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XIV.
Verzweiflungskampf

Als der Sommer wieder hereinbrach, sah es trauriger als je mit der Arbeit in Timpes Werkstatt aus. Beyer und Spiller waren nun die einzigen Gehülfen, welche die Drehbänke in Bewegung setzten. Die in Aussicht gestellte Bestellung Depplers traf nicht ein; wohl aber mußte der Meister erleben, daß nach seinem für den Amerikaner angefertigten Modell Urban tapfer fabrizierte. Als Johannes dem kleinen und verwachsenen Deppler eines Abends bei Jamrath Vorwürfe über diesen »Jesuitenstreich« machte, zuckte der Schirmfabrikant die Achseln und gebrauchte einige Worte des Bedauerns. Er habe es gut genug gemeint, verteidigte er sich; aber es sei eben die alte Geschichte: Die Preisaufstellung Urbans habe sich um fünfundzwanzig Prozent billiger herausgestellt als diejenige Timpes.

Nun bereute der Meister bitter, das Modell an den Amerikaner, ohne Vorbehalt seiner Rechte, verkauft zu haben. Er hatte sich in dieser Beziehung ganz auf Deppler verlassen. So viele Anspielungen er aber machte, und zwar in einer Art und Weise, die der Mißgestalt nur zu deutlich das Gewissenlose ihrer Handlung vor Augen führen mußte – immer kam die gleichgültige Antwort: Man müsse heutezutage der Konkurrenz die Spitze zu bieten versuchen; wer das nicht könne, der solle lieber ruhig einpacken und als Rentier leben.

Eines Abends wurde der kleine Herr sogar wütend. »Sie können auch gar nicht genug kriegen!« rief er Timpe zu. »Sie haben doch gewiß schon ihre Reichtümer gesammelt. Wer so einen Sohn hat, dem kann es doch nicht fehlen ... Übrigens spricht ja alle Welt davon, daß Sie nach und nach das Arbeiten ganz aufgeben wollen, um von ihren Renten zu leben. Wie ich gehört habe, halten Sie sich Ihre zwei Gesellen nur noch, um mit den letzten Bestellungen aufzuräumen.«

Die ernste Miene, mit der er das sagte, ließ Timpe erkennen, daß von irgendeiner Verhöhnung keine Rede sein könne. Und da die traurigen Erfahrungen der letzten Jahre ihn gelehrt hatten, nicht jedermann seine innersten Gedanken preiszugeben, so nahm er eine reservierte Haltung an und lächelte statt der Antwort nur, so daß man das als eine Zustimmung auffassen konnte.

Die Annahme Depplers, daß die Vermögensverhältnisse des Drechslers vortreffliche seien, war nicht nur die seinige. Da sie die inneren Familienverhältnisse nicht kannten, so waren viele Leute, mit denen der Meister zu tun hatte, der Ansicht, daß er durch seinen Sohn große materielle Vorteile genieße und nur seine und seiner Frau Anspruchslosigkeit es verhinderten, aus der Bescheidenheit herauszutreten und sich ein behaglicheres Leben zu verschaffen. Schließlich hielt man ihn für einen Duckmäuser, der wohl wisse, wieviel er in seinem Beutel habe, aber den Menschen Sand in die Augen streue, um ihrer aufdringlichen Freundschaft zu entgehen. Gewiß würde schon die Zeit kommen, wo der Säckel sich öffnete und Herr und Frau Timpe sich der Welt als wohlhabendes Ehepaar präsentierten, das bis an sein Lebensende aus den Fenstern eines stattlichen Hauses herausblickte. Ja, es kam so weit, daß neidische Nachbarsleute, die es niemals verziehen, daß der Sohn des Handwerkers eine glänzende Partie gemacht hatte, in unzweideutiger Weise von einem Geizhalse sprachen und nur zu leicht durchblicken ließen, wer damit gemeint sei.

Johannes Timpe und ein Geizhals! Als der Meister zufälligerweise von dieser Bezeichnung erfuhr, mußte er trotz seiner düsteren Stimmung laut auflachen. Es fiel ihm aber nicht im geringsten ein, diesem teils schmeichelhaften, teils wenig angenehmen Gerüchte entgegenzutreten. Trug alles das doch dazu bei, über seine wirklichen Verhältnisse hinwegzutäuschen und der Welt das traurige Schauspiel, in dem ein gewissenloses Kind die Hauptrolle spielte, zu ersparen.

So führte er von nun an eine Art Scheinexistenz, durch die er sich genötigt sah, den Ruin im Hause durch das äußere Renommee zu verdecken. Das ging so weit, daß er zuletzt sich selbst betrog und an den vermögenden Vater des vermögenden Sohnes glaubte. Und diese fixe Idee steigerte sich in demselben Maße, in dem seine Ersparnisse zusammenschrumpften und das Gespenst des gänzlichen Unterganges immer drohender heranzog und riesiger vor seinen Augen auftauchte. Aber seine Gleichgültigkeit gegen die Vorkommnisse des Tages war bereits so groß, daß er sich langsam vom Strome der Ereignisse mit fortziehen ließ. Er führte ein halbes Traumleben. Um so schrecklicher mußte das Erwachen sein.

Eines Vormittags stellte sich Anton Nölte bei ihm ein, dessen Familie seinerzeit der erlogene Hochzeitswein und -kuchen gut bekommen war.

»Herr Timpe, Sie sind ein braver Mann«, begann er ohne Umschweife. »Alle Welt erzählt davon, daß Sie sich demnächst ein großes, vierstöckiges Haus bauen werden. Ja, erst gestern versicherte man mir mit heiligem Eide, daß Ihr Sohn Ihnen in Friedrichshagen eine Villa, direkt am See gelegen, gekauft habe. Es wird also für Sie eine Kleinigkeit sein, wenn Sie mir auf ein paar Wochen fünfzig Mark leihen. Da hat sich noch ein alter Gläubiger gefunden, den ich längst begraben glaubte und der durchaus behauptete, ich sei derselbe Nölte, der früher den schönen Laden in der Andreasstraße besaß ... Was wollen Sie machen – ich kann es nicht bestreiten.«

Timpe machte ein sehr verdutztes Gesicht, ging dann aber nach dem alten Schreibsekretär, wo die letzten Talerrollen seines Kapitals lagen. Wenn einer verdiente, geholfen zu werden, so war es der fleißige Klempnermeister, der sechs Kinder zu ernähren hatte.

Gleich am anderen Tage wartete Nölte abermals mit seiner Person auf; das Geld habe nicht gereicht, er müsse noch Kosten bezahlen. Der Klempner blickte den Meister so flehentlich an, daß dieser nicht widerstehen konnte. Er erfüllte auch die zweite Bitte.

Seit dieser Stunde pries Nölte den Retter in der Not in allen Tonarten. Und selbst für die Zweifler war es jetzt eine ausgemachte Sache, daß Timpes Vermögen seit der Verheiratung seines Sohnes bedeutend gestiegen sei. Er durfte sich somit nicht wundern, wenn Leute, denen er bisher diese Höflichkeit niemals zugetraut hatte, bei einer Begegnung auf der Straße den Hut sehr tief zogen und ihn so merkwürdig anblinzelten, als wollten Sie sagen: Wir kennen dich schon, du alter Schlaukopf! Uns das vierstöckige Haus und die Villa zu verheimlichen! Wenn du erst behaglich eingerichtet bist, dann wirst du dich unserer hoffentlich erinnern.

Dieses Selbstbelügen war der einzige Spaß, den Timpe sich noch erlaubte. Seine Verschlossenheit, der Menschenhaß, der in einsamen Stunden immer mehr zum Ausbruch kam, die ganzen Seelenleiden, die ihn gebeugt und alt gemacht hatten, erhielten ihr Gleichgewicht durch den Galgenhumor, der wie der Blitz am umwölkten Nachthimmel aufzuckte und wieder verschwand.

»Laßt sie nur von dem vermögenden Timpe träumen«, pflegte er zu sagen. »Wenn ich auch nichts davon habe, so sehe ich doch an ihren Gesichtern, wie sie sich ärgern.«

Als Thomas Beyer einmal derartige Worte hörte, glaubte er ebenfalls seine Meinung äußern zu müssen.

»Sehen Sie, Meister, das ist die große Lüge unserer Zeit: Nur der Schein blendet, der innere Wert spielt keine Rolle mehr. Verbreiten Sie heute das Gerücht, daß Sie völlig mittellos seien, gehen Sie morgen in Ihrem schlechtesten Rock über die Straße – Sie sollen dann einmal sehen, wie die Leute sich nicht erinnern werden, Sie jemals gekannt zu haben. Aus dem fleißigen Manne wird dann über Nacht der Mensch geworden sein, der sein Schicksal selbst verschuldet hat ... Nur die Armen werden gerecht urteilen, weil sie annehmen, daß Sie nun ebenfalls zu ihnen gehören ... Meister, unsere Partei ist die einzige, die sich der Unterdrückten und Hülfsbedürftigen annimmt.«

Und diesen Worten folgte dann die Propaganda, die um so nachdrücklicher von ihm betrieben wurde, je schlechter die Verhältnisse sich im Hause gestalteten. Immer mehr empfand Timpe den verführerischen Zauber, mit dem der Altgeselle ihn zu umstricken versuchte. Es war gerade, als wäre Thomas Beyer sein schlechteres Ich, das mit aller Gewalt das bessere zu töten versuche. Jede Gelegenheit nahm er wahr, um den Meister zu »bearbeiten«, wie er sich dem Sachsen gegenüber ausdrückte. Und wenn Johannes auch mit aller Energie die Versuchungen zurückwies, dem Gesellen ins Gesicht lachte und ihm sagte, daß er seine Bemühungen nur als komisch auffassen könne – Beyer schien das nicht im geringsten zu berühren. Sein Gesicht blieb ernst, und kein Wort deutete darauf hin, daß er seinem Brotgeber böse sei. Gleich einem Manne, der von seinem endlichen Siege überzeugt ist, begann er den erneuerten Kampf mit der alten Hartnäckigkeit und trieb seinen Gegner so in die Enge, daß Timpen schließlich keine andere Waffe übrigblieb als die Grobheit. Aber auch ihr gegenüber büßte der Altgeselle von seiner fast demütigen Ergebenheit nichts ein. Es war dann immer dasselbe, sein Gesicht verklärende Lächeln, das die Worte begleitete: »Meister, und wenn Sie mich beschimpfen, ich nehme Ihnen das nicht übel, denn auf die Unwissenheit muß man immer Rücksicht nehmen.«

Diese kecken Worte machten Timpe so stutzig, daß er vergeblich nach einer passenden Erwiderung suchte, aber stärker denn je seine Ohnmacht empfand. Mehr als einmal nahm er sich vor, Beyer zu entlassen, dann aber schämte er sich seiner Furcht und ließ es beim alten.

Eines Vormittags fand er auf dem Tische seiner Arbeitsstube einige Schriften liegen. Er wußte nicht, wie sie dorthin gekommen waren. Als er, neugierig gemacht, eine von ihnen aufschlug, fand er, daß er Broschüren sozialistischen Inhalts vor sich hatte. Sofort ahnte er, wer der Besitzer der Bücher sei. Sein Zorn kannte keine Grenzen. Voller Wut packte er die Schriften zusammen, schritt nach der Küche und steckte sie in den Ofen, so daß die Flamme hell aufloderte. Dann ging er wieder zurück, rief den Altgesellen zu sich herein, zog ihn nach dem Kochherd und sagte:

»Ich wollte Ihnen nur zeigen, wie gut man mit Ihren Hetzschriften Kaffee kochen kann. Sehr viel Stroh in dem Papier, das muß ich sagen! Es brennt ausgezeichnet! So etwas dürfen Sie mir nicht machen! Sie wollen wohl mich alten Mann noch mit der Polizei in Konflikt bringen, indem Sie verbotene Schriften in mein Haus schleppen? Sie waren es doch, gestehen Sie es nur ein!«

Frau Karoline war hinzugekommen und schlug entsetzt die Hände zusammen.

In des Altgesellen Gesicht regte sich keine Muskel; nur etwas wie Mitleid leuchtete aus seinen Augen, als er die fieberhafte Erregung Timpes gewahrte.

»Ja, ich war es«, sagte er dann ruhig. »Haben Sie die Bücher vorher gelesen?«

Der Meister lachte auf und erwiderte:

»Das fehlte noch! Ich will meine Seele nicht vergiften.«

Derselbe traurige Blick des Altgesellen traf ihn.

»Dann haben Sie die letzte Ihrer Hoffnungen vernichtet; Sie sind nicht mehr zu retten. Man soll erst prüfen, ehe man verdammt, erst lernen, ehe man lehren will ... Meister, ich muß Sie aufgeben. Leben Sie wohl, wir sehen uns nicht wieder ... Aber Sie werden einstmals anders denken, und dann erinnern Sie sich Thomas Beyers.«

Die Mittagsstunde hatte gerade geschlagen. Der Altgeselle drehte sich um, suchte die Werkstatt auf und verließ das Haus. Zwei Tage lang blieb er weg, ohne seinen rückständigen Lohn zu holen, dann fand ihn der Meister eines Morgens wie gewöhnlich an der Drehbank. Man tat so, als wäre nichts vorgefallen, wechselte aber nur die notwendigsten Worte, die sich auf die Arbeit bezogen.

Die Monate Juni und Juli erwiesen sich so schlecht in geschäftlicher Beziehung, daß Timpe sich mit dem Gedanken vertraut machte, auch den kleinen Sachsen zu entlassen. Es war weit gekommen. Trotzdem hoffte er von Tag zu Tag, daß irgendeine unvorhergesehene Katastrophe hereinbrechen und dadurch mit einem Schlage eine Besserung eintreten würde. Als dann für Spiller eines Sonnabends die Trennungsstunde schlug, hatten der Meister und sein Weib das Gefühl, als würde es für ihre Zukunft besser sein, wenn sie auch den Altgesellen entließen. Aber Thomas Beyer wich und wankte nicht. Es kam eine Woche, in der wirklich kein Stück Arbeit vorhanden war. Die Lehrlinge räumten gründlich auf und drechselten dann zu ihrem Vergnügen allerhand Dinge, die für ihre Fortbildung nützlich waren. Der Altgeselle nahm diesen Zustand mit völliger Gleichgültigkeit auf. Er schärfte seine Drehstähle, ersetzte die schadhaften Griffe und pfiff dabei nach wie vor leise seine Lieblingsmelodie: »So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage.« Als er mit seinem Werkzeug fertig war, nahm er sich auch dasjenige des Meisters vor und brachte es in Ordnung. Dann unterrichtete er die Lehrlinge und verfertigte schließlich einen kunstvollen Aschbecher, den er Krusemeyer zugedacht hatte.

Als der Sonnabend kam, verschwand er eine Stunde vor der Lohnzeit, traf dann aber am Montag wie gewöhnlich pünktlich ein. Und als immer noch keine Arbeit anlangte, begann er für sich eine lange Bernsteinspitze zu drehen, wozu er das Material schon längere Zeit besaß. Timpe hielt es nun für nötig, den Altgesellen folgendermaßen anzureden:

»Mein lieber Beyer, ich ehre Ihre Anhänglichkeit und ersehe aus ihr, daß Sie trotz Ihrer frevelhaften politischen Anschauung große und edle Eigenschaften besitzen, wie man sie selten findet. Aber ich muß Sie schon von Herzen bitten, sich von mir zu trennen, denn ich kann den Lohn für Sie nicht mehr erschwingen. Kommen bessere Zeiten, was ich zu Gott hoffe, so werde ich Ihrer zuerst gedenken ... Ich weiß wohl, weshalb Sie am Sonnabend ohne Löhnung fortgegangen sind, aber sosehr ich Ihr Zartgefühl auch anerkenne: ein jeder Mensch ist seines Lohnes wert und Sie nicht minder. Wenn keine Arbeit vorhanden war, so trifft die Schuld nicht Sie.«

Nach diesen Worten zählte er den rückständigen Lohn in harten Talern auf den Tisch und wandte dem Gesellen den Rücken.

Beyer hatte ruhig zugehört, ohne ein einziges Mal aufzublicken. Dann sagte er gleichgiltig: »Meister, stecken Sie das Geld nur wieder ein, ich nehme es nicht an ... Ich werde an diesem Prinzip so lange festhalten, bis ich meinen Lohn wieder verdiene. Ich lasse mir nichts schenken.«

»Ich aber auch nicht«, gab Timpe zurück. »Sie beleidigen mich, wenn Sie das Geld nicht nehmen.« Sein Antlitz war rot geworden, ein Sturm drohte heranzubrechen.

»Tut mir leid, Meister, aber es bleibt dabei.«

»Aber wovon wollen Sie denn leben?«

»Ich habe einige Ersparnisse, die werden reichen, und wenn es damit zu Ende ist, dann – – o bester Herr Timpe, meine Schwester und ich werden nicht zugrunde gehen, wenn's ans Hungern geht. Die Genossen werden für uns sammeln ... In unserer Partei kommt niemand um, solange der andere noch ein Stückchen Brot für ihn übrig hat ... Uns gilt noch das Wort etwas: Hilf deinem Nächsten ... Unter den Handwerksmeistern scheint das anders zu sein; denn ich habe bis jetzt noch nicht gesehen, daß einer Ihrer Kollegen gekommen wäre und hätte das erste Gebot des Christentums erfüllt ... Sie, Meister, machen eine Ausnahme ... Da hat mir gestern der Nölte drüben so eine Geschichte von Barmherzigkeit erzählt. O Herr Timpe, Sie sind zu schade für den Liberalismus.«

Bei diesen letzten Worten warf er von der Seite einen prüfenden Blick auf Timpe, um sich von der Wirkung seiner Worte zu überzeugen. Seit dem letzten Auftritt, den er seiner Propaganda wegen gehabt hatte, erlaubte er sich nur noch indirekte Anspielungen auf die politische Anschauung des Meisters zu machen.

Eine innere Bewegung hatte Timpe gepackt, der er aber in der nächsten Minute wieder Herr wurde. Er wollte sich nicht beschämen lassen. Das hätte noch gefehlt, daß sein eigener Geselle ihn die Armut fühlen ließe! So sagte er denn trocken:

»Trotz alledem bleibt mir nichts übrig, als Sie dringend zu bitten, meine Werkstatt zu verlassen.« »Ich bleibe.«

»Ich fordere Sie jetzt energisch auf.«

»Hilft alles nichts, Meister! Ich weiche nur der Gewalt. Schicken Sie zur Polizei. Dann werde ich allen Menschen erzählen, wie ein Meister seinen Gesellen, der zweiundzwanzig Jahre bei ihm gearbeitet hat, durch Schutzmänner auf die Straße werfen ließ. Ein Hoch werden dann die Leute auf Sie nicht ausbringen, verlassen Sie sich darauf.«

Die beiden Lehrlinge schnitten ungesehen lustige Grimassen, während Timpe die Zornader schwoll.

»Dann stehen Sie sich meinetwegen die Beine in den Hals hinein«, sagte er, wütend gemacht, und gab den Kampf auf.

»Ich kann mit meinen Beinen machen, was ich will, Meister«, erwiderte Beyer.

Nach diesen Worten fiel hinter dem Meister die Tür krachend zu, so daß die Wände erzitterten.

Als nach ungefähr einer Viertelstunde in der Werkstatt eine Rechnung präsentiert wurde, die durchaus bezahlt werden mußte, beglich sie der Altgeselle mit dem Gelde, das noch immer auf der Drehbank lag. Später erst erfuhr Timpe von diesem Geniestreich, der seiner Meinung nach an Boshaftigkeit nichts zu wünschen übriggelassen hatte.

Nach drei Wochen blieb der eine Lehrling weg. Er schlief in der letzten Zeit bei seinen Eltern, und da er bereits zweiundeinhalb Jahr lernte, so hielt er es für angezeigt, in eine Fabrik einzutreten, wo er bereits einen kleinen Gesellenlohn bekam. Der Vater gebrauchte nach einer Beschwerde die Ausrede, sein Sohn habe ihm berichtet, daß selten etwas zu tun sei, und da könne er wenig lernen. Johannes faßte die Sache trotz des Ärgers, den er empfand, nicht so tragisch auf. Er hatte einen Esser weniger, und das wollte bei der trüben Zeit schon etwas sagen.

Als außer einigen Kleinigkeiten immer noch keine nennenswerte Bestellung eintraf, konnte Timpe den Anblick der bewegungslosen Drehbänke nicht mehr ertragen. Er zog seinen Sonntagsstaat an, legte einige Muster zusammen und machte sich auf den Weg zu den ihm fremden Händlern und größeren Fabrikanten, um Arbeit zu verlangen. Man lobte seine Kunstfertigkeit, machte ihm das Kompliment, bereits von ihm gehört zu haben, und bat wie gewöhnlich um eine Kalkulation. War man einmal mit derselben einverstanden und nicht abgeneigt, ihm einen größeren Auftrag zu geben, so scheiterte die Ausführung derselben wieder an dem Umstände, daß er jetzt nicht einmal das notwendige Kapital besaß, um Rohmaterialien einzukaufen. Obendrein verlangte man einen Kredit von einem halben Jahre. Bei den Modeartikeln war das durchaus der Fall. Hin und wieder bekam er die Anfertigung irgendeines einzelnen Gegenstandes, der auf direkte Bestellung nach eingereichter Zeichnung ausgeführt werden sollte. Das war das Ganze. Zuallerletzt hielt ihn der Stolz davon ab, sich mit einem Artikel zu befassen, dessen Preis seiner einfach unwürdig erschien.

»Lieber tust du nichts und setzte das Letzte zu«, dachte er dann, wenn er den Ort verließ, wo man ihm soeben zugemutet hatte, schlechte Arbeit für ein Spottgeld zu liefern. Er dachte an seinen verstorbenen Vater, an David Timpe und an die gute alte Zeit, wo der Handwerker noch nicht nötig hatte, den Krämer zu spielen und von Tür zu Tür zu gehen, um zu feilschen und zu betteln.

Wenn er dann so mit seinem Paket unter dem Arm, den grauen Zylinderhut auf dem Kopf und mit einem etwas altfränkischen, braunen Gehrock angetan, durch die Straße irrte, kam er sich wie Ahasverus vor, der ewig wandern muß, ohne an sein Ziel zu gelangen. Das betäubende Getöse des Berliner Straßenlebens, das Branden und Wogen der Menge, in der er sich wie ein ausgedientes Wrack in einem unruhigen Meere ausnahm, machte ihn förmlich betrunken, so daß er mehr taumelte als ging. Die fortdauernde Nutzlosigkeit seiner Bemühungen wirkte schließlich so entmutigend auf ihn ein, daß er seiner Empfindung durch Selbstgespräche Ausdruck verlieh.

»Pack ein, Timpe, und lege dich sterben, du gehörst nicht mehr in diese Welt«, sagte er. Dann blieb er vor einem mächtigen Schaufenster stehen und betrachtete sich kopfschüttelnd in der großen Spiegelscheibe. Einmal begegnete ihm ein alter Herr, der sich wie ein Doppelgänger von ihm ausnahm. Er fand das so komisch, daß er lachte und der seltsamen Gestalt nachblickte.

»Du pack nur auch ein«, murmelte er vor sich hin. »Wie kann man in unserer aufgeklärten Zeit eine so lächerliche Figur spielen. So ein alter Knopp ... sieht aus, als wenn er bereits zwanzig Jahre im Grabe gelegen hätte und nun damit prahlen wollte, daß er sich gut erhalten hat.«

Als er sich aber selbst wieder im nächsten Schaufenster erblickte, sagte er wehmütig: »Johannes, es scheint, als wenn du dich über dich lustig machen wolltest. Alter Esel, du!«

Was ihm bei diesen Stadtreisen äußerst lächerlich vorkam, war die Doppelrolle, die er auf sich geladen hatte und notwendigerweise spielen mußte. Befand er sich wieder in seinem Viertel und begegnete ihm jemand, der ihn kannte, so wurde er wie ein Mann begrüßt und angeredet, der so glücklich gestellt ist, den ganzen Tag spazierengehen und schwere Einkäufe machen zu können.

»Danke, danke«, pflegte er dann auf eine Frage nach seinem Wohlbefinden zu erwidern. »Es geht ja so lala, ich kann gerade nicht klagen. Man lebt eben so lange, bis man stirbt, und dann läßt man das Beerben anderen ... Adieu, hat mich sehr gefreut. Ich muß eilen ... ich habe da meiner Alten eine Kleinigkeit mitgebracht ... ich war unter den Linden ... teure Gegend da ...«

Dieses »traurige Komödienspiel«, wie er es nannte, enthielt so viel Scherzhaftes für ihn, daß er sich immer neue Dinge ausdachte, wenn er einen dieser »liebenswürdigen Nächsten« herankommen sah. »Sachte nur, du sollst dran glauben«, sagte er für sich und richtete sich mit jedem Schritt stolzer empor, um dem »wohlhabenden« Meister Timpe die nötige Würde zu geben.

An einem Vormittag stieß er, um eine Ecke biegend, mit dem langen Herrn Brümmer so hart zusammen, daß der Rentier beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.

»Wie geht's, gut?« redete ihn der sonst schweigsame Hausbesitzer mit großer Zungenfertigkeit an. »Habe letzten Sonntag Ihre im Bau begriffene Villa in Friedrichshagen gesehen. Nicht schlechter Geschmack, das muß ich sagen ... Es freut mich, daß Sie sich so gut mit Ihrem Sohne stehen. Adieu, mein verehrtester Herr Timpe. Ich besuche Sie einmal, wenn Sie erst draußen sind ... Sehr schön da am See.«

Herr Brümmer lüftete außerordentlich höflich den Hut und lieferte dabei den Beweis, daß sein Rückgrat nicht so steif war, wie man allgemein behauptete.

Nach einigen Schritten rief er den Meister noch einmal zurück.

»Wissen Sie schon? Mein Haus wird nun doch von der Stadtbahn angekauft werden müssen. Ich habe einen Prozeß angestrengt. Man hat mir die ganze Aussicht genommen ... Das dulde ich nicht. O mich macht niemand dumm ...«

Nur ich, dachte Timpe. Also auch Brümmer hielt ihn noch immer für wohlhabend. Was die Villa anbetraf, so ließ sich allerdings Franz eine solche in Friedrichshagen bauen, und irgend jemand hatte die Mär ausgesprengt, daß dieselbe für Timpe senior bestimmt sei.

Die Tatsache riß die kaum vernarbte Wunde in des Meisters Brust wieder auf. Sein einziger Sohn ließ sich eine Sommerwohnung bauen, und er, der ergraute Vater, mußte von früh bis spät in den Straßen Berlins umherziehen, um für Brot zu sorgen. »Des Vaters Segen baut den Kindern Häuser«, sprach er halblaut vor sich hin und erinnerte sich der Minute, wo er seine Hände auf Emmas Haupt gelegt und über ihren Scheitel einen Segen für seinen Einzigen gesprochen hatte.

Als trotz aller Bemühungen Timpes keine Besserung in den traurigen Verhältnissen eintrat, vermochte Frau Karoline nicht länger zu schweigen.

»Es ist eine Schande und eine Sünde, daß wir dem Bettelstab entgegengehen müssen, während unser Sohn im Honig sitzt«, sagte sie eines Tages. »Ih, das müßte mit dem Wetter zugehen, wenn so ein Junge, den ich mit Schmerzen zur Welt gebracht habe, nicht wissen sollte, was seine Pflicht ist.«

Sie wollte zu Franz gehen, um ihm ohne Umschweife zu sagen, daß es im Elternhause »Matthäi am letzten« sei.

Sie hatte bereits den Hut aufgesetzt und das Tuch umgebunden, als sie zu ihrem Manne davon sprach. Er geriet in große Erregung und hielt sie an der Hand zurück.

»Mutter, das tust du nicht, oder es ist mein Tod ... Willst du bei deinem Kinde betteln gehen?«

»Es ist seine Pflicht und Schuldigkeit, uns zu helfen«, erwiderte die Meisterin.

»Und ich sage dir nochmals, es ist mein Tod ... Entscheide zwischen mir und ihm ... Willst du mir auf meine alten Tage die Schmach antun, daß ich vor meinem Sohne zu Kreuze kriechen soll? ... Eher will ich verhungern als das tun.«

Karoline legte stillschweigend ihre Garderobe wieder ab und wagte nicht mehr darauf zurückzukommen. Nicht um zehn Jahre ihres Lebens wollte sie noch einmal das Gesicht sehen, das ihr Mann bei seinen letzten Worten gemacht hatte.

An einem Sonntagvormittag, die Meisterin saß mit ihrem Gesangbuch am Fenster, fuhr ein Wagen vor, aus dem Frau Timpe junior stieg. Karoline lief dem Besuch entgegen und nötigte ihn dann voller Freude in die gute Stube hinein. Johannes hatte das Rollen und Halten des Wagens ebenfalls vernommen und trat zu den beiden ins Zimmer. Sein Antlitz zeigte dieselbe Ruhe wie bei dem ersten Besuche Emmas, nur befleißigte er sich einer größeren Höflichkeit als damals.

»Was gibt uns die Ehre, gnädige Frau?« fragte er, nicht ohne der Anrede einen Beigeschmack leisen Spottes zu geben.

Es bedurfte nicht langer Auseinandersetzung. Erst zögernd, dann aber direkt entlastete sie ihr Herz. Sie war gekommen, um ihre Hülfe anzubieten. Aus mancherlei Andeutungen ihres Stiefvaters hatte sie erfahren, wie es hier im Hause stand.

»So, so – das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Timpe und ging, die Hände auf dem Rücken, die Stube auf und ab. Dann blieb er stehen und fuhr fort:

»Wer sagt Ihnen denn aber, daß wir der Unterstützung bedürfen? Uns geht es ausgezeichnet. Wir haben einen großen Gewinn in der Lotterie gemacht. Daß meine Drehbänke stillstehen, hat seine Richtigkeit, aber das liegt nur an mir. Ich habe mich mein Leben lang genug gequält, ich will nun die Hände in den Schoß legen und als Rentier leben. Ja, ja, als Rentier! Es wird nicht lange dauern, und Sie werden hier an dieser Stelle ein vierstöckiges Haus errichtet sehen, und damit wir im Sommer die Maikäfer schwirren hören, werden wir uns irgendwo ein kleines Lustschloß bauen, wahrscheinlich in Friedrichshagen ... Daß Sie das noch nicht wissen, wundert mich, denn die ganze Nachbarschaft spricht bereits davon ... Ich muß also Ihr Anerbieten mit Dank ablehnen, und zwar ein für allemal.«

Frau Karoline starrte ihren Mann an, als zweifle sie an seinem Verstände. Er aber benutzte eine Gelegenheit, sie pfiffig anzulächeln und das eine Auge listig zuzukneifen, als wollte er sagen: »Ich mache meine Sache gut, nicht wahr, Alte?«

Dann sorgte er dafür, daß das Gespräch auf ganz allgemeine Dinge kam, und war dabei so lustigen Sinnes, als gäbe es keinen glücklicheren Menschen auf der Welt als ihn. Emma fand ihre Situation so unheimlich, daß sie sich bald empfahl. Timpe ließ es sich nicht nehmen, sie bis vor die Tür zu begleiten und ihr behilflich zu sein, in den Wagen zu steigen. Von der Treppe aus rief er ihr noch zu:

»Also es bleibt dabei: Wenn meine Villa fertig ist, dann kommen Sie mal zu einer Tasse Kaffee mit Kuchen. Das wird hübsch werden, nicht wahr? In ›Timpes-Ruh‹ soll es Ihnen gefallen, mein Wort darauf.«

Als der Wagen sich bereits in Bewegung gesetzt hatte, winkte er ihr freundlich mit der Hand zum Abschied zu. Baldrian, der Schornsteinfegermeister, ging gerade vorüber. Er hatte die letzten Worte Timpes gehört, grüßte und rief über den Zaun hinüber:

»Ihre Schwiegertochter, nicht wahr?«

Der Meister nickte. »Sie feiern nächste Woche eine italienische Nacht, und da hat sie uns persönlich eingeladen. Wir werden uns revanchieren, wenn unsere Villa erst fertig sein wird.«

»Ich habe davon gehört ... Wer es so haben kann! ... Ich habe Sie immer für einen Heimlichtuer gehalten.«

Der Meister lachte und erwiderte: »Dann kommt man aber auch zu etwas. Adieu, adieu ...«

Eines Tages hatte Timpe wirklich wieder etwas Arbeit bekommen. Es war ein bereits gänzlich heruntergekommener Artikel. Man lieferte ihm das Material dazu ins Haus. Da er Thomas Beyer durchaus nicht loswerden konnte und das Herumpfuschen desselben nicht mehr mit anzusehen vermochte, so ließ er die Arbeit von ihm und dem Lehrling verrichten. Er selbst fand nirgends Ruhe, lief aus einem Zimmer ins andere, rechnete dann wieder stundenlang, wieviel er wohl an der neuen Arbeit verdienen würde, und setzte dann plötzlich wieder den Hut auf, um mit seinem Musterpaket von dannen zu gehen.

Des Nachmittags bestieg er wieder die »Warte«, um den Bau der Stadtbahn zu verfolgen. An dieser Stelle legte man an dem Rohwerk gerade die letzte Hand an. Der alte Maurer, mit dem er sich so gern unterhielt, war immer noch auf seinem Posten. Dann hieß es hintereinander: »Na, Meister Klatt, wieder so fleißig?« ... »Na, Meister Timpe, schmeckt der Tabak?« ... »Schönes Wetter heute?« ... »Bis wie lange! Da hinten zieht's dick herauf. Es wird bald nasse Droppen geben.«

Und nach dieser Einleitungsrede, die sich fast immer in denselben Bahnen bewegte, kam das Gespräch dann auf die Vorgänge des Tages und nahm zeitweilig einen weltweisen Charakter an.

»Hören Sie mal, Meister Klatt«, begann der Drechsler einmal, »ich möchte wohl wissen, wieviel Steine Sie in Ihrem Leben schon gemauert haben.« »Hurrje«, machte der Mann im weißen Kittel, ließ sofort die Kelle fallen, reckte sich und brachte mit vieler Umständlichkeit die ausgegangene Pfeife in Brand, was sehr oft geschah, denn er rauchte einen Knaster, der wie ein Strohfeuer knisterte und einen Geruch wie auf einer Brandstätte verbreitete. »Hurrje, daran habe ich noch gar nicht gedacht, Meister«, fuhr er fort. »Wissen Sie, Sie sind der erste Mensch, der mich danach fragt... Aber rechne ich so alles in allem, dann wird wohl eine halbe Million und ein Dutzend mehr herauskommen. Gezählt habe ich sie wahrhaftig nicht, denn dazu sind die Maurermeister da, die können auch was tun.«

Und nach diesen Worten blickte er noch lange nach dem Himmel und schüttelte dabei mit dem Kopf, als begriffe er nicht, wie man eine derartige Frage stellen könne.

»So, so«, sagte Timpe. – »Woran denken Sie denn immer so dabei, Meister Klatt? Sie haben doch gewiß keine Sorgen. Ich sehe Sie immer bei guter Laune.«

Der Maurer brachte abermals ein Streichholz in Brand, zog bedächtig am Pfeifenrohr und erwiderte dann:

»Denken? ... Ja wissen Sie, das ist so 'ne Sache! Wenn ich den Kalk auftrage und den Stein setze, dann denke ich gewöhnlich nichts, greife ich aber zum Hammer, dann sage ich mir: Läge doch dein mißratener Ältester unter ihm, wie würdest du ihn bearbeiten, diesen Taugenichts! Damit Sie nur gleich alles wissen: Der Bengel ist nämlich ganz aus der Art geschlagen und sitzt im Zuchthaus. Ich weiß nicht, von wem er's hat. Von mir und seiner Mutter gewiß nicht.«

Timpe schwieg eine Weile. Er blickte aber nun mit einem ganz anderen Interesse den graubärtigen Gesellen an, der immer so fröhlich dreinblickte und gar lustig plaudern konnte.

»So, so ... ja, ja, es hat so jeder seine Sorgen«, sagte er dann mit veränderter Stimme.

»Aber man begießt sie einfach, dann weichen sie auf«, erwiderte Klatt, griff in seine Tasche, holte ein Fläschchen hervor und nahm einen herzhaften Schluck. »Hier, Meister Timpe, das ist der wahre Sorgenbrecher – kosten Sie einmal ... Na, Sie werden mir doch keinen Korb geben ...«

Das Anerbieten kam Johannes so plötzlich, der Maurer lachte ihn so lustig an, daß er mechanisch die Hand ausstreckte. Er warf einen Blick in die Runde, griff nach der Flasche, bückte sich und setzte sie an den Mund. Während er dann weiter plauderte, empfand er, wie es ihm heiß nach dem Kopfe stieg und eine Belebung durch seinen Körper ging, als wäre er um zehn Jahre jünger geworden. So kam es denn, daß er auch zum zweiten Male die Flasche nicht abschlug, als der Mann im weißen Kittel sie ihm mit den Worten hinreichte: »Na, Meister, noch einen zum Abgewöhnen!«

Als er dann wieder herabgestiegen und zu Frau Karoline in die Stube getreten war, erlaubte er sich mit der getreuen Ehehälfte allerlei Scherze, so daß sie sich aufrichtig freute, ihn seit langer Zeit wieder einmal frohen Mutes zu sehen. Als er sie aber wie ein verliebter Bräutigam umfing und küssen wollte, wich sie plötzlich zurück und starrte ihn an, als hätte sie plötzlich etwas Abschreckendes an ihm bemerkt.

»Vater, du riechst nach Schnaps – mein Gott, du trinkst! Auch das noch!« rief sie aus.

Diese Entdeckung wirkte wie erschlaffend auf sie. Unwillkürlich faltete sie die Hände und betrachtete ihn mit einem Blick unsäglichen Mitleids – ihn, der, durch diese fürchterliche Anklage halb ernüchtert, sich weggewandt und dem Fenster zugekehrt hatte. Minutenlang stand er schweigend voller Beschämung auf demselben Fleck, dann preßte er, dem Weinen nahe, die Worte hervor:

»Mutter ... der Kummer ... die vielen Sorgen ...« Er öffnete die Tür und verschwand, ohne sein Weib noch einmal anzublicken.

Karoline saß lange Zeit still am Fenster und blickte mit gefalteten Händen hinaus auf die Straße, wo die Dämmerung allmählich Menschen und Häusern die scharfen Linien nahm. War es das Zwielicht, das ihre Augen trübte, war es der Schmerz der Gattin und Mutter, der seine heiße Flut nach oben drängte? – Große Tränen rollten langsam über ihre Wangen und benetzten die dürren Finger ...


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