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IX.
Franz bekennt Farbe

Der letzte Schnee war kaum von den Dächern verschwunden, die grimmige Kälte einer milderen Temperatur gewichen, als auf dem Neubau wieder emsig gearbeitet wurde. Aber der große Maurerstrike, der während der ersten Sommermonate herrschte, machte Urban einen argen Strich durch die Rechnung.

Man schrieb das Jahr 1873. Ein industrieller Schwindel hatte die gesamte Gesellschaft erfaßt; die Gründungen auf Aktien schossen wie Pilze aus der Erde. Kapital und Arbeit standen sich schroff gegenüber. Die Koalitionsfreiheit der Arbeiter feierte Triumphe, denn eine seltene Einigkeit beseelte die unteren Massen. Die Ansprüche der Niederen und Enterbten steigerten sich mit dem Golddurst der Reichen und Begüterten. An Hunderten von Bauten Berlins wurde nur zeitweise gearbeitet. Man strikte einfach so lange, bis man die Forderung bewilligt bekommen hatte. Zum Unglück war die Nachfrage nach Arbeitskräften stärker als das Angebot. So kam es denn, daß zu Urbans großem Verdruß das Bauen langwieriger wurde und mit größeren Opfern verbunden war, als er erwartet hatte. Erst im Frühjahr des folgenden Jahres standen die Fabrikgebäude vollendet da; und es bedurfte noch des ganzen Sommers von 1874 zur Einrichtung und Ausstattung der inneren Räume.

Die Mauer, die das Nachbargrundstück getrennt hatte und an welche sich so mannigfache Erinnerungen knüpften, war niedergerissen worden. An ihrer Stelle ragte nun die kahle Kehrseite des Kesselhauses. Zweimal noch im Laufe des vergangenen Sommers hatte Urban den Versuch gemacht, die Timpes zum Verkauf ihres Grundstückes zu bewegen. Als er endlich einsah, daß jede fernere Mühe nutzlos sei, ließ er das Maschinenhaus direkt an das Gärtchen bauen, obgleich der ursprüngliche Plan ein anderer war. Er wollte wenigstens durch irgend etwas seine Rache beweisen. Nur ein wenige Fuß breites Stück des alten Gemäuers ließ er in gleicher Höhe neu ersetzen, als wollte er symbolisch den Weg andeuten, auf dem er sich dereinst Eingang in die verschlossene Welt zu verschaffen gedenke.

Was Meister Timpe anbetraf, so hatte gerade diese Schikane einen tiefen Groll in ihm gegen den Nachbar erzeugt: eine mächtig in ihm emporflammende feindselige Stimmung, die selbst die Rücksicht auf seinen Sohn nicht mehr umzuwandeln vermochte. Als der Bau wiederholt ruhen mußte, konnte er seine Genugtuung nicht verschweigen, und als der Schornstein des Kesselhauses in Angriff genommen wurde, wartete er mit einer gewissen Schadenfreude auf die Vollendung desselben.

»Wehe ihm, wenn er ihn nicht so hoch bauen läßt, daß wir unter dem Qualm nicht zu leiden haben«, sagte er wiederholt zu seinen Gesellen. »Ich will schon dafür sorgen, daß er ein neues Gerüst bauen läßt und einige Längen seiner Nase zugibt.«

Urban aber ließ sich keinen Verstoß gegen die Gesetze der Nachbarschaft zuschulden kommen. Immer höher und höher türmte der Riesenschlot sich von Tag zu Tag auf, und als die Gerüstabnahme beendet war und Timpe zum ersten Mal die steinerne Riesensäule klar und scharf zum Horizont sich abheben sah und mit weit hintenübergebeugtem Haupte zu dem Blitzableiter emporblickte, der sie krönte, erschien sie ihm nun doppelt so hoch, als er anfänglich angenommen hatte. Die erste Befürchtung wurde nun durch eine zweite verdrängt: daß der Schornstein eines Tages niederstürzen könne, um das Dach seines Hauses zu zerschmettern. Es kamen Tage, wo Timpe fortwährend in dieser Einbildung lebte. Und als eines Nachts ein arger Herbststurm über die Dächer Berlins brauste und arge Verwüstungen anrichtete, vermochte er nicht ruhig zu schlafen. Er erhob sich von seinem Lager, ging zum ersten Stockwerk empor und blickte eine ganze Stunde lang zum Flurfenster hinaus, um das leise Schwanken des Schornsteins zu beobachten – trotz des Regens, der ihm das Gesicht peitschte.

Noch vor Weihnachten wurde die Fabrik in Betrieb gesetzt. Der Tag, an dem zum ersten Male der dunkle Qualm aus dem Schlot zum Himmel stieg, war für Johannes Timpe und seine Gesellen ein ereignisreicher. Es dauerte lange, ehe sie sich an das Geräusch der Dampfmaschine gewöhnen konnten. Wie das stöhnte und ächzte, surrte und summte! Selbst das Schnurren der Drehbänke wurde übertönt. Es schien fast, als könne sich die mächtige Hauptwelle, die unter einer Bedachung zu der Fabrik hinüberlief, um den ganzen Maschinenapparat in Bewegung zu setzen, noch nicht recht an ihre Riesenarbeit gewöhnen; denn mit dem schwirrenden Geräusch vermischte sich ein leises Pfeifen, das unheimlich das Ohr berührte. Der schwarze Qualm wurde durch den Wind auf die Dächer gedrückt und hinterließ einen unangenehmen Geruch von Ruß- und Schwefeldampf.

Eine ganze Woche hindurch gab die Eröffnung der Fabrik den Bewohnern der ehrwürdigen Häuser Veranlassung zu langen Gesprächen. Die Straßen hatten eine andere Physiognomie bekommen. Die Scharen Arbeiter, die sie belebten, machten sie zu einer Verkehrsader des Viertels. Das Portal des Etablissements ragte wie ein Wahrzeichen industriellen Sieges. Das neue Berlin hatte ins alte eine Bresche geschlagen und überflutete mit seinem frischen Leben die Ruinen. Selbst die schiefen Giebeldächer, die sonst mürrisch wie verschlafene Eulen auf die Menschen herabblickten, nahmen sich freundlicher und heller aus. In den Schankwirtschaften erschallte bis in die Nacht hinein der Lärm der Zecher, und alles, was durch die Arbeiter Geld zu verdienen hoffte, machte ein vergnügtes Gesicht.

Am dritten Neujahrstage wurde die Einweihung der Fabrik durch eine Festlichkeit begangen, die in den großen Sälen eines Hotels in der Friedrichstadt stattfand. An diesem Bankett nahmen nur das Kontor-Personal und eine Anzahl geladener Gäste mit ihren Damen teil. Die Werkführer und Arbeiter hatten einen freien Tag bekommen, der ihnen vom Lohne nicht abgezogen werden sollte. In Anbetracht dessen, daß erst wenige Wochen seit Eröffnung der Fabrik vergangen waren, hatte Urban dieses Opfer mit schwerem Herzen gebracht. Aber er fürchtete in dieser Zeit die Launen seiner Leute und versuchte daher alles aufzubieten, sich als entgegenkommender Chef zu zeigen. Bereits acht Tage vorher hatte auch Meister Timpe eine Einladung zu der Feierlichkeit erhalten. Und Franz, der zum Oktober des vergangenen Jahres seine Lehrzeit beendet hatte und seit diesem Tage den würdigen Mann spielte, hatte noch extra im Namen seines Chefs der schriftlichen Einladung eine mündliche hinzugefügt. Wohlweislich verschwieg er dabei, daß Johannes diese Auszeichnung eigentlich nur seiner Fürsprache zu verdanken hatte, denn Urban hatte ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, daß ihm seit der eingetretenen Zwistigkeit an der Anwesenheit des Nachbars nicht viel liege.

»Sage deinem Chef, daß ich mich sehr geehrt fühle, aber leider dankend ablehnen müßte«, gab Timpe kurz zur Antwort und bereitete damit niemandem mehr Freude als seinem Sohne. Wenn Franz daran dachte, was für eine Rolle seine Eltern mit ihrer beschränkten Anschauungsweise inmitten der lebenslustigen Gesellschaft spielen würden! Am meisten seine Mutter, mit ihrer Sucht, bei derartigen Gelegenheiten sich mit dem unmodernsten Seidenkleide zu schmücken!

»Du verlierst auch nicht viel, Vater, weil du die meisten Menschen nicht kennst«, sagte er zur Beruhigung. Trotzdem wunderte er sich über die plötzliche Umwandlung des Alten. Wenn Timpe aber jetzt nur zu offen seine Antipathie gegen Urban bekannte, so sollte sein Sohn doch nach wie vor niemals darunter leiden. So setzte er denn seinen ersteren Worten sofort die weiteren hinzu:

»... Das heißt – ich möchte nicht gern, daß dein Chef meine Ablehnung übel auffaßt. Sage ihm also, daß ich mich in der letzteren Zeit nicht wohlfühle, äußere ihm mein ganz lebhaftes Bedauern, aus diesem Grunde nicht erscheinen zu können.«

Wenn er nur gewußt hätte, wie angenehm den Fabrikbesitzer die Ablehnung berühren würde!

Vierzehn Tage nach dem Einweihungsfest, das glänzend verlaufen war und über welches sogar einzelne Zeitungen berichteten, machte Franz seinen Eltern eine Mitteilung, die ihnen vor Erstaunen zuerst die Worte raubte.

»Ich bitte euch herzlich«, begann er, »es mir nicht übelzunehmen, wenn ich zum ersten Februar euer Haus verlasse. Ich will mich irgendwo bei einer anständigen Familie möbliert einmieten. Es ist mir bei euch zu eng. Ich muß ein anständiges Zimmer haben, wo ich einmal Freunde empfangen und sie bewirten kann ... Ich bin jetzt erster Korrespondent bei Urban, genieße sein vollständiges Vertrauen und habe vorläufig so viel Salär, daß ich auszukommen gedenke, ohne eure Hülfe in Anspruch zu nehmen. Nur bitte ich, euch auch fernerhin mit der Wäsche belästigen zu dürfen ... Wenn ihr mein Streben und meine Stellung kennt, so werdet ihr mein Wegziehen nicht übel auffassen. Es geschieht lediglich meiner Zukunft wegen.«

Es war Timpe und seinem Weibe, als ginge nach diesen feierlich gesprochenen Worten ein Riß durch ihre Seele, als wehte von ihrem Einzigen ein erkältender Frost zu ihnen herüber, als gähnte plötzlich ein Abgrund zwischen ihm und ihnen, der sie für ewig trennen würde. Er, der kaum selbständig geworden war, dessen Gehen und Kommen nach der Minute berechnet wurde, wollte ihr Heim verlassen, um sich bei wildfremden Menschen ein neues zu suchen ... Und gewiß nur, weil er plötzlich ein großer Herr geworden war, den dies alte Haus nicht mehr fein genug dünkte. Oh, darüber konnte er sie nicht täuschen!

Als die Blicke der beiden Alten sich begegneten, las jedes von dem Gesicht des anderen die gleiche Meinung ab. Frau Karoline vermochte das Ungeheuerliche am wenigsten zu begreifen. Sie dachte weniger an den Schmerz der Trennung (war Franz doch nicht aus der Welt, konnte er sie doch nach wie vor jeden Tag besuchen) als daran, welchen leiblichen Gefahren er entgegengehen könne. Wie schlecht würde der Kaffee des Morgens sein, wie mangelhaft das Bett, wie unaufmerksam die Bedienung, wie oft würde man ihn die Zeit verschlafen lassen! Sie wurde erst einigermaßen beruhigt, als Franz die Versicherung abgab, er würde nach wie vor zum Mittagstisch kommen.

Johannes Timpe faßte die Angelegenheit, nachdem der erste Schreck sich gelegt hatte, weniger tragisch auf. Kam doch in erster Linie dabei wieder die Stellung und das Glück seines Sohnes in Frage. Der Junge hatte am Ende nicht ganz unrecht: hier war alles altmodisch, eckig und winklig, wenig geschaffen zur Aufnahme von Besuchen und zum lustigen Beisammensein junger, fröhlicher Leute.

So dauerte es denn nicht lange, und man fügte sich in das Unvermeidliche. Der Großvater wurde erst in der letzten Stunde davon benachrichtigt. Der Sechsundachtzigjährige lachte leicht auf und sagte mit leisem Spott:

»So muß es kommen, sagt Neumann! ... Jetzt ist er flügge geworden, kann sich sein Brot verdienen, da geht's heidi! Das ist die Dankbarkeit der modernen Jugend, aber ich hätte euch das vorhersagen können ... Wenn Franz Timpe einen neuen Streich begeht, so hat er seine besonderen Absichten dabei, verlaßt euch darauf ... Aber meinen Segen hat er, sagt ihm das in meinem Namen.«

Der Tag des Umzuges Franzens hatte das Ehepaar in eine traurige Stimmung versetzt. Schon einige Tage vorher hatte Frau Karoline in allen Kasten und Schränken gekramt, damit das ihrer Meinung nach Notwendigste und Beste für den zukünftigen Chambregarnisten beisammen sei. Ein neuer Reisekorb war angeschafft worden, und neben ihm, der vollgepfropft war mit Kleidungs- und Wäschestücken, stand ein halbes Dutzend Pappschachteln und Kisten, die das übrige enthielten. Es war gerade, als handelte es sich um eine Afrikareise des Stammhalters. Selbst ein Körbchen mit eingemachten Früchten, eine Leckerspeise Franzens, hatte Frau Karoline dem Gepäck hinzugefügt. Johannes aber hatte eine Kiste Zigarren, »extra feine Sorte«, wie er schmunzelnd meinte, in einer der größten Handlungen der Königstraße gekauft und gedachte damit seinem Sohne eine Überraschung zu bereiten.

Als Franz nach Hause kam und die ganze Bescherung erblickte, amüsierte er sich über diese Vorbereitungen außerordentlich, so daß der Meister und sein Weib verlegen wurden. Als dann ein Stück nach dem andern in die Droschke geschafft worden war und der große Augenblick des Abschieds kam, erschien die Meisterin, zum Ausgehen gerüstet, auf der Bildfläche. Sie wollte es sich nicht nehmen lassen, ihren Sohn auf seiner weiten Reise nach der kaum zehn Minuten entfernt liegenden Münzstraße zu begleiten, um sich von seiner glücklichen Ankunft zu überzeugen. Franz verstieg sich so weit, das etwas lächerlich zu finden, aber alles Gegenreden half nichts: Frau Karoline zwängte sich neben die Schachteln in die Droschke hinein, und fort ging's.

Meister Timpe aber wurde erst ruhiger, als die getreue Ehehälfte zurückkehrte und die freudige Mitteilung von der wohlgelungenen Landung Franzens, des Einzigen, überbrachte; auch davon, daß derselbe in eine Familie geraten sei, von der man nicht zu befürchten habe, daß sie ihn bestehlen oder ihm gar ein Leids antun werde. Am Abend suchte Johannes, seit längerer Zeit zum ersten Male wieder, seine Stammkneipe auf. Der Tag war zu ereignisreich, als daß er nicht mit einem Meinungsaustausch am Biertische beschlossen werden sollte.

Bei Vater Jamrath gaben sich seit einem Vierteljahrhundert die ersten Weißbierkenner des östlichen Stadtteils ein Stelldichein. Das Lokal war so bekannt, daß es sogar der roten Laterne entbehren konnte, welche dereinst vor vielen Jahren zuerst auf seine Existenz hingewiesen hatte. In dem einzigen, langgestreckten, verräucherten Parterregeschoß mit den weißgescheuerten Tischen und schweren, hochlehnigen Holzstühlen, wo der an jedem Morgen frisch gestreute helle Sand den modernen, eleganten Fußboden ersetzen mußte, zeigte sich noch das unverfälschte Berlinertum, hatte sich noch der Rest einer alten Welt erhalten. Was für Physiognomien traf man da an, was für vorväterliche Gestalten beherrschten allabendlich den großen runden Stammtisch in der äußersten Ecke, in dessen Mitte ein Baumstumpf als Schnupftabaksdose thronte und über dem an der Decke zum Schrecken aller Aufschneider das aus Pappe nachgebildete Riesenmesser mit der Klingel hing!

Da erschien mit dem Schlage sieben Uhr der lange, hagere Brümmer, der jahrein, jahraus in einem langen braunen Gehrock gekleidet ging und niemals eine andere Kopfbedeckung trug als eine große Schirmmütze. Er hatte sich als wohlhabend gewordener Handschuhmachermeister zur Ruhe gesetzt und lebte nun als kleiner Rentier in dem vererbten Hause seines Vaters, in dem er geboren worden war. Er trank regelmäßig drei große Weißen, zu der letzten einen kleinen Kümmel, und erhob sich Punkt zehn Uhr, um schweigsam, wie er gekommen war, nach Hause zu wandern. Seit zehn Jahren war er aus seinem Viertel nicht herausgekommen. Er füllte sein Dasein damit, um sieben Uhr des Morgens aufzustehen, die Zeitungen zu lesen, regelmäßige Mahlzeiten zu halten und die übrige Zeit des Tages, die Pfeife im Munde, zum Fenster hinauszusehen, bis die Kneipstunde schlug. Während zweier Jahrzehnte sah man ihn denselben Platz einnehmen, und als er seinen Stuhl eines Abends von einem ihm fremden Manne besetzt sah, kehrte er schweigend um und ließ sich acht Tage lang nicht sehen, bis endlich Vater Jamrath ihn persönlich aufsuchte und das heilige Versprechen abgab, niemals mehr ein ähnliches Vergehen gegen die Ordnung des Stammtisches gestatten zu wollen.

Das Gegenteil von Brümmers klassischer Schweigsamkeit und Ruhe bildete der behäbige Herr Wipperlich, ein kleiner Kürschnermeister aus der Langen Straße, dessen Sohn Subalternbeamter in einem Ministerium war und der daraus die Berechtigung zog, über alle politischen Vorgänge am besten unterrichtet zu sein. Er war der Schwadroneur am Tische, kam fortwährend auf die auswärtige Politik zu sprechen, geriet mit jedermann in Streit und bandelte schließlich als letzter Gast spät in der Nacht mit dem Wirt an, wobei er über dessen Opposition so erregt wurde, daß er beim Hinausgehen laut zurückrief: »Ich betrete Ihr Lokal nicht mehr, verlassen Sie sich drauf!« Am anderen Abend aber saß er wie gewöhnlich kampfeslustig auf seinem alten Platz.

Auch Baldrun, ein wohlhabend gewordener Schornsteinfegermeister aus der Holzmarktstraße, ist zu erwähnen. Er hatte ein reiches Wanderleben hinter sich und als Geselle den Krimkrieg mitgemacht, wobei er sich einen verkrüppelten Arm geholt hatte. Bei jeder Gelegenheit schimpfte er furchtbar über die Russen, deren geschworener Feind er war.

Die originellste Erscheinung war jedenfalls Anton Nölte, ein in sehr bescheidenen Verhältnissen lebender Klempnermeister, der vor Jahren ein Dutzend Gesellen beschäftigt hatte, nun aber mit einem Lehrling um die Existenz seiner Familie kämpfte. Sommer und Winter erschien er ohne Kopfbedeckung und verzehrte nicht mehr als eine kleine Weiße. Er setzte sich dabei niemals, sondern ging von einem Tisch zum andern, wo »Schafskopf« gespielt wurde, guckte jedem eine Weile in die Karten, teilte unentgeltlichen Rat aus, wobei er gelassen die größten Grobheiten einsteckte, griff in die fremden Schnupftabaksdosen und verschwand nach einer Stunde in ebenso gedrückter Stimmung, wie er gekommen war, um in seinem Keller am Sperrhaken bis in die Nacht hinein zu hämmern.

An jedem Donnerstag war das ganze Philisterium versammelt. An diesem Abend gab es regelmäßig Pökelfleisch mit Erbsen und Sauerkohl, das Nationalgericht der Berliner. Die Tische waren dann vollbesetzt, und Vater Jamrath und Fritz, der einzige Kellner, der die Serviette am Arm mit dem Gesicht eines alten Tragöden ernst und gemessen durch die Reihen schritt und sich die möglichste Mühe gab, seinen abgenutzten Frack vor Fettflecken zu bewahren, hatten alle Hände voll zu tun, um die Gäste zu befriedigen. An diesem Abend blieb man auch länger zusammen als sonst, nur Herr Brümmer erhob sich Punkt zehn Uhr kerzengerade, ließ für seine Gattin ein besonders schönes Stück Pökelfleisch einwickeln, suchte wie gewöhnlich sehr lange nach einem Fünfpfennigstück für Fritz und schritt gravitätisch wie auf zwei Stelzen von dannen.

Als Johannes eintrat, rief ihm Jamrath sofort zu: »Ei, Meister Timpe, sieht man Sie auch mal wieder! Das ist hübsch von Ihnen.« Und vom Stammtisch, dessen Runde bereits geschlossen war, schallte ihm ein lautes »Hallo« zur Begrüßung entgegen. Kaum hatte man ihm Platz gemacht und er sich gesetzt, so geriet er in nicht geringes Erstaunen über die Gratulation, die man ihm entgegenbrachte.

»Das nenne ich Glück, Timpe«, sagte Baldrun, indem er einen tiefen Griff in seine Schnupftabaksdose tat. »Ihr Sohn hat es weit gebracht.«

»Eine ausgezeichnete Partie, mehr kann man nicht sagen«, fiel Wipperlich ein. Und selbst Herr Brümmer, der wie eine Pagodenfigur nur zeitweilig mit dem Kopfe nickte, brummte etwas vor sich hin, was einer Zustimmung des soeben Gehörten gleichkam. Neben ihm saß Deppler, ein Stock- und Schirmfabrikant aus der Alexanderstraße. Er war ein kleiner, verwachsener Mann, dessen Riesenkopf tief in die Schultern hineingezwängt saß, während die langen, knochigen Hände fortwährend auf dem Tische ruhten und sich mit dem Bierglase beschäftigten, als hoffte dadurch ihr Besitzer größer und gewaltiger zu erscheinen. Sein Name besaß in der Geschäftswelt einen guten Klang, und seine Ware fand namentlich bei den Kleinhändlern in der Provinz lohnenden Absatz. Seit vielen Jahren stand der Drechslermeister mit ihm in Geschäftsverbindung; er freute sich daher ungemein, mit einem seiner besten Kunden gemütlich beisammen sein zu dürfen.

»Sagen Sie doch, lieber Herr Timpe«, sagte der Kleine, »wie ist denn das so schnell gekommen mit Ihrem Jungen? Man sagte mir doch, daß Sie mit Urban verfeindet seien.«

Timpes Überraschung steigerte sich. Sein Blick glitt von einem zum anderen, und seine Verlegenheit war so groß, daß er zu alledem ein sehr dummes Gesicht machte. Endlich erhielt er die Aufklärung, die ihm anfänglich wie ein schlechter Witz erschien, deren Wahrheit er dann aber, um sich nicht zu blamieren und sich seines Sohnes zu schämen, zugab. Man reichte ihm ein Zeitungsblatt. Er traute seinen Augen nicht. Da stand die Nachricht, daß Fräulein Emma Kirchberg mit Franz sich verlobt habe, angezeigt von Herrn Urban nebst Frau.

Gewiß, das mußte seine Richtigkeit haben! Vor drei Tagen war Franz bereits des Morgens feierlich gekleidet von dannen gegangen und erst tief in der Nacht in festlicher Stimmung nach Hause gekommen. Aber zum ersten Male in seinem Leben freute sich Timpe über das Glück seines Sohnes nicht. In wenigen Minuten überkamen ihn merkwürdige Gedanken, die er nicht zu bändigen vermochte. Langsam und schwer, aber um so entsetzlicher für ihn erwachte das Mißtrauen gegen den Einzigen. Wie ein Glied an das andere sich reiht, damit nach und nach die Kette sich gestalte, so fielen ihm jetzt hundert Dinge auf einmal ein, die ihn in seinem Verdacht bestärkten: das eigentümliche Benehmen Franzens in letzter Zeit, das ewige Abraten vom Bauen, die fortwährende Lobhudelei seines Chefs, das stete Betonen der kleinlichen Anschauung seiner Eltern, sein Hochmut der beschränkten Häuslichkeit gegenüber, der plötzliche Wohnungstausch, alles, alles! O er hatte mit Absicht die Verlobung verheimlicht, denn er fürchtete die Gegenwart seiner Eltern bei dem Feste. Der Stachel, der sich plötzlich in Timpes Herz bohrte, drang tiefer und tiefer ein und machte es bluten. Wenn der Großvater und Thomas Beyer doch recht hätten ...?

»Ja, ja«, sagte er endlich sehr gezwungen, »ich glaube, der Junge wird sein Glück machen ...« Und zu Deppler gewendet: »Die Feindschaft der Eltern soll den Segen der Kinder nicht brechen.«

Und was er nie tat, das tat er in seiner jetzigen Stimmung. Er bestellte zu seiner Weißen einen großen Schnaps und nahm einen herzhaften Zug.

Es dauerte nicht lange, so drehte sich das Gespräch nur noch um Urban.

»Wenn Ihr Sohn erst Kompagnon sein wird, werden Sie wohl nicht mehr nötig haben zu arbeiten«, begann Deppler wieder. »Die besten Modelle scheint Urban Ihnen ohnehin schon abgekauft zu haben. Sie sind vor der Zeit schlau! Eines Tages wird er Ihnen ja doch alle Kunden vor der Nase weggeschnappt haben.«

Timpe blickte groß auf. Er glaubte nicht recht verstanden zu haben und bat um nähere Aufklärung. Deppler langte in die Tasche seines Paletots, der hinter ihm hing, zog ein Päckchen hervor und wickelte es auf.

»Hier, sehen Sie: Diese Viktoriakrücke, die ich früher von Ihnen bezog, liefert mir jetzt Urban um fünfundzwanzig Prozent billiger. Er könne sich das leisten, meinte er neulich zu mir, weil er auf großen Absatz rechne und die Massenfabrikation die Fabrikate billiger stelle. Ja, ja, lieber Timpe, das machen der Dampf und die neuen Maschinenvorrichtungen.«

Die Viktoriakrücke zeigte eine besonders schöne Zeichnung und nahm sich ebenso einfach wie geschmackvoll aus. Timpe hatte sie zuerst eingeführt, und sie hatte reißenden Absatz gefunden. Namentlich an Damenschirmen sah man sie überall auftauchen. Sie wurde aus Elfenbein, Horn und Holz zu gleicher Zeit hergestellt. Ein Hoflieferant, für den der Meister arbeitete, hatte sie so geschmackvoll gefunden, daß er das Modell Ihrer Königl. Hoheit der Kronprinzessin vorgelegt hatte. Die hohe Frau ließ sofort ein Exemplar in Elfenbein ausführen, das hatte dem Griff die Benennung gegeben; und schließlich hatte man auch den Schirm danach getauft, der sofort bei der tonangebenden Damenwelt Mode wurde. Diese Krücken wurden noch immer sehr begehrt, namentlich von den kleinen Fabrikanten in der Provinz, die das ganze Gestell fertig bezogen und nur die Überspannung machten.

Timpe erkannte sofort sein Modell, aber es war verändert. Der Schwung der Linien, die Zeichnung war dieselbe, nur die Gliederung war eine andere geworden. Das war eine gute Spekulation, das mußte man sagen! Die Veränderung war eine so unwesentliche, daß das Gros der Abnehmer sich leicht täuschen lassen konnte.

Herr Augustus Deppler griff noch mehrmals in die weite, einem Sack ähnliche Tasche seines braunen Kaftans und holte einen Gegenstand nach dem anderen hervor.

»Und was sagen Sie hierzu, mein lieber Meister Timpe? Wer hätte früher daran gedacht, daß in Berlin ein Fabrikant auftauchen würde, der seinen Abnehmern diese Jonvillebüchse um den dritten Teil billiger liefern könnte als Sie. Aber ich renommiere nicht: Urban hat mir das Dutzend zu achtzehn Mark angeboten, während ich bei Ihnen vierundzwanzig zahlen mußte. Das kommt aber daher, weil Urban, wie er mir sagte, eine neue Vorrichtung am Support erfunden hat, die es ihm möglich macht, die Zeit der Herstellung zu vermindern.«

Diese Büchse, von der man sprach, war ein sehr beliebter Necessairegegenstand für Damen, der aus einem Stück gedreht wurde, inwendig hohl war und vermittelst eines Federdruckes in mehrere Teile sich zerlegte. Ein Pariser Händler namens Jonville hatte die Büchse zuerst in Deutschland eingeführt und Meister Timpe die erste inländische Arbeit danach gemacht. Er hatte mit der Zeit dem Artikel auch andere Formen gegeben und dafür reichliche Abnehmer gefunden. Nun mußte er erleben, daß die billige Konkurrenz Urbans ihm auch hierfür die Kunden wegzunehmen drohte. Saß doch ihm gegenüber bereits einer von denen, die ihm nach und nach abtrünnig werden würden. Er hatte sich mehr als einmal gewundert, daß der kleine, schief gewachsene Herr Deppler, der seit einem Jahrzehnt zu seinen Auftraggebern gehörte, in den letzten Monaten mit seinen Bestellungen auffallend zurückhaltend war.

Johannes machte sofort einen Überschlag. Wollte er denselben Preis stellen wie Urban, so mußte er über kurz oder lang zugrunde gehen. Ja, früher, das waren noch andere Zeiten! Aber mit den Jahren, wo die Konkurrenz ihm immer mehr zu Leibe gerückt war, war auch der Profit immer tiefer und tiefer gesunken. Aus der einstmaligen Kunst war ein allgemeiner Broterwerb geworden, und der Stückpreis von früher hatte sich in einen Dutzendpreis verwandelt. Es wäre selbst für Timpe schwer gewesen, seine eigenen Empfindungen, die ihn in diesen Minuten bewegten, zu schildern. Alles, was sein Gemüt bewegte, seinen Gedankengang bannte, konzentrierte sich in dem großen Etwas, das er im Augenblick noch nicht zu würdigen verstand, das ihm aber unklar, wie im Nebel, vorschwebte. Es war die drohende Faust der Zukunft, die in der Phantasie ihm riesengroß vor Augen stand: das instinktive Gefühl einer unabwendbaren, über Nacht hereinbrechenden Gefahr, das ihn an jenem Tage zum ersten Male überkommen war, als er von Urbans Plänen erfuhr. Und dieses Gewirr von Empfindungen betäubte ein tiefer Schmerz, hervorgerufen durch den einen fürchterlichen Gedanken, der alle anderen überwog: daß sein einziger Sohn eines Tages mit dem verhaßten Konkurrenten Hand in Hand gehen könne, um seinen eigenen Vater vernichten zu helfen, womöglich gegen den eigenen Willen! Aber er nahm sich vor, ihn gleich am anderen Tage gründlich ins Gebet zu nehmen und ihn auf die unwürdigen Geschäftskniffe seines sauberen Herrn Chefs und zukünftigen Schwiegervaters aufmerksam zu machen.

Timpe bestellte sich einen Schnaps; das Zeug schmeckte ihm heute, er wußte nicht, aus welchem Grunde. Er wurde aufgelegter zum Reden und fühlte, daß ein solcher Trunk unter Umständen dazu angetan sei, neuen Mut zu machen und unangenehme Dinge weniger schwarz erscheinen zu lassen.

Die Unterhandlung am Tisch wurde nun eine lärmende, die Handwerkerfrage kam in Fluß, und jeder bemühte sich, sie von seinem Standpunkte aus zu beurteilen, und glaubte, daß seine Meinung die allein richtige sei. Herr Wipperlich schrie am lautesten.

Die Handwerker trieben viel zu wenig Politik, meinte er sehr beredt. Besäßen sie politische Kenntnisse, so würden sie ihre Schäden eher erkennen. Innungen, obligatorische Innungen, darin bestände die einzige Rettung! »Einigkeit macht stark«, rief er laut und schlug mit der geballten Hand auf den Tisch. »Man muß einen Wall bilden gegen die Schundkonkurrenz, nur solide Arbeit liefern und das Publikum wieder zu gesunden Anschauungen erziehen.«

Ja, das Publikum, das Publikum ... Da hatte man den richtigen Esel genannt, den man schlagen mußte, denn der Fabrikant war doch der eigentliche Sack. Das Publikum werde sich niemals bekehren lassen, fiel Antonius Deppler ein, denn es laufe immer dahin, wo es am billigsten kaufen könne.

»So meine ich auch«, sagte Herr Brümmer, und alle schauten verwundert auf bei den ersten Worten des schweigsamen Mannes, als erwarteten sie eine große Rede. Aber der Rentier senkte das Haupt wieder und hüllte es nach wie vor in große Tabakswolken. Zwischen Baldrun und Timpe saß Herr Storch, ein Tischlermeister, der mit seiner langen, blonden Mähne eher einem Künstler glich. Aber die ersten silbernen Fäden, die sie durchzogen, zeugten von frühen Sorgen. Vor fünf Jahren besaß er ein eigenes Möbelgeschäft; aber die Großindustrie hatte ihn zugrunde gerichtet. Jetzt arbeitete er jahraus, jahrein denselben Artikel für Händler. An Sonnabenden war es ihm oft nicht möglich, den Lohn für die Gesellen zusammenzubringen. Dann mußte er die Möbelstücke um jeden Preis losschlagen, wollte er nur bares Geld sehen.

»Ich meine«, begann er, »daß die Gewerbefreiheit an allem schuld hat, denn sie hat die freie Konkurrenz geschaffen und ruiniert die kleinen Leute, die nicht das nötige Betriebskapital besitzen, um günstige Einkäufe zu machen und daher auch billiger zu produzieren.«

Herr Brümmer schüttelte den Kopf. Da er sorgenlos lebte, so konnte er diesen ganzen Streit nicht begreifen. Außerdem ließ er sich nicht gern in seiner Ruhe stören. Zum zweiten Male ergriff er das Wort. »Lassen Sie doch alles gehen, wie es will. Wir werden die Welt nicht bessern«, sagte er voller Überzeugung ... Die Unterhaltung wurde nun immer erregter, die Ansichten unklarer und verwirrter. Jeder wollte allein sprechen und ließ den anderen nicht ausreden.

»Nun, Timpe, was sagen Sie denn?« rief der Schornsteinfegermeister ihm zu. Der Drechsler hatte bisher kein Wort gesagt, sondern still vor sich hingeblickt. Die wüste Unterhaltung schien ihm zwecklos. Es waren die alten Redensarten, die er schon so oft an diesem Tische vernommen hatte. Endlich erlaubte er sich eine bescheidene Meinung zu äußern:

»Die großen Fabriken sind der Ruin des Handwerks, nur sie ganz allein«, begann er. »Es wird eines Tages keine Handwerker mehr geben, nur noch Arbeiter. Und das wird der Untergang des Staates und des gesunden Bürgertums sein. Wenn das Haus seine Hauptstütze verliert, bricht es in sich zusammen. In unserem Stande lernt heute niemand mehr etwas. Die Lehrlinge werden in den Fabriken nur zu Tagelöhnern herangebildet. Haben sie ausgelernt, sind sie eigentlich nur noch Arbeitsleute. Der eine fertigt jahraus, jahrein diesen Teil an und der andere jenen, aber keiner hat eine Ahnung vom Ganzen. Das ist gerade wie bei den Spezialärzten, die eine Krankheitserscheinung sehr genau studiert haben, ihr ganzes Leben lang ein und dasselbe Gebrechen kurieren, in anderen Fällen aber nicht vertrauenswürdig erscheinen ... Und das wäre alles nicht so, wenn die Maschine nicht die Handarbeit überflüssig gemacht hätte. Wo früher hundert Hände notwendig waren zur Herstellung eines Gegenstandes, genügen heute zwei, die nur nötig haben, in mechanischer Weise das Material in die richtige Lage zu bringen, das andere tut das Räderwerk. In acht Tagen lernt heute einer das, wozu er in früheren Zeiten Jahre bedurfte. Aber was noch schlimmer ist: Die Maschine schafft auf der einen Seite zehnfachen Reichtum und auf der anderen tausendfache Armut ... Du mein Gott, wie viele habe ich so zugrunde gehen sehen! Da drüben der Hüttig ... der Ortmann um die Ecke ... der Sippert jenseits der Spree – sie alle drei haben als Leute mit grauen Haaren ihre Zuflucht zu der Fabrik nehmen müssen. Und was wird aus ihren Kindern? Sie werden eines Tages dasselbe, was ihre Väter heute sind: Fabrikarbeiter, deren Nachkommen dasselbe werden. So entsteht das ungeheure Heer der Proletarier, das die Welt überschwemmt und nur zweierlei Dinge kennt: den Kampf ums Dasein und den Haß gegen die Reichen ... Was soll daraus werden, wenn das so weitergeht? Daran denkt niemand!«

Der Wahrheit seiner Worte konnte sich niemand entziehen. Seine Schilderung war nur zu sehr aus dem Leben gegriffen.

Fast jeder kannte mindestens einen, der vor seinen Augen von der Höhe des Wohlstandes in die Tiefe des Elends gefallen war. Es entstand eine längere Pause. Wipperlich belegte die Zuchthausarbeit und Abzahlungsgeschäfte mit derben Bezeichnungen, der kleine Deppler sagte mehrmals: »Schrecklich, schrecklich, aber nicht zu ändern«, und der Schornsteinfegermeister äußerte seine Freude darüber, daß man, Gott sei Dank, die Kehrbesen noch nicht mit Dampfkraft in die Schlote senken könne. Herr Brümmer aber erhob sich, denn seine Stunde hatte geschlagen, und sagte abermals: »Lassen Sie die Dinge gehen, wie sie wollen ... Gute Nacht.«

Es war spät geworden, als Timpe das Lokal verließ. Die meisten Gäste waren bereits vor ihm gegangen, nur Wipperlich und Baldrun stritten sich noch um den Bart des Kaisers von Rußland und über den »kranken Mann« fern in der Türkei, wobei der eine dem anderen nach jeder Behauptung vollständige Unkenntnis vorwarf. Man wollte den Meister noch zurückhalten, er aber hatte Sehnsucht nach der frischen Luft, denn sein Kopf war ihm schwer geworden. Auf der Straße wehte ihm ein scharfer Wind entgegen, der den losen Schnee vom Trottoir fegte. Das tat ihm wohl wie seit langer Zeit nicht. Die Uhr der Andreaskirche schlug die Mitternachtsstunde, und als Timpe beim Dahinschreiten die einzelnen Schläge zählte, wunderte er sich, so lange ausgeblieben zu sein. Aber er wußte selbst nicht, wie das heute gekommen war. Den ganzen Abend über, während der lautesten Debatte hatte er nur an seinen Sohn gedacht.

Und während er sich gesenkten Hauptes langsam seiner Wohnung näherte, die Hausmütze tief in die Stirn gedrückt, den Kragen des Alltagsrockes in die Höhe geschlagen, erwachte der verletzte Stolz des Vaters, der an ihm nagte und ihn innerlich tief empörte. Soviel er auch nach Entschuldigungsgründen suchte – er fand keinen für Franzens Verschweigen seiner Verlobung. Er sann hin und her, und worauf er zurückkam, war immer dasselbe: Franz wollte sich seinen Eltern nach und nach ganz entfremden, weil sie in die Kreise nicht hineinpaßten, denen er für die Zukunft angehören wollte. Er blieb ein paar Augenblicke stehen und schüttelte mit dem Kopf, als könne er alles das nicht begreifen.

Einige Häuser weiter fand er die Kellerfenster noch erleuchtet. Die Außentür war geöffnet, und als er hinunterspähte, erblickte er durch die Glastür Anton Nölte, der an seinem Lötofen saß und emsig arbeitete. Das Feuer glühte, und der Kolben wanderte fortwährend aus der Hand in die Kohlen. Der Klempner verfertigte seit Jahren Küchengerätschaften, die äußerst schlecht bezahlt wurden. Von früh bis spät hämmerte und lötete er, und die ganze Erholung, die er sich gestattete, war nach dem Abendbrot die Stunde bei Jamrath. Timpe stieg die Stufen hinab und öffnete die Tür.

»So spät noch auf!« sagte er nach einem Gruße, trat ganz ein und reichte dem fleißigen Manne seine Schnupftabaksdose hin. Er habe Arbeit vor, die am nächsten Morgen abgeliefert werden müsse, erwiderte Nölte. Das Magazin, für welches er arbeite, fackele nicht lange. Es kämen genug Leute, die sich noch billiger anböten. Zum Unglück sei ihm der Lehrling noch am Tage vorher ausgerückt. Zwei Jahre lang habe er sich mit dem Bengel gequält, um ihm etwas beizubringen, und nun, da er von ihm zu profitieren hoffte, ginge die Range heidi, um sich wahrscheinlich in irgendeiner Fabrik als Geselle anzubieten. Das Maß dazu besitze er allerdings.

»Das war einmal richtig gesprochen von Ihnen, Herr Timpe – ich meine, da heute abend bei Jamrath«, fuhr er fort; »ich könnte ein Liedchen von der Fabrikarbeit singen, aber ich wollte mich nicht gern in das Gespräch mischen. Wozu auch? Am Biertisch ist das weiter nichts als Dreschen leeren Strohes, die Köpfe erhitzen sich unnütz, und den einzigen Vorteil davon hat nur der Wirt ... Es wird für uns Handwerker nicht anders werden auf Erden, als bis eine neue Sündflut kommt und die Fabriken und Schornsteine verschlingt. Da wird der Wert der Menschen, die übrigbleiben, sich erst beweisen. Jeder wird zu zeigen haben, was er gelernt hat. Wir müssen in den Urstand zurücktreten, habe ich gestern gelesen, und das wird wohl das beste sein. Haben die Menschen, die vor tausend Jahren ihren Acker bebauten und sich die Dinge, die sie brauchten, selbst anfertigten, nicht viel glücklicher gelebt? O Meister Timpe, ich habe viel gelesen – früher, als ich noch meinen Laden besaß. Aber die Bücher sind zum Teufel gegangen, fragen Sie nur meine Gläubiger ...«

Kindergeschrei ertönte aus einem Nebenraum. Nölte sprang auf. »Einen Augenblick – der Junge hat die Flasche verloren«, sagte er und verschwand in der einzigen Wohnstube, wo seine Frau mit sechs Kindern schlief.

Als er wieder zurückgekehrt war, ging die Tür abermals auf. Es war Krusemeyer, der seinen Kopf hereinsteckte. Er wollte sich ein wenig erwärmen und dem Klempner einen Schluck anbieten. »Nun, Herr Timpe«, sagte er nach der Begrüßung, »das nenne ich schnell ans Ziel gelangen. Ihr Sohn hat doch nicht zuviel gesagt, damals – ich meine, in jener Radaunacht.« Auch Meister Nölte kam auf die Verlobung zu sprechen, und Timpe geriet nun zum zweiten Male in Verlegenheit. Wie es schien, wußte die ganze Nachbarschaft bereits davon, nur er allein hatte es in letzter Stunde erfahren. Er kam sich wie ein großer Narr vor.

»Ja, ja – Sie sind zu beneiden. Wer solch eine Aussicht für die Zukunft hat, der kann sich schon getrost ohne Sorgen des Abends niederlegen«, sagte Nölte. Krusemeyer erwähnte bei dieser Gelegenheit, daß die Nachfeier drüben in der Raupachstraße vor sich gehe. Da spendierte Herr Franz inmitten seiner Freunde ganz gehörig. Er habe ihn vor ungefähr zwei Stunden hineingehen sehen. Das Lärmen und Singen schalle durch die ganze Straße, und die Kneiperei werde wohl bis zum frühen Morgen dauern.

Timpe horchte auf. Als er mit dem Wächter auf der Straße war, ließ er sich das Restaurant näher beschreiben und bat den würdigen Beamten um weitere Aufschlüsse. Nach der Trennung schritt er unbewußt, halb wie im Traume, der Raupachstraße zu. Er hatte plötzlich den Entschluß gefaßt, in dem Stammlokale seines Sohnes noch ein Glas Bier zu trinken. Bei dieser Gelegenheit würde er ihn gewiß sehen und sprechen können. Irgendeine Aufklärung mußte er haben. Was sollte auch seine Frau dazu sagen, wenn er ihr die Neuigkeit mitteilte, ohne etwas anderes hinzufügen zu können?

Das betreffende Restaurant gehörte einer behäbigen Witwe und war der Sammelplatz von jungen Leuten, größtenteils Studenten. Es gab hier einen guten Trank, die bedienenden Mädchen zeichneten sich durch Schönheit und Liebenswürdigkeit aus, und die Speisen standen in einem vortrefflichen Rufe. Als Timpe den ersten großen Raum betreten hatte, öffnete sich gerade die Tür eines kleinen Zimmers, aus dem lautes Stimmengewirr und fröhliches Lachen hereinschallte. Sein Blick fiel auf seinen Sohn, der inmitten der langen Tafel saß und lebhaft mit der Schenkmamsell sprach, um deren Taille er den Arm gelegt hatte.

Der Meister setzte sich. Rechts und links von ihm saßen sehr vergnügt dreinschauende junge Männer, die ihn gleich bei seinem Hereintreten mit einem Blick von oben nach unten gemustert hatten, als wollten sie fragen: Wie kommst du denn hierher, Alter? Und Timpe, der einen dieser Blicke aufgefangen und seine Bedeutung wohl verstanden hatte, mußte sich sagen, daß es seinen grauen Haaren schlecht stehe, zu so später Stunde an diesem Ort zu sitzen. Endlich fragte er das ihn bedienende Mädchen, ob man hier den jungen Herrn Timpe kenne.

»Den schönen Franz? – Ei versteht sich! Alle Welt kennt ihn ja!« erwiderte sie lächelnd und zeigte ihre weißen Zähne.

Ob sie wohl die Freundlichkeit haben wolle, den jungen Mann auf wenige Augenblicke herauszurufen? Er habe ihn sehr dringend zu sprechen. Das Mädchen blickte den Alten verwundert an. Gewiß war das jemand aus Urbans Fabrik, der eine Bestellung auszurichten hatte. Er möchte nur dort hineingehen, sagte sie dann. Der Meister aber bestand auf seinem Wunsch. Nach einigen Minuten öffnete sich die Tür wieder, und Franz trat herein, gefolgt von zweien seiner Freunde, die ihre Neugierde befriedigen wollten. Beim Anblick der prächtigen Erscheinung seines Sohnes, die noch gehoben wurde durch eine leichte Röte des Gesichts und durch den Ausdruck des Frohsinns, hatte er im Augenblick nur noch Verzeihung für ihn. Er erhob sich und trat ihm mit ausgestreckter Hand entgegen.

»Mein Junge –«

Franz war betroffen. Sein Vater hier und im Werkeltagsanzug? Das hatte er nicht erwartet. Im Augenblick erfaßte er die Situation: die aufmerksamen Blicke der Gäste ringsherum, seiner Freunde, namentlich der Mädchen, die ihn immer für einen Sohn aus bestem Hause gehalten hatten. Nur eine Minute lang kämpfte er mit einer stummen Verlegenheit, dann richtete er sehr gleichgültig an seine Freunde die Bitte, ihn auf einige Augenblicke zu entschuldigen, und ergriff die Hand seines Vaters, wie man ungefähr die eines Menschen ergreift, dem man gezwungenerweise Freundlichkeit entgegenbringen muß. »Vater«, sagte er leise, »komm hinaus, dort sind wir ungestört.« Als der Alte die Mütze ergriffen hatte und ihm gefolgt war, atmete er auf und fragte, ob zu Hause etwas Unangenehmes passiert wäre. Und als Timpe ihn beruhigt hatte und nun erklärte, weswegen er eigentlich hierhergekommen sei, überschüttete ihn Franz mit einem Wortschwall, aus dem nur zu deutlich das Bestreben hervorging, seinen Vater sobald als möglich von hier fortzubringen.

»Morgen, morgen, Vater, sollst du alles erfahren. Ihr werdet zufrieden sein ... Geh nur jetzt, ich bitte dich! Was soll die Mutter denken, wenn du so spät nach Hause kommst.«

»Aber mein Bier ist noch nicht bezahlt –«

»Das werde ich besorgen.«

»Aber deine Freunde – willst du mich nicht mit ihnen bekannt machen?«

»Ein anderes Mal, du sollst sie alle kennenlernen, verlaß dich darauf ... Sie sind heute zu bekneipt ... Geh nur jetzt ... Es ist so spät ...«

Und Meister Timpe sah das ein und ging. Wie sonderbar das Benehmen seines Sohnes war, wie unmutig er über die Störung erschien, wie er sich umblickte, als wünschte er nicht belauscht zu werden! Plötzlich blieb der Alte stehen und starrte vor sich hin. Ein entsetzlicher Gedanke durchzuckte ihn. Es war nicht anders zu deuten. Franz schämte sich seiner. Er war ihm nicht fein genug gekleidet, zu gering für seine Freunde. Und je weiter er schritt, je fürchterlicher dämmerte ihm die Wahrheit, je mehr nahm der Gedanke Form und Gestalt an. Immer nebelhafter wurde das Idealbild Franzens, immer greifbarer das Zerrbild einer fremden Kreatur. Timpe seufzte laut auf. Er spürte die Kälte nicht, die Schneeflocken nicht, die der Wind ihm ins Gesicht trieb, sondern nur das Feuer, das in seinem Gehirn loderte und unzähligen Funken gleich Gedanken auf Gedanken entfachte. Und es war immer derselbe, aber phantastischer und wilder: Ein Sohn schämt sich seines Vaters!

Als er nach Hause kam, schlief Frau Karoline bereits fest. Er wollte sie wecken, ihr alle seine Empfindungen über den Einzigen mitteilen, als er aber auf ihr mildes Antlitz blickte, kam er davon ab. Weshalb ihren Frieden stören? Vielleicht träumte sie gerade von dem, der ihm heute so großes Weh bereitet hatte! Leise legte er sich nieder, aber es dauerte lange, lange, ehe der Schlaf ihn umfing, der ihm heute wohler tat als je.


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