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XIX.
Unter Trümmern

Drei Tage lang lag der Meister in einem hitzigen Fieber; noch in der ersten Nacht nach der Versammlung war es zum Ausbruch gekommen. Er phantasierte stark, führte allerlei wirre Reden, in denen Handwerk, Fabriken und Maschinen eine große Rolle spielten. Dann wieder war es sein Sohn, mit dem er in diesen bösen Träumen zu tun hatte und den er laut beim Namen rief. Marie Beyer spielte auch diesmal die Krankenwärterin; ihr Bruder aber stellte sich, sobald er entbehrlich wurde, an die Drehbank und fing an zu drechseln, daß es eine Freude war, ihm auf die Finger zu blicken. Er schien förmlich aufzuleben bei der Beschäftigung an diesem Ort, dem er so lange hatte fernbleiben müssen. Mit einem gewissen Ausdruck der Zärtlichkeit betrachtete er die Drehbank, die er Jahrzehnte hindurch getreten hatte. Und wenn er jetzt leise sein altes Lied vor sich hin summte: »So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage«, so konnte man ihn für einen der glücklichsten Menschen der Erde halten.

»Na, der Meister wird sich wundern, wenn er mich hier wiedersieht«, sagte er vor sich hin und betrachtete mit großem Behagen die Arbeit, die er bereits angefertigt hatte. »Der und mich loswerden, da hat sich was!« fuhr er fort. »Sind wir jetzt nicht zwei Genossen, die zueinander stehen müssen in Freud und Leid? ... Ich habe ihm immer gesagt, er würde einmal anders denken, und nun tut er es wirklich. Ob ich nicht immer recht habe! ... Das Gesicht, das er zuerst machte, als ich ihm unseren Stimmzettel in die Hand drückte ... das wäre zum Malen gewesen! ... Na, und erst die alten Philister da drinnen am Wahltisch hätte ich sehen mögen, wie die beinahe vor Schreck vom Stuhle gefallen sind, als sie Timpe die Hand ausstrecken sahen ... Als ob die nicht unsere Zettel ganz genau kennen! ... Auf zehn Schritte schon riechen sie die sozialdemokratische Lunte ... Wenn ich noch an die Rede denke, die er gehalten hat ... wer hätte es diesem alten Kunden zugetraut. Wie ein junger Gott hat er gesprochen ... wahrhaftig, er muß in den Reichstag! Solche Leute können wir gebrauchen. Nicht war, Spillrich?«

Er hatte sich so sehr in sein Selbstgespräch vertieft, daß er diese Frage an die Drehbank vor sich richtete, wo in früheren Zeiten der kleine Sachse ihm den Rücken zuzukehren pflegte. Als er endlich aufblickte, merkte er erst die Selbsttäuschung.

»Ach so, der ist nicht mehr hier«, begann er wieder, »... und doch war es mir eben, als stände er vor mir und drehte mir seinen breiten Buckel zu. Ich glaube gar, es fängt hier an zu spuken ... am hellen, lichten Tage sogar ... Ach, wo sind die schönen Tage von damals! Es wird auf die Dauer verteufelt langweilig, hier mutterseelenallein zu stehen und keinen Menschen zu haben, mit dem man sich unterhalten kann ... nicht einmal über den Wahlsieg ... Dieser Esel von Krusemeyer! ... Will jetzt erst darauf gekommen sein, daß ich Sozialdemokrat bin, und verbietet mir daher sein Haus ... Seine Tochter würde ich niemals zur Frau bekommen, denn er sei ein königstreuer Beamter, und ich würde es nie so weit bringen ... Bis zum Nachtwächter! Es ist zum Totlachen! ... Die Welt wird immer verrückter, die Nachtwächter bilden sich schon etwas auf ihre Stellung ein! O es klingt auch wunderschön: mein Schwiegervater, der Nachtwächter Anton Krusemeyer! Der muß später mal ausgestopft werden und ins zoologische Museum kommen. Redet zu mir von der Ehre seiner Uniform, die das nicht vertragen könne ... schwört auf seinen Säbel ... ich möchte wohl wissen, ob der überhaupt aus der Scheide geht? ... Und seine Tochter stößt plötzlich in das Horn ihres Vaters und tutet wie ein Turmbläser. Ich hätte sie jahrelang hingezogen, und nun hieße es, ich wäre gar kein Drechsler, sondern Sozialdemokrat ... hat sich was mit solch einer weiblichen Dummheit ... Ich war dem Mädel wirklich gut, wirklich! ... Aber was schadet's! Totschießen werde ich mich deshalb nicht ... einer zukünftigen Schwiegermutter wegen nicht ... wahrhaftig nicht!«

Er hielt in seiner Arbeit inne, entfernte die Holzspäne aus seinem Gesicht, setzte die Drehbank wieder in Bewegung und fuhr dann in seinem vorherigen Raisonnement über Timpe fort: »Übrigens traue ich ihm doch nicht so recht mit seiner neuen Gesinnung ... er spricht so sonderbare Dinge im Bette ... ruft laut nach dem Kaiser, bittet Gott um Verzeihung ... das ist nicht richtig ...« Er machte eine Pause. »Es ist doch merkwürdig, wie schnell das Mißtrauen kommt ... und wenn ich mir so recht die Sache überlege, so ist's mit der plötzlichen Umwandlung des Meisters ganz sonderbar ... Wenn es nur nicht bloße Wut war, etwas wie Oppositionslust, die ihn in unser Lager trieb ... Hm, hm .. . neu wäre die Geschichte nicht. Es kommt oft vor, daß jemand äußerlich sich ganz anders benimmt, als er in seinem Innern denkt ... Aber seine aufrührerische Rede ... hm, hm ... Das kann auch die Erbitterung des Augenblicks gewesen sein. Dumm wäre es wahrhaftig, wenn er sich besonnen haben sollte ... aber traue der liebe Himmel solchen merkwürdigen Weißköpfen. Das klebt an seiner Scholle, schwärmt fürs Vaterland, glaubt, daß die Kirche den Menschen bessere, und läßt noch kurz vor dem Hungertode neben der Sozialdemokratie den Kaiser leben ... Da fange einer mit solchen närrischen Leuten etwas an ... Aber ich werde ihn noch einmal kneten wie weichen Ton ... er wird dran glauben müssen ... hm, hm ... aber dumm kommt mir die Sache doch vor ...«

Er wurde durch den Eintritt seiner Schwester unterbrochen.

»Nun, wie geht's mit ihm, barmherzige Schwester?« fragte er, setzte den Stahl ab und ließ die Räder der Drehbank langsam ausschnurren.

»O ganz vorzüglich. Soeben ist der Arzt weggegangen; er meinte, daß nichts mehr zu befürchten sei, ein paar Tage noch, und er könnte bereits aufstehen ... Aber da habe ich dir eine andere Neuigkeit mitzuteilen. Der dicke Liebegott war vorher hier und ließ Timpe im Namen seines Lieutenants nach dem Polizeibüro bitten.«

»Was du sagst!«

»Als er erfuhr, daß der Meister krank sei, bedauerte er Timpe und sagte: Der gute Alte, ich habe ihn immer gern gehabt, aber er wird sich ins Unglück stürzen ... Dann trat er dicht an mich heran und fragte leise und geheimnisvoll, ob es denn mit Timpe wirklich nicht ganz richtig sei (er deutete dabei mit dem Finger nach der Stirn) und ob man ihn nicht vielleicht untersuchen lassen wolle. Es würde besser für ihn sein, wenn es sich herausstellte, daß er wirklich ohne Bewußtsein konfuse Dinge rede ... Das ist doch merkwürdig, höchst merkwürdig, nicht wahr? ... Was er nur verbrochen haben kann!«

Thomas blickte lange auf einen Punkt, schüttelte wiederholt mit dem Kopfe und sagte dann nichts weiter als: »Das hat mit seiner Rede etwas zu tun ... gewiß, so wird's sein.«

Nach acht Tagen war der Meister so weit hergestellt, daß er sich im Hause bewegen konnte. Sein Gesicht war von durchsichtiger Blässe, und die Augen lagen tief in den Höhlen. Den ersten Tag war er ungemein wortkarg; er antwortete kaum, wenn Marie oder Thomas ihn nach seinem Befinden fragten oder das Gespräch derartig war, daß er unbedingt etwas sagen mußte. Je mehr er zu sich kam und fühlte, wie neue Kräfte seinen Körper belebten, je finstrer schaute er drein, je mehr versuchte er dem Geschwisterpaare aus dem Wege zu gehen. Er empfand das Bewußtsein großen Dankes gegen Bruder und Schwester; aber das alte Mißtrauen gegen beide begann aufs neue ihn zu beherrschen. Mit dem Entschwinden des Fiebers war ein Anflug von Gallsucht bei ihm eingezogen, der ihn bei dem kleinsten Anlaß zum Ärger in eine unausstehliche Stimmung versetzte. Sein ganzes Sinnen und Trachten ging nun aufs neue dahin, den Altgesellen und seine Schwester auf geschickte Art loszuwerden, um sich der früheren Einsamkeit erfreuen zu können.

Als er zum ersten Male die Werkstatt wieder betrat und Beyer bei voller Tätigkeit sah, glaubte er, sofort Anlaß zum Grollen zu haben.

»Was machen Sie denn da?« fragte er ganz erstaunt.

»Sie sehen es ja, Meister – ich drechsle«, bekam er zur Antwort.

»Wer hat Ihnen denn die Erlaubnis dazu gegeben?«

»Ich mir selbst.«

»So, so, das wird ja immer feierlicher! Ich nahm an, nur Ihre Schwester sei hier und Sie besuchten sie hin und wieder. Ich werde die Dienste von Fräulein Marie vergelten; Sie aber habe ich hier nicht angestellt. Es tut mir leid, daß Sie sich so lange Zeit umsonst gequält haben.«

Der Altgeselle antwortete nicht gleich. Er pfiff wie gewöhnlich den Dessauer Marsch vor sich hin, arbeitete eine Weile ruhig weiter und sagte dann:

»Meister, Sie sind noch nicht ganz gesund und obendrein bei übler Laune; daher muß man Rücksicht nehmen. Ich wollte Ihnen gerade sagen, wie ich mich über Ihre Genesung freue, da teilen Sie mir auch schon die schönsten Grobheiten aus! ... Wenn ich gearbeitet habe, so ist es nur für Sie geschehen, nicht für mich. Ich habe mir nur so viel abgezogen, um mich satt zu essen. Hier ist die letzte Abrechnung.«

Diese Uneigennützigkeit steigerte nur Timpes gallsüchtige Stimmung.

»Ihr ewiger Edelmut! Sie wissen, daß ich mir ein für allemal nichts schenken lasse. Sie tun wirklich so, als wenn Sie hier Herr im Hause wären ... Ich muß Ihnen aber ein für allemal sagen, daß ich in meiner Werkstatt keinen Sozialdemokraten dulde.«

Beyer brach in ein lautes Lachen aus, das so plötzlich hervorquoll, daß Timpe seinen Gang durch die Werkstatt einstellte und ihn groß anblickte.

»Das sagen Sie mir, Meister, Sie, der selbst jetzt auf unsere Fahne schwört? Verzeihen Sie, wenn ich das komisch finde. Sie haben sich versprochen, Meister, so ist's, nicht wahr?«

Nun passierte etwas Merkwürdiges, was der Geselle nicht erwartet hatte. Timpe fing nun seinerseits an zu lachen, schlug seinen weiten Rock über dem Bauch zusammen, ging mit sehr lustiger Miene, als amüsiere er sich ganz außerordentlich, einige Male in der Werkstatt auf und ab, setzte sich dann, da er etwas erschöpft war, auf einen Schemel vor dem Altgesellen nieder und begann folgendermaßen:

»Sie sind doch bei Verstande, Beyer, haben doch zwei gesunde Ohren, he? ... Ja? – Dann hören Sie mich gefälligst einmal an und erzählen Sie allen Leuten, was ich Ihnen hier sagen werde. Ich Ihrer Partei angehören? Mumpitz, sage ich, Mumpitz! Ich ein Sozialdemokrat? Nochmals Mumpitz, verstehen Sie? Nochmals Mumpitz! Und was meine Wahl anbetrifft, so sage ich zum dritten Male: Mumpitz, verstehen Sie? Zum dritten Male: Mumpitz! Es ist ganz richtig, daß Sie mir einen Stimmzettel für Ihren Kandidaten in die Hand drückten, aber ich habe ihn nicht abgegeben. Verstehen Sie? Wie wird Ihnen nun, he? ... Ich habe mich nämlich im Vorzimmer des Wahllokales noch besonnen und mir einen anderen Zettel geben lassen. Der Name eines guten Patrioten stand auf ihm – wie wird Ihnen jetzt, he? ... Und was meine Rede in der Versammlung anbetrifft, so ... so kann auch mal einem Manne, der gut monarchisch gesinnt ist, etwas Menschliches passieren ... daß er zum Beispiel von der Wut sich hinreißen läßt und so ein bißchen Revolution predigt – das schadet manchmal gar nichts, denn das gibt Stoff zum Nachdenken ... Aber um noch einmal darauf zurückzukommen: Was Ihre Sozialdemokratie anbetrifft, so pfeife ich darauf! Ich bin keiner, ich will keiner sein, und ich dulde hier keinen. Punktum!«

Er hatte sich von seiner Lebhaftigkeit so hinreißen lassen, daß er nach jedem Satze den Schemel verließ, sich dicht vor den Altgesellen hinpflanzte und mit dem Zeigefinger auf dessen Brust tippte, als wollte er nach der Angewohnheit Herrn Ferdinand Friedrich Urbans jedes Wort dem Zuhörer auf den Körper nageln. Zuletzt hatte er sich der Tür genähert und verließ die Werkstatt, ohne die Antwort Beyers abzuwarten.

Dieser hatte ihn mit halbgeöffnetem Munde angestarrt und blickte ihm in derselben Verfassung nach.

»Er lügt, oder ist er verrückt geworden«, dachte er, mußte sich dann aber doch gestehen, daß es mit der neuen Gesinnung des Meisters nicht weit her sein könne. Dann fühlte er abermals die Neigung, ein Selbstgespräch zu beginnen, in dem folgende Stellen laut wurden: »...Das wäre eine Blamage für mich, wenn er einen anderen gewählt haben sollte ... Ja, ja – es standen im Lokale noch Leute mit Stimmzetteln ... Hm, hm .. . ich traue es ihm schon zu. Diese alten Leute sind unberechenbar; sie gleichen einem alten Rocke: man kann ihn wenden, wie man will, neu wird er doch nicht ... Und was seine Rede anbetrifft, so glaube ich's schon: es war der ganze Groll, der sich bei ihm angesammelt hatte und der zum Vorschein kam. Er wollte einmal zeigen, wohin das führen könne, wenn alle verarmten Handwerker so dächten wie er ... Aber nein, er hat doch gelogen! So spricht man nur aus Überzeugung, wie er geredet hat ... Aber es ist Furcht, Feigheit ... das dumme Gewissen, das er sich macht ... Ja, wenn er mich wirklich getäuscht, was tue ich denn hier noch? ... Mag er in sein Unglück laufen. Es gibt Leute, denen nicht zu helfen ist.«

Und der Altgeselle nahm das Stück Holz, das er soeben ergriffen hatte, um es in die Drehbank zu spannen, und schleuderte es weit von sich. Dann band er die Schürze ab und griff nach Stock und Hut. Als er sein Arbeitszeug zusammengebunden hatte und fertig zum Gehen war, klopfte er leise an die Tür der Stube, in der seine Schwester sich aufhielt.

»Es ist jetzt alles aus zwischen mir und ihm«, rief er ihr zu. »Keine Macht der Erde wird mich mehr zu ihm zurückbringen. Sieh zu, daß du dich mit ihm auseinandersetzen kannst, und dann gehe ebenfalls. Ich will ihn nicht mehr sprechen, aber sage ihm, daß er mir großes Weh bereitet hat und daß ich ihn in Gedanken immer liebbehalten werde ... Adieu, du gutes Mädchen, laß nicht lange auf dich warten.«

Er hatte mit bewegter Stimme gesprochen und küßte nun seine Schwester auf die Stirn. Marie war außerordentlich überrascht durch diese Mitteilung; sie wollte ihn zurückhalten, aber er ließ es nicht zu. Und so ging er denn von dannen.

Marie sagte sich, daß etwas Besonderes vorgefallen sein müsse; ihr Bruder wäre sonst nicht so merkwürdig gefaßt gewesen. Sie ärgerte sich darüber, daß dieser alte Herr, um den man sich wie um einen Vater bekümmert hatte, so wenig Anerkennung aller Bemühungen übrig hatte. Zu dem Ärger kam die verletzte Eitelkeit des Weibes. War sie überdies nicht die Schwester eines so braven Bruders, der sich für ein wahres Trinkgeld von früh bis spät gequält hatte, nur um dem Meister seine Dankbarkeit zu erweisen? Wer hätte sich wohl um ihn bekümmert, wenn sie beide nicht gewesen wären? Tausend andere nicht, am allerwenigsten seine »verwandtschaftliche Sippschaft«, die doch ihrer Meinung nach »genug in die Suppe zu brocken« hatte. Wie Thomas die Lippen zitterten, als er von dem letzten Gruß an den Meister sprach. Er war doch ein eigentümlicher Mensch: ließ sich schlecht behandeln und konnte doch mit seiner Verehrung für Timpe nicht zurückhalten. Marie liebte ihren Bruder zärtlich und abgöttisch, fast wie einen zweiten Vater. Hatte er doch wie ein solcher sein ganzes Leben lang für sie gesorgt, sie wie eine arme, verlassene Blume gehegt und gepflegt, die abseits vom Wege in einem dunklen Winkel steht, zu dem selten ein Strahl der Sonne sich verirrt. Um so erklärlicher wird man es finden, wenn etwas wie Zorn in ihr aufstieg und sie das lebhafte Bestreben zeigte, es sobald wie möglich ihrem Bruder nachzutun.

Sie saß am Fenster, mit einer Handarbeit beschäftigt, tat noch einige Stiche und erhob sich. Gleich darauf stand sie vor Timpe.

»Also er ist fort, wirklich fort?« fragte er vergnügt lächelnd, als sie ihm ihres Bruders letzte Worte übermittelt hatte. »Ist es auch wahr, und kommt er nicht wieder?«

Sofort war auch der Zweifel bei ihm aufgetaucht. Erst als ihm nochmals die Bestätigung von des Altgesellen Abzug wurde, legte sich sein Mißtrauen; aber es entschwand erst völlig, nachdem er einen Blick in die Werkstatt und auf den Riegel getan hatte, an dem gewöhnlich Beyers Sachen hingen.

»Sie erlauben nun wohl, Herr Timpe, daß ich denselben Weg nehme«, sagte Marie. Sie wollte ihn nicht verletzen und setzte daher folgende Worte hinzu: »Ich würde gern noch bleiben, aber unsere Häuslichkeit geht zugrunde ... Sie sind so gut wie hergestellt, bald wird alles ins alte Geleise kommen; ich wünsche es von Herzen.«

Da er immer noch schwieg und nur vor sich hinnickte, so reizte sie diese Gleichgültigkeit. O er sollte nicht denken, daß er ein frommes Lamm vor sich habe. »Es ist auch besser, wenn ich ebenfalls gehe, Herr Timpe«, fuhr sie fort. »Gestern erst haben Sie mir den Vorwurf gemacht, ich hätte Ihnen die Suppe versalzen; es sollte das bereits das zweite Mal gewesen sein, trotzdem ich mit gutem Gewissen das gerade Gegenteil beeiden kann ... Ich befürchte, daß ich mich auch zum dritten Male diesem Verdachte aussetzen könnte, und das wäre zu viel auf einmal ...«

Jetzt erst blickte er sie lange an, lächelte, stand auf und streckte ihr seine Hand entgegen. »Liebes Kind«, erwiderte er, »Sie sind zu gut geartet, um sich durch so einen alten Unglücksraben, wie ich es bin, das Leben vergällen zu lassen. Ich bin mit mir selbst nicht zufrieden, geschweige also, daß andere es mit mir sein können. Ich freue mich, daß Sie mir den Schmerz ersparen, Sie gehen zu heißen. Es gibt Menschen, denen die Einsamkeit das tägliche Brot ist. Leben Sie mir recht, recht wohl ... Ich danke Ihnen herzlich für alle Ihre Bemühungen, die Ihnen niemand mehr vergelten wird als die da oben ...« Er deutete mit dem Finger nach der Decke, während Marien die Augen feucht wurden. »Sie werden dereinst noch von mir hören; Gott schütze Sie, mein Kind ...«

Von seiner sonstigen Gallsucht war nichts an ihm zu entdecken. Er ging an seinen Arbeitstisch, wo er das Geld von der letzten Abrechnung aufbewahrte, und wollte Marien einige harte Taler in die Hand drücken. Er wisse wohl, daß ihre Hülfe unbezahlbar sei, aber ohne ein kleines Geschenk dürfe sie ihn nicht verlassen, meinte er. Einen Augenblick schwankte sie, das blanke Geld lockte zu verführerisch; dann aber dachte sie daran, was wohl Thomas dazu sagen würde, und wies die ausgestreckte Hand zurück. Er drang nicht weiter in sie, denn er wußte, daß es nutzlos sein würde.

Als sie bereits die Tür hinter sich hatte, klopfte sie noch einmal und steckte den Kopf herein: »Da habe ich ja ganz vergessen, Herr Timpe – es war vor acht Tagen ein Schutzmann hier; Sie möchten einmal nach dem Polizeibüro kommen ... Sie hatten noch sehr viel Fieber, ich sagte es ihm, und da der Arzt gerade hier war, so bestätigte er das. Adieu!«

Der Meister hatte sie groß angestarrt und blickte in derselben Verfassung auf die Tür, hinter der sie verschwunden war. Er hörte deutlich, wie sie durch das Vorderzimmer schritt, wie die Außentür und das Haustor klappten; hörte auch ihre knirschenden Schritte über die Steinstufen gleiten. Aber immer noch stand er auf demselben Fleck und rührte sich nicht. Schutzmann ... Polizeibüro ... Die Worte klangen in seinen Ohren wider, sie flimmerten ihm schließlich vor den Augen, denn wohin er blickte, leuchteten sie ihm entgegen. Weshalb ließ man ihm nicht sagen, was man wünsche, was wollte man von ihm? O er ahnte die Dinge ... man hielt ihn für einen Sozialdemokraten ... er hatte in blinder Wut Gewalttätigkeit gepredigt ... man wollte ihn nun zur Rechenschaft ziehen. Seine Einbildungskraft erlangte im Fluge eine Ausdehnung ohne Grenzen. Er sah sich bereits verhaftet, auf die Anklagebank geführt und ins Gefängnis geworfen. Merkwürdig war, wie schnell dann der Trotz die entsetzliche Furcht wieder verdrängte, die ihm binnen wenigen Minuten die Knie schlottern gemacht hatte.

»Sie kriegen mich nicht, sie kriegen mich nicht«, sagte er ein über das andere Mal ... »Bis zum letzten Blutstropfen werde ich mich verteidigen ... He, he ... das wird nett werden!« Er war von einem Zimmer ins andere gegangen, befand sich nun in der Werkstatt und lachte laut auf. Dann blickte er durch das Fenster nach dem Gärtchen hinaus. Wie öde und trostlos lag es vor ihm! Es war Anfang Dezember, leichter Frost lag in der Luft, und eine dünne Schneedecke verhüllte den Erdboden. Der Niedergang seines Geschäfts hatte ihm selbst die Freude an seinen Beeten und Blumen verdorben. Überall im Gärtchen konnte man seine liebevolle Hand vermissen. Das Holzgitter des wilden Weines an der Mauer zeigte beschädigte Stellen, die Sträucher waren niedergetreten und verwildert, Blumentöpfe lagen umher, und die kleine Laube, in welcher der Schmutz sich angehäuft hatte, gewährte einen traurigen Anblick. Wie oft hatten sie dort gesessen, der Großvater, Karoline, er und sein Sohn – an den herrlichen Sommerabenden, wenn die Lindenblüten zur Erde fielen und der Duft der Rosen die Luft durchwürzte. Je länger er nach der Ecke blickte, je lebhafter wurde seine Phantasie. Leuchtete da nicht die Haube seiner Frau, tauchte dort nicht das fahle Gesicht Gottfried Timpes auf, wie es sich jetzt emporhob, um die stumpfen Augen zu zeigen? Und jetzt sah er sie mitten durch den Garten schreiten, die schlanke, biegsame Gestalt seines Einzigen! Plötzlich ertönte gellend die Fabrikpfeife, denn es war zwölf Uhr. Eine weiße Dampfwolke wirbelte auf, schlug in den Garten, und husch, husch war der ganze Spuk vorüber. Dafür gewann die Wirklichkeit wieder die Oberhand. Timpe ballte jetzt die Faust und verzerrte das Gesicht, als stände sein Todfeind ihm gegenüber. »Und doch ist es wahr«, schrie er laut, daß seine Stimme unheimlich im weiten Räume widerhallte, »die Schornsteine müssen gestürzt werden, denn sie verpesten die Luft! Ich wollte, man würde mit dem da drüben zuerst den Anfang machen!«

Dieser Ausbruch einer erneuten Wut brachte ihn wieder auf andere Gedanken. Waren das doch dieselben Worte, die er in der Versammlung gebraucht hatte. Er dachte nun darüber nach, was alles er an jenem Abend gesagt haben könne; nur dunkel erinnerte er sich der letzten Vorgänge. Seine Krankheit, die wilden Phantastereien während derselben hatten seine Gedanken derartig verwirrt, daß er sich keine richtige Vorstellung von den Begebenheiten zu machen vermochte. Nur das eine Gefühl hatte er: daß es ihm, als er noch auf dem Podium stand, plötzlich gewesen sei, als stürze er in einen dunklen, entsetzlich tiefen Krater hinab, in dem die ganzen Schrecknisse einer unbekannten Welt auf ihn eindrangen; und als hätte er in dieser Tiefe einen schrecklichen Traum gehabt, in welchem er mit seinem Sohne auf Tod und Leben rang. Er lag noch völlig in dem Banne dieser unklaren Vorstellung, als der Schall der Haustürklingel ihn zusammenschrecken ließ.

Der Polizeilieutenant schickte abermals einen Boten mit der Anfrage, ob »Herr Timpe« bereits gesund sei. Er möchte in diesem Falle zu einer bestimmten Stunde sich nach dem Büro bemühen. An Stelle Liebegotts war ein anderer Schutzmann gekommen. Der Meister wollte ihn aushorchen. Der Sicherheitsmann aber zuckte die Achseln und bedauerte, keine Auskunft geben zu können.

Am anderen Morgen gleich nach acht Uhr machte Timpe dem Lieutenant seine Aufwartung. Es war derselbe, der die Strikeversammlung überwacht hatte. Der Beamte war sehr höflich, bot ihm einen Stuhl und begann das Verhör, währenddessen sein Blick mehrmals über die Gestalt Timpes, von oben bis unten, glitt. Johannes hatte seine genauen Personalien anzugeben: was er treibe, in was für Beziehungen er zu den Strikenden stehe, wie er in jene Versammlung gekommen sei. Schließlich wurde ihm nichts mehr verheimlicht: Er würde in eine Anklage verwickelt werden, denn er habe geradezu Aufruhr gepredigt, vorausgesetzt, daß seine Zurechnungsfähigkeit an jenem Abende bewiesen werden könne.

»Herr Lieutenant, ich habe mich hinreißen lassen ... der Kummer, die Sorgen«, sagte er zum Schluß, und damit waren Verhör und Protokoll beendet. Der Beamte sprach etwas von »Bedauern«, von »seiner Pflicht«, war bei der Verabschiedung ebenso höflich wie zuvor, und Timpe konnte gehen. Wie er nach Hause kam, wußte er eigentlich nicht; als er aber angelangt war, ließ er sich wie vernichtet auf einen Stuhl nieder und versank in ein dumpfes Brüten.

Seit diesem Tage bot das Haus wieder sein früheres, unheimliches Aussehen dar. Die Laden waren geschlossen, und selbst der eine Flügel an Timpes Schlafzimmer war heraufgezogen. Die Leute an den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser, die bereits geglaubt hatten, in Timpes Lebensweise sei eine erfreuliche Besserung eingetreten, hatten ihren alten Gesprächsstoff bekommen, und die ganze Nachbarschaft nahm aufs neue die Mär von der Verrücktheit des Meisters auf.

Noch vor Weihnachten wurde Timpe vor den Untersuchungsrichter geladen. Der Polizeilieutenant hatte über seinen persönlichen Charakter nur das Beste berichten können. Als man aber auch hier Anspielungen auf seine Unzurechnungsfähigkeit machte, bäumte sich sein Stolz empor. Er gestand unumwunden ein, mit vollem Bewußtsein und aus Überzeugung gesprochen zu haben. Als er von diesem schwersten Gang seines Lebens nach Hause kam, bemächtigte sich seiner ein fürchterlicher Entschluß, der ihn wie sein Schatten begleitete. Dieser Entschluß wurde noch bestärkt durch die unglückliche Hypothekengeschichte. Mit Grauen dachte er an den Tag, wo man ihn aus seinem Eigentum verweisen würde. Seine Gleichgültigkeit gegen das Leben, der Stumpfsinn, der ihn stundenlang tatenlos auf einem Fleck dasitzen ließ, waren bereits so groß, daß er nicht mehr daran dachte, einen Schritt aus dem Hause zu tun, um eine letzte Rettung zu versuchen.

Eine ganze Woche lang betrat er jetzt die Straße nicht. Hin und wieder stellte er sich an die Drehbank und arbeitete, weil er glaubte, die gänzliche Tatenlosigkeit könnte seinen Verstand umnachten. Als Nölte ihn einmal besuchen wollte und drei Tage hintereinander vergeblich die Klingel gezogen hatte, glaubte man allgemein, daß dem Meister ein Unglück zugestoßen sei. Man beruhigte sich erst, als sein Kopf sich am Giebelfenster zeigte. Er verbitte sich ein für allemal jede Störung, rief er laut hinaus. In seinem Grolle ging er so weit, mit der Polizei zu drohen. Er kenne dieselbe ganz genau und wisse, daß sie mit »manchem Menschen« wenig Umstände mache. Dann fiel das Fenster klirrend zu.

Jetzt zweifelte sogar der Klempner an seinem Verstande. Es verging fast nun kein Tag, wo nicht Gruppen von Menschen sich vor dem Hause bildeten und dasselbe wie ein Wunder der Welt betrachteten. Sämtliche Stammgäste bei Jamrath wußten bereits von der Untersuchung, in welche der Meister Timpe verwickelt war. Man wollte jetzt längst beobachtet haben, daß Timpe Anlage zur allgemeinen Gefährlichkeit besitze, und jeder verwahrte sich »entschieden« dagegen, mit dem »blutigen Revolutionär« näher befreundet gewesen zu sein. Und da Anton Nölte nicht mehr zugegen war, um für Timpe Partei zu nehmen, so wurde der letztere jeden Abend ein dutzendmal gekreuzigt – eine menschenfreundliche Beschäftigung, bei der Jamrath mit Vergnügen konstatieren konnte, daß der Konsum der großen Weißen sich vermehrte. Selbst der lange Brümmer trank mehr als sonst und drückte bis halb elf seinen Stuhl – eine Hintenansetzung seiner Lebensregel, die man in Anbetracht dessen, daß er eine zanksüchtige Ehehälfte besaß, allgemein bewunderte.

Zwei Tage vor Weihnachten machte Franzens Frau noch einmal den Versuch, mit Johannes ein vernünftiges Wort zu reden; da ihr aber gar nicht geöffnet wurde, mußte sie unverrichteter Sache wieder abziehen. Bis Neujahr hockte der Meister in seinem Bau, ohne von der Außenwelt mehr zu sehen als sein Gärtchen, die Wand des Kesselhauses und den Schornstein, der sich auf ihr türmte.

Es war unverkennbare Schwermut, die sich jetzt seiner bemächtigte und seinem Antlitz eine verklärende Milde gab. Sie verließ ihn nur, wenn er dem Schnapse zu sehr zugesprochen hatte. Er trank ihn jetzt, um nicht gänzlich zu erschlaffen und die letzten Kräfte zur Arbeit nicht zu verlieren. Dann rötete sich sein Gesicht, ein unnatürlicher Lebensmut kam über ihn, und er sprach laut vor sich hin, um das dumpfe Schweigen der Werkstatt zu brechen. Oftmals wurde er von dieser traurigen Existenz angeekelt, daß er nahe daran war, sich selbst zu verachten. Tage vergingen, ehe er eine warme Speise zu sich nahm. Seine Mahlzeiten bestanden nur noch aus Kaffee, Brot und etwas Räucherware. Hin und wieder fühlte er das Bedürfnis, spätabends sein Haus zu verlassen und in einem entlegenen Stadtteil ein untergeordnetes Lokal aufzusuchen, wo man ihn nicht kannte. Er wollte wenigstens wissen, ob er noch lebe, ob er noch ein menschliches Antlitz trage und die Sprache anderer verstehe. Dann war es auch der Hunger, der ihn hinaustrieb, der Gedanke an ein behagliches Zimmer voller Lärm und Fröhlichkeit.

Mitte Januar bereits fand die Subhastation seines Grundstücks statt. Der Hypothekeninhaber erwarb es meistbietend, und Timpe sollte sein Haus verlassen. Um dieselbe Zeit war es, daß er durch eine Anklage wegen Aufreizung zum Klassenhaß überrascht wurde. Er beachtete weder das eine noch das andere, aber er sah nun jedem neuen Tag entgegen wie ein Mensch, der einen plötzlichen, wohltuenden Tod erwartet. Als er, aller Aufforderung ungeachtet, immer noch nicht Miene zeigte, dem neuen Besitzer seine Rechte abzutreten, wurde ihm Ende des Monats mit Gewaltmaßregeln gedroht, so daß er sich genötigt sah, um Nachsicht zu bitten. Er werde in einigen Tagen das Haus verlassen.

Es war am späten Sonntagnachmittag, als Johannes die Luft im Zimmer nicht mehr ertragen konnte. Bei beginnender Dunkelheit schlich er zum Hause hinaus und irrte ziellos durch die Straßen. Ein Druck unendlicher Einsamkeit lastete auf ihm, den er von sich wälzen mußte, wollte er nicht ersticken. Er kam sich wie ein Delinquent vor, dessen letztes Stündlein geschlagen hat und dem noch einmal vergönnt worden ist, an den lachenden Gesichtern einer geputzten Sonntagsmenge, an den erleuchteten Schaufenstern, an all dem rauschenden Glanze Berlins sich erfreuen. Und ertönte nicht auch soeben das Armensünderglöcklein? Seine Phantasie hatte ihn getäuscht. Es waren die hellen Glockentöne der Andreaskirche, die zum Gottesdienste riefen. Vor dem erleuchteten Portal bannte er seine Schritte.

Eine längst vermißte Sehnsucht packte ihn, der Drang eines Menschen, der, am Scheidewege des Lebens stehend, zur letzten Wanderung neue Stärke sucht. Er trat ein. Die Orgel erbrauste. Er ging den Seitengang entlang, stieg zur Galerie hinauf und setzte sich an derselben Stelle nieder, von wo aus er einst mit seinem Weibe der Trauung des Einzigen zugeblickt hatte. Die letzten Orgelklänge waren verrauscht, nur dumpf hallte der Lärm des genießenden Berlins herein, als der Prediger die Kanzel betrat. Es war ein noch junger Mann mit kräftigem, wohllautendem Organ. Er sprach über den 25. Vers des Evangelii Johannis: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, wenngleich er auch stürbe, und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.

Mächtig hallten seine Worte in dem hohen Räume wider, und mächtig packte er die Zuhörer. Des Meisters Haupt sank tiefer und tiefer, und die Hände schlangen sich krampfhaft ineinander. Er weinte still und heiß. Es war gerade, als schütte er in dieser Stunde den ganzen Becher des Leidens aus, um die ewige Glückseligkeit in ihn aufzunehmen. Als die Predigt zu Ende war, erhob er sich wie verjüngt und verließ das Gotteshaus. Er durchschritt die Straßen, entfernte sich immer mehr von diesem Viertel, suchte die entferntesten Stadtteile auf und kehrte erst spät in der Nacht nach Hause zurück. Er konnte sich nicht entsinnen, seit Jahren so sanft entschlummert zu sein wie an diesem Tage.

Gleich in der Frühe suchte er einen Notar auf und ließ ein Testament aufsetzen, in dem er seine ganzen Habseligkeiten Thomas Beyer und dessen Schwester vermachte. Als diese Angelegenheit erledigt war, besuchte er den Kirchhof, wo seine Lieben den ewigen Schlaf schliefen. Lange verweilte er an den Gräbern, und die Dämmerung brach bereits über Berlin herein, als er aufbrach. Es war die letzte Nacht, die er in seinem Heim zubringen durfte. Am anderen Tage würde der Gerichtsvollzieher kommen, Wagen würden vorfahren, fremde Leute in die liebgewordenen Räume dringen und rohe Fäuste die Heiligtümer entweihen. Kein böser Gedanke trübte seine Seele, aber er hatte sich vorgenommen, nur der Gewalt zu weichen. Und wenn man ihn in tausend Stücke risse, er wollte nicht gutwillig diese Scholle verlassen, an der das Herzblut seines Lebens klebte. Überdies, sollte er nicht in zwei Tagen auf die Anklagebank kommen, um gebrandmarkt für ewige Zeiten zu werden?

Mitten in der Nacht begann er plötzlich eine unheimliche Tätigkeit zu entfalten. Er verrammelte sämtliche Türen, schleppte mit übermenschlichen Kräften schwere Gegenstände an die Fenster und auf den Flur. Dann befestigte er auch die Laden zur Werkstatt, die seit undenklichen Zeiten nicht geschlossen wurden; und als die Kraft ihn zu verlassen drohte, griff er zum Schnaps und versuchte sich Mut für die letzte Tat seines Lebens zu geben. Als er alles genügend verbarrikadiert glaubte, ging er durch die noch offene Hoftür zum Gärtchen hinaus und schritt von hier aus mit der Lampe in der Hand in den Keller hinunter. Er hatte vor Jahren dem Gewölbe ein wohnliches Aussehen gegeben, als er auf die Idee gekommen war, es zur Schlafstube für die Lehrlinge zu verwenden. Es war ein weißgetünchter Raum, der sein Licht durch ein einziges großes Fenster vom Garten her erhielt. Mit Anstrengung schleppte er Betten, Tisch und Stühle und die halbe Einrichtung einer Küche herunter. Er beachtete die Kälte der Nacht nicht, nahm keine Rücksicht auf das Wahnwitzige seines Tuns, nur der eine Gedanke beseelte ihn, sein Werk zu vollbringen, ehe der Tag zu grauen anfing.

Es war nahe an sechs Uhr, als er innehielt. Noch einen Blick wollte er auf die Straße werfen, bevor er sich in sein freiwilliges Gefängnis vergrub. Er stieg zur Giebelstube hinauf und öffnete das Fenster. Eisige Luft schlug ihm entgegen und kühlte sein erhitztes Gesicht. An diesem Februarmorgen bedeckte leichter Nebelflor die Erde und tauchte das Licht der Laternen in große Wolken von Dunst. Die Straße hatte sich bereits belebt. In langen Zügen schritten die Arbeiter der Urbanschen Fabrik zu, eilig und schweigsam wie finstere Gestalten der Nacht.

Während der Meister hinunterblickte, wurde er ruhiger. Was erreichte er eigentlich durch seinen Widerstand? Wäre es nicht besser, mit der Vergangenheit zu brechen und den Lebenskampf von neuem aufzunehmen? Ein Ausweg blieb ihm: unterzugehen in dieser schwarzen Menge, die schon so viele Handwerksmeister vor ihm verschlungen hatte. Plötzlich zog er den Kopf zurück. Im Lichte der Laterne sah er Meister Hüttig daherschreiten, dürr und durchsichtig wie ein Gespenst. O er konnte sich noch ganz gut der Zeit entsinnen, da dieser brave Mann hinter dem Schaufenster seines Verkaufsgewölbes emsig die Kunden bediente. Vom Laden aus konnte man direkt in die Werkstatt blicken, wo Drehbank neben Drehbank stand. Und jetzt ... ein Proletarier, der im Schweiße seines Angesichts für Weib und Kinder sorgte! Johannes durchschauerte es. Wenn er dasselbe täte? Aber nein, nein, er würde es nicht erleben! Noch einen langen Blick warf er die Straße entlang, dann schloß er das Fenster ...

 

»Heda, Meister, machen Sie doch auf. Wo stecken Sie denn?«

Es war Thomas Beyer, der diese Worte laut im Flur erschallen ließ. Er war im Begriff, Timpes Haus zu passieren, als er große Wagen vor der Tür halten sah und eine Anzahl Arbeiter bemerkte, die, geführt von einem Herrn, vergeblich Einlaß begehrten. Die ganze Straße war schwarz von Menschen. Trotz der unangenehmen Witterung waren die Fenster der Nachbarhäuser geöffnet, und die Köpfe beugten sich weit hinaus. Der Altgeselle wurde von einer unerklärlichen Angst befallen. Irgend etwas Entsetzliches schwebte ihm vor. Er kenne Timpe sehr genau, hatte er dann gemeint, man müsse mit aller Vorsicht vorgehen, sonst gäbe es ein Unglück. Endlich wurde ein Schlosser geholt. Nach harten Anstrengungen hatte man dann die Barrikade weggeschafft und befand sich im Flur. Nun ließ der Altgeselle seinen Ruf ertönen, aber es erfolgte keine Antwort. Man öffnete auch die Eingänge zu den Vorderzimmern, die Läden und kletterte in den ersten Stock hinauf, ohne Timpe zu finden.

Draußen auf der Straße, unter dem umwölkten Himmel des unfreundlichen Februartages, staute sich die Menge der Neugierigen immer mehr und mehr. Das Stimmengewirr hörte sich an wie das dumpfe Murmeln einer empörten Volksmasse. Man hatte kaum gehört, daß der Gerichtsvollzieher im Spiele sei, der einen Menschen aus seinem Heim vertreiben wolle, als die allgemeine Stimmung zugunsten Timpes umschlug. Er war über Nacht ein »braver Kerl« geworden. Drohungen wurden laut, man versuchte die Arbeiter zu bewegen, mit ihren Wagen davonzufahren; die Menge pfiff und johlte und drängte mit Gewalt gegen das Haus.

Im Innern desselben hatte man die größte Mühe, zu dem nächstfolgenden Räume sich Zutritt zu verschaffen. Hinter jeder Tür tauchte eine doppelte Barrikade auf, große Kisten waren auf Tische gestellt und auf diese Stühle und schwere Möbelstücke. Bei jedem erneuerten Eindringen ließ der Altgeselle seinen Ruf erschallen:

»Meister, wo stecken Sie denn? Kommen Sie doch hervor!«

Noch waren die Türen zur Werkstatt geschlossen; lange Eisenstäbe schienen hinter ihnen zu liegen. Man stieß dann die Hoftür ein, riß die Laden von den Werkstattfenstern und blickte hinein. Plötzlich drang aus einem Haufen Holzspäne eine helle Flamme hervor, und dunkler Qualm wälzte sich durch die eingeschlagenen Scheiben. Von der Werkstatt aus führte eine Falltür zum Keller hinab. Man konnte deutlich die hochstehende Klappe sehen. Nun durchzuckte den Altgesellen ein Gedanke.

»Er ist im Keller!« rief er laut, und diesen Worten folgten wieder die alten Klagetöne: »Meister, Meister, antworten Sie doch!«

Plötzlich konnte man deutlich eine dumpfe Stimme vernehmen, welche die Strophen sang:

»Eine feste Burg ist unser Gott,
Eine gute Wehr und Waffen.
– – – – – – –«

Es hörte sich wie der Grabgesang eines lebendig Verschütteten an: schauerlich und doch ergreifend. Man schlug nun auch das Kellerfenster ein, stieß aber auf starke Bohlen. Zudem wirbelte der Rauch tiefschwarz aus der Werkstatt heraus und erfüllte den ganzen Garten. Der Polizeilieutenant und Schutzleute erschienen; nach wenigen Minuten raste die Feuerwehr heran. Die Äxte der Wehrleute arbeiteten sich unbarmherzig einen Weg durch die Rauchwolken, dann wurden die Spritzen in das Feuer geführt.

Mit dem Knistern und Prasseln der Flammen, dem Zischen der Wasserstrahlen, mit den Zurufen und Kommandoworten der Mannschaften mischte sich das Lärmen der Menge, das von der Straße herübertönte. Endlich wurde man Herr des Feuers und konnte ungefährdet den Weg in die Werkstatt nehmen.

Man solle doch zu des Meisters Sohn hinüberschicken, äußerte jemand; er bekam aber zur Antwort, daß Timpe junior nebst Frau seit vierzehn Tagen auf der Reise sich befinde.

Unten war es still geworden.

Thomas Beyer konnte die Zeit nicht mehr erwarten; er nahm eine Axt und schlug gegen die Kellertür, daß sie krachend nachgab. Immer dichter fielen die Schläge auf allerhand Gerümpel, das in Stücken die Treppe hinunterrollte. Auf der anderen Seite bahnte man sich einen Weg durch das Fenster.

Als man endlich von drei Seiten aus hinuntergelangte und das Licht des Tages voll in den Raum fiel, erblickte man Timpe. Er lag mit dem Kopf an der Leiter, die zu der Werkstatt hinaufführte, lang ausgestreckt wie ein friedlich Schlummernder da. Der Tod mußte vor wenigen Minuten erst eingetreten sein, denn der Körper war noch warm. Mit der linken Hand hielt er das Bild seines Sohnes umklammert, während die rechte wie zum Schwur an der Sprosse der Leiter lehnte; als wollte sie noch im Tode Anklage zum Himmel erheben. Auf dem unberührten Lager, das er sich zuerst gemacht hatte, lag neben den Bildern des Großvaters und Karolinens allen sichtbar sein »Letzter Wille«. Alles deutete darauf hin, daß ein außergewöhnlicher Umstand ihn getötet habe. An der Kalkwand standen mit großen Buchstaben, wie von unsicherer Kinderhand, drei-, viermal die Worte geschrieben: »Es lebe der Kaiser ... Hoch lebe der Kaiser!«

Als man ihn endlich hinauf nach dem Garten getragen hatte, um die letzten Belebungsversuche anzustellen, vermochte Beyer sich nicht mehr zu beherrschen. Er beugte sich über den entseelten Körper und rief mit schluchzender Stimme: »Meister, Meister, wachen Sie doch auf ... reden Sie!...«

Dann, als er lange auf das Antlitz geblickt hatte und nun einsah, daß alles vorüber war, richtete er sich empor. Er schlug die Hände vor das Gesicht und verharrte minutenlang in stummem Schmerze. Seine Gestalt erbebte, heiße Tränen benetzten seine Hände. Man trug den Leichnam in die Wohnung. Noch immer ringelte der Rauch in dünnen Säulen zum Fenster hinaus und über das Dach hinweg. Das Häuschen mit seinen eingeschlagenen Fenstern und Türen, der durchlöcherten Wand, mit den halbverkohlten Dielen glich einer Trümmerstätte. Durch die geöffneten Türen hatte man eine Durchsicht nach der Straße, wo die Menge Kopf an Kopf gleich einem lebenden Meere wogte. Soeben legte man Timpes entseelten Körper im Vorderzimmer auf ein Sofa nieder.

Plötzlich ertönte ein tausendfaches Hurrarufen. Die Menge wandte die Köpfe und blickte in die Höhe. Ein dumpfes Ächzen und Stoßen wurde wahrnehmbar, heller Qualm wälzte sich über die Straße, und unter dem Zittern der Erde brauste die Stadtbahn heran, die ihren Siegeszug durch das Steinmeer von Berlin hielt. Die Lokomotive war bekränzt. Aus den Kupeefenstern blickten Beamte des Ministeriums, Leute von der Eisenbahnverwaltung und die geladenen Ehrengäste. Die Herren nickten freundlich hinunter und schwenkten Taschentücher. Unter dem brausenden Jubelruf der Menge dampfte der Zug vorüber.

Die dunkle Wolkenmasse zerteilte sich wie durch Zauberhand, die Mittagssonne brach sich Bahn und sandte ihre erwärmenden Strahlen hernieder auf Menschen und Paläste, die alte und die neue Welt. Aus der Entfernung drangen noch immer die Hurrarufe der Menge herüber, wie das leise Grollen eines davonziehenden Gewitters ...


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