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XVI.
Innen- und Außenwelt

Seit diesem Tage war es nur noch Timpes Geist, der im Hause herumwandelte; so meinte wenigstens Thomas Beyer. Es war in der Tat unheimlich mit anzusehen, wie der Meister lautlos in die Werkstatt trat, kein Wort sagte, nichts anrührte, stumm einige Augenblicke durch das Fenster blickte, die Lippen aufeinanderpreßte, nach der Fabrik hinübernickte und dann ebenso still wieder von dannen schlich. Nirgends fand er Ruhe. Noch spukhafter für Gesellen und Lehrling war es, wenn sie im Nebenraum die lauten Worte vernahmen: »Karoline, bist du da?«, oder: »Mutter, hörst du?« Einmal steckte er sogar den Kopf in die Werkstatt hinein und fragte allen Ernstes: »Ist meine Frau nicht hier?«

Er vermochte sein Alleinsein nicht zu begreifen. Die ersten drei Tage nach dem Begräbnis steigerten die Halluzinationen sich derartig, daß Beyer das Ernsteste befürchtete und jedesmal, wenn Timpe die Werkstatt verlassen hatte, hinter ihm herging, um ihn vor irgendeiner Verzweiflungstat zu bewahren. Dann sah er öfters, wie der Meister, sich unbelauscht wähnend, vor dem Lehnstuhl stand, auf dem die Verblichene sich auszuruhen pflegte; er machte eine Miene, als säße die Meisterin noch lebend da und blickte zu ihm empor. Oder Timpe betrachtete lange mit gefalteten Händen ihr Bild, das an der Wand über dem silbernen Myrtenkranz hing. Ja, als Thomas wieder einmal leise die Tür geöffnet hatte, beobachtete er, wie der Alte mit einem Ausdruck von Zärtlichkeit den auf einem Riegel hängenden Hausrock der Verstorbenen streichelte und einen Kuß auf ihn drückte.

Der Altgeselle hielt Timpe nun wirklich für gemütkrank und knüpfte oft absichtlich ein Gespräch mit ihm an, um sich von der Krankheit zu überzeugen. Zu seinem Erstaunen antwortete der Meister völlig vernünftig, aber er brachte eine Sanftmut entgegen, die man in den letzten Jahren an ihm nicht mehr bemerkt hatte. Was der Altgeselle für beginnenden Irrsinn hielt, war nur eine hochgradige Seelenerschütterung: die Äußerung eines tiefgebeugten Geistes, der sich in sich selbst verschließt und sein fürchterliches Unglück erst allmählich begreift.

Timpe nahm nur wenige Speisen zu sich, trotzdem der Lehrling sie regelmäßig aus der Nähe herbeiholte. Der Altgeselle sah ein, daß das nicht weitergehen könne. Am vierten Tage brachte er in aller Frühe seine Schwester mit. Sie blieb nun den ganzen Tag über im Hause, kochte für Meister und Lehrling und brachte ihm die Wirtschaft in Ordnung. Timpe wandte kein Wort dagegen ein. Er fand das so natürlich, daß er nicht einmal dafür dankte. Nur mußten Thomas und Marie mit ihm am selben Tische essen.

»Aber nicht für Ihr Geld, Meister ... dann sind wir damit einverstanden«, sagte der Altgeselle kurz und bündig wie immer.

Das Schrecklichste für Timpe war, daß er nicht schlafen konnte. Des Abends kam ihm das Haus öde wie eine Kirche vor, so daß ihn ein förmliches Grauen überkam, wenn die Stunde des Niederlegens heranrückte. Trat die Dämmerung ein, so fürchtete er sich, die beiden großen Vorderzimmer zu betreten. Jedes Stück Möbel, der kleinste Gegenstand erinnerte ihn an sein verstorbenes Weib. Er ließ daher das Bett in seine Arbeitsstube bringen und befahl dem Lehrling, von nun an in der Werkstatt zu schlafen.

Gleich am Tage nach der Beerdigung begannen die Zungen in der Nachbarschaft ihre Arbeit. Die ungeheuerlichsten Geschichten kamen dabei zum Vorschein, soweit es sich um das Verhältnis des Meisters zu seinem Sohne handelte. Bei Jamrath drehte die Debatte sich Abend für Abend um diesen Punkt. Man fand es unerhört, daß Timpe den vermögenden Mann hervorzukehren wagte, da man von seinem Ruine bereits überzeugt war.

»Ihm geschieht ganz recht; weshalb prahlt er mit den Rosinen, ohne sie im Sack zu haben«, ließ Deppler sich vernehmen. Herr Brümmer aber, der sich ärgerte, seinerzeit auf der Straße Timpe die Ehrfurcht vor einem Villen- und Hausbesitzer entgegengebracht zu haben, brach seine Schweigsamkeit und sagte im salbungsvollen Tone: »Wer gegen die großen Fabriken und die Maschinen ist, der ist auch gegen den Geist des Fortschritts. Wissen Sie noch, wie er an jenem Abend so tapfer dagegen losdonnerte? Ich wollte nur nichts erwidern ... Weshalb auch? Er hätte mich doch nicht verstanden ... derartige Leute aufzuklären ist nicht leicht. Er hätte schließlich von mir profitiert und mich obendrein ausgelacht.«

Nur der Schornsteinfegermeister nahm des Meisters Partei. Und als Nölte, der wie gewöhnlich von einem Spieltisch zum andern ging und in die Karten guckte, die unliebsamen Äußerungen vernahm, mischte auch er sich ins Gespräch und geriet so in Hitze, daß das Wortgefecht schließlich einen bedrohlichen Charakter annahm. Das tat er Abend für Abend, sobald man versuchte, Johannes etwas anzuhängen.

»Sie sind gerade gut genug, Timpe die Schuhschnüre zu lösen«, schrie er, wütend gemacht, bei einer solchen Gelegenheit Brümmer ins Gesicht. »Man könnte den Fortschritt der Zeit segnen, wenn er Sie einmal auf Nimmerwiedersehen mitführte. Ich glaube, es wird Ihnen niemand nachlaufen.«

Das war zu viel. Einige am Tisch lachten, was den Zorn des Rentiers nur noch steigerte. Er wurde blaß und zuckte mit den Lippen, ohne zuerst etwas erwidern zu können; dann erhob er sich, rief nach Fritz, dem Kellner, und beteuerte, niemals mehr das Lokal zu betreten, wenn ihm nicht Genugtuung zuteil würde. Desto mehr sprach Deppler für ihn. Das Lob Timpes hatte den Schirmhändler derartig mißgestimmt, daß er mit unschönen Worten über den Klempner herfiel und dann ebenfalls erklärte, zum letzten Male an diesem Abend den Stuhl hier gedrückt zu haben. Da Nölte durchaus nicht den Mund hielt und seinem Herzen ganz gehörig Luft machte, so wurde der Skandal immer ärger. Als Jamrath sah, daß alles Schlichten nichts helfe, so erwog er rasch seine Vorteile und ersuchte den Meister, das Lokal zu verlassen. Für eine kleine Weiße, die man verzehre, dürfe man sich nicht erlauben, sämtliche Gäste zu beleidigen, meinte er halblaut, aber deutlich genug für Nölte. Der Klempner ging nun, Brümmer und Deppler wurden beruhigt, und Jamrath war vor dem Verlust zweier seiner besten Gäste bewahrt.

Und wie in der Kneipe, so besprach man auch in den Familien die merkwürdige Entdeckung, die man plötzlich bei Timpe gemacht hatte. Dieser Bezirk hatte noch etwas Kleinstädtisches an sich. In den alten Häusern wohnten die Mieter jahrzehntelang, Hinz und Kunz kannten sich, die Kinder besuchten dieselbe Schule, und so hatte ein auffallendes Ereignis bald die Runde durch die Häuser gemacht. Es mußte natürlich das größte Aufsehen erregen, daß weder Timpe junior mit Frau noch der letzteren Familie dem Begräbnis beigewohnt hatten. Man konnte sich das nur durch einen Zwiespalt zwischen Vater und Sohn erklären. Die ehrenwerten Bürgersleute, die den Meister nur von der besten Seite kannten, bedauerten ihn tief. Eines Mittags rief Nölte Thomas Beyer zu sich herein. Als die Rede auf Timpe kam, glaubte Beyer nichts mehr verschweigen zu brauchen. Etwas von des Meisters Haß gegen Urban und Franz war auch auf ihn übergegangen. Er stellte die Undankbarkeit des Sohnes in das richtige Licht, erzählte auch, wie Timpe jede Hülfe zurückgewiesen habe und lieber verhungern wolle, ehe er seinem Sohne den kleinen Finger reiche.

»Er ist durch und durch ein ehrenwerter Charakter, sein Sohn aber ein Lump, der sich für Geld sehen lassen müßte«, sagte er. »Das moderne Strebertum hat ihn auf dem Gewissen; aber Timpe hat viel verschuldet, er hat ihn frühzeitig verhätschelt und ihm in allen Dingen zu großen Willen gelassen.«

Der Klempner schlug die Hände zusammen und sagte ein über das andere Mal: »Du lieber Himmel, er bekommt noch dreißig Mark von mir ... ich werde mich totschießen, wenn ich sie ihm nicht noch heute geben kann.«

Als Beyer ihn verlassen hatte, erzählte er sofort die ganze Geschichte seiner Frau und machte sich auf den Weg zu dem Magazin, für das er arbeitete; ließ sich gegen Bitten und gute Worte Vorschuß geben und schickte durch das älteste Mädchen das Geld zu Timpe hinüber. Dann hatte er nichts Eiligeres zu tun, als jedem Menschen, den er sprach, die Leidensgeschichte Timpes zu erzählen. Ja, als er einmal einen wildfremden Mann erblickte, der das Portal von Urbans Fabrik betrachtete, knüpfte er mit ihm ein Gespräch an und schüttete seine ganze Galle gegen den »stillen Kompagnon« aus, der den Namen Franz Timpe trug. Die Situation änderte sich nun, alle Welt nahm Partei für den Drechslermeister und sprach sich ungünstig über Franz aus.

Eines Vormittags hieß es im Kontor, der »junge Chef« sei plötzlich krank geworden. Seit seiner Verheiratung wohnte er am Alexanderplatz, in einem der wenigen, vornehm aussehenden Häuser, die noch keine Läden aufzuweisen haben.

Jeden Vormittag pflegte er in einer Droschke erster Klasse nach der Fabrik zu fahren. Kam er seinem Ziele näher und saßen oder standen Leute am Fenster, so grüßten viele von ihnen und nickten ihm freundlich zu. Seit einigen Tagen war in diesen Achtungsbezeigungen eine auffallende Veränderung eingetreten. Man wandte sich ab oder tat so, als sähe man ihn nicht. Er forschte nun eifrig nach der Ursache dieser kalten Behandlung und erfuhr alles.

Er hatte noch keine Ahnung von dem Tode seiner Mutter, und selbst Urban und dessen Frau erfuhren erst von ihm davon. Zum ersten Male in seinem Leben empfand er Gewissensbisse, die ihn krank machten. Dazu kam der Ärger über die Blamage, der er durch die Hartnäckigkeit seines Vaters ausgesetzt war. Er habe noch niemals gehört, daß einem Sohne der Tod seiner Mutter grundsätzlich verschwiegen worden sei, sagte er zu Emma, die vor sechs Tagen einem Knaben das Leben gegeben hatte, von dem ihr sehnlichster Wunsch war, daß er den Namen seines Großvaters tragen sollte. Mit dem Alten scheine es in der letzten Zeit nicht richtig zu sein, wie man sich erzähle, fuhr er fort. Habe man ihm nicht vor Jahren einen vierfachen Preis für sein Grundstück geboten, ihm nicht noch vor kurzer Zeit ein anständiges Angebot gemacht? Einen derartigen Trotz könne er nicht begreifen. Nun machten die Leute ihn, den Sohn, für alles verantwortlich und würden schließlich mit dem Finger auf ihn deuten.

Er war so aufgeregt, daß er das Essen nicht anrührte, einen Boten nach der Fabrik schickte, sich für unpäßlich erklärte und um regelmäßigen Rapport bat. Emma rief ihn mit schwacher Stimme zu sich heran, deutete auf das Kind, das seine Züge trug, und flehte ihn an, sich zu seinem Vater zu begeben, um alles wiedergutzumachen. Sie habe recht, es müsse irgend etwas geschehen, sonst leide sein ganzes Renommee darunter, meinte er zustimmend.

Als Frau Urban gerade ins Zimmer trat, um sich wie alltäglich nach dem Befinden der Wöchnerin zu erkundigen, zog man sie ins Geheimnis. Sie sollte erst allein zum Meister gehen, um ihn vorzubereiten und seine Stimmung zu prüfen.

Am selben Nachmittag noch führte sie ihren Auftrag aus. Sie hatte den Meister lange nicht gesehen, so daß sie förmlich zurückprallte, als sie ihn erblickte. Noch mehr wunderte sie sich über seine Unhöflichkeit. Nicht einmal einen Stuhl bot er ihr an. Als sie ihn fragte, ob er sie noch kenne, lachte er spöttisch auf und wies mit der Hand nach der Seite, wo der Hof lag. »Die alte Mauer ... wissen Sie noch? ... Sie haben uns nicht das Licht gegönnt, nicht den Anblick der unschuldigen Blumen, die Gott doch überall wachsen läßt, damit der Ärmste sich daran erfreue.« Er hatte noch nichts vergessen; das machte sie erst recht betroffen.

»Ihr Sohn gab die Veranlassung«, brachte sie dann zögernd wie zur Verteidigung hervor. Zu gleicher Zeit wollte sie das Gespräch auf den eigentlichen Zweck ihres Besuches bringen; aber im nächsten Augenblick schreckte sie zusammen, denn Timpe stampfte mit dem Fuße auf und sagte:

»Mein Sohn, mein Sohn! ... Kennen Sie ihn? Ich nicht. Sie hätten ihm damals den Hals umdrehen sollen, als Sie ihn zum ersten Male beim Obststehlen ertappten. Sie hätten ein gutes Werk getan ... Gott wird mir meine sündhaften Gedanken verzeihen, um der vielen Gebete willen, die mein Leben ausgefüllt haben.«

Er wandte sich ab. Frau Urban wurde bewegt, schritt auf ihn zu und redete sanft auf ihn ein; aber er war unerbittlich.

»Kein Wort mehr darüber ... Es liegt ein Abgrund zwischen mir und meinem Sohne, den keine Macht der Welt überbrücken kann, höchstens die eines –«, er wollte hinzufügen: »irdischen Richters«, besann sich aber noch zur rechten Zeit und schloß: »Gehen Sie, es ist alles nutzlos. Ich störe Ihren Frieden nicht, wünsche aber auch, daß der meinige nicht gestört werde ... ein für allemal.«

Und als sie aufs neue den Versuch machte, seinen Starrsinn zu brechen, ließ er sie mit einem Gruß stehen und verließ das Zimmer, so daß sie sich gezwungen sah, sich zu entfernen.

Timpe begann nun das Leben eines wahren Einsiedlers zu führen. Selten verließ er das Haus. Er scheute die Berührung mit der Außenwelt, wie man ungefähr einen Aussätzigen fürchtet, dessen Anblick Widerwillen erweckt. Hatte er wirklich einen geschäftlichen Gang zu erledigen, so tat er es im Schutze der Abendstunde. Er machte diese Gänge nur mechanisch, mehr der äußersten Notwendigkeit gehorchend als dem inneren Triebe folgend. Um diese Zeit war es, als der Bursche seine Lehrzeit beendet hatte. Er blieb nur noch eine Woche in der Werkstatt und zog dann von dannen, weil er plötzlich in dem Wahne lebte, ein Mann geworden zu sein, der große Ansprüche erheben dürfe. Timpe wollte keinen Ersatz für ihn haben. Er haßte jedes neue Gesicht und war so nervös geworden, daß er nicht mehr die Ruhe zu finden hoffte, große Umstände mit jemandem zu machen. Zudem, was konnte ein Mensch bei ihm wohl lernen? Immer noch drechselte er gewöhnliche Holzarbeit, die ihn bereits so anekelte, daß er sie nicht mehr sehen mochte. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn er ganz allein an seiner Drehbank hätte stehen können. Er würde dann gerade so viel Arbeit ins Haus genommen haben, als er bedurfte, um zu leben. Aber er scheute sich, Thomas Beyer aufs neue zu ersuchen, nicht mehr wiederzukommen; denn gewiß würde er nur tauben Ohren predigen. Dafür brachte er es aber so weit, daß Marie das Wirtschaften einstellte und nicht mehr wiederkam. Es geniere ihn, ein fremdes Frauenzimmer um sich zu haben, erklärte er ihr frank und frei; und Fräulein Beyer ließ sich das nicht zweimal sagen, trotzdem er ihr erklärte, er schätze sie sehr und habe nicht das geringste gegen sie. Wenn man aber dreiunddreißig Jahre sein Weib um sich gehabt habe, dann könne man sich an ein anderes Gesicht schwer gewöhnen. Der wahre Grund seiner Abneigung war ein anderer. Sein Mißtrauen wuchs von Tag zu Tag; er redete sich ein, die Schwester könne ebensosehr auf seine Habseligkeiten spekulieren wie ihr Bruder auf seinen Gesinnungswechsel.

Er kochte nun seinen Kaffee selbst, hielt sich Frühstück und Abendbrot im Hause und ließ sich nur das Mittagessen aus einer nahen Speisewirtschaft ins Haus senden. Aber auch nicht regelmäßig, denn oftmals fiel es ihm ein, sich selbst etwas zu bereiten; dann ging er in aller Frühe zu den Händlern, holte das Notdürftigste ein und bestellte das Mittagmahl ab.

Das ging einige Wochen so. Dann trat plötzlich eine für sein Lebensalter verhängnisvolle Wendung ein. Die Hypothek wurde ihm gekündigt, und zwar persönlich von dem Inhaber derselben. Es gab keine langen Auseinandersetzungen. Der Darleiher brachte allerlei Gründe vor, die zum Teil berechtigt waren, zum Teil nur zu deutlich die Absicht durchblicken ließen, wieder zum baren Gelde zu gelangen. Da hieß es denn hintereinander: »... Es ist mir zu Ohren gekommen, daß es mit Ihrem Geschäft vollständig bergab gegangen ist... Die Stadtbahn hat das Grundstück entwertet ... Ich gebrauche notwendig Geld« usw.

In Wahrheit war das nur ein luftiger Vorwand, hinter dem sich Spekulationsgelüste verbargen. Der Herr hatte einen nahen Verwandten in der Stadtbauverwaltung, der ihn benachrichtigt hatte, daß demnächst allen Ernstes mit der Erweiterung der Straße an dieser Stelle vorgegangen werden sollte. Er setzte nun voraus, daß Timpe für sein altes Haus kein neues Geld auftreiben und daß er dann das Vorkaufsrecht für dasselbe haben würde. Obendrein hatte auch der Fiskus wegen Entfernung der »alten Baracke« mit der Stadt verhandelt. Es lag ihm daran, die Eisenbahnbogen zu verwerten, was nicht gut möglich war, solange Timpes Haus die Gegend verunzierte und den Eingang der Viadukte versperrte.

Der Meister hatte drei Monate Zeit und nun wider Willen eine Beschäftigung in den Straßen Berlins gefunden. Es handelte sich um achttausend Mark, die er auftreiben sollte. Er lief von früh bis spät, treppauf, treppab, erließ Inserate, trat mit einem Dutzend Menschen in Verbindung, ohne an sein Ziel zu gelangen. Man sah sich das Haus an, schnüffelte in allen Ecken umher, nahm Einsicht in die Verhältnisse, lief nach dem Grundbuchamt und schüttelte dann mit dem Kopf. Es war immer dieselbe Ausrede: ».. . Ja, wenn die Stadtbahn nicht vorüberginge ... wenn der ganze Raum nicht keilförmig wäre ... man weiß nicht, was man daraus machen soll!«

Das wäre immer noch nicht so schlimm gewesen, wenn der Meister nicht eine Hypothek, unkündbar auf Lebenszeit, gewünscht hätte. Er wollte sich auf alle Fälle sichern. Der Termin rückte immer näher heran – er fand keine Befriedigung seiner Wünsche. Schließlich dachte er daran, eine geringere Summe aufzunehmen, die überflüssigen Drehbänke, die Modelle und alle entbehrlichen Möbel zu verkaufen, um mit dem Erlös die nötige Summe zu erzielen. In dieser peinlichen Situation war ihm niemand mehr im Wege als Thomas Beyer. Er haßte ihn jetzt förmlich, er wußte nicht, warum. Jedenfalls fand er es nicht für nötig, den Gesellen Zeuge der neuesten Veränderung sein zu lassen. Wenn es schon so weit kam, daß wirklich alles Entbehrliche verkauft werden mußte, dann konnte das in aller Stille geschehen, in der Dunkelheit womöglich, und brauchte niemand etwas davon zu wissen außer ihm und seinem Gott! Das wäre ein Gaudium für seine Feinde gewesen, wenn sie erfahren hätten, wie es wirklich um ihn stand. Obendrein würde man ihm noch Mitleid entgegenbringen, und er wollte es nicht, verlangte es nicht und würde eher den Tod erlitten haben, ehe er es entgegengenommen hätte.

Sein ganzes Sinnen und Trachten ging nun darauf hin, dem Altgesellen für immer den Laufpaß zu geben. Er faßte diesen Gedanken mit Mitleid, aber es war eine Notwendigkeit, die durchgeführt werden mußte. Nicht nur der Zwang trieb ihn dazu, sondern eine tiefe Sehnsucht nach gänzlicher Einsamkeit, wie sie Menschen zu überkommen pflegt, die mit dem Gefühl im Herzen den Haß gegen die Welt mit sich herumtragen und Gewohnheiten annehmen, die sie zu Sonderlingen machen.

Am nächsten Sonnabend machte er den letzten Versuch, mit dem Altgesellen in Güte sich auseinanderzusetzen. Es fruchtete auch diesmal nichts. Er würde den Meister unter solchen Verhältnissen erst recht nicht verlassen, erwiderte er. Er erhebe ja nur Anspruch auf den niedrigsten Lohn, den man sich nur denken könne. Timpe blieb ruhig und ging hinaus. Als Beyer aber am nächsten Montag um sieben Uhr wie gewöhnlich die Haustür öffnen wollte, fand er sie verschlossen. Er rüttelte und klopfte – es wurde nicht geöffnet. Dagegen steckte Timpe den Kopf zum Fenster hinaus und warf dem Gehilfen das Arbeitszeug zu. Es war nebelig, und nur vereinzelt gingen die Menschen vorüber. »Da Sie nicht gutwillig gehen wollen, so muß ich andere Saiten aufspannen«, schrie Timpe ihn an. Beyer möge sich zu allen Teufeln scheren und die fürderhin zu bekehren versuchen, da fände er gewiß lohnendere Beschäftigung.

»Aber Meister, sind Sie von Sinnen? ...«

Statt aller Antwort wurde der Laden herangezogen, und der Altgeselle hörte deutlich das Quietschen der Schraube, die ihn befestigte. Das Haus sah nun aus, als läge sein einziger Bewohner noch im tiefsten Schlafe.

Eine ganze Stunde lang schritt Beyer auf und ab. Der Nebel zerteilte sich, es wurde heller, eilige Menschen liefen an ihm vorüber, in dem Häuschen aber rührte sich nichts. Endlich wurde es ihm unangenehm, und er ging. Der Meister hatte ihn durch das Luftloch des Ladens fortwährend beobachtet und kochte nun beruhigt seinen Kaffee; während er ihn schlürfte, lachte er über den gelungenen Streich. Das Bewußtsein, daß er nun allein war und von einem Raume in den anderen spazieren konnte, ohne einem Menschen zu begegnen, verursachte ihm großes Behagen.

Zwei Tage lang verließ er das Haus nicht, schlug er nur den einen Vorderladen zurück und lebte von dem, was er in der Küche vorrätig hatte. Die Haustür wurde nur geöffnet, als ein Wagen aus der Fabrik vorfuhr, um die fertige Arbeit abzuholen. Den zweiten Morgen ließ sich Beyer nicht sehen, aber am dritten begehrte er wieder Einlaß. Er nahm an, daß Timpe ihn nicht mehr erwarten würde. Aber der Meister war bereits auf und sah ihn auf der Straße stehen. Er verhielt sich ruhig, und der Geselle ging bald wieder davon. Während der ganzen Woche tauchte Beyer nicht auf.

Timpe fühlte sich beruhigt. Der Belagerungszustand kam ihm nun so lächerlich vor, daß er den Laden wieder öffnete und dem Hause ein freundliches Gepräge gab. Trotzdem befolgte er die Vorsicht nach wie vor. Einmal wurde er durch die Anhänglichkeit des Altgesellen so weichgestimmt, daß er ihn persönlich aufsuchen wollte, um ihn wieder zu holen, aber er bewahrte glücklicherweise seine Stärke. Eine nicht mehr erwartete Kraft war plötzlich über ihn gekommen: einer jener tatenlustigen Augenblicke in der Erschlaffungsperiode eines Menschen, wo der Mut zu neuer Arbeit, zu einem neuen Leben sich zu regen beginnt. Es war gleichsam ein Trotz, ein riesenstarkes Aufbäumen gegen die Gemeinheiten des Daseins. Er wollte dieses Haus hier, in dem er geboren war, in dem drei Generationen seines Namens gehaust hatten, als seine Burg betrachten, deren Besitz er gegen die Außenwelt verteidigte. Die Einsamkeit sollte seine Waffen schärfen. Er freute sich seines Alleinseins. Es sah niemand, was er trieb, er brauchte keinem zweiten Menschen Rechenschaft über sein Tun und Lassen abzulegen.

Er hatte nur noch vierzehn Tage Zeit, um eine neue Hypothek eintragen zu lassen. Er verschloß also sein Haus von allen Seiten und machte sich wiederum auf den Weg. Die Arbeit lief ihm nicht weg, denn von dieser Sorte konnte er genug bekommen. Zuletzt verlor er aber doch die Hoffnung, denn niemand wagte, auf seine Bedingung einzugehen. Im letzten Augenblick meldete sich ein Retter in der Not, der, wie er angab, auf Umwegen von seiner Bedrängnis gehört haben wollte. Es war ein Zwischenhändler, den Urban, der in letzter Stunde Kenntnis von der Hypothekengeschichte erhielt, beauftragt hatte, das Geschäft zu machen, ohne daß Timpe von dem wahren Sachverhalt erfahre. Man wollte dem Meister die achttausend Mark geben, sich aber vierteljährliche Kündigungsfrist vorbehalten. Das Anerbieten war von sehr schönen Redensarten begleitet: Man würde durchaus nicht in den ersten zehn Jahren von dem Kündigungsrechte Gebrauch machen, müsse sich aber auf alle Fälle sichern. Es war sozusagen die Pistole, die man Timpe auf die Brust setzte. Er überlegte noch achtundvierzig Stunden, lief noch einmal treppauf, treppab und willigte dann in den Handel ein. So konnte er wenigstens in seinen vier Pfählen sitzen bleiben und sich mit dem Bewußtsein schlafen legen, daß »den guten Freunden« die Freude verdorben wurde.

Um die ausbedungenen Zinsen vorausbezahlen zu können, verkaufte er in aller Stille drei seiner Drehbänke, die in den Abendstunden abgeholt wurden, wozu sollten sie auch länger dastehen, da er doch nicht mehr die Aussicht hatte, sie in Bewegung zu sehen! Am meisten freute er sich über die großen Augen, die der jetzige Inhaber der Hypothek machen würde, wenn das bare Geld ihm hingezählt wurde. Der Herr zeigte allerdings ein sehr langes Gesicht und drehte jeden Kassenschein vorsichtig um, als glaubte er, ihn gefälscht und dadurch die Möglichkeit zu bekommen, seine Spekulation verwirklichen zu können. Den Meister amüsierte das außerordentlich, und er konnte sich nicht enthalten zu fragen, ob der Herr vielleicht an Stelle der Kassenscheine »Gold« wünsche. Er habe immer einige Rollen davon im Hause. Und wenn der Herr wieder mal jemanden träfe, der ihm erzähle, daß es ihm, Timpe, schlecht erginge, so möchte er ihn gefälligst einen Dummkopf nennen und ihn darauf aufmerksam machen, daß kluge Leute immer ihr Geld auf der »Königlich Preußischen Bank« zu liegen haben. Damit trennte man sich.


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