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XVIII.
Der Meister predigt Aufruhr

In Schellers Salon war die Versammlung noch nicht eröffnet. Der Saal war völlig besetzt, denn zu der Zahl der Strikenden hatten sich Hunderte von Berufsgenossen gesellt. Obendrein war heute Wahltag. Man hatte früher Feierabend gemacht und befand sich bereits seit Stunden in aufgeregter Stimmung. Auf der kleinen Bühne im Hintergrund hatte der Vorstand sich niedergelassen. Rechts, abgesondert von ihm, saß der überwachende Polizeilieutenant und hinter diesem Alexander Liebegott. Er hatte die Hände über den dicken Bauch gefaltet, drehte aus Langerweile die Daumen und trug eine höchst würdevolle Miene zur Schau, über die Krusemeyer sich sehr gewundert haben würde. Nur die Enden des gewaltigen Schnurrbartes hingen gleich durchnäßten Trauerfloren hernieder.

Die Gläser klapperten, dichter Zigarrendampf stieg zur Decke empor, und hundertfältiges Stimmengewirr durchschwirrte den Saal. Die Tür öffnete sich von Minute zu Minute. Die neu Ankommenden drängten sich durch die Reihen und spähten nach leeren Stühlen. Man begrüßte sich laut, versuchte, sich zu Bekannten hinzudrängen, und erkundigte sich nach diesem und jenem. Die ganze Unterhaltung drehte sich um die Ersatzwahl. Man setzte ein sicheres Durchkommen des Arbeiterkandidaten voraus, aber das offizielle Resultat fehlte noch. Jeder Hinzukommende wurde mit Fragen bestürmt; auf allen Gesichtern glänzte die Freude über den voraussichtlichen Sieg. Man kannte sich nicht, aber trank sich gegenseitig zu auf das Wohl der guten Sache. Die Stimmen wurden immer lauter, die Gläser klirrten immer heftiger. Man gestikulierte äußerst aufgeregt oder hörte einem zu, der am Tisch das Wort führte und die anderen durch seinen Redefluß zum Schweigen brachte. Hier waren alle einer Meinung, die Unterhaltung war eine ruhige; dort stießen die Ansichten schroff aufeinander. Die Opposition des Gegners wühlte die Leidenschaft auf, und hastige, halberstickte Sätze kamen zum Vorschein, die dem Redner das Wort vom Munde abschnitten. Dazwischen die Rufe nach dem Kellner, das Rücken der Stühle und Tische, das laute Begrüßen Eintretender und irgendein Witzwort, das die Stimmung immer rosiger machte.

Das ganze Bild dieser Menge von tausend in steter Bewegung sich befindenden Köpfen, belebten Gesichtern war beleuchtet von dem flackernden Licht der Gasflammen, die sich durch die ungeheure Wolke von Qualm, die den Kronleuchter umzog, wie umnebelte Irrlichter ausnahmen. Und dieses Spreizen der Finger, das jeden Kraftausdruck begleitete; diese nervösen Bewegungen der Hände, gleichsam als wollte man durch sie die soeben gesprochenen Worte doppelt bestätigen oder auf den Ausdruck hinweisen, nach dem man vergeblich gesucht hatte, um dem Satze einen Zusammenhang zu geben.

Auf der einen Seite des Saales steckte man die Köpfe längere Zeit zusammen und blickte nach der äußersten Ecke neben der Bühne. Dort saß mit einem fremden Herrn Franz Timpe, der stille Kompagnon Urbans. Er hatte das Strikekomitee um die Erlaubnis gebeten, der Versammlung beiwohnen zu dürfen, und man hatte sie ihm gegeben, weil man annahm, es sei ihm um eine baldige Einigung zu tun. Die ihn erkannt hatten, hielten sich sehr reserviert ihm gegenüber: denn wie freundlich hatte er den Polizeilieutenant gegrüßt, und wie liebenswürdig war der Gruß erwidert worden.

Die Klingel des Vorsitzenden ertönte, und es trat Ruhe ein. Allgemeine Mitteilungen über die Ursachen des Strikes wurden gemacht, dann ergriff ein Arbeiter der Urbanschen Fabrik als Referent das Wort. Sein Name hatte bei den Versammelten einen guten Klang, seine Erscheinung war männlich und einnehmend. Er schilderte in beredten Worten den Niedergang des Drechslergewerbes, erörterte an der Hand von Lohntabellen die traurige Lage der Gehilfen und verglich damit die lange Arbeitszeit. Es war ein trübes Gemälde, das er entwarf. Das Drechslergewerbe, so führte er aus, sei früher eins der blühendsten gewesen, heute aber durch die außerordentlich große Konkurrenz völlig auf den Hund gekommen.

Ein lautes »Bravo! Bravo!« unterbrach ihn. Es kam von der Tür her, wo ein Knäuel von Arbeitern sich gestaut hatte. Man blickte sich um, um zu sehen, wer der Unterbrecher sei, konnte ihn aber nicht entdecken.

Der Redner fuhr fort, in eindringlicher Weise seine Ansichten zu entwickeln. Der Durchschnittslohn eines Gehülfen betrage kaum so viel, daß er sich anständig ernähren könne. Von den Familienvätern wage er gar nicht zu sprechen. Sie führten einfach eine traurige Existenz und könnten sich nur erhalten, wenn die Frauen und Kinder mitarbeiteten. »Kann man das aber ein geordnetes Familienleben nennen«, fuhr er mit erhobener Stimme fort, »wenn Mann und Frau das Haus verlassen und die Tochter in kaum entwickeltem Alter nach der Werkstatt oder Fabrik gehen muß, um, der Aufsicht der Eltern enthoben, unmoralischen Einflüssen aller Art preisgegeben zu werden? Das Weib gehört in die Familie, es ist dazu da, die Häuslichkeit zu pflegen, die Kinder zu erziehen, sie zu gesitteten Menschen zu machen, aber nicht, um ihre ganze Kraft dem Erwerb zu widmen und dadurch zur Verlotterung der Familienbande beizutragen.

Eine Beifallssalve erfolgte, begleitet von lauten Bravorufen.

Der Polizeilieutenant hatte eifrig geschrieben. Jetzt blickte er den Redner aufmerksam an, dessen intelligentes Gesicht ihm halb zugewandt war und über welches nur ein flüchtiges Lächeln glitt. Dann fuhr der Sprecher fort:

»Meine Herren, die ganze physische Beschaffenheit des Weibes spricht gegen eine lang andauernde Beschäftigung in den Fabriken. Es ist in erster Linie dazu bestimmt, Gattin und Mutter zu sein. Jeder wahrheitsliebende Arzt wird Ihnen das bestätigen ... Wenn also alles das geschieht, was ich Ihnen hier vorführe, so hat das seinen hauptsächlichen Grund in der schlechten Belohnung der Männerarbeit. Es sind das also auf die Dauer unhaltbare Zustände.«

Neuer Beifall erschallte. Der überwachende Beamte, ein jovialer Herr mit bereits grauem Backenbart, erhob den Oberkörper und legte den Bleistift auf den Tisch. In demselben Augenblick sagte der Vorsitzende: »Ich bitte den Herrn Redner, bei der Sache zu bleiben. Es handelt sich hier um Erörterungen von Strikeangelegenheiten. Ich bitte also –«

Der Redner fuhr fort: »Ich bin vollständig bei der Sache. Wir sind hier Arbeiter, um die sich die ganze soziale Frage dreht. Wie aber erst die einzelnen Glieder eine Kette bilden, so machen die verschiedenen Erscheinungen des öffentlichen Lebens die soziale Frage aus. Wenn wir unsere Angelegenheiten besprechen wollen, so muß es auch notwendig sein, die Ursachen anzuführen, die unsere traurige Lage verschuldet haben, und die Folgen, die aus ihr entstanden sind und immer noch entstehen. Mit Schönpflästerchen heilt man keine Wunde.«

»Bravo ... Sehr richtig«, ertönte es abermals unter den Zuhörern.

»Ich will also fortfahren oder vielmehr bei der Sache bleiben«, begann der Redner wieder mit einem ironischen Lächeln. »Meine Herren, wenn der Staat verlangt, daß wir unsere Pflichten als Steuerzahler und Bürger erfüllen sollen, so muß uns auch gestattet sein, öffentlich nach den Mitteln und Wegen zu suchen, die uns vor der Gefahr schützen, eines Tages diesen Pflichten nicht mehr nachkommen zu können. Wir gleichen den Ärzten, die zusammengekommen sind, um einen kranken Körper zu untersuchen, und welche die moralische Verpflichtung fühlen, sich gegenseitig nichts zu verschweigen. Meine Herren, wir streben nur nach einem menschenwürdigen Dasein. Wir wollen nicht prassen, nicht schlemmen, wir wollen aber auch nicht die traurige Möglichkeit vor Augen haben, eines Tages physisch und moralisch zu verkommen, mit dem entsetzlichen Gedanken aus der Welt scheiden, unsere Frauen und Kinder als hülflose Wesen zurücklassen zu müssen ... Wir wollen auch nicht geistig vertieren, sondern nach der Arbeit so viel Zeit übrig haben, um uns fortzubilden, neben der leiblichen auch geistige Nahrung zu uns nehmen zu können ... Unter der heutigen Produktionsweise ist das aber unmöglich. Ein Beispiel sehen Sie an mir. Ich bin verheiratet und Vater von zwei kleinen Kindern. Ich wohne weit oben in der Brunnenstraße, habe einen Weg von dreiviertel Stunden bis nach der Fabrik zurückzulegen. Seit Monaten habe ich bei Urban des Abends bis neun Uhr arbeiten müssen. Frühmorgens, wenn ich mein Heim verlasse, schlafen meine Kinder noch, und kehre ich abends spät nach Hause, so liegen sie schon wieder und träumen. So kam es denn, daß es mir nur alle acht Tage vergönnt war, meine Kinder sprechen zu hören, ihnen in die Augen zu schauen ...«

Eine Bewegung entstand, und er fuhr fort: »Ja, meine Herren, wie oft kommt es nicht vor, daß wir auch des Sonntags vormittags nach der Fabrik müssen, weil es so verlangt wird. Es gibt Leute, die uns Arbeitern vorhalten, wir besäßen keine Religion, es stände besser um uns, wenn wir nach der Kirche gingen. Nun, meine Herren, man läßt uns nicht einmal Zeit zum Beten. Wir verrichten im Schweiße des Angesichts am Sonntagvormittag unsere Arbeit, und das ist unser Gebet ...« Er machte eine Pause.

Kein lauter Beifall erschallte diesmal, aber die allgemeine Bewegung, die mächtig durch die Reihen ging, zeugte für den großen Eindruck, den die letzten Worte des Redners gemacht hatten.

Er begann aufs neue: »Und nachdem unsere Lage so erbärmlich als möglich ist, wagt man es noch, mit Lohnherabsetzungen zu kommen. Ich spreche jetzt hier im Namen der Knopfdreher.« Er begann nun die Schattenseiten des Gewerbes zu enthüllen, bat, fest zusammenzustehen, den Zuzug fernzuhalten und die Strikenden soviel als möglich zu unterstützen und ihnen zum Siege zu verhelfen. »Das Kapital hat die Macht, uns verhungern zu lassen«, sagte er zum Schluß, »wir aber haben das Bewußtsein unseres Menschenrechtes und fühlen die Kraft in uns, für dieses Menschenrecht zu kämpfen und zu leiden ... Die Arbeiterpartei ist eine Partei des Friedens ... wir wollen auf gesetzlichem Wege unser Los zu verbessern suchen. Solange aber die Regierung unsere Notlage nicht erhört, müssen wir versuchen, uns selbst zu helfen. Wir betrachten daher die Strikes als ein Mittel zum Zweck. Wenn man aber nicht nachläßt, uns die Übermacht des Kapitals fühlen zu lassen, wenn man immer aufs neue versucht mit allen Machtmitteln, die der Bourgeoisie zu Gebote stehen, unsere Lage zu verschlechtern, uns auf jede Art und Weise zu demütigen, uns wie die Schraube an der Maschine zu betrachten, die wertlos ist, wenn sie sich abgenutzt hat, ich sage, wenn das kein Ende nehmen wird, dann – –«

Atemlose Stille hatte während dieses Satzes geherrscht. Aller Augen hingen am Munde des Redners. Der Polizeilieutenant hatte sich bei den letzten Worten erhoben und nach dem Helm gegriffen. Der Vorsitzende zupfte den Redner am Rock, die ganze Zuhörerschaft dehnte den Oberkörper und reckte die Hälse, weil sie im nächsten Augenblick die Stimme des Beamten zu vernehmen glaubte. Dem Sprecher war diese Aufregung nicht entgangen, er beherrschte sich sofort und beendete mit einem Lächeln den Satz: »... dann, meine Herren, trinken wir unser Bier aus und gehen ruhig nach Hause.«

Ein ungeheures Gelächter, mit dem sich ein Sturm des Beifalls mischte, folgte diesen Worten. Selbst der Polizeilieutenant konnte sich der Heiterkeit nicht entziehen; er lächelte vor sich hin, trotzdem er der Getäuschte war. Und was Liebegott betraf, so machte er ein Gesicht, als kitzele man ihn fortwährend, ohne daß er es wagen dürfe, die fest aufeinandergepreßten Lippen zu öffnen. Die Ruhe wurde erst wieder hergestellt, nachdem minutenlang die Klingel des Vorsitzenden erklungen war.

Die Diskussion wurde eröffnet. Einige Redner machten von ihrem Platze aus kurze Bemerkungen. Plötzlich entstand unter der Menge an der Tür eine Bewegung und lautes Gemurmel. Es hatte jemand die Absicht geäußert, sprechen zu wollen, schien aber dann wieder den Mut nicht zu haben. Man redete auf ihn ein, bis Thomas Beyer sichtbar wurde, der zur Tribüne schritt und zum Vorstandstisch etwas hinaufrief. Der Vorsitzende rührte die Klingel und sagte mit seiner nicht sehr klaren Stimme:

»Herr Drechslermeister Timpe hat das Wort.«

Hunderte Köpfe wandten sich der Tür zu, wo der aufgerufene Redner noch immer den Blicken in einer Gruppe verborgen blieb. Viele hatten nur den Namen verstanden und richteten ihre Augen nach der Ecke, wo der Kompagnon von Urban saß. Franzens Antlitz hatte fahle Blässe überzogen. Er glaubte zu träumen, wollte sich erheben, um schleunigst den Saal zu verlassen, aber wie Blei lag es ihm in den Füßen. Es wäre auch schwer gewesen, ohne aufzufallen durch die Menge zu schreiten. Die Furcht hatte ihn so entsetzlich gepackt, daß er zitterte und den Versuch machte, sich hinter seinem Gesellschafter zu verbergen. Dann wieder war es die Neugierde, die ihn auf seinen Platz bannte – jene unerklärliche Neugierde, die dem Menschen angesichts einer Gefahr überkommt, der er nicht mehr zu entrinnen vermag.

Da Johannes sich noch immer nicht sehen ließ, so glaubte der Vorsitzende, man habe ihn schlecht verstanden. So wiederholte er denn laut und vernehmbar:

»Herr Drechslermeister Timpe hat das Wort.«

Jetzt hatte man ihn verstanden. Wer kannte auch Meister Timpe nicht! Wie viele von ihnen hatten nicht von seiner Werkstatt gehört, von der Gemütlichkeit, die bei ihm herrsche, von der Menschenfreundlichkeit, mit der er seine Gesellen zu behandeln pflege. Nur ein Bruchteil der Anwesenden ahnte, daß er der Vater des »stillen Sozius« von Urban sei. Und die es wußten, hatten nur von ihm als von einem wohlhabenden Manne gehört.

Jetzt schritt er an ihnen vorüber der Tribüne zu, mit niedergeschlagenen Augen, zögernd und unsicher, wie ein Mann, der in seinem Leben zum ersten Male sprechen soll und im Geiste tausend Blicke auf sich gerichtet sieht. Nach zwei Minuten hatte er mühsam das Podium erklettert. Er verbeugte sich vor dem Lieutenant, der ihn kannte, und stellte sich dann allen sichtbar neben den Tisch des Vorstandes.

Mein Gott, wie sah er aus! Wie er so dastand, konnte er das tiefste Mitleid einflößen. Hunderte, die mehr als einmal bei ihm nach Arbeit vorgesprochen hatten, kannten ihn nicht wieder. Er war erschrecklich gealtert. Das Gesicht hatte tiefe Furchen bekommen, und die Wangen waren schmal wie zwei Bretter. Der Nacken war tief gekrümmt, und die vernachlässigten Kleider hingen lose wie Fahnentücher an seinem Körper; dazu kam das lange weiße Haar, das in Strähnen auf die Schultern fiel, der verwilderte Kinnbart, der ihn noch älter machte, als er war. Er bot das Bild eines durch Kummer und Sorge früh gebeugten Menschen. Nur in seinen Augen leuchtete ein unheimliches Feuer, während die Wangen sich leicht gerötet hatten. Die Arbeiter flüsterten sich allerlei Bemerkungen zu. Von Mund zu Mund ging es, daß Timpe durch Urban ruiniert worden sei, daß er schon längst den letzten Gesellen habe entlassen müssen und nun für das liebe tägliche Brot arbeite; daß sein Haus über und über verschuldet sei und daß ein unglückliches Verhältnis zwischen ihm und seinem Sohne bestehe. Er hatte die rechte Hand auf den Tisch gestützt und begann nun zu sprechen, erst unsicher und zaghaft, dann zusammenhängender und mit angestrengter Stimme. Er redete eigentlich nicht, sondern erzählte, wie jemand, dem es nur darauf ankommt, seinem Herzen Luft zu machen.

»Meine geehrten Herren«, begann er, »Sie sehen in mir einen ruinierten Drechslermeister ... Mein Geschäft hat jahrzehntelang geblüht, acht Gesellen habe ich in meiner Werkstatt gehabt, heute aber stehe ich allein und muß mich ums tägliche Brot quälen ...

Ich bin achtundsechzig Jahre alt, habe fünfzig Jahre lang an der Drehbank gestanden, werde mir also erlauben können, ein Wörtchen über unser aller Los mitzureden.«

Man sah es ihm an, wie er nach den Worten rang, die seinen Sätzen den Zusammenhang geben sollten. Es lag eine gezwungene Ruhe in ihm, die nur des leisesten Anstoßes bedurfte, um in Entfesselung überzugehen. Man sah das an den irrenden Augen, die keinen Ruhepunkt finden konnten, an der Art und Weise, wie er fortwährend den Arm erhob und mit der gespreizten Hand gestikulierte, während die andere von der Tischplatte sich löste.

Er berichtete nun, wie er nach und nach durch Urban und die Großindustrie zugrunde gegangen sei. Allmählich wurde er lebhafter, die Augen bekamen einen erhöhten Glanz, sein Gesicht rötete sich mehr und mehr, die ganze Gestalt schien zu wachsen.

»Meine Herren, die Maschinen und die großen Fabriken, die sind an allem schuld ... die Schwindelkonkurrenz und die Massenproduktion haben das Handwerk ins Elend gestürzt ... Wer Geld hat, um es auszuhalten, der bleibt oben, wer aber nur auf seine Kunstfertigkeit vertraut, der liegt eines Tages unten. Früher gehörten die Handwerker zu den Stützen des Staates, heute bricht eine nach der anderen zusammen, ohne daß ein Hahn darnach krähte. Es ist nicht recht von der Monarchie, daß sie das duldet. Jeder hergelaufene Schwindler, der nur das Geld dazu besitzt, kann heut anfangen zu fabrizieren, gelernt braucht er nichts zu haben. Das hat nur der, den er durch seine saubere Konkurrenz dem Ruine nahebringt...«

Laute Zustimmungen wurden ihm zuteil, man sah, wie die Versammelten sich immer mehr für die Wahrheit seiner Worte erwärmten und durch die Schlichtheit seiner Rede gefesselt wurden.

»Ich bin seit dreißig Jahren selbstständig«, fuhr er fort, »habe mein Gesellen- und Meisterstück in allen Ehren gemacht, bin mein ganzes Leben lang ein fleißiger Mann gewesen und bin durch einen hergelaufenen Hausierer an den Bettelstab gebracht worden. Urban heißt der Mann, damit Sie es wissen.«

Ein vielstimmiges, langgedehntes »Ah« wurde laut.

Er richtete seinen Blick nach links und erblickte seinen Sohn, der sich vergeblich zu verbergen versuchte. Ein Zittern vom Scheitel bis zur Zehe erfaßte ihn; dann durchlief ein Schauer seinen Körper. Alles Blut drängte sich nach dem Herzen, er glaubte, die Bretter unter seinen Füßen wankten und er mit ihnen; aber er beherrschte sich mit der ganzen Kraft seines Greisenalters und blieb stehen. Dann wollte er schreien, mit dem Finger nach jener Ecke deuten und der Anklage gegen Urban die fürchterliche gegen seinen Sohn hinzufügen, aber die Scham hielt ihn zurück.

Als der Kampf vorüber war, gab er sich den Anschein, als hätte er Franz nicht erblickt, und fuhr fort: »Diesen Herren, deren ganzes Wissen in ihrem Geldsacke liegt, ist nichts heilig, wenn sie den Handwerker ruinieren können. Sie rauben ihm nicht nur die Kunden, nehmen ihm nicht nur die Existenz, sondern stehlen ihm obendrein die Modelle ... und wenn es bei Nacht und Nebel sein sollte! Wie nennt man aber solche Leute, die das tun? Diebe nennt man sie!«

Sein Blick glitt jetzt bewußt nach links und blieb durchdringend auf dem Antlitz seines Sohnes haften. Nun war es, als spräche aus ihm ein anderer Mensch. Aus dem anfänglichen Erzähler wurde ein glühender Redner, der mit den Worten gleich schweren Felsblöcken um sich warf. Seine Zagheit war verschwunden, er glich einem tief empörten Menschen, aus dem die Macht der moralischen Überzeugung spricht. Der Zorn drang auf ihn ein, der heilige Zorn eines gekränkten und erbitterten Mannes. Der Anblick seines Sohnes hatte sein Innerstes aufgewühlt, wie durch den Sturmwind das stille Meer in Bewegung gesetzt wird. Alle Leiden der letzten Zeit, der Schmerz um die Verblichene, die Sorge um seine Zukunft, der Kummer, den ihm Franz verursacht hatte, drangen chaotisch auf ihn ein, und er durchkostete binnen wenigen Minuten das noch einmal, was er während Jahren bereits durchlebt hatte. Es zischte und kochte in ihm wie in einem Kessel, in dem der Dampf der Entfesselung harrt. Es mußte heraus, was er dachte, wozu er die Worte bereits auf den Lippen hatte. War er einmal zugrunde gerichtet, hatte er heute seine Wahlstimme für die Partei der gesellschaftlichen Empörer gegeben, so konnte er auch furchtlos seine Meinung sagen. Er hatte nichts mehr zu verlieren als sein Leben.

Der Ton, den er jetzt anschlug, setzte alle in Erstaunen. Es entstand eine Bewegung, als wollte die ganze Versammlung sich von den Sitzen erheben, um in helle Begeisterung auszubrechen. Das war eine Sprache, die man lange nicht vernommen hatte. Die ganze Bourgeoisie, sämtliche Kapitalisten der Welt hätten hier anwesend sein müssen, um von diesem alten Herrn da oben mit Worten zusammengeschossen zu werden. Hei, wie die mitgenommen wurden! Das war ein frisches Wort, frei von der Leber!

Der Polizeilieutenant hatte den Meister Dinge sagen lassen, die er keinem anderen gestattet haben würde; kannte er ihn doch als gutgesinnten Patrioten, dessen Sohn zu den Fabrikbesitzern gehörte. Schon als er Timpes merkwürdigen Aufzug sah, hielt er ihn für etwas schwach im Kopfe; schließlich begann er wirklich an seinem Verstande zu zweifeln. Jetzt erhob er sich zum zweiten Male und gab dem Vorsitzenden einen wohlmeinenden Wink. Dieser stand ebenfalls auf, stieß Johannes an und bat ihn abzubrechen. Timpe aber hörte nicht darauf. Er machte eine Pause, um Atem zu schöpfen, und suchte dann nach Worten, um seinem höchsten Grimm Luft zu machen; aber er fand sie nicht. Es schien, als hätte ihn plötzlich die Sprache verlassen. Minutenlang schwieg er. Die Zuhörer wurden unruhig. Da fiel ihm ein, was der Großvater so oft gesagt hatte. Die elementare Wut eines Menschen, der jahrelang schweigen mußte, packte ihn, und seiner Sinne nicht mehr mächtig, schrie er in die Menge hinein:

»Die Schornsteine müssen gestürzt werden, denn sie verpesten die Luft... Schleift die Fabriken ... zerbrecht die Maschinen ...«

Er kam nicht weiter. Der Polizeilieutenant setzte den Helm auf und erklärte die Versammlung für aufgelöst.

Zu gleicher Zeit erhoben tausend Gestalten sich, tausend Arme schwenkten Hüte und Mützen, und eine ungeheure Beifallssalve durchbrauste gleich einem entfesselten Sturm den Saal. Hochrufe auf Timpe und die Sozialdemokratie erschallten; dann ertönte aus hundert Kehlen der Gesang der Arbeitermarseillaise:

– – – – – –
»Nicht fürchten wir den Feind,
Nicht die Gefahren all';
Kühn gehen wir die Bahn,
Die uns geführt Lassalle.«

Mit jeder Strophe verdoppelten sich die Sänger, und die Erde schien zu erzittern unter den Tritten der Massen, die mit schwerem Taktschritt dem Ausgange zuströmten, als ginge es zum Kampfplatz.

An der geöffneten Tür staute der dunkle Strom sich. Ein Trupp fremder Arbeiter war soeben im Flur angelangt und brachte die Nachricht vom Wahlsiege. Ein donnerndes Lebehoch auf den neuen Abgeordneten durchbrach den Gesang und setzte sich bis auf Hof und Straße fort. Zahlreiche Schutzleute erschienen wie aus der Erde gewachsen; Rufe zur Ordnung ertönten, Gelächter war die Antwort; und erst allmählich wie der verhallende Donner eines schweren Wetters legte sich die Aufregung der erhitzten Menge.

Timpe stand noch immer wie versteinert auf dem Podium. Der Vorsitzende redete auf ihn ein, machte ihm Vorwürfe; er hörte nicht. Dann richtete der Polizeilieutenant einige Fragen an ihn; er beantwortete sie mechanisch. Die Leute um ihn herum verließen ihn, aber noch immer lehnte er am Tische. Gefühllos wie ein Nachtwandler stieg er die Stufen hinab.

Da sah er seinen Sohn, wie er zögernd mit seinem Begleiter stehenblieb, auf ihn blickte, dann aber die Wand entlang der Tür zuschritt. Den Meister packte ein Schwindel. In seinem Hirn begann es zu kreisen, die Menschen standen auf den Köpfen, die Lichter führten einen tollen Tanz auf, und zuletzt drehte der ganze Saal sich um ihn herum. Er schloß die Augen ...

Er hielt plötzlich seinen Sohn an der Kehle und zerrte ihn nieder. Die Kräfte eines Riesen schienen über ihn gekommen zu sein. Immer fester schlossen die Hände sich, immer bleicher und willenloser wurde sein Opfer. »Gib mir meinen Vater wieder, hol mir deine Mutter zurück, Nichtswürdiger!« schrie er mit der Stimme eines Wahnsinnigen. Eine Blutwelle schoß an seinen Augen vorüber. Soll er ihn töten, wie man seine Seele gemordet hat? Vielleicht wäre es besser! Aber nein, nein! »Lebe, lebe, und du bist genug bestraft!«

Ein dumpfer Fall gab ihm die Besinnung wieder. Als er um sich blickte, fand er, daß er im halbdunklen Saal auf einem Stuhl saß. Er sah weder seinen Sohn noch die Hunderte, die ihn umringt hatten. Also war alles nur ein toller Spuk gewesen! Der Schweiß perlte auf seiner Stirn, dumpf und schwer holte er Atem. Thomas Beyer stand vor ihm, hielt sein Haupt und reichte ihm ein Glas mit Wasser.

»Kommen Sie, Meister, Sie sind erregt. Es ist heiß hier drinnen, die Luft draußen wird Ihnen wohltun«, sagte er nach einer Weile mit weicher Stimme und faßte ihn sanft am Arm. Und so schritt er mit ihm hinaus, brachte ihn wohlbehalten in seine Wohnung, dann ins Bett hinein, wartete so lange, bis er in einen tiefen Schlaf gefallen war, holte sich Decken und Betten aus dem Nebenzimmer und bereitete sich dann zu Timpes Füßen seine Lagerstätte ...


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