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XII.
Ein entarteter Sohn

Um dieselbe Zeit saß Franz an seinem Pult und zeigte ein sehr mißvergnügtes Gesicht. Die Ursache dieser Stimmung war das lange Hinausschieben seiner Hochzeit. Nichts lag gegen ihn vor; Emmas Liebe zu ihm war noch die alte, Frau Urban kam ihm mit derselben Freundlichkeit entgegen, und der Vertrauensposten, den er als Geschäftsführer innehatte, zeugte am besten für die Wertschätzung seiner Person. Endlich, nach mancherlei Andeutungen, die er sich infolge der Verzögerung erlaubt hatte, war er zu der Überzeugung gekommen, daß die Hauptschuld lediglich an seinem Chef liege. Urban hatte in der Tat darauf hingewirkt, daß man es ihm ganz überlasse, den Tag des Ehebündnisses festzustellen. Er hatte seinen ganz besonderen Grund dafür. Erstens wollte er sich für die unveränderte Feindschaft, die Emma ihm immer noch entgegenbrachte, rächen, und zweitens hatte seiner Meinung nach Franz noch nicht die genügende Prüfung abgelegt, die ihn völlig würdig machte, zu der Familie Urban-Kirchberg in verwandtschaftliche Beziehungen zu treten. Und doch hatte Timpe junior bereits bewiesen, daß er vor nichts zurückschrecke, um sich angenehm zu machen und erneuerte Dankbarkeit entgegenzubringen.

Gewiß, wenn Urban aufrichtig sein wollte, so mußte er das anerkennen. Er hatte ihm alle Kunden seines Vaters namhaft gemacht, ihre Eigentümlichkeiten geschildert, manches Geheimnis der Fabrikationsweise des Meisters verraten, gelogen und geheuchelt, sein Gewissen geopfert, mit rührender Miene, tränenden Augen von dem Abstand zwischen sich und seinen Eltern gesprochen, mehr als einmal das Mitleid erweckt, nur um an das große Ziel zu gelangen, das ihm die Verwirklichung seiner berückenden Träume bringen würde.

Das aber gerade war es, was Urban mißtrauisch gemacht hatte. Er erblickte in Franzens Charaktereigenschaften so viele Berührungspunkte mit den seinigen, daß es ihm leichter als seiner Frau und Emma wurde, den wirklichen Wert seines Prokuristen zu taxieren. Was er an ihm allein zu würdigen wußte, waren die großen Fähigkeiten; und wodurch er sich immer aufs neue bestechen ließ, waren die einnehmende Erscheinung und die große Liebenswürdigkeit Franzens.

»He«, sagte er mehr als einmal zu sich, »der hält mich für dumm, aber er irrt sich ... Ein Teufelskerl! Hat sich bei allen ›liebes Kind‹ gemacht, und man weiß eigentlich nicht, wie das gekommen ist. Solche Leute aber passen in die Welt – die bringen es zu etwas.« Ärgerte er sich dann über die »klassische Unverschämtheit«, mit der Franz sich in seiner Familie »eingenistet« hatte, so sehr, daß er daran dachte, die Verlobung aufzuheben und Timpe junior die Tür zu weisen, so verlor er wieder den Mut dazu, wenn der Prokurist vor ihm stand und ihn mit einem bezaubernden Lächeln fragte: »Wünschen Sie was, Herr Urban? Womit kann ich dienen? Soll ich Ihnen eine Arbeit abnehmen? Darf ich um die Auszeichnung bitten, mir das gestatten zu wollen?«

Urban war es dann jedesmal, als spräche aus diesen gesucht höflichen Worten etwas wie Spott. Und wenn er mit schief geneigtem Kopf zu dem großgewachsenen Nachbarssohn emporblickte, so bebte er stets in der Einbildung, als mache sein vertrautester Untergebener sich über die »Lange Nase« ebenso lustig wie sämtliche Arbeiter in der Fabrik. Er war dann entwaffnet, versuchte das Lächeln seines Prokuristen nachzuahmen, was ihm aber um deswegen schlecht gelang, weil er mit seinen defekten Zähnen keinen Staat machen konnte, drehte sich kurz um und suchte das Kontor auf, um seinen Zorn über das erlittene Fiasko an einem der Kommis auszulassen.

Einmal gerieten beide doch sehr ernst zusammen. Seitdem Franz verlobt war, hatte er sich gewisse Gewohnheiten angeeignet, die insofern denen Ferdinand Friedrich Urbans ähnelten, als aus ihnen ersichtlich das Bestreben hervorging, zu herrschen und zu befehlen: oder doch zum mindesten Anordnungen zu treffen, wie sie aus den Rechten einer Autorität herzuleiten sind. Mit der Zeit hatten die Arbeiter in der Fabrik sich daran gewöhnt, ihn ebenso zu respektieren wie Urban; ja, es kam oft vor, daß man den kleinen Fabrikbesitzer ganz übersah und nur auf den großen Prokuristen hörte, der unter Umständen sehr herablassend sein konnte und in seinen Manieren dem gebildeten Mann zeigte, den man bei Urban stets vermißte. Der letztere beobachtete diese Hintenansetzung seiner Person mit stillem Ingrimm. Als aber einer seiner Befehle nicht befolgt worden war und man sich deswegen auf Franz berief, bot sich ihm endlich die Gelegenheit dar, den gereizten Löwen hervorzukehren. Es gab unter vier Augen einen argen Auftritt. »Sie tun ja gerade, als wenn Sie hier der Chef wären und ich Ihr junger Mann!« schrie er in voller Entrüstung, worauf dann sofort die höflichste aller Antworten kam:

»Es würde mir zur größten Ehre gereichen, Ihr Chef zu sein, Herr Urban, denn derartige vortreffliche Menschen findet man selten«, sagte Timpe junior.

Diesmal aber ließ der kleine Mann sich nicht ködern, trotzdem ihn die Erwiderung wie gewöhnlich verblüfft hatte.

»Wenn das noch einmal vorkommt, dann sind wir geschiedene Leute, verstehen Sie?«

Franz klappte sein Buch zu und sagte gleichgültig: »Da das noch sehr oft vorkommen wird, Herr Urban, so werde ich sogleich gehen. Ich werde meinem Vater zu Füßen fallen und ihn um Verzeihung bitten. Sie wissen, daß Emma großjährig und ihr Vermögen sichergestellt ist. Mein Vater und ich werden dann ebenfalls eine Fabrik bauen, und damit Sie sich meiner stets erinnern, werden wir das in Ihrer unmittelbaren Nähe, auf der anderen Seite der Straße, tun ... Adieu!«

Er nahm kaltblütig seinen Hut und wollte verschwinden. Nach zehn Minuten aber konnte man ihn nach wie vor auf dem alten Platz finden; denn Urban, vor Entsetzen bleich, hatte ihn in sein Kabinett gebeten, um »vorher noch ein paar Worte« mit ihm zu wechseln. Man sprach sich sehr vernünftig aus. Franz spielte auch hier den höflichen Mann weiter, der alles nur aus Interesse für seinen Prinzipal tue. Urban bot ihm eine Zigarre an, die er selbst nur in Ausnahmefällen zu rauchen pflegte, reichte ihm selbst, auf den Zehen stehend, das Feuer zu, was sich sehr komisch ausnahm, drückte ihm warm die Hand und glaubte der Versicherung seiner Hochachtung nicht besser Ausdruck geben zu können, als daß er ihn mehrmals hintereinander mit »mein junger Freund« anredete. So erneuerte man denn das Bündnis und trennte sich als die alten Ehrenmänner.

Die Züge Urbans veränderten sich erst, nachdem die Tür sich geschlossen hatte. Aus dem liebenswürdigen Chef entpuppte sich der gefesselte Zwerg, der seine Ohnmacht fühlt und die berechtigte Wut nicht hervorkehren darf. Oh, das hätte ihm noch gefehlt, daß dieser große Schlingel sich jetzt aus dem Staube machte, nachdem er ihn in seine Geschäftskniffe eingeweiht hatte; und nur zu dem Zwecke, um den halbtoten Gegner jenseits der Mauer wieder lebendig zu machen. Wenn dann Vater und Sohn ans Aussprechen kämen, würden schöne Sachen zum Vorschein kommen, deren Folgen er allein zu tragen hätte. Und überdies das schöne Geld seiner Stieftochter, das er durch die dereinstige Kompagnieschaft ihres zukünftigen Mannes für sein Geschäft zu kapern gedachte. Er hätte im Bewußtsein dieses doppelten Verlustes keine Nacht ruhig schlafen können und sich das Leben bis an sein Ende verbittert.

Franz zeigte heute große Unlust zum Arbeiten; er kam aus dem Gähnen nicht heraus. Seine ganze Beschäftigung bestand darin, nach der Straße hinunterzublicken, seine Nägel zu putzen und an den Spitzen seines Schnurrbartes zu drehen, der jetzt in üppiger Fülle sein Gesicht zierte. Überhaupt sah er sehr blaß und abgespannt aus. Die Augen erschienen trübe, als hätte er die Nacht wenig geschlafen.

Im großen Kontor machte man durchaus kein Geheimnis daraus, daß er ein sehr lockeres Leben führe und Passionen nachgehe, die ihm viel Geld kosteten. Da man ihn aber fürchtete und seine Noblesse bei gewissen Gelegenheiten bekannt war, so raunte man sich die üblen Dinge, die man über ihn erfuhr, nur leise zu. So kam es, daß weder Urban noch dessen Frau irgend etwas von seinem bedenklichen Lebenswandel erfuhren und um so weniger Verdacht schöpften, als er sich tatsächlich niemals eine Unpünktlichkeit oder Vernachlässigung seiner geschäftlichen Pflichten zuschulden kommen ließ.

Wenn Franz des Abends von seiner Braut Abschied genommen hatte, so suchte er die Bierkneipen auf oder die zahlreichen Vergnügungslokale Berlins, in denen der jungen Männerwelt Zerstreuungen jeder Art geboten werden. Ja, eines Abends nahe an Mitternacht wollte man ihn in Gesellschaft von Fräulein Irma, einer bei den Studenten des Viertels sehr beliebten Biermamsell, im Café Bauer erblickt haben. Als das einer der Kommis im Kontor erzählte, meldeten sich sofort einige Kollegen, die schon längst von dieser Liebschaft Kenntnis haben wollten. Man fand das aber für einen noch unverheirateten jungen Mann in Berlin so selbstverständlich, daß man sich nur witzige Bemerkungen über diese neueste Entdeckung erlaubte und im übrigen den Glücklichen um sein ungebundenes Leben beneidete.

Durch diese Abwege geriet Franz in Schulden, die er ohne Bedenken bei einem Wucherer entrierte und die sich immer mehr anhäuften. Wußte man doch, daß er mit einem vermögenden Mädchen aus guter Familie verlobt war und daß er eines Tages die akzeptierten Wechsel prompt werde einlösen können. Was ihn selbst anbetraf, so machte er sich über diesen Punkt durchaus keine Vorwürfe. Der Tag der Hochzeit stand vor der Tür, die Schuld würde dann rechtzeitig getilgt werden. Der hohen Zinsen wegen, die er zahlen mußte, wünschte er aber die Eheschließung sobald als möglich herbei.

Er hatte soeben zum vierten Male einen kleinen Taschenspiegel hervorgeholt und sich in ihm von allen Seiten betrachtet, als der Kontorbote eintrat und ihm die Mitteilung überbrachte, daß der »Herr Chef« ihn zu sprechen wünsche.

»Mein lieber Timpe«, redete ihn Urban an, als er dessen Arbeitszimmer, das an der anderen Seite des großen Kontors lag, betreten hatte, »nehmen Sie gefälligst Platz. Ich kann Ihnen die angenehme Mitteilung machen, daß meine Frau und ich beschlossen haben, den Hochzeitstag endgültig auf den fünften Januar festzusetzen. Freuen Sie sich, he? Die Geschichte macht sich, was?«

Er legte seinem Prokuristen die Hand auf die Schulter und blickte ihn über die Brille hinweg pfiffig an. Franz freute sich in der Tat; aber er war so überrascht, daß er zum ersten Male seit langer Zeit die halb ironischen Höflichkeitsphrasen anzuwenden vergaß und ganz verlegen seinen Dank hervorbrachte.

Und Urban, dem diese Verlegenheit ersichtliches Amüsement bereitete, fuhr fort:

»Wir werden keine große Hochzeit machen, sondern ein einfaches Diner veranstalten. Wir haben dabei in erster Linie auf Sie Rücksicht genommen, um Ihnen manche Unannehmlichkeit in betreff Ihrer Eltern zu ersparen ... Ich liebe überhaupt diese großen Tafeleien nicht, wo Hinz und Kunz sich auf Generalunkosten satt essen. Wir werden ganz unter alten Bekannten sein, von denen sich nun einmal Frau Urban nicht zu trennen vermag. Ich habe diese Leute sozusagen mitgeheiratet und muß hin und wieder ihre Gegenwart über mich ergehen lassen. Sie werden die Häberleins, die Rosés und die Ramms vorfinden – Leute, die längst in Ihre Verhältnisse eingeweiht sind ... Eine Hochzeitsreise steht Ihnen natürlich frei, aber ich würde Ihnen raten, dieselbe lieber im Sommer zu machen. Sie frieren dann weniger. – Sie gehen dann meinetwegen nach der Schweiz oder Südtirol.«

Er schwieg eine Weile, klopfte dann dem glücklichen Timpe junior abermals, und zwar etwas kräftiger als vordem, auf die Schulter und sagte wieder:

»Und das Schönste ist, Sie werden mein Kompagnon werden. Es ist besser so, das Geld bleibt in der Familie ... Selbstverständlich, wenn Sie wollen. Die Geschichte macht sich, he?«

Franz begnügte sich minutenlang mit einer stillen Verwunderung. Das plötzliche, greifbare Glück hatte ihn stumm gemacht. Da lag die goldene Perspektive vor ihm, mit all ihrem märchenhaften Zauber, in dem er bereits als Jüngling in Gedanken geschwelgt hatte. Oh, was hatte das Schicksal beschlossen, aus ihm zu machen! Er, der in der alten Ruine da drüben geboren worden war, sollte der Kompagnon von Ferdinand Friedrich Urban werden? Und ganz von diesem Taumel ergriffen, vergaß er die reservierte Haltung, die er in der letzten Zeit Urban gegenüber angenommen hatte, ergriff voller Unterwürfigkeit dessen Hand und preßte einen Kuß darauf.

»Sie werden mir ein zweiter Vater sein, Herr Urban, nicht wahr?« sagte er mit bittendem Augenaufschlag. »O wenn Sie wüßten, wie ganz anders es ist, in einem Vater den gebildeten Mann zu sehen! Vielleicht verdammt man mich, daß ich mich fast ganz von meinen Eltern losgesagt habe, aber können die Kinder dafür, wenn die Verhältnisse, unter denen sie geboren wurden, nicht gleichen Schritt mit ihrer Erziehung und ihrer Bildung gehalten haben? ... O Herr Urban, wenn Sie in mein Herz blicken könnten ...«

Der kleine Chef fand diese Szene so rührend, daß er das Gesicht abwandte, das rotseidene Taschentuch hervorzog und dasselbe dem Auge zuführte. Als er sich wieder umdrehte, sagte er voller Teilnahme:

»Herr Timpe, Sie sind ein Ehrenmann – seien Sie versichert, es gibt in der ganzen Welt keinen Menschen, der mehr mit Ihnen fühlte als ich. Nicht Sie sind zu verurteilen, sondern Ihr Vater, der hartnäckig alte Prinzipien vertritt. Das kommt davon, wenn man solche Jammersteine, wie die da drüben, mehr liebt als Ruhe und Frieden. Wie glücklich könnten wir alle miteinander leben, mein lieber Timpe ... O man sollte es nicht glauben, aber es ist so: Die Welt steckt voller Bösewichte.«

Nach zehn Minuten hatten beide sich über diese Angelegenheit beruhigt und besprachen dann rein geschäftliche Dinge. Wenn Urban jemandem eine Freude bereitete, so verlangte er regelmäßig einen Gegendienst dafür; denn eine der vielen Devisen, die seinen praktischen Standpunkt beweisen sollten, lautete: Eine Hand wäscht die andere.

Es handelte sich abermals um einige komplizierte Modelle Meister Timpes, die er sehr zu besitzen wünschte. Natürlich nur, um sich auf eine halbe Stunde »an ihrem Anblick« zu erfreuen, wie er beruhigend hinzufügte. Und um nun Franzen gleich die richtige Rolle zu erteilen, die er diesmal bei der Ausbeutung fremden Eigentums zu spielen haben werde, redete er ihn mehrmals mit »lieber Kompagnon in spe« an. So hieß es denn hintereinander: »... Sie werden davon überzeugt sein, daß es in unserem beiderseitigen Interesse liegen muß, die Modelle einmal in die Hände zu bekommen, um zu sehen, wie die Zusammensetzung ist ... Aber mein »lieber Sozius« – ich will nicht in Sie dringen, wennschon »unsere« Firma einen bedeutenden Vorteil davon hätte und ich der festen Meinung lebe, daß es auf die Dauer gut sein wird, wenn »wir Chefs« zusammenhalten ... Ich stelle mir die Sache nicht so schlimm vor. Sie besuchen Ihre Eltern unter irgendeinem Vorwand und – –und – – Oder tun Sie es lieber nicht! Nein, nein, der liebe Gott bewahre mich vor einer Sünde!«

Gerade die letzten Worte hatten genügt, um Franzens Entschluß zu befestigen. O was für Rücksichten hat man nicht als Geschäftsmann auf seinen Kompagnon zu nehmen! War man nicht moralisch verpflichtet, dessen Interessen zu den eigenen zu machen?

Drei Tage lang dachte er darüber nach, wie er es anstellen sollte, den abermaligen Wunsch Urbans zu erfüllen. Hundertmal nahm er sich vor, dem Hause seiner Eltern frank und frei einen Besuch zu machen, aber die Scham hielt ihn davon ab; noch mehr die Furcht vor seinem Vater, die gerade jetzt entsetzlich auf ihn eindrang. Wenn der Alte ihm die Tür wiese, ihn wie einen Schuljungen behandelte, angesichts der Gesellen ...? Nein, nein! ... Sagte ihm sein Gewissen auch, daß er eine derartige Behandlung verdient habe, so wollte er sich ihr doch nicht zur Freude anderer aussetzen. Und doch, sollte er jetzt davor zurückschrecken, sich Urban erkenntlich zu zeigen, jetzt, wo die Göttin des Glücks ihr Füllhorn vor ihm ausgestreut hatte, um ihn doppelt zu belohnen? ... Ein wahnwitziger Gedanke schreckte ihn aus seinem Sinnen. Besaß er nicht einen Schlüssel zu seines Vaters Haus, den er sich in der letzten Zeit seines dortigen Aufenthaltes hatte anfertigen lassen? Wie – wenn er mitten in der Nacht ... seine Eltern hatten einen festen Schlaf ... die Tür zur Werkstatt war niemals verschlossen ... die Lehrlinge schliefen oben in der Bodenkammer...

Noch schlug sein Gewissen laut genug, um ihm bei diesen Gedankensprüngen den Schweiß auf die Stirn zu treiben. Aber sooft er sich mit Gewalt von ihnen wandte – sie kehrten zurück und peinigten ihn so lange, bis er sich an den Schmerz gewöhnte, gleichgültig und abgestumpft gegen ihn wurde ...

Zwei Tage später, nahe um Mitternacht, schritten Krusemeyer und Liebegott langsam die schmale Straße entlang, in der Timpe wohnte. Es war Mitte November, der Himmel sternenklar, aber der Wind, der die dünne Schneeschicht wie einen durchsichtigweißen Schleier in die Höhe trieb und gegen die Häuser fegte, von schneidender Kälte. Soweit das Auge reichte, zeigte sich kein menschliches Wesen, außer den beiden unzertrennlichen Beschützern der Bürgerruhe. Liebegott hatte die Hände in die weiten Ärmel seines Mantels gesteckt und Krusemeyer den breiten Kragen des Rockes über die Ohren geschlagen. So trotteten die beiden gemächlich in größter Seelenruhe ihres Weges dahin.

»Ich möchte wissen, wo heute der Wind herkommt. Das ist, als wenn einem das Messer an die Kehle gesetzt wird«, sagte der Schutzmann, worauf der Wächter erwiderte:

»Aus 'nem Bäckerladen kommt er nicht; verlaß dich drauf.«

Nach diesem höchst lehrreichen Gespräche entstand abermals eine längere Pause, denn der Schnee hatte sich in die Bärte gesetzt und die Kälte aus ihnen kleine Eiszapfen gebildet, die das Sprechen nicht gerade zur angenehmen Beschäftigung machten. Selbst die Philosophie war heute eingefroren. Sie taute auch nicht auf, als die beiden Kumpane an einem einsamen Tore haltmachten, Krusemeyer das Fläschchen mit den Erholungstropfen aus der Tasche zog und jeder ein herzhaftes Schlückchen zu sich nahm. Die einzige diesbezügliche Bemerkung Liebegotts war die, daß der Winter immer schöner wäre, wenn er aus den Sommermonaten bestände.

Sie kamen bei des Drechslers Haus vorüber und bemerkten hinter dem Laden des letzten Fensters noch Licht.

»Timpe noch auf, das wundert mich«, sagte Liebegott.

»Der arme Meister! Er wird sich noch an seiner Drehbank quälen«, fiel Krusemeyer ein. »Wer hätte früher gedacht, daß es mit dem Alten in seinen späten Tagen noch bergab gehen würde! Aber der Urban macht ihn ›alle‹, so wenigstens sagte mir Beyer. Und bei alledem komme ich am schlechtesten weg; denn Thomas ist versessen darauf, bei dem Alten auszuharren, und wenn er ein Hundegeld verdienen sollte. Wie kann mein Mädel da aus dem Hause kommen? Sie wird alt sein, wenn er sie heiraten kann, und da wird sie ihm nicht mehr gefallen ... Wäre ich an seiner Stelle, na –« Er brach plötzlich ab, blieb stehen und spitzte die Ohren.

»Hörst du nichts, Liebegott?« fragte er leise. »Ich glaube, man schrie um Hülfe – da drinnen bei Timpes. Sollte das am Ende ein Dieb sein, sollte wirklich mein Tag gekommen sein? ...«

»Beruhige dich, du wirst es nicht erreichen, verlaß dich darauf ... Das sind die Gespenster deiner Phantasie«, sagte Liebegott und setzte wieder den einen Fuß vor den anderen. Aber der Wächter hielt ihn zurück, denn in demselben Augenblick ertönte ein lauter Schrei im Hause, dem die Rufe folgten: »Hilfe, Diebe!«

Mit wenigen Sätzen war Krusemeyer am Eingange. Aber bevor er die Klinke ergreifen konnte, wurde die Tür von innen geöffnet, und eine dunkle Gestalt stürzte bei ihm vorüber und die Straße hinunter. Es war Franz, der, die Modelle in der Tasche, keine Ahnung davon hatte, daß der Großvater in der guten Stube schlief, von der aus eine Tür zum Arbeitszimmer des Vaters führte. Ein Blick des Wächters hatte genügt, um in dem Fliehenden den Sohn Meister Timpes zu erkennen. Er wollte ihn festhalten, ihm nacheilen, aber wie vom Schrecken gelähmt, stand er rat- und bewegungslos da. Das einzige, was er zu tun vermochte, war, daß er in seiner Herzensangst zu Liebegott sagte:

»Wirklich ein Dieb, lauf ihm nach, halt ihn fest!«

Und des Schutzmanns ungeschlachter Körper bewegte sich in möglichster Schnelligkeit nach der Richtung zu, die Franz genommen hatte. Jedoch konnte man mit ziemlicher Bestimmtheit bereits vorhersagen, daß Liebegotts Verfolgung trotz besten Willen nicht von Erfolg gekrönt sein werde. In einiger Entfernung ertönte noch die Notpfeife des Schutzmanns; dann war auch die letzte Spur von ihm verschwunden. Im Hause schallten die Hülferufe Gottfried Timpes, wenn auch schwächer, noch fort. Dazwischen wurde die Stimme des Meisters vernehmbar; und dann auch die Jammerlaute Frau Karolinens, die jäh aus dem Schlafe erschreckt worden war und nicht wußte, worum es sich handelte. Als der Wächter laut an die Tür der Wohnstube klopfte, öffnete ihm Johannes, der nur notdürftig bekleidet war.

»Haben Sie ihn? Wer war es?« fragte er mit einer Stimme, bei der der Wächter erbebte. Krusemeyer schüttelte mit dem Kopfe. Ein paar Augenblicke überlegte er. Sollte er diesen Vater töten, wenn er ihm den Namen seines Sohnes nannte – ihn, der besten einen, dem die Ehrlichkeit das Haar gebleicht hatte? Eine Minute lang kämpfte es in seiner Brust, dann hatte das Mitleid gesiegt. »Liebegott ist ihm nach; es war ein ›zerlumpter Kerl‹«, sagte er dann und atmete tief auf, als er die Worte hervorgestammelt hatte.

Er möge schnell zum Arzt laufen, bat ihn der Meister. Der Großvater sei aus dem Bette gesprungen und liege drinnen auf der Diele. Krusemeyer entfernte sich eiligst.

Als der Meister zurück ins Zimmer kam, erblickte er Frau Karoline, damit beschäftigt, ihre ganze Kraft anzuwenden, um die magere Gestalt des Großvaters emporzurichten. Er lag vor der halbgeöffneten Tür, die zur Modellstube führte. Seitdem der erste Diebstahl im Hause bekannt geworden war, hatte er keine Nacht ruhig schlafen können. Überall witterte er Diebe, und das leiseste Geräusch genügte schon, um ihn aus dem Schlafe zu schrecken und laut nach Johannes oder Karolinen rufen zu lassen. So war es auch in dieser Nacht. Als im Nebenzimmer die Holzmodelle, die an der andern Seite der Wand hingen, wo sein Bett stand, gegeneinander klapperten, war sofort die alte Furcht über ihn gekommen. Er hatte sich aufgerichtet und gelauscht, dann mit der Kraft der Verzweiflung sich aus dem Bett erhoben und auf allen vieren bis zur Tür geschleppt, als diese plötzlich geöffnet wurde und Lichtschimmer ihn blendete. Nun rief er um Hülfe. Seine Hände hatten die Knie Franzens umspannt und dann dessen Hand ergriffen und sie befühlt. Die Entdeckung, die sein Tastsinn gemacht hatte, war für ihn eine grauenhafte. Noch einige Male stieß er seine Rufe hervor, dann versagte ihm die Sprache.

Er bot einen jammervollen Anblick dar. Der Meister und sein Weib wollten ihn in sein Bett tragen, er aber wehrte ab, und so setzte man ihn auf einen Lehnstuhl und umhüllte ihn mit Decken. Johannes kniete vor ihm und hielt die eine welke Hand, während Karoline die andere erfaßt hatte. So saß er fünf Minuten lang da, ohne zu sprechen, aber kurz und schnell nach Atem ringend.

»Mein Vater«, sagte der Meister ein über das andere Mal, während Karolinens Hand sanft über den kalten Schädel glitt.

Gottfried Timpe versuchte sich emporzurichten, der Mund öffnete sich halb, und seine erloschenen Augen richteten sich starr auf einen Punkt. Er wollte sprechen. Johannes verstand ihn. Er beugte sich tief zu ihm hernieder. Mit Anstrengung deutete der Greis nach der Tür der Modellstube.

»Dein Sohn – ein Dieb – die Zuchtrute – – « flüsterte er in abgebrochenen Lauten, aber deutlich vernehmbar für Johannes.

Dann fiel er wieder zurück; der Kopf neigte sich weit auf die Brust, und die Arme hingen schlaff herunter. »Gott, er stirbt!« schrie der Meister laut auf; und diesem Schrei folgten die Verzweiflungsworte: »Vater, Vater, was ist dir?«

Beide warfen sich gleichzeitig über den Körper, fühlten den Puls, drehten den Kopf nach allen Seiten, tasteten auf dem mageren Körper nach dem Herzen –es war zu spät: Gottfried Timpe war erlöst von seinem Leben in ewiger Nacht, Schrecken und Entsetzen hatten ihn getötet.

Sie richteten das Haupt hintenüber und blickten ihm mit verschlungenen Armen lange ins bleiche Antlitz, dann löste sich der grenzenlose Schmerz Johannes' in heiße Tränen auf, die durch keinen Laut entheiligt wurden. Die treue Ehehälfte setzte sich still beiseite und schluchzte leise hinter ihren Händen.

Dann kam Krusemeyer mit dem Arzt, der nun seines letzten Amtes noch zu walten hatte. Und hinter den beiden zeigte sich auch das behelmte Haupt Liebegotts, der unverrichteter Sache nach dem Orte der Tat zurückgekehrt war. Und als er nach einer Viertelstunde draußen auf der Straße Krusemeyer fragte, ob er sich die Gesichtszüge des Diebes eingeprägt habe, erwiderte dieser kurz und bündig:

»Und wenn du mich totschlägst, Liebegott, ich kann es dir nicht sagen. Es gibt Augenblicke, wo der Mensch blind ist und nichts sieht. Und doch wünschte ich, der Schuft hinge am Galgen, denn er hat nicht nur gestohlen, sondern auch gemordet ...«


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