse, daß dort drüben um die Ecke in Schellers Salon um sieben Uhr eine Versammlung abgehalten werde? Strikende Arbeiter der Urbanschen Fabrik träfen sich dort.

»Meister, Sie gehören jetzt zu uns, Sie müssen mitkommen.«

Seit der Minute, wo Timpe mit gesenktem Blick die Hand nach der Wahlurne ausgestreckt hatte, um in ihre Tiefe jenen winzigen Fetzen Papier zu versenken, auf dem seine neue Überzeugung geschrieben stand, war völlige Willenlosigkeit über ihn gekommen. Es war der Zweifel an der Gerechtigkeit seiner Handlung, der sofort mit der Tat in ihm aufgestiegen war. Wie eigentümlich hatten ihn die Herren am Tische betrachtet, wie starr waren ihre Augen auf seine Hand gerichtet, als wollten sie bereits aus der Farbe des Papiers seine Gesinnung erkennen. Ja, es war ihm sogar, als hätten ein korpulenter Sardellenhändler und ein dürrer Kanzleirat, die als Beisitzer fungierten und ihn genau kannten, sich erstaunte Blicke zugeworfen, aus denen zweifelsohne die Worte zu lesen waren: Haben Sie gesehen? Timpe wählt einen Sozialdemokraten.

»Gut, wir gehen«, erwiderte er dem Altgesellen.

Mußte er sich jetzt nicht näher um die Ziele bekümmern, denen er gleich den andern zustrebte? War es nicht seine Pflicht, seit dieser Stunde eins zu sein mit den Arbeitern, sich unter sie zu mischen, die große soziale Frage in den Versammlungen erörtert zu hören? Zudem waren die Drechsler seine Fachkollegen und die Knopfmacher verwandte Berufsgenossen. Die Versammlung mußte ihm also ein erhöhtes Interesse bieten.

Es war merkwürdig, wie er sich nun von Beyer leiten ließ. Mit einer gewissen Ehrfurcht blickte er zu ihm empor, lauschte er auf jedes Wort, das über die Wahl von seinen Lippen kam. Er bewunderte ihn, wenn die vorüberströmenden Arbeiter, die um diese Stunde in hellen Haufen herangezogen kamen, ihn lebhaft begrüßten und ihm jene Achtung entgegenbrachten, die man einem Menschen zu zollen pflegt, dessen geistige Überlegenheit man anerkennen muß.

Beyer hatte sich vorgenommen, den Meister heute nicht mehr zu verlassen. Er beauftragte einige Vertrauensmänner, nach Schluß der Wahl dem Zählakte beizuwohnen, und ergriff dann Timpes Arm, um das Wiedersehen bei einem Glase Bier zu feiern. Er schien nur noch Mitleid für den früheren Arbeitgeber zu haben, nachdem er die Genugtuung erlebt hatte, ihn bekehrt zu sehen. Das sprach aus jedem Wort, aus jedem Blick, aus der Zartheit, mit der er ihn behandelte, und wie er in ihm immer nur den altehrwürdigen Mann sah, in dessen Hause er unzählige Wohltaten genossen hatte.

Timpe war schweigsam; still in sich gekehrt lauschte er den Reden Beyers und nickte statt der Antwort mit dem Kopfe. Ein niederdrückendes Gefühl lastete auf ihm: die Unbeholfenheit eines Menschen, der in eine neue Gesellschaft geraten, in der er fremd ist und sich nicht zu benehmen weiß. Diese unangenehme Situation wurde noch erhöht, als er mit dem Altgesellen die Stufen zu einem Kellerlokal hinunterschritt und dann in einem engen Raum inmitten von Arbeitern sich befand, die in ihren schmutzigen Blusen direkt aus der Fabrik gekommen waren, eifrig politisierten und ihn wie ihresgleichen behandelten. Wortkarg saß er in einer Ecke, nippte an seinem Biere und dachte in dieser Spelunke an seinen Sohn, dessen Reichtum, dessen Glanz ... Dieser Gedanke machte ihn heiß. Ein Gefühl ungerechter Demütigung überkam ihn und trieb das Blut nach seinem Kopfe. Er bestellte Schnaps, und nun wurde er gesprächig, beteiligte er sich an der lauten Debatte, tat er so, als wäre er mit allem einverstanden, was man sagte und worauf man schimpfte ...


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