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10. Verloren und gefunden.

Die Szene hatte sich total verändert. Doch war es weniger Bestürzung als vielmehr freudiges Staunen, das sich aller bemächtigt hatte.

Nur der Indianer machte eine Ausnahme, der ließ sich durch so etwas nicht aus seinem Gleichmut bringen – und dann der Bischof!

Und so sehr Nobody auch mit der Gefangennahme der Ausreißerin beschäftigt gewesen war, so hatte er doch dabei den Schwarzrock nicht aus den Augen gelassen, und er hatte beobachtet, was für ein gewaltiger Schreck diesem in die Glieder gefahren war, und wenn er sich auch äußerst schnell wieder gefaßt hatte, so verrieten doch gleich seine ersten Worte, wie wenig einverstanden er mit dieser Verhaftung war.

»Herr, wie können Sie wagen, diese Dame, eine freie Amerikanerin, auf amerikanischem Boden zu verhaften?« wollte er aufbrausen.

»Ich wage gar nichts,« entgegnete Nobody, den Schluß der Handschellen untersuchend, »sondern ich handle kraft meines Amtes!«

»Sie haben kein Recht dazu, hier eine Verhaftung vorzunehmen! Sie sind doch nur ein englischer Detektiv, bis hierher reicht Ihre Macht nicht!«

»Pardon – seitdem ich Champion-Detektiv der englischen Königin bin, betrete ich nie ein fremdes Land, ohne mir sofort die Vollmacht auszuwirken, auch in diesem Lande einen Haftbefehl aussprechen zu dürfen.«

So sehr sich dieser Schwarzrock auch in der Gewalt haben mochte, so konnte er doch nicht verhindern, daß er bei diesen Worten förmlich zusammenknickte.

Nicht anders erging es der gefangenen Dame. Zuerst hatte sie Anstrengungen gemacht, sich ihrer Fesseln zu entledigen, was freilich nur kindliche Bemühungen sein konnten. Jetzt zog sie es vor, einen Ohnmachtsanfall zu heucheln. Denn daß sie wirklich bewußtlos wurde, daran zweifelte Nobody. Er ließ sie mit geschlossenen Augen zu Boden gleiten, hielt nur ihren Oberkörper aufrecht.

»Ehe ich eine Erklärung abgebe, muß ich die Verhaftete in einem sicheren Gewahrsam wissen. Ist ein solcher Raum in diesem Hause?«

»Im Fliegenturm, das ist ein perfektes Gefängnis,« sagte Mademoiselle Laboche, die am schnellsten begriffen hatte, was für eine angenehme Wendung die ganze Sache genommen hatte.

»Gut, also in den Fliegenturm mit ihr! Bitte, zeigen Sie mir den Weg.«

Nobody hob die Regungslose wie ein Kind auf seine Arme. Die Französin ging, ein Schlüsselbund in der Hand, voraus, alle anderen folgten nach.

Die Wirtschaftsgebäude bildeten mit der hinteren Front des Schlosses einen Hof. In der einen Ecke desselben erhob sich ein runder Turm, dem man die Dicke der Mauern schon von außen ansah. Auch die eiserne Tür machte einen soliden Eindruck, und nur ein einziges, starkvergittertes Fensterchen war in der mittleren Höhe des Turmes zu bemerken.

Die Französin schloß auf. Nobody konstatierte sofort, daß der Turm unten völlig massiv war, also gar kein Parterregeschoß hatte. Er stieg eine steinerne Treppe hinauf. Auf einem Absatz war eine ebensolche schwere, eiserne Tür, die aber nicht etwa eine düstere, mit Spinnweben durchzogene Kerkerzelle verschloß – vielmehr sah es in diesem Raume äußerst einladend aus, besonders appetitreizend.

Zwischen den runden Wänden waren Stäbe eingeklemmt, von denen herab Speckseiten, Schinken und Würste in Hülle und Fülle herabhingen, und die aufgestapelten Kisten und Kasten enthielten ganz sicher ebenfalls nur ›Fressalien‹.

So sehr Nobody auch mit anderen Gedanken beschäftigt war, hatte er doch noch immer Zeit zu besonderen Betrachtungen.

»Hm,« brummte er, als er die scheinbar Ohnmächtige auf eine Käsekiste gleiten ließ, »das ist wohl die Speisekammer?«

»Das ist unsere Speise- und Vorratskammer,« bestätigte die Französin. »Früher, vor unseren Zeiten, als man hier noch in fortwährendem Kampfe mit den Indianern lebte, war es der Pulverturm. Dieser Raum, der einzige im ganzen Turm, kann nämlich auch unter Wasser gesetzt werden. Oben befindet sich das Reservoir für unsere Wasserleitung. Solche Pulvermengen haben wir jetzt nicht mehr nötig. Durch Zufall bemerkten wir nun einmal, daß dieser Turm von keiner Maus und von keiner Fliege heimgesucht wird, überhaupt von keinem Insekt, so zum Beispiel auch nicht von Ameisen, unter denen wir sonst im Sommer viel zu leiden haben. Die Wände müssen mit irgend etwas gestrichen sein, was den Insekten zuwider ist, und da haben wir den Pulverturm zu unserer Speisekammer eingerichtet. Die Mädchen nennen ihn jetzt immer den Fliegen- oder Insektenturm.«

»Hm, also sozusagen der Insektenpulverturm. Und Sie sperren Ihre Gefangenen immer in Ihre Speisekammer?«

»Immer,« versicherte die mitgekommene Hopfenstange mit ernstem Gesicht. »Wir haben hier einmal einen Indianer, der uns bestehlen wollte, acht Tage gefangengehalten. Es war ein ganz schlanker Bursche, und dann, als wir ihn freilassen wollten, ging er nicht mehr durch die Tür. Er ist hier drin an der Fettsucht gestorben.«

Nobody unterdrückte seine Bemerkung, daß sich dann doch auch die dünne Engländerin einmal acht Tage lang hier drin aufhalten sollte.

Die Hauptsache war ihm, wovon er sich auch selbst überzeugte, daß es aus diesem Raume kein Entkommen gab. Das Fensterchen, welches allein Licht spendete, hätte gar nicht vergittert zu sein brauchen. Durch dieses konnte sich kein Mensch zwängen.

»Jetzt bitte ich die Damen, die Gefangene zu visitieren, bis auf die Haut. Auf Ihren scharfen Künstlerblick, Mademoiselle, darf ich mich wohl verlassen, daß ihm nichts entgeht. Kommen Sie, Herr Bischof.«

Es war ersichtlich, wie gern der Schwarzrock bei der Visitation zugegen gewesen wäre. Aber es half nichts, er mußte der Aufforderung Folge leisten.

Nobody gab noch den Schlüssel, damit die Gefangene dann, wenn ihr alles abgenommen, von den Handschellen befreit werden konnte, und beide Männer gingen.

»Nun sagen Sie, geehrter Herr,« begann der Schwarzrock, sobald sie wieder das Freie erreicht hatten, »wie kommen Sie eigentlich ...«

»Bitte,« fiel Nobody ihm sofort ins Wort, »ich werde die Erklärung geben, wenn wir wieder alle beisammen sind.«

Er ließ ihn einfach stehen und ging einmal um den Turm herum, um dessen Sicherheit auch von außen zu mustern. Hierbei sollte er noch ein kleines Abenteuer erleben.

Wie schon gesagt, stand der Turm nicht ganz frei, sondern auch an ihn grenzten Wirtschaftsgebäude, so an der einen Seite ein niedriger, hölzerner Stall. Die Tür dazu war offen, auch die hintere, so daß man hindurchblicken konnte, auf eine Wiese. In dem Stalle selbst war nichts weiter zu sehen. Nobody schritt hindurch, um von der Wiese aus den Turm von hinten in Augenschein zu nehmen.

Doch er sollte hierzu nicht viel Gelegenheit bekommen. Da sah er auf der Wiese jenes Geschöpf stehen, dessen Existenz er nicht für möglich gehalten, jenes Pferd, das die Malerin auf der Leinwand wiedergegeben hatte. Nur, daß es nicht ziegelrot mit blauen und grünen Flecken war, sondern ein Schimmel, etwas gelb und schwarz gesprenkelt, sonst aber genau dasselbe Jammerbild von einem schlachtreifen Gaul: dürr bis auf die Knochen, der unschöne Kopf mit langen Eselsohren geziert. Statt eines Schweifes nur spärliche Haare, so ein abgebrauchter Pinsel, die plumpen Beine mit unförmig geschwollenen Fesseln, vor Altersschwäche sich kaum noch darauf halten könnend ...

Also dieses Monstrum hatte nicht nur in der Phantasie einer Malerin existiert, sondern es lebte wirklich! Und es mußte wirklich das ›Schlachtroß‹ des Indianerhäuptlings sein, denn der Zügel war um eine federgeschmückte Lanze geschlungen, die in den weichen Boden gerammt war – auch eine vollkommene Sicherheit, um solch ein altersschwaches Geschöpf festzuhalten – und da wirkte es eher komisch, daß es auf dem ausgebogenen Rücken statt eines Sattels ein prachtvolles Leopardenfell trug.

Nobody ging hin, sich dieses Zerrbild der Schöpfung näher zu besichtigen.

Das Pferd hörte auf zu grasen, hob den häßlichen Kopf und ... nein, so etwas von schielenden Augen hatte Nobody noch bei keinem Tiere beobachtet!

Das heißt, es schielte nicht etwa, die Augen gingen nicht nach verschiedenen Richtungen auseinander, sondern es wendete nur nicht, wie es doch jedes andere Pferd tut, dem Näherkommenden den Kopf zu, es begnügte sich, ihm die Augen zuzudrehen, was einen überaus merkwürdigen Eindruck machte, der sich gar nicht weiter beschreiben läßt.

Jetzt aber wendete es ihm wirklich den Kopf zu und zeigte ihm unter einem nicht wiederzugebenden Laut, der halb ein Zischen, halb ein Knurren war, die langen, gelben Zähne.

»Das Luder beißt! Jetzt muß ich erst recht nähere Bekanntschaft mit ihm machen.«

Er ging also hin, seine Augen fest in die des Gaules versenkend. Wir wissen, welche Macht der Blick dieses Mannes auch auf die Tiere ausübte. Hier aber sollte seine Kunst einmal zuschanden werden.

Langsam hatte er die Hand ausgestreckt, um den Hals zu streicheln – da eine blitzschnelle Bewegung des Kopfes, und Nobodys ausgestreckter Arm befand sich zwischen den langen Zähnen, wie in einen Schraubstock eingespannt.

In diesem Augenblicke stand einmal Nobodys Herz still, in der Erkenntnis, daß im nächsten Moment etwas Fürchterliches passieren müsse.

Man braucht nichts mit Pferden zu tun zu haben, es braucht einem so etwas nicht schon einmal passiert zu sein, um zu wissen oder sich doch denken zu können, was für eine Kraft ein Pferd im Gebiß und in den Halsmuskeln hat. Wenn ein Pferd einmal aus seiner Rolle fällt, die es dem Menschen gegenüber für gewöhnlich spielt, wenn es einmal einen Arm mit seinen gewaltigen Zähnen gepackt hat, dann ist nichts mehr zu machen, und sei es auch der älteste Droschkengaul. Nur ein paar Kopfbewegungen genügen, es stampft das Menschlein auf den Boden, und der Arm ist zermalmt, und alle Knochen im Leibe sind gebrochen.

Blitzartig zuckte es durch Nobodys Kopf, ob er jetzt seine freie, linke Hand dazu gebrauchen solle, um schnell den Revolver herauszureißen und dem Biest eine Kugel hinters Ohr zu knallen, oder ob er die freie Hand lieber zur Besänftigung brauchen solle.

Er kam zu keiner Ausführung.

»Um Gottes willen, rühren Sie sich nicht!!« erklang eine helle Stimme, und Dolly, deren nähere Bekanntschaft Nobody schon einmal gemacht, kam aus dem Stalle mit einem Eimer über die Wiese gerannt.

Nobody stand wie eine Statue, und der Gaul glücklicherweise auch.

Einige freundliche Worte seitens des Mädchens, einige wohlmeinende Klatsche aufs Kreuz, und der Gaul gab sein Opfer frei, begann gleich wieder zu grasen.

»Himmelsapperment, so etwas ist mir in meinem Leben auch noch nicht passiert,« sagte Nobody, ärgerlich lachend, als er sich den Arm rieb, auf dem sämtliche Pferdezähne zu sehen sein mußten.

»Wie können Sie aber auch Parole angreifen!« sagte Dolly vorwurfsvoll.

»Warum sollte ich denn nicht? Wo ist denn der Westmann, der nicht jeden Gaul klopft, und wenn ihn auch ein noch so bösartiger Blick bedroht?«

»Ja, aber hat Ihnen Parole nicht erst drohend die Zähne gewiesen?«

Das mußte Nobody zugeben, und bei solcher Warnung greift überhaupt kein vernünftiger Mensch irgendein Tier an, besonders nicht, wenn es solche Zähne hat.

»Parole heißt es?«

»Ja, aber das hat nichts mit der Parole zu tun, welches Wort wir kennen. Das ist nur ein zufälliger Gleichklang. Parole heißt bei den Arrapahos der wirbelnde Sandsturm, also der Orkan oder Hurrikan.«

»Das soll doch nicht etwa heißen, daß dieses Pferd so schnell wie der Sturm ist?«

»Gewiß. Wenigstens dürfte es an Schnelligkeit und Ausdauer seinesgleichen suchen.«

»Vielleicht früher einmal, aber jetzt – wie alt ist denn der Gaul?«

»Noch keine vier Jahre.«

»Nicht möglich!«

Doch Nobody erfuhr weiter, daß dies eben der Typus der arrapahotischen Pferde sei, und wenn alles auf Wahrheit beruhte, was Dolly da erzählte, so konnten die edlen Wüstenrenner der Beduinen ja nur Schatten gegen diese mißgestalteten Reitgäule der großen amerikanischen Wüste sein.

Hierbei zeigte sich auch, wie gediegen die Bildung dieses weiblichen, in der Wildnis aufgewachsenen Cowboys beschaffen war. Auch sie wußte über die arabischen Verhältnisse Bescheid.

»Wissen Sie, daß die Beduinen in Afrika und Asien von ihren Pferden Stammbäume haben?«

»Jawohl, sie leiten sie von den fünf Stuten des Propheten ab.«

»I, woher wissen Sie denn das?« fragte Dolly plötzlich erstaunt.

»Ich bin schon selber in Afrika und Asien gewesen.«

»Doch nicht auch schon zwischen Beduinen?«

»Lange Jahre sogar.«

»Ach, da müssen Sie uns dann davon erzählen!« rief das Mädchen mit leuchtenden Augen. »Ja, der Prophet hatte fünf Stuten namens Tayes, Manekeye, Koheye, Saklawy und Djulf ...«

»Nun sagen Sie aber mal in aller Welt, woher wissen Sie denn das?!« rief Nobody jetzt in grenzenlosem Staunen.

»Der Vater hat uns davon viel erzählt, wir haben doch auch Bücher darüber. Ja, Mohammed hat aber von 570 bis 632 gelebt, so ist der Stammbaum dieser arabischen Rosse also nur 1200 Jahr alt – die Reittiere der Arrapahos aber haben mit unseren jetzigen Pferden eigentlich gar nichts zu tun, das ist eine ganz andere Rasse, ein ganz anderes Tier, die stammen auch nicht, wie die Mustangs, von den Andalusiern ab, welche die Spanier in Amerika einführten und verwildern ließen. Sie wissen doch, wie sich die Indianer, als sie die ersten Pferde erblickten, gefürchtet haben. Wissen Sie aber auch, daß in der Urzeit schon einmal ein amerikanisches Pferd existiert hat, welches nur ausgestorben ist?«

Nobodys Staunen wuchs ins Grenzenlose. Dieses Kuhmädchen war besser beschlagen als mancher Gentleman in New-York, der sich für hochgebildet hielt.

Und er erfuhr noch mehr von diesem Mädchen in schmieriger, lederner Männerkleidung und mit schwieligen Händchen. Wie die Arrapahos die einzigen Indianer seien, welche etwas davon wüßten, daß in Amerika schon früher einmal ein Pferd existiert habe, das sogenannte Urpferd, wie sie von diesem den Stammbaum ihrer Rosse ableiteten, und je häßlicher – häßlich nach unserem modernen Begriffe über Pferdeschönheit! – ein Tier sei, als desto reiner gelte sein Blut, und wenn man das Gerippe von solch einem fossilen Pferde betrachte, wie Dolly eins in einer illustrierten Zeitung gesehen, so könne man auch gar nicht daran zweifeln.

Woher man niemals etwas von diesen edlen Nachkommen eines sonst ausgestorbenen Pferdes vernehme? Da kommen eben die Verhältnisse in Betracht. Die große, amerikanische Wüste gelte für erforscht, und damit basta. Und wenn ein Reisender einmal hineinkommt und er sieht die elenden Pferde der Arrapahos, dann hat er die Nase gleich voll. Nur spottend erzählt er später davon. Aber kennen lernen muß man sie erst! Einmal eins zwischen den Schenkeln gehabt haben! Was freilich sehr schwierig ist, denn solch ein Roß läßt keine Fremden aufsteigen, und da hört auch die Reitkunst des geschicktesten Cowboys auf, und so wenig wie der Araber wird auch der Arrapaho jemals eines seiner Pferde veräußern.

Die Unterhaltung wurde unterbrochen, zum Bedauern Nobodys.

»Sir, Sie werden von den Damen gesucht!« ließ sich eine von Dollys Schwestern aus der Stalltür vernehmen.

Eilig kehrte Nobody nach dem Schloßhofe zurück und traf dort mit den vier Freundinnen zusammen, denen sich auch bereits der Bischof angeschlossen hatte. Er sprach lebhaft auf die Damen ein, immer die Hand auf dem Herzen. Jedenfalls waren es Unschuldsbeteuerungen, die durch Nobodys Ankunft unterbrochen wurden.

»Hier ist alles, was wir bei ihr gefunden haben,« sagte Mademoiselle Clarence, ihm ein aus einem Tuche gebildetes Säckchen reichend.

Nobody nahm die Untersuchung auf der Stelle vor.

Einige tausend Dollar bares Geld, jene Papiere, auch noch andere, aber ganz belanglos, und darunter kein einziger Brief. Ein scharfgeladener Revolver, ein Taschennecessaire und andere Gegenstände, die jeder zivilisierte Mensch und insbesondere eine Dame, bei sich trägt – weiter nichts.

»Ich hoffe, daß Sie gründlich visitiert haben, Mademoiselle.«

»Bis aufs Hemd,« war die unbefangene Antwort, »und wenn Sie sonst noch etwas bei der Dame finden, etwa irgendwo eingenäht, oder in den Haaren oder sonstwo versteckt, dann ... will ich heute noch in den heiligen Stand der Ehe treten.«

»So handelt es sich nur noch um eine Wache.«

»Ist bereits besorgt. Ich habe Ispanje vor der oberen Tür postiert.«

»Ich sehe die untere Tür offenstehen.«

»Ja, einsperren läßt sich dieser Indianerhäuptling freilich nicht.«

»Und wegen seiner sonstigen Sicherheit brauche ich wohl nicht erst zu fragen?«

»Ich garantiere für alles.«

»So schlage ich vor, unsere weitere Konferenz im Schlosse abzuhalten.«

In einem Wohngemach fand dieselbe statt, Nobody erzählte, wie er in der Libyschen Wüste ganz zufällig ein Skelett gefunden hatte, bei dem hier diese Holzbüchse mit dem Situationsplan gelegen. Der Mann war jedenfalls durch einen Axthieb ermordet worden.

Wir können hier nicht bei den Einzelheiten von Nobodys Erzählung verweilen; denn da hatte er ja zahllose Erklärungen zu geben. Wie war er auf die Vermutung gekommen, daß jener Situationsplan gerade hier auf dieses Tal des Koloradogebirges paßte? Zufall, Zufall, immer Zufall? Das hätte zuletzt auch die gläubigste Seele nicht mehr geglaubt. Und Nobody wollte in diesem Kreise aus bekanntem Grunde nicht von der kranken Großfürstin sprechen, noch weniger natürlich von seinem hellsehenden Freunde.

Nun, Nobody wußte sich aus allen Schwierigkeiten zu helfen. Dabei kam ihm auch zweierlei zu Hilfe.

Einmal war der Erzähler eben der Nobody, der geheimnisvolle Niemand, der überall und nirgends war, über den schon damals sagenhafte Fabeln gingen, die wir hier gar nicht erwähnen wollen. Aber auch in diesem Kreise wurde der Erzählende mit abergläubischem Staunen angesehen.

Zweitens war augenblicklich der Situationsplan, der im Besitze des jungen Bowell gewesen, doch die Hauptsache! Jetzt herrschte eben die Neugier. Was konnte da vergraben sein? Nun, man brauchte ja nur hinauszugehen und die auf dem Situationsplane angegebenen Linien durch die Luft zu ziehen.

Der Bischof war es, welcher noch vom allgemeinen Aufbruch zurückhielt.

»Ich muß mich erst rechtfertigen. Wenn Mrs. Harriet Bowell wirklich eine Verbrecherin ist, so werden Sie mir doch nicht zutrauen, daß ich irgend welche Gemeinschaft mit ihr habe oder gehabt habe.«

»O nein, Herr Bischof, o nein, ich kenne Sie doch, ich bin ja selbst aus Philadelphia und habe oft genug Ihren herrlichen Predigten gelauscht,« rief die Hackerle zuerst.

Die anderen drückten sich so ähnlich aus. Sie alle wollten eben dieses Thema so schnell wie möglich erledigt haben, und so gab auch ein Wort schnell das andere.

»Wußten Sie denn etwas von dem Pennal und dem Situationsplan?«

»Ich? Nicht das geringste!«

»Mrs. Harriet Bowell – oder nennen wir sie lieber Miß Short – sagte Ihnen auch nichts davon?«

»Keine Andeutung. Sonst hätte ich doch oben etwas gewußt.«

Dem konnte Nobody auch in Gedanken nicht so ohne weiteres widersprechen. Der Bischof hatte den Wirt nur nach dem Stiefelfelsen und nach einer Kirche gefragt, nach nichts weiter, und die Worte ›Fichte‹ und ›Ladyfelsen‹ hatten bei ihm keinen Eindruck hervorgebracht.

Deshalb zweifelte Nobody natürlich nicht, daß die beiden dennoch im Bunde waren.

»Aber als sie das Pennal sah, wurde sie von einem Todesschrecken erfaßt, da ergriff sie sofort die Flucht, und eben deshalb hat sie sich des Mordes verdächtig gemacht.«

»Ja, das aber ändert doch alles nichts an der Tatsache, daß ich vor fünf Jahren Miß Short zusammen mit Mr. Charles Bowell getraut habe.«

»Paßte denn die Beschreibung, wie Miß Short sie gegeben hatte, auf jenen Mann?«

»Das allerdings kann ich jetzt, nach fünf Jahren, nicht mehr aussagen,« mußte der Bischof jetzt zugeben, was aber Nobody auch nur für eine wohlbedachte Aussage hielt.

»Und die Zeugen?«

»Die sind wohl schwerlich jetzt noch aufzutreiben.«

»Für mich ist die Sache ganz klar,« ergriff da Mrs. Bowell das Wort. »Diesem Weibe ist schon vor fünf Jahren – vielleicht noch seit viel länger bekannt gewesen, daß mit diesem Tale ein Geheimnis verbunden ist. Hier ist jedenfalls irgend etwas vergraben. Und ihr war auch bekannt, daß Charles Bowell über alles vollkommen eingeweiht war, wahrscheinlich diesen Schatz oder was es nun sonst sein mag, selbst vergraben hat. Jedenfalls wußte sie, daß er solch einen Situationsplan besitzt. Um ihrer Sache von Anfang an sicher zu sein, inszenierte sie mit einem anderen Manne eine Heirat. Gleichzeitig beschloß sie, sich in Besitz dieser Zeichnung zu setzen, und sei es durch Mord. Daß Charles von hier aus zuerst nach Aegypten ging, wußten auch wir. Dieses Weib ist ihm gefolgt. Dort in der Libyschen Wüste hat sie ihn ermordet oder ermorden lassen. Alles, was er bei sich hatte, nahm sie ihm ab, auch seine Papiere. Nur gerade diese kleine Holzbüchse mit der Zeichnung ist ihr im Wüstensande entgangen. Verstehen Sie, wie ich mir die Sache denke?«

Nobody konnte sich nur wundern, wie scharfsinnig diese junge Russin war. Denn offenbar kam sie mit ihren Kalkulationen der Wahrheit auf ein Haar nahe.

Den anderen Gesichtern aber konnte man ansehen, daß sie diesen Kalkulationen nicht so recht folgen konnten, das erkannte auch Mrs. Bowell, und sie erhob sich.

»Auf, meine Herren und Damen,« rief sie bewegt, »wir wollen erst sehen, was für ein Geheimnis das ist, dessentwegen mein armer Charly sein Leben lassen mußte! Das ist jetzt wohl die Hauptsache.«

Das sahen alle ein, wohl auch der Bischof, und sie alle begaben sich wieder hinaus ins Freie, wo die Sonne immer noch ziemlich hoch am Himmel stand.

Hier im Freien, angesichts der zum Teil weit, weit entfernten Berge, kam nun auch den anderen das zum Bewußtsein, worüber sich schon früher Nobody oder richtiger zuerst der Matrose Anok geäußert hatte; nämlich wie schwierig es war, in Wirklichkeit den Punkt zu bestimmen, in welchem sich die gedachten Linien kreuzten, die man von den einzelnen Punkten zog.

Von Punkt und Punkten konnte man da überhaupt gar nicht reden. Außerdem waren wohl von überall, wenn man nicht gerade von hohen Bäumen umgeben war, die drei bezeichneten Bergspitzen zu sehen, aber das Wirtshaus, früher ›Zur Kapelle‹ genannt, überhaupt nur, wenn man schon in der Schlucht stand, und dann stimmten wieder die anderen Linien nicht.

»Die Kirche soll auch nichts weiter als den Eingang zum Tale bezeichnen,« meinte Nobody, und alle anderen mußten ihm hierin beistimmen.

Als man hierauf nun noch einmal visierte, im Geiste zwischen dem Taleingange und der Strippe des Stiefelberges und andererseits zwischen dem Fichtenberge und dem Ladyfelsen Linien ziehend, da mit einem Male kam die Erkenntnis.

»Ach, dann ist nichts anderes gemeint, als der kleine Schlangensee!« kam es gleichzeitig über drei Paar Frauenlippen.

Sie begaben sich nach dem Gewässer, das eher ein großer Teich war als ein kleiner See, und Nobody konstatierte, daß hier wirklich die Bestimmung zutraf. Der Wasserspiegel lag in der Linie, die man zwischen dem Fichtenberg und dem Ladyfelsen gezogen dachte, von hier aus erblickte man auch den Taleingang, und verlängerte man diese Linie weiter, so führte sie direkt auf den Stiefelberg.

Außerdem konnte man ja auch den Wasserspiegel als ein großes, von der Natur scharf abgegrenztes Terrain betrachten – kein Zweifel, hier war dasjenige versenkt, was ...

Was konnte es sein? Keine Ahnung. Hier an dem Rande des schwarzen Wassers erging man sich auch zum ersten Male in Vermutungen, wer es wohl versenkt haben mochte, woher Charles den Situationsplan hatte, usw. Es hatte ebenfalls gar keinen Zweck.

Und wo nun mochte das Betreffende auf dem Grunde des Sees ruhen? Nobody schätzte den Wasserspiegel auf mindestens dreihundert Meter im Durchmesser. Auf solch einem großen Terrain ließ sich schwer im Trüben fischen.

»Das heißt, fischen läßt sich wohl,« meinte Nobody, »aber aufs Fangen und Finden kommt es an. Wie tief ist der See?«

Auch hierüber konnte keine der Damen Auskunft geben, auch keines der Mädchen, die hier aufgewachsen waren. Hier wurde überhaupt gar keine Fischerei betrieben, sie lohnte sich nicht.

Nobody nahm einen langen Ast und fand, daß es gleich am Ufer recht abschüssig hinabging.

»Warum heißt er der Schlangensee?«

»Weil niemals eine Schlange darin gesehen worden ist!« erklärte die nie um eine Antwort verlegene Frau Hackerle. »Hier gibt's überhaupt keine Schlangen, weder Wasserschlangen noch menschliche noch sonstige.«

»Gibt es noch einen großen Schlangensee?«

Auch nicht. Nur einen kleinen. Dieser Name stammte noch von den früheren Indianern, er war ins Englische übersetzt worden.

Weiter ließ sich Nobody erklären, daß der See weder Ab- noch Zufluß hatte. Zur Zeit der Schneeschmelze rannen von überall Bächlein zu, sonst sorgte nur der Regen für Wassererhaltung, und auch in den heißesten Monaten sank der Spiegel nur wenig.

»Daraus ist zu konstatieren, daß er sehr tief ist, und über diese Durchschnittstiefe muß ich mich erst vergewissern, ehe ich sagen kann, was hier weiter zu machen ist.«

Ein Boot war vorhanden, das aber die Mädchen erst von einem anderen See herantragen mußten. Darüber verging schon eine Stunde. Unterdessen band Nobody Lassos und Seile zusammen, maß die Logleine aus, sie meterweise durch Knoten markierend, verschaffte sich ein Gewicht, Talg und andere Materialien, die er zu gebrauchen gedachte.

Der Nachen war zur Stelle, Mademoiselle erbot sich, das Ruder zu führen, was sie sehr geschickt tat. Nach drei weiteren Stunden hatte sich Nobody vergewissert, daß die tiefste Stelle des Sees wenig über vierzig Meter betrug – übrigens, wenn man sich dieses Maß der Höhe nach vorstellt, für solch einen kleinen See eine außerordentliche, eine enorme Tiefe!

Das mit Talg beschmierte Senkblei hatte immer nur Schlamm heraufgebracht, nichts weiter. Aber trotz dieses Schlammbodens, und trotzdem das Wasser so schwarz aussah, war es durchaus nicht trübe. Der Schlamm hatte ja genug Zeit, sich abzusetzen und wurde durch nichts aufgewirbelt. Diese eigentliche Durchsichtigkeit des Wassers, nur durch den dunklen Boden verdeckt, nicht minder von dem Schatten der Bäume und der ganzen Umgebung, war für Nobody von größter Wichtigkeit.

»Wir müssen eben fischen,« meinte Mrs. Bowell, die mit ihren Freundinnen und dem Schwarzrock inzwischen immer um den See herumpromeniert war. »Nur schade, daß wir hier kein Fischnetz haben, und ich glaube schwerlich, daß ein solches in Denver City ...«

»Nein, gnädige Frau,« wurde sie von Nobody unterbrochen, »hier kann uns kein Fischernetz etwas nützen. Bei vierzig Meter Tiefe, was meinen Sie wohl! Das müßte schon ein Tiefseenetz sein, ganz anders konstruiert, in das wohl ein Fisch hineingeht, mit dem man aber sonst nichts heraufziehen kann. Nein, ich habe ein anderes Mittel, um das Geheimnis dieses Sees zu lösen. Unter meinem Gepäck in Denver City befindet sich auch ein Tauchapparat.«

Wieder blickte mit sprachlosem Staunen alles auf den Detektiv, der niemals in Verlegenheit kommen konnte. Oder schleppt etwa jeder Detektiv immer einen Tauchapparat mit sich herum?

Nobody tat dies allerdings auch nicht. Aber er hatte sich doch direkt von Aegypten oder richtiger zuletzt von Abessinien nach New-York begeben, und so hatte er eben auch das Taucherkostüm mit einer noch gefüllten Luftbombe mitgenommen.

»Es handelt sich nur darum, daß jemand diesen Apparat aus Denver holt. Es ist nur ein kleiner Koffer, ein Reiter kann ihn bequem vor sich auf den Sattel nehmen.«

»Ein Tauchapparat mit Luftpumpe und einem vierzig Meter langen Schlauch in einem kleinen Koffer?« bezweifelte der Schwarzrock.

»Mein Apparat sieht etwas anders aus. Jedenfalls erfüllt er seinen Zweck, und sobald er hier ist, werde ich das Geheimnis lösen.«

Ein Mädchen erklärte sich sofort bereit dazu, das Verlangte zu holen. Nobody gab ihr die Adresse des Hotels und etwas Schriftliches mit, und dann saß das Mädchen schon im Sattel und jagte davon, als gebe es nur so eine kleine Bestellung auszuführen, als handle es sich nur um einen Katzensprung und nicht um einen Hin- und Herweg von guten dreißig deutschen Meilen bei Nacht und Sonnenglut durch das wilde Felsengebirge. Wenn nichts dazwischen käme, wolle sie übermorgen früh wieder hier sein. Dann durfte sie freilich nicht an Schlafen denken.

»Und wir haben über die Goldschätze, welche eventuell auf dem Grunde des Sees ruhen, unterdessen ganz der armen Gefangenen vergessen,« nahm jetzt der Schwarzrock salbungsvoll das Wort.

»Ach was, zu essen hat die genug, und auch einen Krug mit Wasser habe ich ihr hingestellt,« sagte die Französin leichthin.

»Aber wie mag es in ihrem Herzen aussehen!« fuhr der Bischof ebenso salbungsvoll fort. »Ich möchte mich überhaupt einmal zu ihr begeben und ihr ins Gewissen reden, vielleicht, daß sie gleich ihre Untat eingesteht.«

»Das möchten wir doch lieber diesem professionellen Kriminalbeamten überlassen,« schaltete Clarence wieder ein.

Hiermit aber war Nobody gar nicht einverstanden. Der Bischof kam dem Plane, den er schon längst ausgegrübelt, sogar sehr entgegen. Es war allerdings zu erwarten gewesen.

»Mitnichten. Ich eigne mich gar nicht zum Verhör, und ich weiß aus Erfahrung, welchen Einfluß ein Geistlicher ausüben kann, gerade bei Uebeltätern, wenn sie auf frischer Tat ertappt worden oder doch eben erst ins Gefängnis eingeliefert sind. Da ist das Herz mit einem Male ganz mürbe. Ja, auch ich bin dafür, daß Hochehrwürden sie einmal besucht, ihr ins Gewissen spricht, und auch diese Dämmerstunde ist gerade recht geeignet dazu.«

Wenn die Bestätigung von dieser Seite erfolgte, so hatten die anderen nichts mehr einzuwenden.

Der Bischof erkundigte sich noch über die Verhältnisse. Der Indianer saß vor der oberen Tür, hatte den Schlüssel, für die Nacht auch eine Blendlaterne.

»Wird er mir auch ohne weiteres öffnen?«

»Ja, da ist besser, wenn ...«

»Ich werde Sie begleiten,« fiel Mrs. Bowell der Französin ins Wort, was sich diese aber nicht gefallen ließ.

»Nein, ich selbst möchte mitgehen, auch dir, Irma, dürfte Ispanje vielleicht nicht öffnen.«

Was war das? Sollte sich der so überaus scharf beobachtende Detektiv geirrt haben? War Mrs. Bowell nicht geradezu enttäuscht, daß sie den Bischof nicht begleiten durfte, wenigstens nicht allein? Denn den beiden schloß sie sich nun nicht mehr an.

Wohl kein anderer Mensch hätte etwas davon bemerkt, wie sehnlich gern Mrs. Bowell den Bischof allein begleitet hätte, wie enttäuscht sie dann war – aber dieser Detektiv war eben gewöhnt und befähigt, auch die kleinste Kleinigkeit zu beobachten, und nur zu bald sollte sich zeigen, daß er sich nicht geirrt hatte.

Die beiden gingen sofort in der Richtung des Schlosses davon.

Nun galt es für Nobody, schnell zu handeln! Denn daß der Bischof eine Unterredung mit der Gefangenen unter vier Augen herbeiwünschte, das hatte er als ganz selbstverständlich erwartet. Und umsonst hatte der Schwarzrock vorhin nicht so eingehend die eiserne Tür betrachtet und auch den Turm von außen gemustert. Er hatte sich eben überzeugt, daß solch eine Unterredung möglich war, ohne von fremden Ohren belauscht zu werden. Auch Nobody wußte sich von den drei anderen Damen schnell und unauffällig zu entfernen. Es begann ja schon zu dunkeln, er hatte nur nötig, einige Schritte ins Gebüsch zu dringen, so hatte er sich schon unsichtbar gemacht.

Das war aber die Unsichtbarkeit des ersten Grades. Die des zweiten Grades folgte alsbald nach. Hinter einem Baume verborgen machte er Toilette. Das heißt, er legte sein Tarngewand an, von dem schon einmal erwähnt worden ist, wie praktisch er es in einem Lederetui untergebracht hatte.

Im Handumdrehen war es geschehen, und jetzt war Nobody wirklich ein Niemand, eine für das menschliche Auge wesenlose Person.

So folgte er den beiden, hatte sie bald eingeholt, hielt sich dicht hinter ihnen. Er wollte also dabeisein, wenn der Bischof der Gefangenen ›ins Gewissen sprach‹. Vielleicht oder vielmehr jedenfalls würde er dabei auch etwas anderes zu hören bekommen. Wohl war er ein unsichtbarer Geist, auch ein unhörbarer, denn daß die Sohlen seiner Lederstiefel auf keiner Unterlage ein Geräusch machten, das war bei diesem Detektiven doch selbstverständlich, der brauchte deshalb keinen weichen Teppich unter seinen Füßen – aber ein unfaßbarer Geist, durch den man hindurchgreifen kann, war er nicht!

Jetzt kam es also darauf an, gleichzeitig mit dem Bischof durch die sich öffnende Tür zu treten, ohne dabei mit ihm oder mit einer anderen Person in Berührung zu kommen. Würde ihm dieses Kunststückchen gelingen? Es mußte eben riskiert werden, und Nobody vertraute seiner erprobten Geschicklichkeit, seiner schlangenartige Schmiegsamkeit! Und im äußersten Falle war er bereit, sein Geheimnis der Französin zu offenbaren.

Die beiden wechselten unterwegs kein einziges Wort. Es war auch nicht weit bis zu dem Schloßhofe, sie durchschritten ihn, die untere Tür des Turmes stand weit offen, sie erstiegen die dunkle Steintreppe, den unsichtbaren und lautlosen Geist immer dicht auf den Fersen.

»Ispanje!«

»Hugh!« erscholl es von dorther zurück, wo in der Finsternis, die hier schon herrschte, ein roter Punkt glühte, von dem auch der bitterlich riechende Tabaksrauch ausging.

»Zünde die Laterne an!«

Es geschah. Sie beleuchtete den Indianer, der rauchend auf einem Stückchen Teppich kauerte.

»Hat die Gefangene schon einmal geklopft?«

Nein, sie hatte noch keine Wünsche.

»Gib mir den Schlüssel. Dieser Herr will mit der Gefangenen einige Zeit allein sein.«

»Sie werden mir wohl nicht zutrauen, Herr Bischof,« fuhr die Französin fort, als sie den ihr dargereichten Schlüssel in das Schloß steckte, »daß ich an der Tür lauschen werde. Hier, nehmen Sie die Laterne.«

Ihre stolzen Züge hatten dabei mehr versichert, als ihre Worte.

Die eiserne Tür ging auf – jetzt kam es für Nobody darauf an – es gelang mit Leichtigkeit! Die Französin hatte die Tür noch weiter in den Angeln zurückgedreht, als es für Nobody nötig war, um ohne irgendwo anzustoßen mit hineinschlüpfen zu können.

Die Tür schloß sich wieder, und in dem Raume befanden sich drei Personen, von denen sich die unsichtbare sofort in den Hintergrund zurückzog.

Auf dem Bett, welches man aufgeschlagen hatte, lag die Gefangene. Erst ein Augenblinzeln, und dann, als sie erkannte, daß es nur ihr Begleiter war, richtete sie sich auf.

Der Bischof hatte zwei Schritte in die Kammer hinein gemacht, blickte noch einmal vorsichtig hinter sich, ob die Tür auch geschlossen worden war, dann setzte er die Laterne auf eine Kiste und faltete die Hände über der Brust.

»Unglückseliges Weib, was hast du getan!« kam es flüsternd über seine Lippen.

Aber das war nicht etwa so gesprochen worden, wie man es von einem Geistlichen gegenüber einer Verbrecherin hätte erwarten sollen. Jetzt war nichts von einem salbungsvollen Tone zu bemerken, und auch die gefalteten Hände konnten daran nichts ändern. Vielmehr halb enttäuscht, halb furchtbar drohend hatte es geklungen, und drohend auch waren die schwarzen Augen auf das Weib gerichtet.

»Ich war von Sinnen,« gab dieses flüsternd zurück, und es klang wie ein Aechzen.

»Was, zum Henker, fiel dir ein, beim Anblick der hölzernen Büchse gleich zu entfliehen!«

»Ich wußte nicht, was ich tat. O, dieser Nobody!«

»Nun ist alles verloren. Und auch wir selbst sind verloren! Dadurch, daß du flohst und dann auch noch zum Dolch griffst, hast du selbst das Urteil über dich gesprochen, kein Mensch zweifelt jetzt mehr daran, daß du den Charles Bowell ermordet hast, und dieser Nobody wird mich nun auch noch überführen, daß ich das Kirchenbuch und den Trauschein gefälscht habe!«

Doch so geläufig sprach der Bischof dies nicht aus. Wir können die Unterhaltung der beiden überhaupt nicht wiedergeben; denn sie sprachen mindestens eine Viertelstunde zusammen, ein Wort gab immer schnell das andere, und das würde gar zu viel Seiten füllen.

So müssen wir das Gespräch summarisch schildern. Dadurch, daß sich die beiden gegenseitig anklagten, einander mit Vorwürfen überschütteten, bekam Nobody ihrer beider Schuld zu hören.

Mrs. Bowell war mit ihrer Kalkulation der Wahrheit sehr, sehr nahe gekommen. Dieses Weib selbst hatte in der Libyschen Wüste den Mann ermordet, dem sie sich als Reisebegleiterin angeschlossen, dessen Vertrauen sie zu gewinnen gewußt hatte. Ihn von der kleinen Karawane, die der Forschungsreisende ausgerüstet, abseits lockend, hatte sie ihn mit einem Handbeil erschlagen.

Nähere Details bekam Nobody allerdings nicht zu hören, aber das war doch die Hauptsache, die sich Nobody aus den einzelnen Anklagen und Verteidigungen der beiden zusammensetzen konnte.

Ihm den Situationsplan abzunehmen, der für dieses Tal galt, deshalb war ihm Miß Harriet, wie sie auch jetzt noch von dem Bischof genannt wurde, bis in die Libysche Wüste gefolgt.

Aber das Weib handelte nicht selbständig, es war nur das Werkzeug eines anderen, handelte auf Befehl, war aus einer ganzen Bande zur Ausführung dieses Plans auserwählt worden.

Um was es sich hier handelte, das war unserem Nobody nun ja schon wohlbekannt. Nicht umsonst hatte ihm Edward Scott damals gesagt, hier würde er eine weitere Spur finden, die bei jener Sekte endete, deren Mitglieder er bisher nur unter dem abessinischen Namen ›Udlindschis‹ kennen gelernt hatte, deren Haupt jener Mann gewesen, der sich einmal Sinclaire, ein anderes Mal Mephistopheles genannt hatte.

Und immer deutlicher merkte Nobody auch jetzt aus dieser Unterhaltung, daß dieser verbrecherischen Sekte seit einiger Zeit der Führer fehlte. Schon seit einiger Zeit irrten ihre Mitglieder planlos in der Welt herum, eine hirtenlose Herde, und deshalb konnten sie auch nicht mehr so wie früher zusammen arbeiten, kein Anschlag wollte ihnen mehr recht gelingen. Es fehlte eben die Hand des Meisters – des unsichtbaren Meisters!

Auch der Bischof gehörte mit zu dieser Sekte, die einen ›Nemo‹ als Gott anbetete. Auch er hatte auf irgendeine Weise den Befehl erhalten, diesem Weibe, wenn es den Situationsplan brachte, weiter behilflich zu sein, um den Schatz zu heben, der hier im Koloradotal verborgen läge.

Nun aber war alles anders gekommen. Der Mörderin war im Wüstensande die hölzerne Büchse entgangen. Sie hatte sich nach Philadelphia zu Bischof Lindol begeben, jedenfalls laut eines ihr schon vorher gegebenen Befehls.

Wann der Mord geschehen war, das konnte Nobody aus dieser Unterhaltung leider nicht konstatieren. Es schien ihm, als ob die Mörderin ziemlich lange in Afrika herumgeirrt sei, ehe sie dann ihren Genossen aufsuchte, ihm das negative Resultat zu melden.

Merkwürdig war es auch – für Nobody allerdings nicht ganz so merkwürdig – daß die beiden gar nicht wußten, um was es sich eigentlich handelte, was also im Koloradotal vergraben liegen sollte.

Sie wußten nur, daß sich in diesem eine Kirche und ein Felsen oder Berg befand, der einem Stiefel glich, und auf der Linie, die man zwischen diesen beiden Punkten zog, sollte das Betreffende vergraben liegen. Auch von einem See hatten die beiden nichts gewußt.

Nun fehlte noch die andere Linie, die war auf dem Situationsplan angegeben, den Mr. Charles Bowell in der Tasche trug.

Dieser Situationsplan war der Mörderin also entgangen, sie kehrte zu ihrem ihr befohlenen Spießgesellen mit leeren Händen zurück.

Jetzt fälschte Bischof Lindol das Kirchenbuch und schrieb einen Trauschein aus. Dem in gewissem Sinne fast allmächtigen Bischof war nichts nachzuweisen. Harriet sollte als die Gattin Charles Bowells auftreten. Nach amerikanischem Gesetz fielen dieser alle unbeweglichen Güter der Erbschaft zu, Mrs. Irma Bowell mußte ihr diesen Besitz abtreten.

Auch das hatte der ›Meister‹ gewollt – eine Bezeichnung, die der lauschende Nobody oft genug zu hören bekam.

So war man also Herr des Landes, in dem der Schatz, oder was es sonst war, vergraben lag. Aber man mußte sich nur mit der einen Linie behelfen, die man sich zwischen der ›Kirche‹ und dem ›Stiefel‹ gezogen hatte. Was es mit der ›Kirche‹ für eine Bewandtnis hatte, das hatte der Bischof bald herausgebracht. Also ›Zur Kapelle‹ hatte das Wirtshaus früher geheißen.

Aber der Stiefelberg dreißig englische Meilen weit davon entfernt? Himmel, was sollte man denn da für einen endlos langen Graben ziehen?! Und wie ungewiß überhaupt solch eine Luftlinie ist, und man wußte nicht einmal, wie tief man zu graben hatte!

Gleichgültig, wenn der Situationsplan entgangen war, so mußte man doch so gewissenhaft wie möglich das Gebot des Meisters erfüllen!

Da zog der unbekannte Mann die vermißte Holzbüchse, auf die alles angekommen war, aus der Tasche, sprach gleich von Mord, und ... die Mörderin verlor den Kopf, sie hatte sich selbst verraten! – – –

»Die Pest über diesen Nobody!!« knirschte der Schwarzrock zwischen den Zähnen.

»Und was soll aus mir werden?« ächzte das Weib. »Ich bin der schuldige Teil, und wenn ich auch fliehen könnte, wohin sollte ich fliehen, es gibt keinen Ort der Welt, wo mich der Meister nicht zu finden weiß, er wird mich zur Rechenschaft ziehen, und nicht einmal die Freiheit des Selbstmordes besitzen wir. Alles, alles ist verloren!!«

Da, was war das? Nobody hatte keine Zeit, über die Bedeutung dieser letzten Worte nachzugrübeln, er hatte das Gesicht des Schwarzrockes zu beobachten.

Und warum begann dieses Gesicht plötzlich so zu grinsen und nahm solch einen Ausdruck des überlegenen Hohnes an?

»Noch gar nichts ist verloren!«

Mit ungläubigem Staunen richtete sich das niedergebrochene Weib wieder auf.

»Was sagt Ihr da?«

»Daß noch alles wieder gut wird – daß wir doch noch zum Ziele gelangen.«

»Wie wäre das möglich? Mann, macht mir keine unnötigen Hoffnungen!«

»Nun, glaubt Ihr etwa, der Meister hätte mich auf solch einen Posten wie den des Bischofs von Philadelphia gestellt, wenn er nicht wüßte, daß ich auch die Fähigkeiten habe, ihn auszufüllen?«

»Daß der Meister sonst sehr mit Euch zufrieden ist, weiß ich, aber in diesem Falle wird Eure Kunst wohl ...«

»Eine Kleinigkeit für mich, alles wieder zu regeln, es ist alles schon geregelt,« grinste der andere. »Die Sache ist doch ganz einfach – wenigstens einfach für mich. Dieser Nobody ist durch irgendeinen Zufall, den er aber uns selbst noch erzählen soll, in den Besitz der Holzbüchse mit dem Situationsplan gekommen. Wir haben den betreffenden Punkt schon gefunden ...«

»Wo?«

»Es ist ein See, der kleine Schlangensee genannt. Um darin zu fischen, dazu ist er zu tief. Nobody will sich einen Tauchapparat beschaffen. Mag er, der Narr, er arbeitet ja doch nur für uns. Also gut, Nobody wird das Geheimnis lösen. Aber in dem Augenblicke, da er es zutage befördert, werde ich ...«

Er brach ab, sein Gesichtsausdruck änderte sich, nahm etwas Dämonisches an, so schlich er mit vorgebeugtem Oberkörper auf die auf dem Bett Sitzende zu, so sprach er weiter ... Nobody aber verstand nichts mehr, es war eine ihm fremde Sprache, und sofort wußte er – was man übrigens sehr leicht unterscheiden kann – daß es eine künstliche war, eine Geheimsprache, also jedenfalls die dieser Sekte.

So weit, daß sich die beiden unterhielten, ohne daß er etwas davon verstand, durfte er es aber auf keinen Fall kommen lassen!

Denn nun wußte er schon zur Genüge, was für gefährliche Subjekte er vor sich hatte, einer Gesellschaft angehörend, die über Hilfsmittel verfügte, von denen auch der erfahrene Nobody noch nicht einmal eine Ahnung hatte, was für teuflische Pläne konnten die beiden jetzt nicht aushecken, und einmal wollte Nobody die Entlarvung doch herbeiführen, deshalb war er ja dem Bischof hierher gefolgt ... kurz und gut, weiter durfte er es nicht kommen lassen!

»So, so. Das sind ja nette Sachen, die man da zu hören bekommt.«

Ganz gemütlich hatte es aus einer Ecke geklungen, ein schneller, geschickter, wohleingeübter Griff, der das dünne Gewebe entfernte, und ... der Bischof sah seinen Todfeind vor sich stehen, einen Revolver auf ihn angeschlagen.

Es läßt sich denken, daß der Schwarzrock im ersten Augenblicke eher an einen Geist denn an den Anblick eines lebenden Menschen glaubte. Dann sah es aus, als wolle er wie anbetend auf die Knie sinken, aber es kam nicht dazu.

Sein Verhalten war ganz genau dasselbe, wie vorhin das des Weibes, dem er deswegen Vorwürfe gemacht hatte.

Einen unartikulierten Schrei ausstoßend, wandte er sich um und sprang nach der Tür. Nobody war der festen Ueberzeugung gewesen, daß diese von der Französin oder von dem Indianer wieder verschlossen worden sei. Allein dies war nicht der Fall.

Im Sprunge erfaßte der Schwarzrock die Klinke und ... stieß die Tür nach außen auf.

Nun freilich Nobody hinter ihm her! Von dem Revolver machte er keinen Gebrauch, lebendig mußte er ihn haben, um ... ihn kaltzumachen! Aus seinen Fängen wenigstens ließ er den nicht wieder!

Ein Blick sagte ihm, daß sich der Indianer noch vor der Tür befand, und dieser Wächter genügte für die Gefangene.

Hinab ging es die Treppe, sechs Stufen auf einmal, und dann um den Turm herum.

Denn der Flüchtling hatte seinen Weg nicht durch den Hof nach dem Schlosse genommen, sondern hatte jenen schon erwähnten Stall benutzt, dessen beide Türen noch immer offen standen.

Wahrscheinlich wollte er durch solche Winkelzüge seinem Verfolger entgehen, was ihm nun freilich nicht gelang.

Nur das schwache Licht der Sterne beleuchtete die wilde Jagd, welche also über jene hintere Wiese ging; wahrscheinlich strebte der Flüchtling nach seinem Pferde, das er dort hinten stehen wußte, und es ward Nobody doch nicht so leicht, ihn einzuholen, denn die Todesangst verlieh jenem die Schnelligkeit einer ... einer Fledermaus.

Ja, ganz einer riesigen Fledermaus glich er, wie er mit seinen langen, flatternden Rockschößen über die Wiese dahinjagte.

Nicht lange währte die wilde Jagd um Tod und Leben.

»Steh, oder ich ...«

Nobody konnte seine Drohung nicht vollenden. Das Wort erstarb ihm im Munde.

Doch bei der Schnelligkeit, mit der alles vor sich ging, läßt sich das Nachfolgende kaum beschreiben.

Es hatte gepatscht – es patschte noch – Wasser spritzte auf – und in dem Augenblicke, wie es Nobody zum Bewußtsein kam, daß er sumpfigen Boden unter seinen Füßen hatte, der ihn schon wie Zangen festhielt, sah er bereits die Gestalt des Flüchtlings versinken – – und da begann Nobody schon selbst mit dem Tode zu ringen, der ihn umklammern wollte – denn man wolle nur bedenken, daß er sich doch in voller Flucht befunden hatte, da sinkt der Fuß bei weitem nicht so schnell ein, man kann sogar eine gute Strecke über sumpfigen Boden rennen – aber wehe, wenn der flüchtige Fuß einmal stockt! – und Nobody fühlte sich schon versinken – seine Füße waren schon wie in einen Schraubstock gespannt – mit der furchtbaren Kraft der Verzweiflung konnte er sich noch einmal losreißen, beide Stiefel im Stiche lassend – rückwärts, rückwärts! – noch einmal bis zum Unterleibe eingesunken, wieder sich emporgearbeitet, wieder eingesunken, wieder heraus ... und dann hatte er festen Boden unter sich.

Dieser Kampf mit dem Tode hatte vielleicht nur fünf Sekunden gewährt. Nobody hatte eine Ewigkeit mit dem Tode gerungen. Sein Haar sträubte sich, von seinem Gesicht tropfte der kalte Todesschweiß.

Aber die Besinnung hatte er deswegen nicht verloren.

Dort in der Nähe des Schlosses huschten Lichtchen hin und her.

»Hierher, zu Hilfe, ein Mann ist versunken!« schrie Nobody mit allem Aufgebot seiner Lunge.

Es waren einige der Mädchen, die mit Laternen und Fackeln herbeikamen. Die Worte selbst hatten sie wohl gar nicht verstanden, nur den Hilferuf vernommen, und sie sahen dort einen Mann stehen, an jener Stelle, wo sie wußten, daß in der dichtesten Nähe der Tod lauerte.

»Zurück, Ihr steht am grünen Sumpf, zurück!« erklang es kreischend vor Angst.

»Ich stehe fest, aber der Bischof ist eingesunken!«

Die Laternen und Fackeln waren da, jetzt erkannte Nobody, daß sich in weitem Kreise Barrieren hinzogen, nur gerade hier war ein Gitter gebrochen und umgefallen, und gerade durch diese Oeffnung hindurch hatten die beiden ihren Weg genommen. Sonst war von einem Sumpfe nichts zu sehen, die Umzäunung schien nur eine grüne Wiese einzuschließen. Wer?«

»Bischof Lindol!«

Das Nächstfolgende läßt sich noch weniger beschreiben. Das Vorangegangene war nur eine kleine Einleitung gewesen zu einer fürchterlichen Szene, die sich hier im Sternenschein und Fackellicht abspielen sollte.

Jetzt kam auch Miß Field mit ihren langen Beinen angerannt, dahinterher kugelte die Mrs. Hackerle, überholt wurden die beiden noch von einem anderen Weibe, das mit aufgelöstem Haar einherstürmte. Es war Misstreß Bowell.

»Wer?«

»Der Bischof Lindol ist im Sumpfe eingebrochen!«

Ein gellender Schrei, der gar nichts Menschliches mehr an sich hatte.

»Wo, wo?!«

»Dort, dort, wo das Gras noch offen ist!«

»Leitern her, Lassos zusammengeknüpft!« kommandierte Nobody. »Die Barrieren über den Sumpf ge ...«

Da war das Entsetzliche schon geschehen!

»Charly, mein Charly!«

Noch einmal hatte es gegellt, und dann war das Weib mit den aufgelösten Haaren ebenfalls in dem Sumpfe verschwunden, hatte sich hineingestürzt, um den Unglücklichen zu retten.

Wie kam Mrs. Bowell dazu, den Bischof mit seinem Vornamen zu rufen? Woher kannte sie diesen überhaupt? Kein anderer wußte davon.

Doch wer legte sich jetzt solche Fragen vor?

»Um Gottes willen, Irma!«

Und wieder patschte es und spritzten Wasser und Schlamm hoch auf – jetzt hatte sich auch noch Miß Field in den weichen Morast geworfen, um der Freundin beizustehen!

»Zurück, zurück! Was wollen Sie tun?!«

Zwei Mädchen hatten sich auf Frau Hackerle geworfen, die wieder ihrerseits der Freundin nachspringen wollte.

Es war schon genug der Greuelszene! Die Fackeln und Laternen waren in dem allgemeinen Handgemenge verloschen, nur das bleiche Sternenlicht beleuchtete das grausige Schauspiel. Wie in dem weichen Schlamme zwei oder drei Menschen mit dem Tode und untereinander rangen; hier kam ein Kopf, dort noch einmal ein Arm, nur eine Hand zum Vorschein, und dann wieder ein wilder Kampf von Schlamm und Gliedern und Menschenleibern, und damit noch immer nicht genug, jetzt stürzten sich wiederum zwei Menschen in die tödliche Umarmung des schwarzen Sumpfes!

Aber das waren zwei Retter, welche die Besinnung behalten hatten!

»Zurück, zurück, haltet nur die Lassos!«

Gleichzeitig mit Nobody hatte sich auch die älteste der sieben Schwestern mit einem langen Lasso umschlingen lassen, so hatten sich beide gleichzeitig in die grüne Fläche des trügerischen Sumpfes hineingeworfen.

Wohl kam es nun noch einmal zu solch einem fürchterlichen Kampfe, nichts weiter als ein wirrer Haufen von schwarzem, lebendig gewordenem Schlamm, dann aber war die Rettung gelungen! – –

Die Szene hatte sich geklärt. Wenigstens war Ruhe eingetreten. Wer die schwarzen Gestalten eigentlich waren, die da herumstanden und herumlagen, von Schlamm überzogen, das konnte man immer noch nicht unterscheiden.

Auch Mademoiselle Laboche war nachträglich auf dem Platze erschienen. In ihrer Hand flammte die erste Fackel wieder auf. Der blutige Schein beleuchtete das bleiche Gesicht der Französin, wie sie so fest die Lippen zusammengepreßt hatte, und er beleuchtete die schlammigen Gestalten.

Polly hatte Miß Field erwischt und aufs Trockene gezogen. Beide brauchten keine Hilfe, um Mund und Nasenlöcher von dem zähen Schlamme zu befreien, so daß sie wieder atmen konnten, und dasselbe galt von Nobody.

Aber Mrs. Bowell, die von ihm gepackt und herausgezogen worden war, lag regungslos als ein unförmlicher Haufen Schlamm da.

Alle Hände, die ankommen konnten, beschäftigten sich mit ihr, um ihr vor allen Dingen Luft zu verschaffen, und schon waren zwei Mädchen davongerannt, Eimer mit Wasser zu holen. Das mußte schneller gehen, als wenn man die Bewußtlose erst nach dem Schlosse getragen hätte.

»Das sind ja zwei!«

»Da ist ja auch der Bischof!«

Gewiß, so war es! Mrs. Bowell hielt den Bischof umklammert. Sie hatte ihn eben im Schlamme gefunden und gepackt. Aber auch Nobody hatte gar nicht gewußt, daß er gleichzeitig zwei Personen herausgezogen. Man braucht sich eben nur zu vergegenwärtigen, wie es bei solchen Situationen zugeht, um das begreiflich zu finden.

Mrs. Bowell lag auf Lindol, hatte ihn mit beiden Armen umklammert. Doch die beiden konnten jetzt leicht voneinander getrennt werden, und da kam auch schon das Wasser und machte die Gestalten kenntlicher.

Die Frauen beschäftigten sich mit der Freundin, Nobody mit dem Bischof.

»Sie lebt, sie lebt!« erklang es drüben jubelnd.

»Und hier ist alle Hilfe vergeblich, der Bischof ist tot,« setzte Nobody hinzu.

Das hatte er sofort erkannt, noch ehe die Rachenhöhle von dem Schlamme befreit wurde. Doch wir wollen nicht länger bei dieser Beschreibung verweilen. Es sah entsetzlich aus. Nobody legte die Hand auf das Herz des Regungslosen, und dann mühte er sich gar nicht erst mit einer künstlichen Atmung ab. Wenn jemand einige Minuten schon in solch einem zähen Schlamme gelegen, den er beim krampfhaften Atmen mit in die Lunge bekommen hat, dem ist natürlich nicht mehr zu helfen.

Darüber richtete sich Mrs. Bowell halb empor, blickte mit wirren Augen um sich.

»Wo bin ich?«

»Irma, was ficht dich nur an, dem Manne nachzuspringen? Du kennst doch den grünen Sumpf.«

Immer noch dieselben verständnislosen Augen.

»Dem Manne? Welchem Manne?«

»Dem Bischof Lindol. Und du hättest ihn auch gar nicht mehr retten können, der ist bereits tot, erstickt.«

Noch einmal irrten die wirren Augen umher.

»Der Bischof Lindol? Tot – tot, sagst du? Aber das kann doch gar nicht ...«

Da blieben die irren Augen auf dem am Boden Liegenden haften. Wieder solch ein gellender Schrei. Sie war aufgesprungen und hatte sich auf den Bischof gestürzt, sich auf ihn geworfen, umklammerte ihn.

»Charly, mein Charly! Es ist nicht möglich, daß du tot bist! – Gott kann nicht so grausam sein, daß er dich mir gleich wieder raubt, nachdem er dich mir soeben erst geschenkt hat! – Wache auf, Charly, sei wieder mein lieber Charly!!!«

So und anders erklang es in herzzerreißendem Jammer, und dabei preßte Mrs. Bowell immer wieder ihren Mund auf die kalten, bleichen Lippen des Bischofs und überschüttete ihn mit anderen Liebkosungen, als wolle sie den Toten dadurch ins Leben zurückrufen.

Alle wurden vor Schreck wie gelähmt. Wie das Weib den Toten liebkoste, ihn mit zärtlichen Worten überschüttete, es war eine Szene, die jenem vorangegangenen Todesringkampfe im schwarzen Sumpfe an Fürchterlichkeit nichts nachgab.

Ein Stöhnen ließ Nobody seitwärts blicken.

Neben ihm stand die Französin. Sie hatte beide Hände gegen die Schläfen gepreßt und blickte mit stieren Augen nach den beiden.

»Mein Gott, mein Gott, auch das noch!«

»Hat denn Mrs. Bowell den Bischof Lindol schon früher gekannt?«

Die entsetzten Augen wandten sich dem Frager zu.

»Nein – nein – verstehen Sie denn nicht –? Doch nein, woher sollen Sie es denn wissen! – Hier liegt ein Irrtum vor – eine furchtbare Verkettung von Verhältnissen, oder wie man es sonst nennen mag. Kurz bevor Charles abreiste – Charles Bowell meine ich – geriet er hier in diesen Sumpf – und mit ihm Irma – die beiden rangen mit dem Schlamm – mit sich selbst – nur unter den furchtbarsten Anstrengungen konnten beide gerettet werden – Irma fiel in ein heftiges Nervenfieber – sie genas – – etwas aber mag doch zurückgeblieben sein – sie kann den Sumpf gar nicht mehr sehen – und nun – und nun – dieser neue Fall – mein Gott, mein Gott, sie hält den Bischof für Charly – und das kann man keinen Irrtum mehr nennen, das ist ja schon mehr Irrsinn!«

»Und merkwürdig,« setzte Frau Hackerle hinzu, »daß Bischof Lindol mit Vornamen ebenfalls Charles heißt, ich weiß es.«

Auch Nobody war furchtbar erschüttert. Und wieder hatte er einen tiefen Einblick in das Familienleben bekommen, das früher hier geherrscht. »Die beiden rangen mit dem Schlamm – mit sich selbst,« hatte die Erzählerin gesagt.

Mit sich selbst, das heißt miteinander – sah das nicht fast aus, als hätten die beiden zusammen einen Selbstmord begehen wollen?

»Charly, mein Charly, wache doch auf! Ich will ja dir gehören!« jammerte es am Boden weiter.

Mit sanfter Gewalt mußte sie von dem Toten getrennt werden. Nur nach dem Versprechen, daß auch dieser nach dem Schlosse gebracht würde, ließ sie sich von den Freundinnen fortführen.

»Kaum vereint, kaum in Liebe gefunden, so schon wieder getrennt!«

Das waren die letzten Worte, welche Nobody aus dem Munde der Fortgehenden vernahm, und sie machten einen ganz seltsamen Eindruck auf ihn. Das klang gar nicht nach Irrsinn.

Dann trug Nobody mit Hilfe eines Mädchens die Leiche ebenfalls in das Schloß; in einer Kammer entkleidete er sie, untersuchte die Taschen.

Er fand keinen erwähnenswerten Gegenstand, auch nichts Schriftliches, was von Belang gewesen wäre.

Diese Visitation hatte zehn Minuten gedauert. Eben breitete Nobody eine Decke über die entkleidete Leiche, als die Tür aufging und Clarence eintrat.

Bei ihrem Anblick erschrak Nobody. Er erkannte das schöne Antlitz, auf dem die tiefste Seelenruhe ihren Stempel gedrückt hatte, kaum wieder. Ihre Zähne schlugen hörbar aufeinander.

»Um Gott, was ist denn immer noch geschehen?!«

»Zeichen und Wunder sind geschehen, welche der menschliche Geist nicht fassen kann,« lautete die mit klappernden Zähnen hervorgebrachte Antwort.

»Ist Mrs. Bowell ...«

»O, die befindet sich wohl, ganz wohl. Von Irrsinn gar keine Spur, nicht einmal von einem Irrtum.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will damit sagen, daß es wirklich der Bischof Lindol ist, dessen Tod Irma bejammert. Den Bischof Lindol aus Philadelphia, den sie heute zum ersten Male gesehen hat, der uns allen den unsympathischsten Eindruck machte, den Irma als ihren Feind betrachten mußte – er ist es, den Irma plötzlich mit grenzenloser Liebe ins Herz geschlossen hat. – Nun, staunen Sie denn gar nicht?«

Nein, Nobody tat es nicht im mindesten. Nur seine Augen, die sich auf den Toten richteten, nahmen plötzlich einen furchtbar drohenden Ausdruck an. Doch sie waren wieder kalt und klug, als sie sich abermals der Französin zuwendeten, die sich jetzt ebenfalls wieder beherrschen konnte. Vor allen Dingen hatte das schreckliche Zähneklappern aufgehört.

»Das kann doch immer noch eine fixe Idee von ihr sein.«

»Nein, das ist so wenig eine fixe Idee, wie es eine fixe Idee ist, daß Ispanje mit der Gefangenen entflohen ist.«

»Was?« fuhr jetzt freilich Nobody betroffen auf.

»Der Indianerhäuptling ist mit der Gefangenen entflohen, hat sie entführt. Molly hat gesehen, wie er sie auf sein Pferd hob, hat die beiden in Karriere nach Osten davonreiten sehen. Jawohl, Sie brauchen mich nicht so anzublicken, ich wenigstens bin nicht irrsinnig. Ich habe mich schon überzeugt. Die Gefangene fort, Ispanje fort, Parole fort, seine Lanze fort, sogar sein Kalumet fort – na, denken Sie denn etwa, solch einem Arrapaho-Häuptling fällt es einmal ein, zur Förderung der Gesundheit einen kleinen Spazierritt zu machen? Und damit die Gefangene, die ihm anvertraut ist, nicht entfliehen kann, nimmt er sie gleich mit? Nein, Ispanje hat das Weib mitgenommen, weil er Gefallen gefunden hat an der glatten Larve und an den schwarzen Haaren und an den grünen Augen. Ja, diese grünen Augen haben es ihm angetan. Er hat sie mitgenommen, um sie in seinen Wigwam zu führen, um sie zu seinem Weibe zu machen.«

Eine eisige Ruhe war plötzlich über sie gekommen, so brachte sie auch die Worte hervor, aber Nobody, der sie mit starren Augen betrachtete, erkannte, was Furchtbares in dem jungen Weibe vor sich gehen mußte.

»Sehen Sie,« fuhr sie in demselben eisigen Tone fort, der so seltsam zum Inhalt kontrastierte, »als es mir zur Erkenntnis kam, daß mich wirklich Ispanje verlassen hat, um mit einer anderen zu fliehen – mich verlassen – mich, der ich sein Blut getrunken habe, wie er das meine, für dessen Treue ich mein Haupt auf den Block gelegt, meine Seligkeit, an die ich glaube, verschworen hätte – als dies mir zur Erkenntnis kam, da zweifelte ich auch nicht mehr daran, daß es wirklich der Bischof Lindol ist, dem Irma plötzlich ihr Herz in heißer Liebe zugewandt hat, mit dessen Tode sie ihr Liebstes auf Erden verloren ...«

Mit einem Male verzog sich ihr starres Gesicht wie in einem grenzenlosen Schmerze, sie hob beide Arme; so blickte sie zur Decke empor, und jetzt klang es ganz anders:

»O Himmel, stürze ein, verlöscht, ihr Gestirne – ein leerer Wahn, ein Hohn ist die Treue – ein Fluch ist die ...«

Ihre erhobenen Hände wurden gefaßt und sanft gedrückt.

»Fluchen Sie nicht. Sie würden Unschuldige verfluchen.«

»Unschuldige?« kam es mit unaussprechlicher Bitterkeit hervor.

»Ja. Ich kann eine andere Erklärung geben. Der dort – der ist an allem schuld!!!«

Nobody hatte zurück nach dem Toten gedeutet, und plötzlich verzerrte sich auch sein Gesicht, seine Fäuste ballten sich, er duckte sich, und es schien einen Augenblick, als wolle er sich auf den Leichnam stürzen und noch an diesem eine tierische Wut auslassen.

Doch es kam nicht so weit. Ein Kampf, dessen Fürchterlichkeit man nicht von außen ansah, und es war vorüber, er hatte sich wieder in der Gewalt.

Nicht die Menschen sind bewundernswert und hoch zu preisen, welche deshalb über Zorn und alle anderen häßlichen Leidenschaften erhaben sind, weil sie eben solche Leidenschaften gar nicht kennen. Das sind Frösche.

Aber diejenigen Menschen, welche von allen Leidenschaften durchwühlt werden, welche in jahrelangem, heißem Ringen gelernt haben, diese Leidenschaften zu bändigen, wenn und wann sie wollen, das sind die Helden, das sind die Herren der Erde! Denn wer sich selbst besiegt, der besiegt die ganze Welt!

»Führen Sie mich zu Ihrer Freundin!«

»Kommen Sie!«

Mrs. Bowell befand sich im Bett, an dem sich auch die beiden anderen Freundinnen aufhielten. Sie sah wohl erschöpft, aber durchaus nicht krank aus, noch weniger machte sie den Eindruck einer Irrsinnigen.

»Bitte, Mrs. Bowell, blicken Sie mich einmal fest an,« sagte Nobody, ihre Hand ergreifend.

Sie tat es mit einer stillen Resignation, Nobody konzentrierte all seine Willenskraft – sie war nicht zu hypnotisieren, obgleich er sicher wußte, daß diese Frau sonst nicht zu den Personen gehörte, welche dem hypnotischen Einflusse trotzen.

»Ja, es ist so, wie ich mir dachte. Sie haben Fieber. Ich habe ein vorzügliches Gegenmittel, wollen Sie dieses Glas Wasser trinken.«

Er hatte eine kleine gläserne Phiole aus der Tasche gezogen, schenkte vom Nachttisch ein Glas mit Wasser voll und träufelte einige Tropfen hinein.

Sie nahm das dargereichte Glas ohne Zögern, trank – – und schon nach den ersten Schlucken schien sie plötzlich zu erstarren, die das Glas haltende Hand blieb steif in der Luft stehen, während sich ihre Augen ganz nach oben verdrehten, daß nur noch das Weiße zu sehen war.

»Was ist das?« flüsterten die Damen bestürzt.

Nobody brauchte in diesem Kreise keine Erklärung zu geben.

»Mr. Nobody hat sie hypnotisiert,« sagte Clarence, und nun, da es ausgesprochen war, war es auch für die anderen Damen durchaus nichts Neues mehr, sie alle hatten schon hypnotischen Vorstellungen beigewohnt, welche gerade damals in Amerika recht Mode waren, und gerade in Amerika zweifelt man am allerwenigsten an der Macht des Hypnotismus – leider auch nicht an dem Spiritismus.

»Ah, Sie haben sie hypnotisiert!« erklang es im Chor. »Aber warum denn?«

Nobody gab keine Erklärung, daß man die Hypnotik noch zu etwas anderem verwerten könnte, als nur um einem schaulustigen Publikum Vorstellungen zu geben, die meist nur auf Albereien hinauslaufen – er dachte jetzt an etwas anderes, er atmete tief und schwer, es klang fast wie ein Stöhnen.

Was war es denn, das so furchtbar sein Herz zu bedrücken schien?

»Missis Bowell,« begann er, jedes Wort betonend, »hören Sie mich sprechen?«

»Ja – ich – höre – Sie,« stammelte die Hypnotisierte abgebrochen.

Nobody nahm ihr das Glas aus der Hand. Doch noch immer schien er unter einem furchtbaren Druck zu leiden.

»Sie werden mir gehorchen!!«

»Ich – werde – Ihnen – gehorchen.«

Nahmen da nicht plötzlich Nobodys Züge einen ganz anderen Ausdruck an?

»Sie werden mir der Wahrheit gemäß jede Frage beantworten!«

»Ich werde – der Wahrheit – gemäß antworten,« flüsterte die Hypnotisierte.

Und da brach es bei Nobody wie ein wilder Jubel hervor.

»Triumph, Triumph!!« rief er, plötzlich ganz außer sich. »Und gelobt sei der gerechte Gott, der seine Bäume in den Himmel wachsen läßt! Nur einen einzigen Bösewicht hat es gegeben, der eine Kunst des Hypnotisierens versteht, die auch mir unbekannt ist, aber diesen Bösewicht habe ich bereits zur Strecke gebracht, und seine Helfershelfer verstehen wohl etwas von der einfachen Hypnose, aber jene teuflische Kunst ist ihnen unbekannt. Triumph, Triumph!! Ihre Freundin ist gerettet!!«

Der geneigte Leser weiß natürlich, was Nobody meinte. Durch sein Mittel hatte er wohl auch jenen Mephistopheles in Hypnose versetzen können, aber der Hypnotisierte hatte auch in diesem Zustande den Gehorsam verweigert, und genau dasselbe war mit dem in dem unterirdischen Wasserlaufe aufgefischten Manne der Fall gewesen.

Für die drei Damen aber mußten diese Worte natürlich völlig unverständlich sein. Wie sich später herausstellte, wußten sie auch noch nicht einmal etwas von einem posthypnotischen Befehl, so weit gingen ihre Kenntnisse über diesen geheimnisvollen Zustand, der ja für uns auch noch heute ein Rätsel ist, noch nicht.

Jetzt aber war Nobody, wenn er sich auch noch gar nicht überzeugt hatte, über gar nichts mehr im Zweifel.

»Mrs. Bowell ist hypnotisiert worden und steht unter dem Einflüsse eines fremden Befehls!«

»Hypnotisiert? Wann denn? Von wem denn?« erscholl es durcheinander.

»Ja. An dieser Ansicht kann mich nichts mehr irremachen. Von dem Bischof. Ist dieser mit Mrs. Bowell heute einmal allein gewesen?«

Die Damen wußten zuerst keine Antwort, sie waren ja auch ganz kopfscheu geworden.

»Nicht, daß ich wüßte,« sagte dann Clarence.

»Sie können das auch gar nicht wissen. Wir beide waren doch drei Stunden lang im Boot. Unterdessen sind die anderen drei Damen mit dem Bischof am Ufer des Sees spazieren gegangen. Mrs. Hackerle, Miß Field – können Sie sich entsinnen, daß der Bischof mit Mrs. Bowell einmal allein ...«

»Jawohl, jawohl!!« riefen da die beiden Genannten wie aus einem Munde. »Wir haben die beiden einmal vermißt, da waren sie wohl eine halbe Stunde allein zusammen – aber dann kamen sie ganz harmlos aus einem Waldweg wieder herausspaziert.«

»Und diese Zeit genügte vollkommen, um Ihre Freundin zu hypnotisieren, fünf Minuten hätten genügt, und der Bischof hat es getan!!«

»Ja, aber warum denn?«

»O, Sie wissen ja noch gar nicht, was für eine furchtbare Macht die Hypnotik ist, wenn sie sich in böser Hand befindet! Sie sollen jetzt davon überzeugt werden.«

Er wandte sich wieder der Hypnotisierten zu, ohne diesmal seinen Genickgriff anzuwenden, damit die Zuschauer immer die verdrehten Augen sehen sollten.

»Missis Bowell – wissen Sie, was Hypnose ist?«

»Ja,« hauchte jene.

»Woher wissen Sie davon?«

»Ich habe – darüber – gelesen – und auch schon – hypnotische – Vorstellungen gesehen.«

»Sind Sie selbst schon einmal hypnotisiert worden?«

Sie zögerte sichtlich, und dann verneinte sie.

Nobody trat einige Schritte zurück und winkte die Damen zu sich.

»Lassen wir ihr erst einige Minuten Ruhe,« flüsterte er in leisestem Tone. »Ich kann Ihnen jetzt keine lange Vorlesung über Hypnotik geben, ich bemerke vorläufig nur, daß jede hypnotisierte Person ...«

»Ich weiß, ich weiß,« fiel ihm Clarence ebenso leise ins Wort. »Man kann jeden Hypnotisierten erinnerungslos erwachen lassen, aber in der nächsten Hypnose erinnert er sich alles dessen mit aller Deutlichkeit wieder, was in der vorigen Hypnose mit ihm geschehen ist, was er gesprochen hat, was man ihm befohlen und so weiter, darüber kann er dann auch bis in die kleinsten Details aussagen.«

»Das ist mir auch bekannt – mir auch,« ergänzten die beiden anderen Damen.

»Ah, das erspart mir ja viel! Und daß sich Ihre Freundin nicht sogleich besinnt, schon einmal hypnotisiert worden zu sein, werden Sie begreiflich finden, außerdem haben Sie wohl ein seltsames Zögern bemerkt.«

»Sie hat offenbar erst bejahen wollen.«

»Sie wird sich unterdessen besonnen haben. Probieren wir es noch einmal.«

Nobody trat wieder vor das Bett hin, seine ganze Willenskraft konzentrierend.

»Missis Bowell, sind Sie schon einmal hypnotisiert worden?«

»Ja!« erklang es jetzt ganz bestimmt.

»Vor drei Jahren, nicht wahr?« fragte Nobody, um den Zuhörern ganz überzeugende Resultate zu geben.

»Nein.«

»Wann sonst?«

»Heute.«

»Wann da?«

»Heute – nachmittag.«

»Bezeichnen Sie die Zeit genauer! Sprechen Sie fließender!«

»Heute nachmittag, als Sie mit Clarence im Boote waren und wir anderen am Ufer des Sees spazieren gingen.«

»Da sind Sie hypnotisiert worden?«

»Ja.«

»Von wem?«

»Vom Bischof – Lindol.«

Schon an dem Geräusch von Bewegungen hörte Nobody, was für ein Schrecken hinter ihm entstand.

»Wo hat er Sie hypnotisiert?«

»Auf der Bank – unter der Kastanie.«

»Wie hat er Sie dorthingeführt?«

»Er sagte – er hätte mir – etwas Wichtiges über den im See versenkten Schatz zu sagen – er wüßte doch etwas davon.«

»Daß Ihre Freundin,« wandte sich Nobody schnell einmal an die Zuhörer, »hiervon dann nichts mehr wußte, das verstehen Sie wohl.«

»Hierüber sind wir vollkommen orientiert,« lautete die einstimmige Antwort, »das hat er ihr dann wieder heraushypnotisiert.«

Heraushypnotisiert – ein zwar laienhafter, aber vollkommen zutreffender Ausdruck!

»Auf welche Weise hat er Sie hypnotisiert?«

»Ich bemerkte – plötzlich – wie er mich – so starr ansah – er sagte: schlafe ein! – und da – war ich – war ich – meines Willens nicht mehr mächtig.«

Also ein ganz gewöhnlicher Hypnotiseur. Nur eine sehr große Gabe dazu besitzend, die Hypnose zu erzeugen, wie Nobody das dem Bischof ja auch gleich angesehen hatte, aber besonderer Hilfsmittel bediente er sich sonst nicht – jedenfalls nicht zu vergleichen mit jenem Mephisto, und das war für Nobody eine große Hauptsache.

»Was befahl der Bischof Ihnen nun?«

»Ich sollte ihn – lieben.«

Wieder eine allgemeine Bewegung des Schreckens.

Nobody forschte hierüber weiter nach, erfuhr nähere Details, aber die Hauptsache blieb doch dieselbe. Der Hypnotiseur hatte ihr eine unüberwindliche Zuneigung zu sich suggeriert, sobald er ihre Hand begehre, hätte sie ihm dieselbe gereicht, wäre mit Freuden sein Weib geworden.

»Hat er Ihnen sonst noch etwas befohlen? Entsinnen Sie sich!«

»Sobald der im See versenkte Schatz – oder was es sonst sei – zum Vorschein käme – sollte ich ihn für mich – beanspruchen – ihn auf keinen Fall – dem Mr. Nobody – überlassen.«

»Aha,« bemerkte hierzu der Hypnotiseur, »also auf diese Weise war der Bischof seiner Sache schon sicher! Natürlich, dann hätte Mrs. Bowell ihn eben heiraten müssen, kraft seines hypnotischen Befehls, und dann wäre er ja doch Eigentümer des Betreffenden geworden. Verstehen Sie, meine Damen?«

»Entsetzlich!« wagte man nur zu hauchen.

Da bemerkte Nobody im Gesicht der Hypnotisierten verdächtige rote Flecke, die nach und nach entstanden, er ergriff ihren Puls und konstatierte Fieber. Das Sumpfbad, die vorangegangene furchtbare Erregung machte noch nachträglich ihre Folgen bemerkbar, und in diesem krankhaften Zustande wollte er die Hypnose nicht zu weit ausdehnen. Denn so ganz harmlos ist diese doch nicht, es ist und bleibt ein dem Menschen unnatürlicher Zustand.

Noch vergewisserte sich Nobody schnell, daß sie sonst weiter keinen posthypnotischen Befehl erhalten, daß sie ihm nichts weiter von Wichtigkeit mitzuteilen hatte, und jetzt gab er selbst ihr den Befehl, sich niemals wieder von irgendeinem Menschen hypnotisieren zu lassen, sogleich in einen tiefen Schlaf zu sinken und aus diesem erinnerungslos zu erwachen.

»Erwachen Sie, und schlafen Sie sofort ein!«

Die Augen kehrten in ihre natürliche Lage zurück, ein tiefer Seufzer, und Mrs. Bowell fiel in die Kissen zurück. Sie war sofort eingeschlafen.

»Ihre Freundin ist gerettet. Danken Sie Gott dem Allwissenden und Allgütigen, der mich gerade an diesem Tage zu Ihnen geführt hat. Was ohne mich hier alles geschehen wäre, das kann sich auch die kühnste Phantasie gar nicht ausmalen.«

Mit diesen feierlich gesprochenen Worten hatte sich Nobody an die drei Damen gewendet. Und die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht.

Es wäre ja noch so viel zu erklären gewesen. Zum Beispiel hatte doch auch der Bischof der Hypnotisierten den Befehl gegeben, daß sie sich niemals wieder hypnotisieren ließ, es sei denn von ihm selbst.

Wie hatte Nobody sie nun trotzdem hypnotisieren können? Da hätte er von seinem geheimen Mittel sprechen müssen, das er in jener Phiole immer bei sich führte.

Aber keiner der drei dachte an solch eine Frage. Nur eine, Mademoiselle Clarence, aber es war auch eine ganz andere Frage:

»Und die Gefangene? Und Ispanje?«

»Ganz genau dasselbe. Wenn die Gefangene nicht selbst diese unheimliche Kunst versteht, so hat es eben auch der Bischof fertig gebracht, den Wächter in einem unbeobachteten Augenblicke zu hypnotisieren. Jetzt kommen diese beiden daran. Dazu aber wollen wir erst den morgenden Tag abwarten.«

 

Am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang ritten quer durch das waldige Tal zwei Reiter – Nobody und Mademoiselle Clarence, letztere ebenfalls in einem Männeranzuge, welcher für die Strapazen eines Rittes durch die Wildnis berechnet war, daher auch nach Männerart im Sattel sitzend.

Bis spät in die Nacht hinein hatten sie zusammen gesprochen, hauptsächlich über den Hypnotismus und seine Wunder. Nobody hatte eine förmliche Vorlesung gehalten, von Experimenten begleitet, er hatte eine der Damen nach der anderen hypnotisiert, um die Tatsache des posthypnotischen Befehls zu beweisen.

Des Bischofs war dabei mit keinem Worte Erwähnung getan worden. Bemerkt sei nur, daß Nobody über dessen Tod einen Bericht mit amtlichem Charakter aufgesetzt hatte, mit dem jetzt bereits eins der Mädchen nach Denver City unterwegs war, um die Behörde davon in Kenntnis zu setzen.

Wie eine Scheu hatte es alle abgehalten, von dem Toten zu sprechen, ebensowenig aber war auch ein Wort über den mit der Gefangenen entflohenen Indianer gefallen.

Und Nobody hätte doch so gern ein Rätsel lösen mögen – nämlich das Rätsel, wie dieses schöne, junge Mädchen, diese hochgebildete Künstlerin, sich solch einen Indianer zu ihrem Freunde – nein, nennen wir es gleich beim richtigen Namen, hatte sie es doch selbst gesagt: ihn sich zu ihrem Liebhaber erkoren haben konnte!

Wie in aller Welt mochte dieses ungleiche Verhältnis nur zustande gekommen sein? Mochte der Indianerhäuptling ein noch so ritterlicher Charakter sein, in seiner Art ein Held, ein Held der Wildnis und der Wüste – er war und blieb doch ein Indianer, tief, tief unter dieser Künstlerin stehend, und auch sonst hatte Nobody der knochigen, hageren Gestalt absolut nichts Sympathisches zusprechen können; da läßt sich doch viel eher begreifen, daß sich etwa einmal ein gebildetes, mit irdischen Gütern gesegnetes Weib in einen bildschönen Zigeuner verliebt.

Aber, wie gesagt, es war ganz offenbar gewesen, mit welch ängstlicher Scheu die drei Freundinnen bemüht waren, kein Wort mehr über Ispanje zu verlieren, und so hatte Nobody auch keine Frage stellen dürfen.

Und jetzt wollte überhaupt keine Unterhaltung zustande kommen. Von dem Turm aus hatte Nobody die Spur des Pferdes, welches die beiden Flüchtlinge davongetragen, aufgenommen, und während die beiden ihre Tiere in schlankem Trabe zwischen den Bäumen hindurchlenkten, ließ er die Fährte, sich im Sattel etwas vorbiegend, nicht mehr aus den Augen.

So verging die erste Stunde. Dieses Schweigen wurde drückend.

Da wurde der bisherige Laubwald von Nadelbäumen verdrängt, die einen anderen, steinigeren Boden verlangen, dieser war mit Nadeln bedeckt, auf der elastischen Decke hatten die Pferdehufe kaum noch sichtbare Spuren hinterlassen; Nobody beugte sich noch tiefer über den Hals seines Tieres hinab.

Endlich brach seine Begleiterin das Schweigen.

»Es ist nicht nötig, daß wir die Spuren verfolgen. Der Häuptling hat sich natürlich zu seinem Stamm begeben.«

»Hat dieser denn einen festen Sitz?«

»Ja. Jeder Stamm der Arrapahos bewohnt eine Allantaje. So heißen in der amerikanischen Wüste die Distrikte, in denen mehr Vegetation gedeiht, so daß sich Pferde und Rinder und daher auch Menschen ernähren können. Die Allantaje entspricht also einer afrikanischen Oase. Es ist aber doch etwas anderes. Ihre Grenzen sind nicht so scharf gezogen, der Uebergang vom sterilen Boden zum üppigen Graswuchs erfolgt allmählich, da kommt stets erst ein meilenweites Gebiet der Heide, die Allantaje läßt stets auch Wald gedeihen, der für Feuerholz sorgt, was man in der afrikanischen Oase wohl schwerlich findet.«

Sie erzählte noch viel mehr von den Sitten und der Lebensweise der acht Stämme der Arrapahos, die sich in den Besitz der großen amerikanischen Wüste teilen, das war ja ein fast unerschöpfliches Thema, und Nobody sorgte dafür, daß die Unterhaltung nicht wieder ins Stocken kam.

Sie sprach allgemein von den Arrapahos, nicht von Ispanje. Noch da sie diesen Namen nun schon ausgesprochen hatte, konnte Nobody auch weiter fragen.

»Welchem Stamme gehört Ispanje an?«

»Sandeidechse ist der zweite Häuptling der Arrajoes. Das immer wiederkehrende Wort Arra bedeutet Krieger.«

»Der zweite Häuptling? Hat jeder Stamm mehrere Häuptlinge?«

»Ja, stets zwei. Die Häuptlingswürde ist nicht erblich. Die beiden besten Krieger werden zu Häuptlingen erwählt. Doch einen Rangunterschied zwischen den beiden gibt es nicht.«

Wieder ein unerschöpfliches Thema, welches Clarence jetzt behandelte.

»Wie weit ist die Allantaje der Arrajoes von hier entfernt?«

»Wenn wir unsere Tiere immer so in Trab halten können, haben wir sie heute abend erreicht.«

»Sie finden sich hin?«

»Mit untrüglicher Sicherheit. Ich habe den Weg hin und her oft genug gemacht, bei solchen häufigen Wiederholungen wird es zuletzt nur ein Spazierritt, und ich brauchte keine Merkmale zu haben, ich finde den Weg auch in finsterer Nacht. Es handelt sich auch nur um Einhaltung der Richtung. – Himmel!« unterbrach sich die Französin erstaunt. »Sind wir denn schon am Grenzgebirge?«

Der dichte Wald, der jeden Ausblick gehindert hatte, hörte plötzlich auf; vor ihnen in einiger Entfernung stieg ein hohes Gebirge empor.

»Kommt Ihnen denn der Anblick des Gebirges so unvermutet?«

Clarence blickte nach der Uhr, die an einem ledernen Armband befestigt war.

»Wirklich, schon drei Stunden sind wir unterwegs! Ja, dann freilich müssen wir auch schon hier sein. Ich glaubte, es sei erst eine Stunde. So schnell ist mir die Zeit vergangen.«

Also zwei Stunden lang hatten sie sich unterhalten, was wir hier natürlich nicht hätten wiedergeben können.

Sie ritten über die Steppe, die sich bis an das Gebirge hinzog, welches dem Flugsande der Wüste eine Schranke setzte.

Sie bogen in einen Paß ein, der kaum etwas anstieg, und Clarence erklärte, daß dieses Scheidegebirge von vielen solchen Einschnitten durchzogen würde, und es sei ganz gleichgültig, welchen man benutze, sie alle führten direkt in die Wüste.

»Dies ist der nächste Paß, der vom Schlosse aus zu erreichen ist.«

»Und diesen hat auch der Häuptling benutzt, ich habe seine Spur nicht aus den Augen gelassen, hier führt sie noch.«

»So?« erklang es gleichgültig zurück, aber ein langer Seufzer folgte nach.

Es trat wieder Schweigen ein, als sie durch den Engpaß ritten. Nobody bemerkte, wie sich seine Begleiterin mit so merkwürdig träumerischen Augen umsah, als ob ihr jeder Felsvorsprung eine Geschichte erzählen könne, und noch manchmal zitterte ein Seufzer über ihre Lippen.

Der Gebirgszug war nur sehr schmal, bald eröffnete sich vor ihnen die unendliche Wüste, doch nicht gelb, sondern eine weißgraue Sandfläche, es schien Flußsand zu sein, auch nicht so ganz steril, hier und da gediehen doch Grashalme und kleine Sträucher, und gerade vor dem Ausgange schlängelte sich quer über den Weg ein kristallklarer Bach, dessen felsiges Bett das Wasser nicht versickern ließ.

»Wir können sorglos hindurchreiten,« sagte Clarence, »wir sind zwar schon in der Wüste, aber in solchen seichten Gewässern hält sich kein Lollan auf.«

»Hält sich was nicht auf?«

»Kein Lollan. Ach so. Sie wissen noch nicht. Ja, die amerikanische Wüste beherbergt in ihren Flüssen einen Fisch, der nur ihr eigentümlich ist und der gelehrten Welt noch ganz unbekannt zu sein scheint. Es ist ein Zitteraal, der mit seinen elektrischen Entladungen Menschen und selbst Rinder töten kann.«

»Einen Zitteraal?!« rief Nobody erstaunt. »Hier in einem Klima, wo schon sehr strenge Winter herrschen?! Die Heimat des Zitteraals ist doch das äquatoriale Amerika, besonders in Cayenne kommt er häufig vor.«

»Da haben Sie ganz recht. Aber, wie gesagt, es ist eben eine andere Art von Zitteraal, welche nur in den Gewässern dieser Wüste vorzukommen scheint. Auch ist er sehr, sehr selten. Professor Harrich, der berühmte englische Zoologe, hat deshalb sich ein ganzes Jahr lang in der amerikanischen Wüste aufgehalten, hat die Indianer genug von dem Lollan erzählen hören, aber selbst keinen einzigen zu Gesicht bekommen, und die Erzählungen der Indianer über diesen elektrischen Zitteraal kamen ihm so grausig, so übertrieben vor, daß er den Lollan einfach in das Gebiet der Fabel verwiesen hat. Und dennoch existiert er wirklich, und ehe die Arrapahos durch einen Fluß reiten oder das Vieh zur Tränke treiben, versäumen sie niemals, erst das Wasser mit der Lanze zu peitschen.«

»Haben Sie schon einmal einen gesehen?«

Die Antwort ließ sehr lange auf sich warten.

»Ja, einmal,« erklang es dann leise, »und« ... hier machte sie wieder eine ihrer langen, langen Pausen, » ... ich habe auch einen Menschen unter den Qualen leiden sehen, die ihm die Berührung oder, wie die Indianer behaupten, der Biß des offenbar elektrischen Fisches bereitet.«

Entweder mußte das ein schrecklicher Anblick gewesen sein, oder hiermit war noch eine andere Erinnerung verknüpft, daß sie plötzlich so unsagbar schwermütig vor sich hinblickte.

»Kommt es Ihnen nicht merkwürdig vor,« brach sie von selbst wieder das Schweigen, »wie ich einen Indianer meinen intimen Freund nennen kann?«

Endlich! Sie selbst begann davon, wollte gefragt werden!

»Allerdings, ich gestehe es offen.«

»Ispanje hat auch mich schon einmal entführt.«

»Sie entführt?!« rief Nobody mit berechtigtem Erstaunen.

»Mich entführt, geraubt. Jaja,« setzte sie lächelnd hinzu, wenn es auch ein etwas schwermütiges Lächeln war, »ich kann auch etwas von Lederstrumpfgeschichten erzählen, auch ich habe schon einmal als gefangene Squaw in einem indianischen Wigwam gelebt.«

»Ach, bitte, erzählen Sie mir das doch ausführlich!«

»Sehr gern. Wir waren noch nicht lange hier, als Irma und ich einen kleinen Abstecher in die Wüste machten. Gefährlich war das durchaus nicht, die Brisbys hatten uns versichert, daß wir von den Arrapahos nichts zu fürchten hätten, wir wollten ja auch nur so einen kleinen Spazierritt machen, hatten zu Hause gar nichts davon gesagt.

»Gut, wir reiten los. Ein Wettlauf hinter einer Gazelle her. Dabei verlieren wir das Gebirge aus dem Auge. Ein Unwetter zieht herauf. Ohne Sonne können wir uns in der pfadlosen Wüste nicht orientieren, wir reiten immer nach Osten anstatt nach Westen, und so überrascht uns die Nacht.

»Zwei Tage sind wir in der Wüste herumgeirrt, ohne auf Wasser zu treffen. Vorbei! Wir nahmen Abschied voneinander und legten uns auf dem glühenden Sande zum Sterben hin. Was wir ausgestanden haben, kann ich nicht erzählen. Wir machten alle Qualen des langsamen Verschmachtungstodes durch.

»Wie er uns gefunden hat, weiß ich nicht. Ich sah ihn nicht kommen. Das spitze Ende eines Büffelhorns wurde mir zwischen die ausgetrockneten Lippen gesetzt, und ich trank, trank und trank.

»Es war der zweite Häuptling der Arrajoes, der uns gefunden. Zwei Tage lang mußte er uns noch begleiten, unterwegs uns durch Jagdbeute ernährend und dort Wasser aus dem Boden ziehend, wo niemand solches vermutet hätte, bis er uns an der Grenze des Tales wieder verließ.

»Eine Woche darauf kam er wieder, begleitet von einer Kavalkade seiner Krieger, die Rinder, Pferde, Zaumzeug, gegerbte Felle und andere Sachen mit sich brachten, die das Herz eines Indianers erfreuen. Das sollte der Kaufpreis für die Braut sein. Die Sandeidechse warb nämlich in aller Form um meine Hand. Denken Sie sich, ich sollte dem Indianerhäuptling als seine Squaw in seinen Wigwam folgen!«

Die Erzählerin brach noch jetzt in ein helles Lachen aus, aber es klang nicht recht natürlich.

»Na, das mußte ich ihm natürlich abschlagen, so leid es mir auch tat. War er doch mein Lebensretter. Aber so weit, deshalb eine Squaw zu werden, geht die Dankbarkeit denn doch nicht.

»Die Indianer ritten wieder ab, ohne im Schloß auch nur einen Trunk Wasser angenommen zu haben, viel weniger die ihnen angebotenen Geschenke. Den Brisbys kam diese Verweigerung der Gastfreundschaft gleich verdächtig vor. Doch wir waren gewappnet, und die Zeit verging, ohne daß etwas passierte.

»Eines Nachts promenierte ich im Park, ganz dicht am Schloß. Da springt eine dunkle Gestalt hinter den Bäumen hervor, und ehe ich auch nur an eine Gegenwehr denken kann, sitze ich schon auf einem Pferde, werde von starken Armen umschlungen, fort ging's in sausender Karriere.

»Geraubt muß das Liebchen werden, sagen die Kirgisen. Die Indianer halten es ja nicht viel anders, wenn die Auserwählte einem anderen Stamme angehört. Der Kaufpreis der Braut wird eigentlich erst hinterher angeboten. Bei mir hatte Ispanje nur eine Ausnahme gemacht. Da ich aber nicht eingewilligt hatte – gut, so wurde ich eben hinterher geraubt.

»In dem Lager der Arrajoes wurde ich mit Jubel empfangen. Ispanje führte mich in einen neuaufgerichteten Wigwam.

» ›Jetzt bist du mein Weib, morgen ist die Hochzeit, hier ist unser Wigwam, hier wirst du für mich kochen und meine Sachen ausbessern, und du sollst es gut bei mir haben.‹

»So sprach er zu mir.

»Ich zog ihm mit einem schnellen Griff das Messer aus dem Gürtel und setzte es gegen meine Brust.

» ›Du hast mir das Leben gerettet, du kannst es mir auch wieder nehmen, und ich selbst werde es tun, sobald du mich zu berühren wagst!‹

»Seine Hand war noch schneller als die meine, er entwand mir das Messer wieder. Aber eine weitere Gewalt brauchte er nicht.

» ›Du willst nicht mein Weib werden?‹

» ›Nein, niemals!‹

» ›Du liebst mich nicht?‹

» ›Nein!‹

» ›So werde ich dich dazu zwingen.‹

» ›Und ich werde mich zu töten wissen.‹

» ›Du sollst mich lieben lernen!‹

»Zwölf Tage lang wurde ich in dem Wigwam gefangengehalten. Die Brisbys hatten meinen Aufenthalt bald herausgebracht; mit einer freiwilligen Herausgabe war natürlich nichts, Kampf oder List hätten nichts genützt, und ich verbat mir, daß die Regierung davon benachrichtigt wurde. Erstens wollte ich ein Blutvergießen vermeiden, denn hier wäre es zu einem Vernichtungskampf gekommen, und zweitens hatte ich einen anderen Grund, oder eigentlich war gar kein Grund vorhanden, daß ich mit Gewalt befreit werden mußte.

»Denn ich sage Ihnen, diese halbnackte Rothaut hat sich mir gegenüber wie ein Gentleman benommen – wie ein Gentleman, wie ich ihn unter den zivilisierten Bleichgesichtern noch nie gefunden habe. Ich wenigstens nicht.

»Geradezu rührend war es, wie er mich während dieser zwölf Tage behandelte, wie er mich pflegte, wie er mir aufwartete, mir die besten Bissen vorsetzte, wie er mir immer schweigend gegenüber saß und kein Auge von mir wendete. O, was konnten diese Augen alles erzählen! Ja, es war rührend.

»Und ich wurde schwankend. Ja, diese stumme Verehrung, diese wahre Liebe drohte mich wirklich zu bezwingen. Ich gestehe, daß ich da eine besonders veranlagte Person bin. Ich denke frei. Und was konnte dieser Mann dafür, daß er eine halbnackte Rothaut war, daß er keine Schule besucht hatte und so weiter? Auch noch etwas anderes kam hinzu. Die Frauen der Arrapahos werden nicht etwa anders behandelt, als es sonst bei den Indianern üblich ist. Auch sie sind nichts weiter als Lasttiere, welche unter der ihnen aufgebürdeten Arbeit frühzeitig zugrunde gehen. Von ehelicher Liebe gar keine Spur. Aber dieser Häuptling hier wußte eben, daß ich eine andere war, und so behandelte er mich auch anders, respektvoll; seine Handlungsweise entsprang einer echten Liebe!

»Und ich grübelte und grübelte. Zeigte das nicht, daß unter dieser roten Haut ein großes, edles Herz steckte? War dieses nicht bildungsfähig? Warum sollte ich ihn nicht beglücken? War das nicht geradezu Egoismus, wenn ich es nicht tat?

»Doch nein, nein, nein!!! Mit meiner letzten Kraft schrie ich dieses Nein. Als Squaw im Wigwam eines Indianers, für immer fern von aller Kultur – es war mir unmöglich.

»Am dreizehnten Tage sagte er ›Komm!‹ und berührte mich zum ersten Male wieder, um mich abermals auf sein Pferd zu heben, und ich sehe noch sein todtrauriges Gesicht.

» ›Wohin?‹

» ›Ich bringe dich zurück zu deinen Freundinnen, die du mehr liebst als mich.‹«

Die Erzählerin machte eine Pause. Mit feuchten Augen blickte sie sinnend vor sich hin.

»Alle Wetter, das nennt man Edelmut und Großherzigkeit!« sagte Nobody. »Auch ich habe edle Indianer genug kennen gelernt, aber so etwas – das ist einfach großartig!«

»Ja. Aber ich war hart – oder vernünftig. Ich bin etwas ideal veranlagt, aber die Vernunft behält bei mir doch immer die Oberhand.

»So ritten wir ab, noch von zwei anderen Indianern begleitet. Wir sollten nicht weit kommen.

»Wenige Meilen hinter der Allantaje mußten wir einen tiefen, breiten Fluß passieren. Ich, auf eigenem Pferde sitzend, schwamm neben dem Häuptling, dessen Hand meinen Zügel hielt. Da plötzlich sah ich etwas wie einen grünen Strahl durch das Wasser dicht vor meiner Brust vorüberschießen, da hatte sich dieses Etwas schon um den nackten Arm des Häuptlings geschlungen, und dieser schrie auch schon laut auf.

»Kaum kann ich es Ihnen erzählen. Mit Mühe brachten wir ihn ans Ufer, wo er sich in Krämpfen am Boden wälzte. Ein Lollan hatte ihn gebissen – meiner Ansicht nach ihn nur berührt, ihm einen elektrischen Schlag beigebracht. Die Wirkung ist eine entsetzliche. Der Häuptling mußte schreckliche Qualen ausstehen. Schaum trat ihm vor den Mund, die Glieder verrenkten sich, die Muskeln, wie Stränge traten sie aus seinem Leib hervor – es war ein entsetzlicher Anblick.

»Die beiden Indianer konnten ihm nicht helfen, er war rettungslos dem Tode verfallen, der mit Starrkrampf endet. Sie kennen doch die stoische Ruhe, mit der jeder Indianer alle Schmerzen erträgt. Besonders der Arrapaho leistet Großes hierin. Aber hierbei hört alles auf. Der Häuptling wand sich wie ein Wurm und wimmerte um Erbarmen, man möge ihm doch ein Messer ins Herz stoßen.

»Einer der roten Krieger hatte denn auch schon sein Messer gezogen. Ich hinderte ihn an dem Gnadenakt. So etwas geht eben gegen unsere Natur. In seiner Todesangst haschte Ispanje nach meiner Hand – und in demselben Augenblick, da er sie berührte, faßte, hörten auch die Krämpfe auf.

»Und dabei blieb es. Solange ich seine beiden Hände gefaßt hielt, war er frei von Schmerzen, konnte sogar aufstehen – sobald ich sie losließ, begann er wieder zu toben. Ob von mir nun eine geheime Kraft ausgeht, oder ob man das Sympathie nennen soll – es war so.

»Ich will mich kurz fassen. Wir brachten den Häuptling zurück, und länger als vier Wochen habe ich in seinem Wigwam neben ihm gesessen, neben ihm geschlafen, seine Hände nicht aus den meinen lassend. Versuche ergaben, daß die Krampfanfälle schwächer und schwächer wurden, bis sie ganz aussetzten, um nicht wiederzukehren.

»Ich brauche wohl kaum noch etwas hinzuzufügen. Vier Wochen so Hand in Hand zu leben – es ist eine gar lange Zeit. Und aus Mitleid wird leicht Liebe. Vielleicht war die Liebe bei mir auch schon da. Kurz und gut, wir wurden Mann und Frau, ohne Segen des Priesters, und auch eine indianische Hochzeit wollte ich nicht haben. Auch für immer in den Wigwam wollte ich natürlich nicht gehen, und Ispanje kann von seiner Wüste nicht lassen. Hat nichts zu sagen. Wir besuchen uns gegenseitig, es ist ja nur ein Spazierritt. Es ist eine etwas eigentümliche Ehe, aber eine glückliche. Leider hat uns der Himmel bisher kein Kind beschert.«

Nobody empfand diesen letzten Seufzer durchaus nicht komisch. Im Gegenteil, jetzt erst fühlte er, was diese Frau leiden mußte, daß der Häuptling mit einer anderen geflohen war, und er bewunderte nur ihren Charakter, daß sie dem Flüchtling nachsetzte, um ihn womöglich zurückzubringen – oder für immer sich von ihm zu trennen.

Gegen mittag wurde ein Gehölz sichtbar, auf das auch die Spuren zuliefen.

»Ich wundere mich, daß der Häuptling so gar nichts getan hat, um seine Spuren zu verwischen,« sagte Nobody. »Gelegenheit hierzu hätte er öfters gehabt, so in den Flußbetten.«

»Ein Häuptling der Arrapahos verschmäht, seine Spur zu verstecken,« lautete die Antwort, und sie klang stolz. »Er will vielleicht sogar verfolgt werden, um seinen Verfolgern dann entgegenzutreten.«

Da plötzlich kamen ihnen andere Pferdespuren entgegen! Doch auch diese Spur hatte wieder geendet, lief wieder nach dem Gehölz hin.

Nobody sprang ab und verglich die Eindrücke der Pferdehufe in dem losen Sand.

»Es ist das Pferd des Häuptlings. Er ist nach dem Gehölz geritten, von dort wieder zurück, hier hat er abermals gewendet.«

Was sollte dieses zweimalige Umkehren bedeuten? Es gab keine Erklärung dafür. Höchstens konnte man annehmen, daß der Häuptling unterwegs etwas verloren hatte, was er hier wiederfand. Aber abgestiegen war er nicht.

In dem Gehölz, das seine Existenz einem Bache und günstigem Boden verdankte, wurde eine noch frische Feuerstelle gefunden. Hier hatte der Häuptling mit der Gefangenen gelagert, nachdem er zuvor ein Wasserhuhn erlegt hatte, das am Feuer zubereitet worden war. Dies konnte nur ungefähr bei Tagesanbruch geschehen sein.

Der erfahrene Fährtensucher konnte aus den hinterlassenen Spuren und aus anderen Merkmalen, die nur seinem Auge sichtbar waren, noch mehr erspähen, so zum Beispiel, daß die Gefangene ungefesselt war, und daß sie allein das Huhn gegessen habe. Der Indianer hätte keine Speise berührt.

Auch die beiden hielten hier eine Mittagsrast und aßen von dem mitgenommenen Proviant. Dann wurde die Verfolgung der Fährte fortgesetzt, welche zur Verwunderung der Französin nicht nach Osten, sondern direkt nach Süden führte.

»Was will Ispanje mit der Gefangenen dort?« rief sie nach einigen Stunden. »Das sieht ja fast geradeso aus, als ob er das Lager der Arraskas aufsuchen wolle!«

Ihr Staunen sollte bald noch größer werden, und auch Nobody wußte zuletzt nicht mehr, was er über das Verhalten des Häuptlings denken solle.

Wir müssen uns kurz fassen; denn über der Verfolgung der Fährte verging noch eine Nacht und dann auch noch ziemlich der nächste Tag.

Und während dieser vierundzwanzig Stunden hatte der Häuptling zahllose Male die Richtung geändert, er hatte manchmal direkt sein Roß herumgeworfen und war nach der entgegengesetzten Himmelsgegend geritten, er hatte sich gleich im Kreise gedreht, nur wenige Schritte dorthin und gleich wieder zurück, um dann abermals eine andere Richtung einzuschlagen.

Was sollte das? Von einem Irreführen konnte keine Rede sein, die Spur selbst war niemals verwischt oder versteckt worden.

»Der weiß nicht, was er will.«

»Ispanje weiß immer, was er will,« verteidigte Clarence den Häuptling.

»Dann ist er geisteskrank geworden,« erklärte Nobody in seiner trockenen Weise.

Dabei war nicht daran zu denken, daß man den Flüchtling einholen konnte, obgleich er doch immer so planlos im Zickzack hin und her geirrt war; denn Nobody konstatierte, daß er während der Nacht gar nicht gerastet hatte, immer durchgeritten, und dabei war das Pferd trotz seiner doppelten Belastung mindestens immer im schnellsten Trab gelaufen!

Am Nachmittage des zweiten Tages wurde das Auge wieder einmal durch ein Gehölz erfreut. Auch die Spuren liefen wieder darauf zu. Doch abermals war hier keine Rast gehalten worden.

Erst am anderen Saume des Gehölzes, durch das ein Bach floß, erkannte Nobody, daß der Indianer hier einmal abgestiegen war. Auch die Gefangene war aus dem Sattel gekommen, war herabgehoben worden, hatte sich am Bachesrand niedergekniet ... und Nobody konstatierte aus den zurückgelassenen Spuren der Hände mit Sicherheit, daß sie jetzt gebunden war.

»Merkwürdig, sehr merkwürdig,« brummte Nobody, »das alles geht wirklich nicht mit rechten Dingen zu.«

Da erscholl ein Jubelruf. Clarence, die sich unterdessen nach dem anderen Saume des Holzes begeben hatte, dort ihr Pferd grasen lassend, hatte ihn ausgestoßen.

»Ispanje!!«

Schnell war Nobody an ihrer Seite. Da kam er wirklich, abermals seine eigene Spur rückwärts verfolgend, vor sich im Sattel die Gefangene.

Er hatte den Ruf gehört, er zügelte sein Pferd, dessen Benehmen verriet, wie sein Herr erschrak, und er riß es herum und jagte in gestreckter Karriere davon.

»Ispanje, Ispanje, komm zurück, ich verzeihe dir alles!!«

Nobody hatte nicht etwa verstanden, was seine Begleiterin in Seelenangst gerufen, es war eine für ihn fremde Sprache gewesen, aber er war überzeugt, daß es keine anderen Worte gewesen waren, das hatte schon im Tone gelegen.

Und siehe da, wieder wurde das Pferd gezügelt, langsam kehrte es um, es zögerte, immer ganz die Stimmung seines Herrn ausdrückend, und dann sprengte es auf das Wäldchen zu, wo die beiden standen.

Die Gefangene, deren Hände gebunden waren, wurde herabgelassen, sie fiel gleich zu Boden, der Indianer stieg langsam aus dem Sattel, zog sein langes Skalpiermesser aus dem Gürtel und schritt auf die beiden zu.

Das klingt gefährlicher, als es aussah. Clarence wenigstens tat nichts zur Abwehr, und auch Nobody ahnte gleich etwas, er las etwas in den dunklen Zügen.

Da wandte sich ihm seine Begleiterin hastig zu.

»Sir, ich bitte ...« sagte sie in flehendem Tone.

Mehr brauchte sie auch nicht zu sagen, Nobody ging schon von allein.

Doch er zog sich nicht sofort in das Wäldchen zurück, um nicht zu hören und zu sehen, was jetzt zwischen den beiden vor sich ging, sondern er begab sich erst zu der Gefangenen, hob sie auf und nahm sie mit sich in den Wald.

An einer versteckten Stelle ließ er sie nieder. Das Weib war völlig erschöpft, konnte sich nicht mehr auf den Füßen halten, war mit einem Male um viele Jahre gealtert, ganz hager geworden. Merkwürdig wirkte es auch, wie es in dem schwarzen Haare jetzt so rot glänzte. Sie hatte es ja nicht mehr färben können.

»Sir, töten Sie mich, oder befreien Sie mich aus den Händen dieses entsetzlichen Indianers!« stöhnte sie mit röchelnder Stimme.

Nobody durchschnitt die Lederriemen, die ihre Hände barbarisch gefesselt hatten, gab ihr Wasser zu trinken, wusch die blutrünstigen Stellen und brachte sie nach und nach zum Sprechen.

Beim Anblicke des Detektivs, der das Gespräch im Turm belauscht hatte, war sie natürlich nicht minder entsetzt gewesen als der Bischof. Nur daß sie nicht geflohen war. Dabei muß bemerkt werden, daß sie in dem plötzlichen Auftauchen einer dritten Person nichts Unerklärliches fand. Das Turmgemach brauchte ja nur einen geheimen Eingang zu haben, dann war alles erklärt. Und Clarence wie ihre Freundinnen wußten noch gar nicht, was da eigentlich vor sich gegangen, weshalb der Bischof eigentlich geflohen war; denn wie gesagt, über diese ganze Angelegenheit war dann gar nicht mehr gesprochen worden.

Die Gefangene – nennen wir sie bei ihrem Vornamen Harriet – war also starr vor Entsetzen, daß ihr Gespräch belauscht worden, zurückgeblieben.

Da war der Indianer hereingekommen, hatte sie einfach auf den Arm genommen, hinuntergetragen, wobei er ihr hart eine Hand auf den Mund preßte, auf ein Pferd gehoben, fort ging es in rasender Flucht.

»Wohin?«

»Schweig!« wurde sie rauh angeherrscht.

Und dabei blieb es. Ob ihr der Indianer eine Liebeserklärung oder so etwas Aehnliches gemacht habe? Gar keine Ahnung. Von Liebe nicht die geringste Spur. Eher das Gegenteil.

Nach stundenlangem Ritte wurde Rast in einem Wäldchen gemacht, der Häuptling fing mit den Händen ein schlafendes Huhn, briet es, er selbst aber genoß keinen Bissen, und während sie aß, wurde sie von ihm unverwandt eher mit haßerfüllten denn mit liebevollen Blicken betrachtet.

Ohne Schlaf ging es dann weiter, die Nacht hindurch und den folgenden Tag, aber nicht geradeaus, sondern immer im Zickzack, in Bogen; der Indianer kehrte um, ritt zurück und kehrte wieder um, und das abermals eine ganze Nacht hindurch: der Häuptling kannte so wenig Müdigkeit wie sein ihm an Magerkeit ähnlicher Gaul. Harriet schlief wohl ein, aber im Reiten war das doch kein Schlaf zu nennen, und dann schnürte der Unhold ihr auch noch die Hände zusammen, ohne einen Grund hierfür gehabt zu haben.

»Heute mittag kehrte er abermals um, so ist er bis jetzt wieder zurückgeritten, ohne diesmal die einmal eingeschlagene Richtung zu ändern und ohne ...«

Das Weib fiel zurück, war mitten im Wort eingeschlafen.

Nobody schüttelte nicht den Kopf ob des Gehörten. Für ihn lag jetzt nämlich kein Rätsel mehr vor, er konnte sich alles erklären.

Doch davon später. Daß sie eingeschlafen war, paßte ihm gerade. Er schöpfte einen Becher Wasser, träufelte aus der Phiole einige Tropfen hinein, wußte die Schlafende zum Schlucken zu zwingen.

Als er ihre Lider zurückschob, zeigte sich vom Auge nur das Weiße.

»Hörst du mich sprechen?«

»Ja.«

»Du wirst mir gehorchen!«

»Nein.«

»Du willst mir nicht gehorchen?«

»Nein, es ist mir verboten.«

»Was ist dir verboten?«

»Mich hypnotisieren und ausfragen zu lassen.«

»Wer hat dir das verboten?«

Das Weib, obgleich es hypnotisiert war, antwortete gar nicht mehr, und Nobody gab sich auch keine Mühe mehr. Die gehörte eben mit zu jenen, welche von einem Manne gegen Hypnose gefeit worden waren, der sich den Padischah el Kore genannt hatte, den Herrn der Erde, einmal auch Sinclaire, ein andermal Mephistopheles. Hier war jede Mühe umsonst.

Mit über der Brust verschränkten Armen betrachtete Nobody die Schlafende. Was hätte die ihm wohl alles beichten können, wenn sie nicht so gefeit gewesen wäre? Es war eben seit einiger Zeit alles ... wie verflucht!

Und was machten die beiden anderen? Hatte der Indianer die Geliebte, der er untreu geworden, schon abgeschlachtet? Denn wozu war er denn mit blankgezogenem Messer auf sie zugegangen?

Nobody dachte hierüber höchst phlegmatisch. Er pfiff sich ein Lied – ein Lied von der Liebe, die von Zigeunern stammen soll und weder Recht, Gesetz noch Macht kennt. O ja, ein Gesetz kennt sie wohl – aber das steht nicht im bürgerlichen noch in einem anderen Gesetzbuche.

Da kam sie wieder. Ihr Gesicht sagte schon viel. Dieses sonst so ernste Gesicht strahlte jetzt vor Seligkeit. Und auch Nobody befand sich in einer recht humoristischen Stimmung. Aber er mußte seinen Humor immer mit Spott und Ironie würzen.

»Na, da sind Sie ja wieder! Und Sie leben noch? Ich dachte, er hätte Sie abgemorkst.«

»O nein, sondern ...«

»Aber Sie haben ihm das Messer ins Herz gestoßen? Hören Sie, machen Sie mir nichts vor, das glaube ich Ihnen nicht.«

»Scherz beiseite, er gab mir einen ...«

Plötzlich hatte Nobody, der sich wieder einmal von seiner unverbesserlichen Seite zeigte, einen Finger im Munde, ließ ihn abschnellen, und es gab einen Knall wie von einem Champagnerpfropfen.

Die Französin konnte sich nicht mehr helfen, sie mußte aus vollem Halse lachen. Dann aber wurde sie wieder ernst.

»O, Sie Böser, was haben Sie mir vorgestern nacht für Angst eingejagt! Und nun zeigt sich zum Glück, das Ihre Theorie ganz falsch ist.«

»Durchaus nicht, Madam. Ist Ispanje nicht wirklich mit der Gefangenen davongeflohen? Aber der liebe Gott sorgt dafür, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Das ist eine sehr beliebte Redensart von mir, und ich gebrauche sie eben deswegen so häufig, weil ihr eine so herrliche Wahrheit zugrunde liegt. Der posthypnotische Befehl kann bewirken, daß jemand statt eines Apfels eine rohe Kartoffel ißt, daß jemand zu einer bestimmten Stunde da und dorthin geht – aber vergebens wird man in der Hypnose einer Mutter den Befehl geben, daß sie später, nach dem Erwachen, zu einer bestimmten Stunde ihr geliebtes Kind ohne Grund mit der Rute züchtigt, oder ihm gar Gift in die Milch gibt. Nein, so weit geht die Gemütlichkeit nicht, auch nicht in der Hypnose. Dann hörte ja auch alles auf, dann würde ich mich noch heute aus diesem Jammertal, Erde genannt, mit einer Kugel durchs Gehirn verabschieden.«

Die beiden brauchten weiter keine Verständigung. Es waren tiefe, gewaltige Worte gewesen, die Nobody gesprochen. Und auch der geneigte Leser wird sie verstehen.

Wegen Ispanjes Verhalten nur eine kleine Andeutung: Jedenfalls hatte der Bischof den Häuptling aufgesucht und in Hypnose versetzt, als sich die vier Frauen im Turme befanden und Nobody hinten bei dem Pferde, hatte ihm den posthypnotischen Befehl gegeben, die Gefangene bei der ersten besten Gelegenheit zu befreien, zu entführen – ob da Liebe mit ins Spiel kam, das war jetzt nicht mehr zu konstatieren, Ispanje wußte ja selbst nichts mehr davon.

Aber er hatte dem hypnotischen Befehle gehorcht. Doch vielleicht gleich mit dem dumpfen Gefühle, daß er etwas Unrechtes, etwas Sinnloses täte. Und dieses Gefühl wurde immer stärker. Er wollte umkehren – da wirkte wieder der Befehl – also wieder umgekehrt – und so immer wieder hin und her, eine Beute seiner unklaren Empfindung. Der arme Kerl wußte ja gar nicht, was mit ihm eigentlich vorging.

Die Tugend siegt immer! Immer!!! Und wenn es manchmal aussieht, sogar ›mehrschtenteels‹, als ob in dieser Welt gerade das Gegenteil der Fall wäre, so kommt das nur daher, weil wir armen Menschlein so kurzsichtig sind. Ach, so kurzsichtig!

Es gibt in dieser Welt nichts Unerbittlicheres als die Gerechtigkeit des Schicksals!!!

Und auch in diesem Falle hatte die Tugend, die Wahrheit gesiegt! Heute mittag war es dem braven Indianerhäuptling voll und ganz zum Bewußtsein gekommen, daß er eine große Dummheit begangen, und diese Erkenntnis hatte die letzten Schatten des posthypnotischen Befehls bei ihm beseitigt. Da hatte er dem Weibe die Hände gebunden und war definitiv umgekehrt, um die Gefangene zurückzubringen.

Da sah er sie, sie, der seit zwei Tagen und Nächten all seine Gedanken gegolten, derentwegen auch die Augen dieses stolzen Indianers manche Zähren vergossen hatte.

Flucht! Nein, keine feige Flucht! Der erneute Zuruf wäre gar nicht nötig gewesen. Also wiederum umgekehrt, sich als Sünder bekannt, nicht reumütig, sondern immer noch stolz, ihr das Messer gereicht, die entblößte Brust hingehalten, und die blasse Geliebte hatte ihm denn auch das Messer aus der Hand genommen, aber nicht, um es ins Herz zu stoßen, sondern ... Nobody hatte den Champagnerpfropfen knallen lassen.

Sie hatten sich wiedergefunden, und alles war verziehen. Diese beiden brauchten noch weniger Erklärungen abzugeben.

»Aber der Bischof hat doch auch meiner Freundin Liebe zu sich suggeriert, und es wirkte, und das ist doch auch etwas ganz Unnatürliches.«

»Das ist auch etwas ganz anderes. Das gleicht schon mehr der rohen Kartoffel, die man als schmackhaften Apfel verspeist. Nichts ist leichter, als einem Weibe Liebe zu suggerieren. Pardon, aber es ist so. Das Weib ist zur Liebe geboren – das ist doch nur ein Kompliment. Schließlich wäre auch Ihre Freundin aus dem Taumel erwacht, da aber müssen Sie bedenken, daß dann der Bischof doch die Macht besaß, sie immer wieder von neuem seinem dämonischen Willen unterzuordnen. Doch lassen wir das jetzt. Wo ist denn nun Ihr Herr Gemahl? Vor mir braucht er sich nicht zu genieren.«

»Sir, ich bitte Sie ...«

»Pardon. Meine ungezogenen Worte kommen nur von übersprudelnder Freude her. Ja, wo ist er denn aber?«

»Er ist nach seiner Allantaje geritten – aber er kommt wieder zu mir ins Schloß,« setzte sie eifrig hinzu.

»O, das brauchen Sie mir nicht erst zu versichern, daran zweifle ich nicht im mindesten. Kommt er denn wieder hierher?«

»Nein, hierher nicht, er ist ... Sie können sich doch denken ...«

»Hm, weiß schon. Nun hat er uns also die Gefangene auf den Hals geladen. Da können wir sie wieder zurückschleppen. Na, ich bin ein guter Mensch.«

 

Nach einer sehr gedrückten Stimmung war jetzt die fidelste eingetreten. Nun sollte aber auch gleich der Ruhe gepflegt werden, die sie reichlich verdient hatten. Ein Feuer wurde angemacht, Nobody erlegte einige Wasservögel, nur die Gefangene nahm an der Mahlzeit nicht teil, weil sie noch immer in tiefem Schlafe lag, und noch nicht einmal die Dämmerung war angebrochen, als auch Clarence sich niederlegte, um vor dem nächsten Morgen nicht wieder zu erwachen.

Nur Nobody wußte nichts von Schlaf. Er stopfte aus dem abgeschabten Lederbeutel die kleine Meerschaumpfeife, deren Kopfrand schon ganz ausgebröckelt war und deren kurzes Weichselrohr kürzer und immer kürzer wurde, ohne daß er es jemals durch ein neues ersetzte. Diese Pfeife hatte ihn ja schon so viele Jahre kreuz und quer durch alle Welt begleitet, hatte ihm schon bei so manch einsamer Nachtwache treue Gesellschaft geleistet.

So auch in dieser Nacht. Rauchend saß er auf einem gestürzten Baumstamm, und kaum daß er jemals seinen sinnenden Blick von dem Weibe wandte, das wieder seine Gefangene geworden war.

Was nun mit ihr beginnen? Das liebste wäre ihm gewesen, wenn sie jetzt in den Tod hinübergeschlummert wäre. Denn aus seinen Händen und unter andere Menschen kommen durfte sie nicht wieder, das stand bei ihm fest, und das war der Kernpunkt, um den sich während der ganzen Nacht seine Gedanken drehten.

Als die Sterne zu erbleichen begannen, musterte er noch einmal den Himmel, vergewisserte sich über die Stellung der Sternbilder, merkte sich genau den Punkt, wo am Horizont das erste rote Feuer der Sonnenscheibe sichtbar ward, und nun war er orientiert. Dann klopfte er seine zehnte Pfeife aus und weckte die unersättlichen Schläferinnen. Noch ein Imbiß, dem jetzt auch die Gefangene mit Heißhunger zusprach, und es ging wieder dem Westen zu, die Gefangene vor Nobody im Sattel.

Natürlich wurden nicht die alten Spuren rückwärts verfolgt, sondern der kürzeste Weg wurde gewählt, deshalb eben hatte sich ja Nobody am Himmel orientiert, der auch ganz deutliche Wegweiser hat für den, der sie zu lesen versteht.

So kamen sie auch durch ganz andere Gegenden, was sich besonders durch den fast schwarzen Sand bemerkbar machte.

Gegen Mittag erreichten sie einen ziemlich breiten Fluß, den sie ebenfalls auf dem Herweg nicht passiert hatten.

Clarence, die etwas voraus war, trieb sofort ihr Pferd hinein, das Bad tat bei der herrschenden Hitze Menschen und Tieren gut. Nobody folgte. Als der Rücken seines Pferdes unter Wasser kam, schwang er sich aus dem Sattel, um das Tier zu erleichtern, ergriff mit der einen Hand den Zügel, mit der anderen Harriets Handgelenk, und schwamm so nebenher.

Clarence hatte das Ufer erreicht, gleich darauf watete Nobody neben seinem Pferde hinauf.

»Erst hinterher denke ich daran,« sagte Clarence, »es war eigentlich sehr unvorsichtig ...«

Ein gellender Schrei unterbrach sie, die Gefangene, von Nobody einmal losgelassen, warf die Arme empor und stürzte unter einem entsetzlichen Geschrei seitlich aus dem Sattel.

Fast in demselben Augenblick sah Nobody unter den Röcken der am Boden Liegenden etwas Grünes hervorkommen, wie eine metergroße Schlange, oder wie ein Aal, das Tier strebte wieder dem Wasser zu, aber nicht wie eine Schlange oder wie ein Aal auf dem Trocknen, sondern es schnellte so, wie es viele Fische verstehen. Nobody bemerkte noch, daß das Tier einen seltsam geformten Schwanz besaß, der sehr an den einer Klapperschlange erinnerte, und dann war es in seinem Elemente verschwunden.

»Ein Lollan – sie ist von einem Lollan gebissen worden!!« schrie Clarence, sprang aus dem Sattel, eilte auf die Unglückliche zu und ergriff ihre beiden Hände.

Glaubte sie, sie vermöchte wirklich solch eine geheimnisvolle Einwirkung, die sich in jedem Falle bewähre? In diesem Falle wenigstens versagte ihre Kraft.

Jetzt hatte Nobody selbst solch einen Anblick. Er spottete aller Beschreibung. Von dem Weibe waren ja nur Gesicht, Hals und Hände zu sehen, und dieses Gesicht, der Hals und die Hände waren wie verdreht, ganz verzerrt, das Gesicht sowohl wie jeder einzelne Finger, und besonders am Halse trat jede Ader und jede Sehne in fürchterlicher Weise wie Stränge hervor.

Doch genug. Es spottet ja eben jeder Beschreibung.

»Nobody, Nobody, helfen Sie, helfen Sie!!« schrie die mitfühlende Französin außer sich.

Und Nobody sprang hin, ergriff die Gelenke der sich ihm entgegenstreckenden Hände, mit dem festen Vorsatz: Ich will dir helfen!

Gibt es eine Wirkung der Willenskraft? Na und ob! Doch wir wollen uns hierüber nicht weiter auslassen.

»Ich will dir helfen!!! Schmerz, weiche von ihr!!!«

Auf diese Worte konzentrierte Nobody all seine Willenskraft, mit der er sich schon so oft selbst besiegt hatte.

Und siehe da, was diesmal der Französin nicht gelang, weil sie für diese Person eben keine Sympathie besaß, das vollbrachte Nobody durch seine Willenskraft – kraft seines Willens!!

Kaum hatte er ihre Hände ergriffen, als die geschwollenen Muskeln und Sehnen und Adern zurücktraten, die verrenkten Glieder streckten sich in ihre natürliche Lage, das fürchterliche Geschrei verwandelte sich in ein Röcheln der Erlösung.

Da freilich wurde der helfenwollende Heilmagnetiseur zum physiologischen Experimentator. Er ließ ihre schlaffgewordenen Hände einmal los – sofort traten die Krämpfe mit erneuter Heftigkeit auf. Wieder zugegriffen – wieder verschwand der Anfall.

Aber auch die Unglückliche wußte jetzt, woher sie Hilfe zu erwarten hatte.

»Lassen Sie mich – nicht mehr – los,« röchelte sie mit fliegendem Atem, ohne in diesem Zustande der Erschöpfung die Kraft zu haben, selbst die Hände festzuhalten, »ich will auch – alles – gestehen.«

Aahh! Da freilich erwachte in dem physiologischen Experimentator der Detektiv, der Untersuchungsrichter. Dieser Zustand schien sogar jeden hypnotischen Befehl aufzuheben.

»Was haben Sie zu gestehen?«

»Ich habe – Charles Bowell ermordet.«

Das war für Nobody nichts Neues mehr. Jetzt aber kam es darauf an!

»Auf wessen Befehl?«

»Auf Befehl – des – Meisters.«

»Wer ist dieser Meister?«

Noch einmal wollte der Widerstand aufkommen.

»Sprechen Sie, oder ich lasse los!«

Abermals ein gellender Schrei – und doch hatte Nobody nur so getan, als wolle er die Hand zurück ziehen.

»Nun, wer ist dieser Meister?«

»Der – Herr der Erde.«

Nobody blickte nach Clarence, welche als Zuhörerin daneben stand.

»Bitte, Mademoiselle, lassen Sie uns allein, es handelt sich hier um ein ...«

»Selbstverständlich,« entgegnete die Französin und begab sich außerhalb der Hörweite.

Wohl eine Stunde mußte sie warten. Noch einmal gellte der entsetzliche Weheschrei, die Unglückliche wimmerte um Erbarmen, bat, doch nicht ihre Hände loszulassen. Clarence erzitterte. Ja, es war furchtbar, zu solchen Zwangsmitteln zu greifen, aber ... er war ein Detektiv, hatte die Beschützung der Menschheit zu seinem Berufe gemacht, und hatte Clarence nicht selbst schon erkannt, was für gemeingefährliche Subjekte, wahrhafte Bestien in Menschengestalt, man hier vor sich hatte? Da war alles erlaubt.

Endlich wurde sie wieder gerufen. Nobody hielt noch immer die Hände der am Boden Liegenden. Aber, Himmel, wie er aussah! Die Künstlerin hätte nimmermehr geglaubt, daß diese sonst so eisernen Züge solch einen verstörten Ausdruck annehmen könnten. Außerdem standen auf seiner Stirn dicke Schweißtropfen.

»Ja, wie soll das aber nun werden?« begann er zu seiner Begleiterin mit heiser klingender Stimme. »Ich kann sie doch nicht immer ...«

Da plötzlich, ohne daß er ihre Hände losgelassen hätte, begann der Krampf von neuem, diesmal in noch fürchterlicherer Weise, und mit einem Male wurde ihr Oberkörper wie von einer Feder emporgeschnellt, sie bog den Kopf weit zurück, und so warf sie sich mit aller Gewalt wieder nach hinten, daß das Hinterhaupt dröhnend aufschlug – gerade wie Menschen und Tiere in ihren letzten Zuckungen, wenn sie an Strychninvergiftung sterben.

Und auch hier war es vorbei! Ob nun des Heilmagnetiseurs Kraft erlahmt war, oder ob er den Tod nur hatte aufhalten können – Nobodys Schuld war es jedenfalls nicht.

»Wohl ihr!« flüsterte Clarence erschüttert.

»Die elektrische Entladung oder der Biß dieses sogenannten Lollan scheint lähmend auf das Rückenmark zu wirken, gerade wie das Strychnin,« sagte auch Nobody sofort, als er sich von ihrem Tode überzeugt hatte, und dann zitterte es wie ein Seufzer der Erleichterung von seinen Lippen.

In dem losen Sande wurde mit den Händen ein Grab geschaufelt und die Leiche mit ihren Kleidern hineingebettet, und während Clarence noch an dem Sandhügel kniete und betete, band Nobody aus zwei Aesten, die er einem am Flusse wachsenden Busche entnahm, ein Kreuz zusammen.

 

Am Morgen des anderen Tages hielten ihre Pferde vor dem Schloßportal. Unterdessen war nichts geschehen. Als Mrs. Bowell aus dem tiefen Schlafe gesund erwachte, glaubte sie, nur einen sinnlosen Traum gehabt zu haben, von dessen Einzelheiten zu sprechen sie sich genierte. Ja, sie entsann sich, daß der Bischof in den Sumpf geraten war und seinen Tod gefunden hatte – sehr bedauerlich, aber ... vielleicht besser so. Auch das wußte sie, daß sie selbst nachgesprungen war, von da an aber fehlte ihr eben die Erinnerung.

Clarence erzählte ihren Freundinnen von den Abenteuern in der Wüste, unterdessen packte Nobody aus dem angekommenen Koffer seinen Skaphanderapparat aus, und eine Stunde später war er bereit, in das dunkle Wasser hinabzutauchen.

Ehe er den Helm aufschraubte, stieg ihm noch ein berechtigtes Mißtrauen auf.

»Hier gibt's doch nicht etwa auch solche vertrackte Lollans?«

Clarence versicherte, daß man noch niemals von dem Vorkommen des grünen Zitteraals in diesem Tale etwas gehört habe, sie schienen eben nur ... das andere hörte Nobody schon nicht mehr, er hatte bereits den Helm aufgeschraubt, verschwand in dem dunklen Wasser.

Manchmal sah man den Schein der Benzinlaterne sich auf dem Grunde des Sees hin und her bewegen, er kam bis in die Mitte, öfters noch verschwand der Schein, bis Nobody nach einer halben Stunde dicht am Ufer wieder zum Vorschein kam.

»Das Seil,« schrieb er auf die bereitgehaltene Schiefertafel, um nicht immer erst den Helm abschrauben zu müssen, wie Nobody an Vorbereitungen nichts vergessen hatte, was er brauchen könnte.

Das eine Ende des Seiles in der Hand, kehrte der Taucher in das feuchte Element zurück, kam aber schon nach fünf Minuten wieder zurück, und diesmal schraubte er den Helm ab.

»Nun zieht vorsichtig herauf,« befahl er den Mädchen.

»Sie haben etwas gefunden?« erklang es atemlos im Chor.

»Jawohl.«

»Was denn?«

»Wird nicht verraten. Sie werden es ja gleich zu sehen bekommen. Ich habe es angebunden.«

Die Erwartung läßt sich denken, mit dem das Seil langsam heraufgewunden wurde. Etwas Gewichtiges war daran, gewiß, es kam dem Ufer näher, eine Schlammwolke wirbelte empor, und da tauchte aus dieser ein kolossaler, langgestreckter, spitzer Schädel auf, der Rachen mit zahllosen Stachelzähnen besetzt.

Der unvermutete Anblick war ein derartiger, daß auch die unverzagten Cowgirls zuerst gleich die Flucht ergreifen wollten, obgleich sie mit ihrer Belesenheit wissen konnten, um was es sich hier handelte. Man hatte aber eben etwas ganz anderes erwartet, dieser Riesenschädel kam doch etwas gar zu unvermutet.

»Der Schädel eines Krokodils!«

»Ja, aber eines Riesenkrokodils!«

»Eines vorsintflutlichen, eines Ichthyosaurus!«

»Ja, sauriern wird sich's wohl,« ergänzte Nobody in seiner trockenen Weise, »ich bin darin nicht so bewandert. Da unten liegt noch alles voll Lumpen und Knochen, und ich denke mir, Sie brauchen sich nur an so ein New-Yorker wissenschaftliches Institut zu wenden, das sich mit derartiger Saurierei befaßt, das läßt gleich den ganzen See auspumpen, und das dürfte sich auch lohnen, seien Sie nur beim Verkauf nicht zu bescheiden.«

»Ist das alles?« erklang es enttäuscht.

»Na, ich danke,« stellte sich Nobody erzürnt, »ist das etwa nicht genug?! Was für einen Schädel wollen Sie denn eigentlich haben?! Ziehen Sie ihn nur erst einmal völlig aufs Land!«

Es geschah. In der Tat, es war ein ganz außerordentlicher Fund. Der Schädel war etwas über zwei Meter lang, die Augenhöhlen wie Suppenteller – was für ein Ungeheuer mußte das sein, wenn man alle Knochen fand und sie wieder zusammensetzte! Ein Gelehrter aus diesem Fache wäre vor Entzücken rasend geworden.

Aber ebenso in der Tat: hier in diesem Kreise herrschte allgemeine Enttäuschung.

»Ich dachte,« fing die eine der Brisbys niedergeschlagen an, »es wäre – es wäre – so eine – so eine ...«

»Na was denn?«

»Vielleicht eine geheimnisvolle Kiste?«

»Eine geheimnisvolle Kiste mit vorsintflutlichem Champagner, was?« wurde sie von Nobody in seiner Weise angefahren. »Noch in der Eiszeit gekühlt, was?«

»Ach nein – nur mit sonst irgendwas Hübschem drin.«

»Na, will gleich mal nachsehen, ob da unten nicht doch so eine geheimnisvolle Kiste mit irgendwas Hübschem drin ist, sonst soll doch der ...«

Nobody sprach's, hatte sich schnell wieder den Helm aufgeschraubt und machte gleich einen Kopfsprung.

Alles mußte lachen.

 

Erledigen wir jetzt diese Angelegenheit. Der See wurde auf Kosten des New-Yorker zoologischen Museums wirklich ausgepumpt, man fand darin das vollständige Skelett eines Ichthyosaurus, der jetzt in jenem Museum aufgestellt ist. Der Fund erregte ungeheures Aufsehen. Es handelte sich um eine Spezies, die bisher noch gar nicht bekannt war. Der Ichthyosaurus war ein Krokodil, also eine Eidechse. Nun gibt es aber auch Eidechsen ohne Füße, die bekannteste davon ist die Blindschleiche, und das hier war solch eine Riesenblindschleiche, nur mit Stummelansätzen der Füße, dem Aeußeren nach ganz einer Schlange gleichend – doch einer Riesenschlange, gegen die verglichen unsere jetzigen harmlose Geschöpfe sind.

Das neuentdeckte Wesen aus der Urzeit wurde zzziyyy Ichthyosaurus annulatuszzz/iyyy genannt, oder seinem Fundort zu Ehren zzziyyy coloraduszzz/iyyy.

Hierbei noch eine Frage. Wie ist dieses Gewässer, in dem nie eine Wasserschlange gesehen worden ist, zu dem Namen ›kleiner Schlangensee‹ gekommen? Haben die Indianer, die früher hier gehaust, etwas von dem Vorhandensein dieses schlangenähnlichen Ungeheuers gewußt? Liegt da eine alte Ueberlieferung zugrunde?

Man hat sich mit dieser Frage viel beschäftigt. Sie ist nie gelöst worden.

 

Kehren wir zu Nobody zurück. Bald tauchte er wieder auf, und es verdroß ihn nicht, abermals den Helm abzuschrauben.

»Hurra, ich hab's, ich hab's!!!« schrie er jauchzend.

»Was denn?«

»Was Hübsches, was jedem Mädchen wohlgefällt.«

Er tauchte die Hände wieder unters Wasser.

»Zwei Ohrringe aus der vorsintflutlichen Eiszeit!«

Mit diesen Worten hielt er zwei riesige Wirbelknochen empor, ringförmig, innen hohl.

Und so trieb er es noch eine Zeitlang, immer mit Witzen wieder auftauchend, aber immer noch Knochen mitbringend, doch weiter nichts als solche Wirbelknochen. Daß gar keine anderen vorhanden waren, fiel Nobody schon damals auf, auch er vermutete gleich ein schlangenähnliches Ungeheuer.

Da er nun einmal bei der Arbeit war, beförderte er immer mehr Knochen herauf, nicht mehr bloß mit den Händen, sondern er reihte sie gleich an dem Seile auf, sie dann ans Land ziehen lassend.

Schließlich sah er ein, daß er die Arbeit doch nicht mit dieser Luftbombe zu Ende führen könne. Der Knochen war eine zu ungeheure Menge.

»Nur noch einmal will ich hinunter,« sagte er zuletzt zu den Damen, denen schon das Zusehen langweilig wurde. »Ich habe mir gerade einen hübschen Haufen solcher vorsintflutlicher Ohrringe zusammengestapelt, und vielleicht wird meine Arbeit von der Gelehrtenwelt anerkannt, vielleicht bekommt das Scheusal dann den Namen Ichthyosaunobodius. Na, was gibt's denn da zu lachen?«

Wieder verschwand er mit aufgeschraubtem Helm unter dem immer schlammiger werdenden Wasser.

Diesmal blieb er sehr, sehr lange aus, die Erwartung auf sein Wiedererscheinen wuchs. Es war doch immerhin eine gefährliche Geschichte.

Da kam er wieder, eiligst watete er an Land, mit ungewöhnlicher Hast schraubte er den Helm los. Sein Gesicht war dunkel gerötet.

»Wer hat sich vorhin die geheimnisvolle Kiste gewünscht?«

»Ich!« rief Susy, die jüngste der sieben Schwestern, noch ein Kind. »Haben Sie eine gefunden?«

»Du ahnungsvoller Engel du,« sagte Nobody, im Gegensatz zu seinem früheren Benehmen tiefernst geworden, und dann gab er den Befehl, das Seil langsam und auf eine besondere Weise anzuziehen.

Sonst gab er keine Erklärung, wollte nicht sprechen.

Die Spannung stieg aufs höchste, und sie wuchs noch, als jetzt wirklich eine schwarze Kiste den trüben Wasserfluten entstieg.

Nobody nahm sie in Empfang, aber auch seine Kräfte reichten nicht aus, sie völlig ans Land zu wälzen, mit sechs Armen gelang es.

Es war eine eiserne Kiste von Tischhöhe und ebenso breit und lang, schwarz angestrichen, der Deckel mit modernen Schrauben verschlossen, die nicht im mindesten vom Rost gelitten hatten.

Atemloses Schweigen herrschte, als Nobody den Schraubenschlüssel ansetzte.

»Das sieht doch bald aus, als ob die erst heute versenkt worden wäre?« wurde nur einmal geflüstert.

Nobody dachte etwas anderes. Dieses Metall, kein Eisen, welches nicht unter Feuchtigkeit litt, kannte er schon!

Die Schrauben lösten sich mit ziemlicher Leichtigkeit, schwieriger war es, den vorzüglich aufgepaßten Deckel abzuheben, bis Nobody endlich die Meißelschneide in die Spalte gebracht hatte, dann bedurfte es nur noch eines Druckes, und da zeigte sich, daß der Falz mit wasserdicht abschließendem Kautschuk belegt war.

Ein Dutzend Augenpaare blickte in die Kiste, sie sahen darin zusammengekauert eine menschliche Gestalt, ein menschliches Gesicht, Hände und Füße, aber alles bis auf Haut und Knochen ausgetrocknet, bekleidet mit bunten, zum Teil goldgestickten Lappen, denen man ebenfalls das hohe Alter ansah.

Der erste Schreck war schnell überwunden.

»Eine Mumie!«

»Und zwar eine mexikanische,« ergänzte Nobody, »eine aus der alten Aztekenzeit, das erkenne ich sofort, wenn es, nach der kostbaren Kleidung zu urteilen, nicht ein fürstlicher Azteke selbst ist. Und was ist das?«

Ohne Scheu griff er hinein und brachte ein Bündel zum Vorschein, wickelte es auseinander – es war ein langer, langer Lederriemen, an dem wieder zahllose kleinere Riemchen hingen, in die Knoten geknüpft waren.

»Knotenschrift! Die Geheimschrift, deren sich die mexikanischen Priester bedienten!« – –

Eine weitere Untersuchung ergab nichts. Die eiserne Kiste war stark mit Blei gefüttert, damit sie mit ihrem Hohlraum nicht schwamm, darin die bekleidete Mumie, der lange Riemen mit den angeknüpften Schnürchen – weiter nichts.

Es war auch gerade genug des Rätselhaften!

Wer hatte die Kiste hier versenkt? Weshalb?

Vergebliche, zwecklose Fragen!

Ja, die Knotenschrift würde wohl etwas erzählen können. Aber die wollte erst enträtselt sein!

»Gewiß, Mr. Nobody, ich überlasse sie Ihnen gern, ich schenke sie Ihnen gleich,« antwortete Mrs. Bowell auf eine Bitte, »und nur, wenn Sie nach der Entzifferung wissen, wo ein großer Sack mit ... nein, wenn Ihnen diese Lederriemchen erzählen, wie man sich die ewige Jugend und vor allen Dingen ein ewig junges, fröhliches Herz erhält, dann werden Sie dieses Rezept wohl auch mir mitteilen.« – –

Am anderen Tage erschien in dem Tale ein Bote aus Denver City, der für Mr. Bernard einen Brief und eine Depesche brachte.

Nobody erbrach zwar erst die letztere, und sie enthielt für ihn etwas Hochwichtiges, steckte sie aber gleich wieder ein und öffnete den Brief, dessen Handschrift er sofort erkannt hatte.

Die Großfürstin Margot teilte mit, daß sie sich kräftig genug fühle, die Reise anzutreten. Ob sie abgeholt würde.

Er eilte zu Clarence, die in hellen Jubel ausbrach. Die anderen wußten noch immer nicht, daß sich ihre einstige Freundin ihnen so nahe befand, und nun sollten sie auch vollkommen überrascht werden.

»Ich reite noch heute hin.«

»Und ich werde Sie begleiten.«

Hierauf erst widmete sich Nobody eingehend der Depesche. Sie kam aus Alexandrien und lautete:

»Sofort nach Freetown, Sierra Leone, schließen Sie sich dort Ihrem Freunde an. Edward Scott.«

Also wieder solch eine prophetische Bestimmung! Aber diesmal warf sie alle Pläne Nobodys über den Haufen. Er hätte eigentlich gar nicht mehr nötig, die Anleitungen seines prophetischen Freundes zu befolgen, denn jetzt sah er den Weg, der zu dem großen Geheimnis führte, offen vor sich liegen, die vom Schmerz Gefolterte hatte ihm so ziemlich alles gestanden, so weit sie wenigstens eingeweiht gewesen, hatte ihm die geheimen Erkennungszeichen verraten und noch manches andere.

Aber hatte er dies alles nicht erst seinem Freunde zu verdanken? Hatte ihn nicht erst dieser hierhergeführt?

Gewiß, zunächst nach der Westküste von Afrika, nach Sierra Leone! Wer kann denn die Verkettungen des Schicksals ergründen!

Was für einen Freund würde er dort treffen, dem er sich anschließen sollte? Natürlich war das doch Scott selbst! Hätte er aber dann nicht sagen sollen, wo Sie mich treffen?

»Nun, ich werde ja sehen. Also Edward ist noch immer in Aegypten. Eigentlich hätte er mir da auch gleich telegraphieren können, ob er seine Agathe und meine Winchesterbüchse wiedergefunden hat.« – –

Der Abschied erfolgte, der denkbar herzlichste.

»Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!!«

Ja, Nobody sollte alle diese Damen noch einmal wiedersehen, nur in einem anderen Weltteil und unter ganz anderen Verhältnissen.

Dann ritt er mit Clarence davon. Bei der Begegnung der beiden so lange getrennten Freundinnen wollte er lieber nicht dabeisein. Die Großfürstin erzählte doch von ihren Schicksalen, von der ihr widerfahrenen Schmach, und wer weiß ... Nobody wollte sie lieber gar nicht mehr sehen. Seine Pflicht ihr gegenüber hatte er ja getan – ohne einen Tagelohn von zwanzig Francs. In solchen Sachen war Nobody nobel.

So gab er, die Depesche als Eilgrund vorschützend, seiner Begleiterin einen schriftlichen Abschied für die Großfürstin mit, von Clarence selbst nahm er einen noch herzlicheren – – »Und, nicht wahr, das Bild mit Ihrem tschitscheringrünen Freunde auf dem ziegelroten Blauschimmel, wenn das nach hundert und einigen Jahren farbenreif ist, das verehren Sie dann mir?« – – und Nobody trat die Rückreise nach Afrika an, nur diesmal nach der Westküste.


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