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9. Im Koloradotal.

Auch Nordamerika hat in seinem Innern eine große Wüste – direkt genannt die große amerikanische Wüste, zzziyyy great American desertzzz/iyyy, einen Flächenraum von 4000 deutschen Quadratmeilen bedeckend.

Sie ist etwas anders als die afrikanischen und asiatischen Wüsten. Vor allen Dingen sieht man schon auf einer kleineren Landkarte, daß sich ziemlich viel Flüsse hindurchziehen. Aber diese können den sterilen Boden auch nicht fruchtbar machen, der nur hier und da einen kümmerlichen Graswuchs, etwas Buschwerk und Gehölz hervorbringt, und trotz der vielen Flüsse ist darin schon mancher verschmachtet. Da kommen eben die gewaltigen Entfernungen in Betracht.

Im Westen wird dieses Gebiet von dem mächtigen Koloradogebirge begrenzt, dessen ausgezeichnete Pässe wohl niemals vom menschlichen Verkehr benutzt werden, weil sie eben in die Wüste führen, aus der nichts zu holen ist, und man hat auch nicht nötig, sie zu durchqueren, sie wird nördlich und südlich von der Eisenbahn auf ganz bequemem Wege umgangen.

Die Morgensonne hatte sich noch nicht hoch über die Bergspitzen erhoben, als ein Reiter sein Roß durch solch einen Paß dem Osten zulenkte.

Tags zuvor in aller Frühe hatte Nobody Denver City, die letzte Stadt, welche durch eine Zweigbahn mit der nördlichen Pacific in Verbindung steht, verlassen. Seine Gefährtin war aus einem Grunde, den wir später erfahren werden, zurückgeblieben.

Amerika ist groß. Ueberall konnte Nobody nicht gewesen sein. So kam er auch zum ersten Male in diese Gegend, und er hatte doch schon oft vorgehabt, sie zu besuchen, hauptsächlich, um den Indianerstamm der Arrapahos, der Beduinen Amerikas, kennen zu lernen. Sein Abenteuer mit der Russin führte nun endlich diese Gelegenheit herbei.

In Denver hatte er nicht viel über die Farm der Mrs. Bowell, der natürlich sein erster Besuch gelten sollte, erfahren können. Der Amerikaner ist gegen alles, was nicht Geld bringt, zu teilnahmlos, er mochte auch nicht an die rechte Quelle gekommen sein.

Er hätte einen Führer bekommen können, doch er schlug ihn ab, ließ sich nur den Weg beschreiben.

»Den könnt Ihr auch gar nicht verfehlen. Es gibt nur einen Paß, der von Norden nach Süden führt, den reist Ihr den ganzen Tag entlang, bis Ihr zu dem Felsen kommt, der gerade wie ein Ochsenkopf aussieht, dort links ab, und in drei Stunden seid Ihr im Koloradotale und auf der Trowsers-Farm.«

Die Beschreibung war noch etwas ausführlicher – für Nobody genügte sie.

»Trowsers-Farm? Warum heißt die denn Hosenfarm?«

»Weil sie ... danke, Jim, ich trinke Brandy mit Zucker.«

Nobody, der sich wieder einmal in den Wildwestmann verwandelt hatte, ritt ab, hinter sich auf dem Sattel außer seinem eigenen Proviant den schweren Hafersack.

Gleich nachdem er den engen Felderdistrikt, der Denver umgrenzt, verlassen hatte, trat das Koloradogebirge mit seiner ganzen fürchterlichen Nacktheit an ihn heran, und wenn er auch ständig einem wasserreichen Bache folgte, so konnte dieser doch nichts an der vegetationslosen Oede ändern. Nur hier und da fristete eine Fichte ein kümmerliches Dasein, die sich in einer Felsspalte festgeklemmt hatte. Regengüsse waschen alle sich bildende Erde von den glatten Felswänden ab und lassen nichts aufkommen.

Sonst ist von dem Ritt nichts weiter zu sagen. Bei Sonnenuntergang erreichte Nobody den bezeichneten Felsen, von dem eine Schlucht ostwärts führte, ebenfalls von einem Gebirgsbach begleitet, hier übernachtete er, um am anderen Morgen seine Reise fortzusetzen.

Die drei Stunden waren vorüber, nun hätte die Farm kommen können. Aber wie die hier zwischen den engen Felswänden beschaffen sein sollte, das konnte sich auch Nobody mit seiner Phantasie nicht recht vorstellen. Trostlos, alles trostlos!

So dachte er, als er seinen braven Gaul, der aber auch schon ganz trostlos den Kopf hängen ließ, einen ziemlich steilen Abhang hinauftrieb. Dann war er oben, und dann stand der Gaul da und ließ mit geblähten Nüstern ein freudiges Wiehern hören. Nobody war zu sehr bezaubert, um mitwiehern zu können.

Auf der anderen Seite senkte sich der Hügel ganz sanft hinab, und dort, wo die Felswände noch mehr zusammenrückten, leuchtete es in frischem Grün, und die amerikanische Eiche mit ihren eßbaren Früchten war es, welche vorherrschte.

Es war der Eingang zum Paradiese! Vor dem himmlischen Paradiese steht der Erzengel Gabriel mit einem Flammenschwerte. Vor diesem hier stand, die Mündung gegen die Schlucht gerichtet, eine ungeheure Kanone.

Nobody grübelte jetzt nicht darüber, wie man das riesige Geschütz hierhergeschafft haben konnte – sein scharfes Auge hatte auch sofort etwas anderes entdeckt – jetzt zunächst wurde sein Blick von dem Häuschen gefesselt, welches dort neben dem Bache stand, nicht weit vom Eingange entfernt, aber noch in der Schlucht selbst.

Niedlich, sauber, weiß gestrichen, mit grünen Fensterläden, weißumsponnen, am Bache ein Mühlrad, ein Gemüsegärtchen, an den Abhängen grüne Wiesen, gegen den spülenden Regen durch Terrassen geschützt, auf diesen wieder Wein – – ein Anblick, der auch das Herz des poesielosesten Wandersmannes erfrischen muß – und nun gar erst, wenn man noch etwas mehr in der Brust hat und anderthalb Tag durch solch eine trostlose Schlucht geritten ist!

Bald hielt Nobody vor der Haustür, und da erblickte er etwas anderes, was ihm tief ans Herz griff.

Ueber der Tür war ein Schild mit der üblichen Bezeichnung angebracht: zzziyyy Hotel and Publichouse.

Aber unter diesem war noch ein Schild, ein noch viel größeres, und da las Nobody etwas, was ihn plötzlich zurückversetzte nach Deutschland, an einen feuchtfröhlichen Stammtisch, und auch an ihn kam die Reihe, sein Teil beizutragen an dem Liede – ein Lied, nicht gerade sinnig, aber ... schön ist es doch!

Das Wirtshaus an der Lahn.

Hier war kein Zweifel, was es bedeuten sollte. Dieses vorausgesetzte ›Das‹ sagte alles.

Nobody war vom deutschen Stammtisch zurückgekehrt ins wilde Koloradogebirge, er sprang aus dem Sattel.

Da kam aus der offenen Tür heraus eine kleine, dicke Frau.

»zzziyyy Good morning, Sir, good morning,zzz/iyyy« begann sie den fremden Reitersmann zu komplimentieren, dabei sich einer tiefen Baßstimme bedienend, und ... diese kleine, dicke Frau, hatte auch nicht nur einen weißen Schnauzbart, sondern auch einen weißen Backenbart – diese kleine, dicke Frau war nämlich in Wirklichkeit ein kleiner, dicker Mann, der sich in Frauenröcke gesteckt hatte.

Nobody schaute sich das komische Gewächs mit seinen Detektivaugen an. Ganz ohne Zweifel, der Kerl hatte sich mit Absicht richtig zu einem Weibe herausstaffiert.

Nochmals blickte Nobody traumverloren nach der deutschen Ueberschrift, und dann wanderte sein Auge zurück nach dem Mannweibe.

»Das Wirtshaus an der Lahn,« wiederholte er sinnend. »Sind Sie der Wirt?«

Er hatte sich der deutschen Sprache bedient. Ach, diese Freude!

»Sie sind wohl gar auch ein Deutscher?!«

»So ziemlich. Ich bin als Engländer in Deutschland geboren und habe viele Jahre dort gelebt.«

»Dann kennen Sie doch auch das Wirtshaus an der Lahn?«

»Die Lahn ist ein Nebenfluß des Rheins.«

»Das ist hier die Lahn,« sagte das Mannweib mit Nachdruck, auf den Bach deutend. »Oben mag er Arrapaho heißen, die Bergarbeiter mögen ihn meinetwegen Goldcreek nennen – hier aber habe ich zu befehlen und Namen zu geben, und hier heißt der Bach eben die Lahn.«

»Dann allerdings. Und Sie sind der Wirt?«

»Ich? Nee, ich bin die Wirtin. Ich bin die Wirtin vom Wirtshaus an der Lahn. Kennen Sie denn nicht das berühmte Lied?«

Und plötzlich begann das dicke Kerlchen zu tanzen, die Beine hochwerfend, daß die Röcke flogen, und dazu sang er:

»Es steht ein Wirtshaus an der Lahn,
Da halten viele Fuhrleut' an.
Die Wirtin sitzt am Ofen,
Die Gäste um den Tisch herum,
Das Bier kann niemand so-o-ofen.«

»Das bin ich!« setzte er noch hinzu, und dann rannte er nach dem Mühlenrad und zog zu Ehren des Gastes an der hölzernen Schleuse den Schützen, so daß das Rad sich zu drehen begann, es setzte eine Klapper in Bewegung, weiter nichts, und daß ein Mühlenrad klappert, das ist ja auch die Hauptsache.

Nobody führte nach Westmannsweise sein Pferd selbst in den Stall und versorgte es, dann betrat er die Wirtsstube.

Halb amerikanisch, halb deutsch eingerichtet, halb bäuerisch und halb hinterwäldlerisch, eine Bar mit vielen Flaschen, und auf einem Sims die in Amerika ganz unbekannten Stammgläser, an der Wand die Schwarzwälder Kuckucksuhr und viele Waffen und Geweihe und ausgestopfte Vögel, und alles so sauber wie die schneeweiß gescheuerten Tische und Stühle, welche aus keiner Möbelfabrik hervorgegangen waren.

Zunächst interessierte sich Nobody am meisten für die Plakate, welche Speisen und Getränke der verschiedensten Art ankündigten, darunter sogar Delikatessen wie ›selbstgeräucherten Bärenschinken‹. Auch ›Beefsteak frisch von der Pfanne‹ war gar nicht so ohne, darauf hatte Nobody augenblicklich den größten Appetit, und das ging auch am schnellsten.

Der Wirt in Frauenkleidern kam wieder herein. Einen besonderen Reiz übte diese Harlekinade auf Nobody nicht aus, da hatte er schon zu viel gesehen.

»Kann ich ein Beefsteak frisch von der Pfanne bekommen?«

»Jawohl. Erst gestern ist ein Ochse geschlachtet worden, und meine Frau kocht ausgezeichnet.«

»Ich denke, Ihr selbst seid die Wirtin?«

Wenn der Kauz, der originell sein wollte, in seiner Rolle verunglückt war, so wußte er sich nicht einmal in geschickter Weise aus der Klemme zu helfen.

»Na, Ihr wißt doch, wie es hier zugeht,« meinte er leichthin. »Hier laufen alle Weiber in Hosen herum, und da muß ich als einziger Mann doch Frauenröcke tragen.«

»So so. Nun, lassen Sie mir also ein Beefsteak braten, ein recht zartes, saftiges Stück, nur halb durch, aber auch nicht zu roh. Bitte, bestellen Sie erst, ehe wir über das Trinken sprechen.«

Aber der Wirt ging noch nicht. Breitbeinig stellte er sich vor den Gast hin, reckte den Bauch heraus und legte den Mittelfinger so an den Daumen, als wenn er schnalzen wolle.

»Also ein recht saftiges Stück, nichtwahr?« fragte er augenblinzelnd.

»Jawohl, recht saftig.«

»Und recht zart?«

»Recht zart.«

»Daß es so wie Butter auf der Zunge zerschmilzt.«

O, das war ja ein Ideal von einem Wirt! Dann konnte man auf seine Eigentümlichkeit, alles noch einmal zu fragen, schon eingehen.

»Und natürlich in frischer Butter gebraten?«

»Selbstverständlich, nicht etwa in Fett.«

»Und nicht gar zu scharf?«

»Nein, ja nicht!«

»Und vielleicht gebratene Zwiebelchen dazu?«

»Können Sie auch machen.«

»Und vielleicht noch ein knusprig gebratenes Ei darübergeschlagen?«

»Mann, Ihr macht einem ja den Mund wässerig!«

Das lag hauptsächlich in der Art und Weise, wie der Wirt fragte, wie er dabei schmunzelte, wie er dabei die Finger hielt!

»Und vielleicht noch Champignons dazu?«

»Habt Ihr Champignons? Natürlich, natürlich!« rief Nobody mit förmlicher Begeisterung.

Da legte der Wirt dem Gaste vertraulich die Hand auf die Schulter und sagte:

»Heern Se, wenn ich so'n Bäffschtäck hätte, das würd'ch selber fressen.«

Das allerdings war ein guter Witz von dem Rockträger gewesen, das war auch für Nobody etwas, da mußte er herzlich lachen.

Anerkennenswert war es auch von dem Manne, dann gleich zu sagen, daß das Fleisch jenes Ochsen zäh wie Leder sei, der Gast solle lieber Hirschrücken essen, dann wurde auch die Trinkfrage besprochen, und bald war Nobody versorgt, während der zum Mittrinken eingeladene Wirt, der den Namen Hans Schuster führte, auf dem Tische eine Reihe Bierflaschen aufbaute.

Bald war das Gespräch im Gange. Der Wirt gab willig über alles Auskunft.

Einfach das Koloradotal hieß geographisch das Gebiet, welches sich dort hinten eröffnete, zirka vierzig deutsche Quadratmeilen groß, in der Stein- und Sandwüste eine Oase zu nennen.

Westlich wurde es also vom Koloradogebirge begrenzt, nur hier diese Schlucht führte hinein, von diesem schoben sich zwei Ausläufer vor und schlossen es so ein; und östlich wurde es vor dem Flugsande durch einen großen Wall von Hügeln geschützt.

Hier nun waren alle Bedingungen geboten, um das fruchtbarste Land zu erzeugen. Der Boden mußte sogar auch bei starker Ausnützung immer besser werden, weil jeder Regenguß und besonders die Schneeschmelze jedes Jahr allen Humus von dem benachbarten Gebirge hereinschwemmte, und hinaus konnte er nicht wieder, er mußte sich hier ablagern. Denn die vielen Flüßchen, welche das Gebiet durchkreuzten, mündeten sämtlich in einem großen, in der Mitte liegenden See, und trat dieser bei der Schneeschmelze über, so entstand dennoch keine jener Ueberschwemmungen, unter denen so viele Gebiete Amerikas so furchtbar zu leiden haben, sondern das überschüssige Wasser, das der See nicht schlucken konnte, lief harmlos nach der Wüste ab, sich dort schnell im Sande verlierend.

Der Wirt konnte nicht genug preisen, was für ein Paradies das sei.

Und dieses vierzig deutsche Quadratmeilen große Paradies war zu einer Zeit, als der Staat Kolorado schon stark bevölkert war, noch gänzlich unbekannt gewesen!

Doch das ist für den Kenner der Verhältnisse durchaus nicht wunderbar. So etwas, daß man in Nordamerika, in den Vereinigten Staaten, die wir Europäer doch selbstverständlich geographisch für vollkommen erforscht halten, ein meilengroßes, bisher noch nicht bekanntes Gebiet ›entdeckt‹, das kommt noch heutzutage in Amerika fortwährend vor.

Wenn der Yankee immer so stolz bei den verschiedensten Gelegenheiten sagt: ›Amerika ist groß‹ – so meint er eben etwas ganz Besonderes damit. Heute ist einer Straßenkehrer, morgen durch eine Spekulation Millionär – ›Amerika ist groß!‹ – – Edison erfindet die lebenden Photographien, den Phonographen – ›Amerika ist groß!‹ – – ›Der erste Beamte im Schatzamt zu Washington wird dabei erwischt, daß er selber falsches Papiergeld macht, und stolz sagt der Yankee: ›Ja, unser Amerika ist groß!‹

Asien ist noch größer, aber so etwas kommt dort nicht vor, und so ist es auch in Amerika mit der geographischen Entdeckung von ganzen Ländern, was in Asien auch kaum noch vorkommen kann. Heute hat man hierfür ein treffenderes Schlagwort erfunden: Amerika ist das Land der Ueberraschungen, der unbegrenzten Möglichkeiten.

Der Wirt zeigte eine Karte vom Staate Kolorado, wie sich dieses fruchtbare Gebiet in der Sandwüste so langgestreckt am Gebirge hinschmiegte, die Grenzen schon markiert. Ja, freilich, was waren denn auch diese vierzig Quadratmeilen auf einer Karte von Amerika! Mit der Fingerspitze konnte man sie verdecken, und daß zwischen der Stein- und der Sandwüste solch ein fruchtbares Land lag, das hatte eben niemand ahnen können!

Der alte Senator Bowell, der viel im Koloradogebirge auf Steinböcke gejagt, hatte es zufällig entdeckt.

Entdeckt? Nun, das Gebiet war schon bewohnt gewesen, nicht nur von Indianern, sondern auch schon von Weißen in Besitz genommen. Mehrere Ansiedlerfamilien, sowie viele Trapper und Jäger hausten darauf. Aber wenn die einmal heraus unter andere Menschen kamen, so sprachen sie natürlich nicht von ihrem Geheimnis, das sie so gut ernährte.

Und genau so machte es Senator Bowell. Nur daß dieser die Verhältnisse besser kannte und sie ausnützte. Der ging nach Washington und bezeichnete auf der Karte das Stück Land, welches er zu kaufen wünschte. Er bekam das Stück Sandwüste – Regierungsland – natürlich für ein Butterbrot. Und als dann die Geometer kamen und das Paradies sahen, war an dem Handel nichts mehr zu ändern.

Nun hätte der rechtmäßige Besitzer verlangen können, daß die Ansiedler und Jäger sein Gebiet sofort verließen. Aber der alte Senator Bowell war ein guter Mann. Er jagte jedes Jahr ein paar Wochen in den von Wild aller Art wimmelnden Wäldern, sonst ließ er alles beim alten. Grundbriefe stellte er freilich auch nicht aus.

Dann brach der große Indianeraufstand aus, dem sich auch der kleine Stamm der Arratanen in diesem ihrem weltverlassenen Gebiet anschlossen; sie überfielen die paar Ansiedlungen, weshalb auch sie nach dem Indianerterritorium verpflanzt wurden.

Der Erbe des alten Bowell war sein einziger Sohn Donald.

»Jawohl, derselbe, der dann in Petersburg bei der Gesandtschaft war und von dort die Russin mitbrachte, eine Baronin, Irma Janowitsch hieß sie.«

Der Wirt war über alles orientiert. Viel mehr freilich wurde ja auch nicht in den Kreis seiner Interessen gezogen. Doch auch sonst war er ein ganz intelligenter Mensch.

»Donald, auch nicht mehr jung, wollte aus dem Tale mehr machen als sein Vater. Er ließ eine Menge Arbeiter kommen, zuerst wurde ein Jagdschloß gebaut, fix und fertig eingerichtet, wie es heute noch ist, dann sollte wohl auch eine Farm angelegt werden, aber so weit kam es nicht. Nur ein paar Monate wohnte Donald mit seiner Frau – er war schon einmal verheiratet – in dem Schlosse, dann mußte er fort, nach Petersburg. Er war nämlich Diplomat.

»Nun war das ganze Gebiet wieder lange, lange Zeit ganz leer. Nur die Familie Brisly wohnte noch darauf und bestellte ihre Felder. Andere Ansiedler durften ja nun nicht mehr daraufkommen, und die alten Fallensteller und Waldläufer starben nach und nach aus, und bei den Brislys gab es immer nur Mädels.

»Fünf Jahre ist es her, da kommt Donald wieder. Bringt sich der alte Knasterbart weiß Gott schon wieder eine blutjunge Frau mit, die er eben erst in Rußland geheiratet hatte! Und die beiden wollten nun immer und ewig hier wohnen bleiben, sogar im Winter! Na, dachte ich, da bin ich doch gespannt, wie lange es die beiden jungen Ladies hier in dieser Einsamkeit aushalten werden. Mrs. Bowell brachte nämlich auch eine Freundin mit, eine Französin, ein schneidiges Frauenzimmer. Clarence Laboche heißt sie, und Mademoiselle tun sie zu ihr sagen. Und wie die beiden nun ankamen, trotz des beschwerlichen Rittes durch die Schluchten, in Samt und Seide, meilenweit nach Parfüm stinkend, und was die nun alles für Pläne hatten, was die mir hier vorschwatzten, was die alles anlegen wollten, sogar die Kühe wollten sie selber melken. Kurz und gut, Farmersfrauen wollten sie werden, nie, nie wieder in eine Stadt gehen. Na, dachte ich, laßt nur erst mal den Winter kommen!«

Der Wirt nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glase und sah nachdenklich vor sich hin.

»Ja, ja,« fuhr er dann fort, »wie sich der Mensch nur irren kann. Der alte Donald genoß seine Ruhe nicht lange mehr, kam gar nicht dazu, erst die Arbeiter zu bestellen. Schoß sich in den Fuß, starb an Blutvergiftung. Beim Ladyfelsen liegt er begraben. Und die Missis Irma und die Miß Clarence, die sind alle beide heute noch hier.«

»Sind gar nicht wieder aus dem Tale herausgekommen?«

»Na, das schon. Jedes Jahr geht eine auf ein Vierteljahr fort, immer nur eine auf einmal, die andere bleibt inzwischen da. Aber das sind doch nur Ferien.«

»Was machen sie denn sonst hier immer?«

»Na, Kühe melken sie gerade nicht. Sie vertreiben sich so die Zeit. Die Mademoiselle malt viel. Aber sonst schafft auch die tüchtig mit, geradeso wie die anderen, und wenn sie auch nur jagen, so versorgen sie doch die Küche mit Fleisch. Und die Mrs. Bowell kocht auch für alle.«

»Haben sie denn Bedienung?«

»O ja, das ganze Haus ist doch in Ordnung zu halten. Aber nur Chinesinnen und zwei Negerinnen, im ganzen acht Weiber. Keine Weiße. Mit denen haben sie's auch probiert, aber keine einzige, hat in der Einsamkeit ausgehalten. Unsere Mädchens können nun einmal ohne Männer nicht auskommen.«

»Also gar kein Mann?«

»Nicht ein einziger.«

»Und die Familie Brisly, von der Ihr vorhin spracht?«

»Da habe ich Euch auch schon gesagt, daß da nur Mädels sind. Ja freilich, wenn die nicht wären, da könnten die Herrschaften oder vielmehr Damenschaften hier auch nicht so leben. Aber die Polly und Molly und die Dolly und Lizzy und die Mary und Maggy und die Susy, das sind gar tüchtige Mädels!«

»Nanu!« rief Nobody lachend, als der Wirt diese sieben Namen so geläufig herunterdeklamiert hatte. »Was ist denn das für eine weibliche Gesellschaft?!«

»Ich habe Euch doch schon erzählt, daß, als Donald zum ersten Male als Besitzer zurückkam, nur noch eine Ansiedlerfamilie hier war, und der alte Brisly war auch schon tot, und der hatte nur Mädels gehabt. Damals lebte die älteste Tochter noch, die Folly, schon achtzehn Jahre alt. Der Vater tot und die Mutter krank – was sollte getan werden? Die Folly war ein tüchtiges Mädel – wie die anderen auch solche geworden sind. Das Bestellen der Felder wurde aufgegeben, aber die Rinderzucht weitergetrieben. Die Folly zog Hosen an und setzte sich in den Sattel. So hat sie ihre ganzen sieben Schwestern durchgebracht. Schade um sie! Ein Stier schlug sie vor Jahren vor die Brust, da ist sie gestorben. O, Ihr sollt diese sieben Prachtmädels einmal zusammenstehen sehen, alle wie die ...« – der Wirt machte einen schrägen Strich durch die Luft – »wie die Orgelpfeifen.«

»Wie alt ist denn die älteste?«

»Die Polly? Die wird jetzt zwanzig.«

»Und die jüngste?«

»Die Susy? Die wird im August dreizehn. Und die hilft auch schon brav mit.«

»Was hilft sie mit?«

»Nun, die Rinder hüten! Und da gibt's gar viel zu tun! Auf jedes Mädel kommen mindestens hundert Stück. Und das ist doch kein Gütchen, das ist ein ganzes Territorium, und die Rinder laufen so gut wie wild darauf herum, und da gibt's meilenweite Prärien drauf, wo im Winter der eisige Blizzard genau so bläst wie etwa oben in Nebraska! Und da haben sich die sieben Mädels mit Lasso und Peitsche der durchgehenden Herde entgegenzuwerfen! Jawohl, kommt mal hin!«

Die sieben Mädchen als Cowboys! Doch Nobody bekam nicht etwa etwas Außerordentliches zu hören.

Es sei hier etwas eingeschaltet. Bei St. Louis findet alljährlich ein Wett-Pferdebändigen statt. Farmer schicken ihre besten Cowboys von weither, Sportsleute wetteifern mit diesen professionellen Zureitern, auch der jetzige Präsident Roosevelt, der bekanntlich ehemals Anführer der sogenannten Rough-Riders war, so im kubanischen Kriege, hat sich früher daran beteiligt.

Das wild eingefangene Pferd, das noch nie einen Sattel getragen, hat an jeder Fessel, also über dem Huf, eine Schlinge, alle vier laufen in einer einzigen Lederschnur zusammen, diese bekommt der Betreffende in die Hand, und kann er dem Tiere sonst nicht beikommen, so bringt er es durch Zusammenziehen der Schlinge zum Sturz; er muß es satteln, zäumen, einen durch Stangen abgesteckten, vielgewundenen Weg reiten, und es auf Kommando zum Stillstand bringen. Wieviel Zeit der Bändiger hierzu braucht? Daß so ein professioneller Cowboy nur wenige Minuten zu alledem braucht, das muß man gesehen haben, um es glauben zu können. Wer aber schwache Nerven hat, darf es sich nicht ansehen.

Vor zwei Jahren nun beschäftigten sich auch einmal die deutschen Zeitungen mit dieser Angelegenheit, weil es ein junges Mädchen gewesen war, eine Miß Helman, die den Rekord auf zweiundeinehalbe Minute herabgedrückt hatte. Und das war keine professionelle Kunstreiterin oder dergleichen, sondern die älteste von zwei Schwestern, welche auf eigene Faust die Farm des verstorbenen Vaters betrieben, und um Arbeitskräfte zu sparen von früh bis abends im Sattel saßen, hinter den Rindern her waren und in der Saison auch Pferde bändigten, worin es die eine zu außerordentlicher Geschicklichkeit gebracht hatte.

Das wurde damals als etwas ganz Außerordentliches, als etwas Heroisches besprochen. Wenn man sich aber näher auf den amerikanischen Farmen umschauen wollte, so würde man gar viele solche Töchter und auch Frauen finden, welche dem Vater und Gatten auch im Sattel beistehen, und sie geben keinem Cowboy etwas nach.

Auch Nobody war einmal auf einer großen Hazienda gewesen, und die Hausfrau, eine feine Gesellschaftsdame, war, als die Rinder durch die Fenz brachen, mit den anderen Herren vom Tisch aufgestanden und hatte sich auf dem Pferd ebenfalls mitten unter die rasenden Tiere geworfen, und das war nichts anderes gewesen, als wenn bei uns die Gutsfrau, wenn die Knechte und Mägde zum Tanz sind, einmal mit hilft, die Kühe in den Stall zu treiben und anzuketten. Würde sich das eine Städterin wagen? Und jene Farmersfrauen dort drüben spielen mit den wildesten Stieren wie mit zahmen Ziegen.

Aber nun diese sieben Mädels im Sattel, wie die Orgelpfeifen – Nobody konnte sie im Geiste vor sich sehen! Nun, er würde sie ja auch persönlich kennen lernen.

»Da kommt eine, die Dolly, die dritte – von oben herunter.«

Nobody hatte es durch das Fenster bereits gesehen. Zwischen den Bäumen hervor kam in die Schlucht ein Reiter gesprengt. Man muß wohl erst ›Reiter‹ sagen, denn die Gestalt saß rittlings im Sattel und zeigte auch keinen Ansatz von einem Röckchen.

Es war ein prächtiges Pferd, aber es gehorchte noch nicht dem Zügel, mitten im Galopp tänzelte und bockte und schlug es nach allen Seiten aus, am meisten Mühe hatte der Reiter, es an der Kanone vorbeizubringen, und daß dies überhaupt gelang, das zeigte dem sachverständigen Nobody, was für eine Faust und für kraftvolle Schenkel dieser Reiter haben mußte.

Dann ein mächtiger Satz, wie ein Pfeil schoß das Roß davon, im Nu war es vor der Tür, um in demselben Augenblicke auch zusammenzubrechen, sich auf dem Rücken zu wälzen und so mit den Beinen furchtbar um sich zu schlagen, bis es mit einem Male ganz still dalag, die Hufe eng aneinander – denn diese waren gebunden! Das Pferd hatte, an jeder Fessel jene schon oben erwähnten Schlingen, für gewöhnlich so gelockert, daß sie das Tier beim Laufen nicht hinderten.

Die Reiterin hatte die Schlingen mitten im gestreckten Galopp zusammengezogen und das Pferd so zum Sturz gebracht, in demselben Moment war sie aus dem Sattel, noch ein Griff, und es war geschehen, und ruhig schritt sie der Tür zu.

Es war ein Stückchen gewesen, das jeden Zuschauer, der so etwas noch nicht gesehen, vor Entsetzen das Herz hätte stillstehen lassen. Roß und Reiter mußten sich doch gleich das Genick gebrochen haben! In umso größerem Kontrast dazu stand die augenblicklich eintretende Ruhe, diese Gleichgültigkeit.

Sie war nicht außer Atem; auch nicht die leiseste Spur von Aufregung.

Der Wirt hatte den Gruß erwidert und dann gleich das Zimmer verlassen. Sie warf dem fremden Gaste nur einen Blick zu und griff nach einer Zeitung, begann im Stehen zu lesen.

Wenn es die dritte war, so mußte sie also siebzehn Jahre alt sein, und so sah sie auch aus, wenigstens der Figur nach, und der enganliegende Lederanzug, sehr abgenutzt, verriet ja alles. Es war ein schlankes, aber sehr kräftig gebautes Mädchen. Das Gesicht war hinter der Zeitung verborgen. Bisher hatte Nobody nur blonde Locken gesehen, die bis auf die Schultern herabfielen.

»Bravo, das war ein Meisterstück der Reitkunst!«

»O, das gehört zu unserem Beruf,« sagte die helle Stimme hinter der Zeitung hervor.

»Ich hätte nimmermehr geglaubt, daß solch eine kleine Hand eine derartige Kraft besitzt,« sagte Nobody in aufrichtigem Staunen; denn wirklich, es war eine sehr kleine Hand, welche die Zeitung hielt – freilich nicht etwa zierlich, und dann auch schmutzig genug.

Diesmal würdigte sie ihn gar keiner Antwort.

»Trinken Sie ein Glas Bier mit, Miß Dolly?«

Jetzt ließ sie die Zeitung sinken. Nobody sah ein hübsches, trotziges Mädchengesicht – aber auch mit Schmutz bedeckt, der Schweiß tropfte ihr von der Stirn.

Die blauen Augen sahen recht böse auf den Sprecher.

»Woher kennen Sie mich denn?«

»Der Wirt erzählte mir schon von Ihnen.«

»So. Ich danke, Sir, ich trinke kein Bier.«

Sie wollte sich wieder hinter der Zeitung vergraben. Dabei bekam das scharfe Auge des Detektivs ihre innere Handfläche zu sehen.

Himmel, was für furchtbare Schwielen hatte diese kleine Hand! Das arme Mädchen!

»Komm her, mein Kind, setz dich zu mir, ich möchte gern ...«

O weh! Ein Blick der Vernichtung traf Nobody, daß ihm gleich das Wort im Halse stecken blieb.

»Herr, für wen halten Sie mich eigentlich?« erklang es in schneidendem Tone. »Sie scheinen ein Gentleman sein zu wollen, ich aber bin in Wirklichkeit eine Lady!«

Sprach's und ging sporenklirrend hinaus. Draußen traf sie gleich mit dem Wirte zusammen, der ihr ein blaues Büchelchen gab. Sie ging nach dem Pferd, ein Ruck am Lasso, es sprang auf, sie saß schon im Sattel – und Roß und Reiterin waren verschwunden.

Und drinnen in der Gaststube saß Nobody wie vom Donner gerührt. Er hatte sich einmal eine Schlappe geholt.

»Na, Ihr habt sie wohl beleidigt?« fragte lächelnd der Wirt. »Ich hörte so etwas.«

»Ich bot ihr nur ein Glas Bier an und sagte, sie solle sich doch einstweilen hierhersetzen,« meinte Nobody, immer noch ganz kleinlaut.

»Ja, das dürft Ihr nicht. Ei, die wollen alle mit Handschuhen angefaßt werden! Und das können sie auch verlangen, das sind gebildete Mädels, wenn sie auch Arbeitshände haben.«

»Gebildet?«

»Ihr denkt wohl, ich weiß nicht, was gebildet ist? Ich habe auch einmal eine lateinische Schule besucht, jawohl! Primus heißt der erste und ultimus der letzte. Ich war immer der ultimus. Aber Tatsache, diese sieben Mädels könnten sich, wenn sie danach angezogen sind und ihre Hände pflegen, in jeder Gesellschaft sehen lassen. Ihr Vater war nämlich so'n durchgebrannter Student oder so was Aehnliches, verirrte sich hierher und heiratete in die Ansiedlerfamilie hinein. Hatte auch Lust zum Farmerleben, griff tüchtig mit zu. Und dabei ein grundgescheiter Kopf, hatte auch immer noch mit Büchern zu tun. Das hat sich auf seine Töchter vererbt, die er jeden Abend vornahm. Die unterhalten sich mit Euch genau so gut auf deutsch wie ich, und mit der Mademoiselle sprechen sie Französisch.«

»Von wem haben sie das Deutsche gelernt? Von Ihnen?«

»Nee, von der Frau Hackerle.«

»Wer ist das?«

»Die lebt auch im Schlosse.«

»Eine Dienerin?«

»Nee, die gehört mit zu den Herrschaften.«

»Da sind also auch noch andere Damen im Schlosse?«

»Nur noch eine, die Miß Field. Es waren ja schon genug da, alle hatten sie schon Hosen angezogen, aber keine hat's länger ausgehalten als höchstens einen Monat. Nur die Frau Hackerle und die Miß Field sind bei der Stange geblieben.«

»Nun sagt mal offen, Mann, was haben diese Damen denn nur eigentlich vor?«

Nobody wußte ja schon alles, er hatte doch den ausführlichen Brief gelesen, wollte hier von dem Wirt, der als Wächter des Paradieses an erster Quelle saß, nur noch Einzelheiten erfahren, ehe er selbst in dieses Paradies eindrang.

Was im Grunde genommen vorlag, ist wohl leicht zu erkennen: die Gründung eines kommunistischen Frauenstaates.

Der Wirt, der mit jedem Glase gesprächiger wurde, kam nicht zum Erzählen.

Klappernde Hufschläge näherten sich; vor dem Wirtshause hielten ein Reiter und eine Reiterin.

»Ein Pfaffe!« rief der Wirt erstaunt. »Was will denn der hier?«

Er eilte hinaus, die neuen Gäste in seiner Weise zu bewillkommen.

Wenigstens trug der Mann, der langsam abstieg, um dann seiner Begleiterin behilflich zu sein, einen bis an die Knie reichenden, schwarzen Gehrock, und da nun ein breitkrempiger Filzhut hinzukam, eine weiße Halsbinde, so konnte man in Wirklichkeit einen Geistlichen vermuten. Das sah man auch gleich dem bartlosen Gesicht und den würdevollen Bewegungen an.

Gewandt hatte sich die Dame, die ein graues, kurzes Reitkleid trug, aus dem Sattel geschwungen. Sie kamen eine kurze Zeit aus Nobodys Gesicht, bis beide die Gaststube betraten.

Nobody brauchte niemals lange Zeit, um eine Person gründlich zu mustern und über sie ein Urteil zu fällen.

Der Geistliche blieb ein Geistlicher. Er war noch jung, vielleicht fünfunddreißig Jahre. Ein charaktervolles Gesicht, kluge, strenge Augen.

»Der weiß, was er will, läßt sich nicht hypnotisieren, übt vielmehr selbst auf schwächere Menschen eine große Macht aus,« lautete Nobodys schnell gefälltes Urteil, in dem er sich nie irrte.

Aber nun die Dame! Schwarze Haare und grüne Augen! Und wie diese grünen Augen schillerten! Darüber vergaß man ganz, daß es eine stattliche und recht hübsche Dame war. Sie konnte die dreißig schon hinter sich haben.

»Das Haar ist gefärbt. Ursprünglich war es rot. Läßt sich auch nicht hypnotisieren. Und die hat irgend etwas auf dem Gewissen, und wenn dasselbe nicht von dem Pfaffen gilt, so ist dem doch wenigstens alles zuzutrauen.«

Weiter fing Nobody einen feindseligen Blick gleich aus zwei Augenpaaren auf, aus einem grünen und aus einem schwarzen. Die Anwesenheit eines dritten Gastes war den beiden nicht angenehm. Warum nicht?

»Nicht wahr, mein lieber Mann, hier ist der Eingang zum Koloradotale?« wandte sich der Schwarzrock mit tiefer, angenehmer, aber auch mit erkünstelt salbungsvoller Stimme an den Wirt.

»Jawohl, Ehrwürden.«

»Hochehrwürden,« verbesserte der Schwarzrock.

Aha, dachte Nobody, so ist es richtig, der läßt die Bescheidenheit für die Dummen.

»Jawohl, Hochehrwürden, gleich dort hinter der Kanone.«

»Wissen Sie, ob sich Mrs. Bowell auf ihrem Besitz befindet?«

»Jawohl, Hochehrwürden.«

»Ist sie da zu sprechen?«

»Immer.«

»So hat man ohne weiteres Zutritt auf ihrer Farm?«

»Zu jeder Zeit, Hochehrwürden.«

»Hat sie gegenwärtig Besuch?«

»Nein, Hochehrwürden.«

»Dann bringen Sie uns zwei Glas Wasser.«

Der Wirt machte ein unbeschreibliches Gesicht, als er ging, das Verlangte zu holen.

Die beiden setzten sich, von dem anderen Gaste so entfernt wie möglich, und flüsterten zusammen, bis der Wirt das Wasser gebracht hatte.

»Nicht wahr, Mrs. Bowell will ihren ganzen Besitz verkaufen?« nahm der Schwarzrock in seinem salbungsvollen Tone das Wort.

»Verkaufen? Davon ist mir absolut nichts bekannt, und das ist wohl auch ganz ausgeschlossen.«

»Allerdings,« ließ sich zum ersten Male die Dame vernehmen. »Sie ist doch eigentlich gar nicht die Besitzerin.«

Der Wirt machte große Augen, und jetzt spitzte auch Nobody seine Ohren noch mehr.

»Nun, Mr. Donald Bowell hat doch auch noch einen Sohn gehabt.«

Da bekam selbst Nobody etwas zu hören, was er noch nicht gewußt.

»Den Charles, ja, das stimmt. Aber der ist tot.«

»Wann ist er gestorben?«

»Hm! Sie scheinen auch etwas davon zu wissen. Der ist verschollen, im November waren es gerade fünf Jahre, und da ist die Witwe von Mr. Donald Bowell regelrecht als Grundbesitzerin vom Koloradotale eingetragen worden, und daran ist nicht mehr zu wackeln.«

Nobody bemerkte den stechenden Blick, den der Schwarzrock der Dame zuwarf, ihr Schweigen befehlend, und gleich darauf nahm er selbst wieder das Wort:

»Befindet sich auf der Farm auch eine Kirche?«

»Eine Kirche? Nee, wozu denn?«

»Keine Kirche?!« kam es gleichzeitig über zwei Lippenpaare, nur aus dem einen ruhig, während in dem anderen Rufe eine grenzenlose Enttäuschung gelegen hatte.

»Auf der Farm oder überhaupt im Koloradotale muß sich doch eine Kirche befinden?«

»Nee, wozu denn nur?«

»Oder es hat einmal eine darin gestanden, sie ist abgerissen worden.«

»Niemals.«

»Wir wissen es aber ganz bestimmt!«

»Da sind die Herrschaften falsch berichtet worden.«

»Oder vielleicht nur eine kleine Kapelle?«

»Eine kleine Kapelle noch viel weniger als eine große Kirche.«

Was wollten denn die beiden nur mit der Kirche? Und warum blickten sie sich jetzt so grenzenlos enttäuscht an?

»Halt, da fällt mir etwas ein,« meinte mit einem Male der Wirt, den Finger an die Nase legend. »Mein Vorgänger, dem ich die Wirtschaft hier abkaufte, gerade vor zehn Jahren, das war ein Katholik, ein Erzkatholik, und der hatte das Haus hier, obgleich es schon damals eine Kneipe war, ›Zur Kapelle‹ getauft. Meinen die Herrschaften vielleicht das damit?«

»Aaaahh!« kam es mit freudigem Staunen aus beider Munde.

»War es dasselbe Haus hier?«

»Ganz genau dasselbe.«

»Da ist aber doch kein Kirchturm drauf.«

»Auf einer Kneipe kann doch auch kein Kirchturm sein.«

»Es stimmt schon,« bemerkte die Dame, »dann ist der Schornstein gemeint.«

Der Schwarzrock ging hinaus, um sich das Haus von draußen zu besehen.

»Was haben die nur mit der Kirche oder mit der Kapelle oder mit diesem Wirtshaus?« dachte Nobody.

Der Schwarzrock kam wieder herein.

»Den Stiefelfelsen kann man wohl von hier aus nicht sehen?« meinte er.

Da plötzlich fiel es wie Schuppen von Nobodys Augen! Und er erkannte die Vorsehung, personifiziert in Edward Scott, die ihn hierhergeführt hatte!

Wie oft während der langen Seereise und auf der Pacificbahn hatte er nicht schon darüber nachgegrübelt, weshalb er eigentlich die Russin begleite, was er bei den verrückten Frauenzimmern solle, zu denen er jene brachte. Was für einen Zweck hatte dies alles? Mit dem Auftrage seiner Gebieterin hatte das nicht einmal mehr etwas zu tun, der war bereits erledigt.

Nun mit einem Male wußte er es. Er konnte nur staunen. Und er fühlte in seiner Tasche das Pennal brennen, das er stets bei sich getragen hatte, mit der Skizze auf Pergament darin, und er sah vor seinen geistigen Augen die Knochen des Mannes mit dem gespaltenen Schädel, wie sich ihm die Totenhand aus dem Sande der Libyschen Wüste entgegengestreckt hatte!

Hier im Tale des Koloradogebirges also war jener Situationsplan aufgenommen worden!

Eine Kirche – gegenüber ein Stiefel – und auch von einem Ladyfelsen hatte Nobody schon sprechen hören – gar kein Zweifel, die Vorsehung hatte ihn die Gegend finden lassen, auf die sich jener Situationsplan bezog!

Was aber wußten diese beiden davon?

Zunächst mußte er der Antwort des Wirtes lauschen, auf die Frage, ob von hier aus nicht der Stiefelfelsen zu sehen wäre.

»Den Stiefelberg meinen Hochehrwürden wohl? Ei gewiß, gleich vom Hinterfenster aus. Dort hinten der Berg, der rechts ganz steil abfällt, das ist er. Und die Jacke rechts drauf, das soll die Strippe sein, die hinten herausguckt.«

Es gehörte viel Einbildungskraft dazu, um aus diesem Berge, der in weiter, weiter Ferne lag, einen Stiefel zu machen. Ebensogut konnte es ein Teetopf oder ein menschliches Gesicht mit einer Nase oder sonst etwas sein.

Jetzt bei dem schönen Wetter trat der Berg wohl scharf hervor, aber es brauchte nur etwas trübe zu sein, so mußte er verschwinden.

»Verdammt – so weit!«

So hatte der fromme Hochehrwürden gemurmelt, den einleitenden Fluch allerdings so leise, daß nur das unglaublich feine Ohr dieses Detektivs ihn vernommen hatte. Der Wirt hatte bloß das letztere gehört.

»Ja, das ist dort die Grenze vom Koloradotal, das der Mrs. Bowell gehört,« erklärte er, »und das ist acht Meilen – ach, was sage ich denn, ich rechne immer noch nach deutschen Meilen! – und das ist an die dreißig Meilen lang und an die zwanzig Meilen breit.«

»Dreißig Meilen,« murmelte Hochehrwürden wieder, und Nobody konstatierte, daß er dabei ein äußerst niedergeschlagenes Gesicht machte.

Nun aber wollte Nobody auch weiter beobachten, welchen Eindruck wohl eine an den Wirt gerichtete Frage auf den Schwarzen hervorbringen würde. Er gab sich dadurch zwar als Mitwisser des Geheimnisses kund, aber das schadete nichts.

»Ist hier nicht ein Berg oder ein Felsen, aus dem man eine Jungfrau machen kann, ich meine, der ungefähr so aussieht und daher diesen Namen führt?«

»Jungfrau? Nee. Hier gibt's keine Jungfrau. Aber einen Ladyfelsen haben wir. Dort werden sie begraben, wenn wer stirbt. Der ist nun wieder auf der anderen Seite. Früher konnte man ihn auch von hier aus sehen, aber jetzt sind ein paar Fichten zu hoch gewachsen, die verdecken ihn. Er ist gar nicht so groß.«

Ladyfelsen – Fichte.

Mindestens mußten das für den Wissenden, der den Situationsplan kannte, doch Stichworte sein! Aber vergebens, auf den Schwarzrock brachten sie nicht den geringsten Eindruck hervor.

Das war nun wieder etwas, was Nobody sehr merkwürdig fand.

»Denken Sie sich, der Stiefelfelsen ist von hier dreißig Meilen ...«

Der Schwarzrock hatte sich umgewandt, um diese Worte an die Dame zu richten. Er brach ab, wollte auf sie zuspringen – Nobody kam ihm zuvor, fing sie auf, die soeben seitlich vom Stuhle fallen wollte.

Nobody hatte schon vorhin bemerkt, daß sie auf dem Stuhle eingeschlafen war, wie sie überhaupt recht abgespannt ausgesehen hatte.

Er hielt sie in seinen Armen, richtete sie wieder auf, ohne daß die Dame davon aufgewacht wäre.

Mit Hast übernahm der Schwarzrock das Amt des Helfers, stieß den anderen sogar mit einiger Rücksichtslosigkeit zurück.

Dabei ist zu bedenken, daß in Amerika eine Dame es jedem Straßenbahnschaffner höchst übelnehmen würde, wollte er ihr beim Einsteigen behilflich sein, dabei auch nur ihre Arme berühren. Natürlich gibt es Ausnahmen, in der Gefahr hört alles auf, Not kennt kein Gebot, und wenn's brennt, springt bekanntlich sogar die Frau Bürgermeisterin im Hemd zum Fenster heraus.

»Verzeihung. Die Dame wäre gestürzt. Mein Name ist Bernard.«

So hatte Nobody wenigstens gleich einen Grund, sich vorzustellen. Nun mußte auch der Pfaffe seinen Namen nennen.

»Lindol,« sagte der Schwarzrock kurz, und das genügte Nobody nicht.

»Ah, so habe ich die Ehre, den berühmten Methodisten-Prediger zu sprechen?«

Richtig, der Schwarzrock, der nur seinen Namen, nicht seinen Titel nennen wollte, ließ sich reizen. Er machte ein unendlich verächtliches Gesicht.

»Einen berühmten Methodisten-Prediger? Kenne ich nicht, gibt es gar keinen. Da Sie aber einen englischen Namen führen, mein Herr, so wundert es mich, daß Sie den Bischof Lindol von der anglikanischen Kirche zu Philadelphia nicht kennen. – Wirt, die Dame ist durch den langen Ritt ermüdet. Sie haben doch Fremdenzimmer?«

»Gewiß, Hochehrwürden,« entgegnete der Wirt mit einer tiefen Verbeugung, und jetzt schien seine Ehrfurcht aufrichtig zu sein.

»Geben Sie uns die beiden besten.«

Erst beim Hinausführen wachte die Dame richtig wieder auf.

Also der anglikanische Bischof von Philadelphia! Ja, von dem hatte Nobody schon gehört. Der redegewaltige Mann sollte über seine Gemeinde eine außerordentliche Macht ausüben, wie ein Heiliger wurde er angebetet.

Aber so aufzutreten, zu verlangen, daß jeder ihn kennen müsse, dazu hatte der gute Mann nicht den geringsten Grund. Nur weil er seine Macht einmal zu politischen Zwecken hatte mißbrauchen wollen, wofür er von der Regierung Fingerklopfe bekommen hatte, war sein Name etwas über die Grenzen von Philadelphia hinausgekommen. Vor allen Dingen ist dabei auch zu bemerken, daß so ein Bischof der anglikanischen Hochkirche nicht etwa mit einem katholischen zu vergleichen ist! Religion ist in Amerika vollständig Privatsache, Klubangelegenheit. In Nordamerika gibt es gegenwärtig zweihundertachtzehn Sekten, und fast jede hat ihren eigenen Bischof, und wenn sich drei zusammentun, um auf Grund einer neugedeuteten Bibelstelle eine neue Sekte zu gründen, so ist der eine von ihnen der Erzbischof, der andere der Bischof, und der dritte ist der Pastor, läßt sich Ehrwürden nennen – und dann gehen alle drei auf die Walze, fechten für eine Kirche zusammen.

Bei diesem ›Bischof‹ hier war es nun freilich etwas anderes, der hatte schon viele Kirchen unter sich, durfte trauen und andere Zeremonien vollziehen; aber immerhin darf man solch einen amerikanisch-evangelischen Bischof niemals mit einem katholischen vergleichen wollen, so gern sie selbst das auch tun.

Der Wirt kam wieder.

»Die ganze Nacht nicht geschlafen vor Ungeziefer und dann sechs Stunden im Sattel, da muß ja sogar ein Mann umfallen.«

»Kommen die beiden denn von Denver? Da müssen sie doch auch im Freien übernachtet haben?«

Nein. Nobody erfuhr, daß es noch eine nähere Stadt gab als Denver City, oder doch einen Flecken, in dem Bergleute wohnten. Der lag südlich von hier. Aber Denver war die nächste Eisenbahnstation. Kam man über Goldcreek, so mußte man zwei Tage lang von Stadt zu Stadt oder doch von Farm zu Farm reiten, hatte allerdings jede Nacht ein Bett, aber was für eins, davon konnten jetzt die beiden erzählen.

»Wird dort Gold gegraben?«

»Hier gibt's im ganzen Umkreise keins. Das sieht jeder, der nur einmal mit Gold zu tun gehabt hat, gleich den Felsen an. Das ist Sandstein, da gibt's kein Gold. Goldcreek, wie unten der Bach und auch das Dorf heißt, ist nur ein Spottname. Nur Pfeifenton wird dort aus der Erde geholt, und damit ist manchmal auch etwas zu verdienen.«

»Auch im Koloradotal gibt es kein Gold?«

»Gold, ja. Gemünztes. Diese Ladies haben Geld, und das haufenweise. Aber wenn Ihr sonst hier eine Unze Gold findet, dann könnt Ihr mir den Hals abschneiden.«

Nobody bezahlte seine ziemlich umfangreiche Rechnung.

»Man kann also ohne weiteres das Tal betreten?«

»Ohne weiteres. Die Damen freuen sich stets, wenn sie Besuch bekommen.«

»Kommen denn da nicht recht viele?«

»Wer soll denn kommen? Etwa Handwerksburschen? Die haben bequemere Farmen, die sie abfechten und wo sie die Gastfreundschaft ausnützen können. Das ist hier viel zu entlegen. Ihr seid wohl Reporter?«

Ohne Zögern bejahte Nobody.

»In fünf Jahren sind zwei Zeitungsschreiber hier gewesen. Alle beide haben geflucht, den Weg umsonst gemacht zu haben.«

»Ist der Besuch denn so uninteressant?«

Der Wirt zuckte die Achseln.

»Das ist Geschmacksache. Jene beiden haben nichts Interessantes darin gefunden.«

»Werden die Damen nicht von anderen Seiten belästigt? Zum Beispiel von den Bergwerksarbeitern?«

»Wo denkt Ihr hin! Das sollte einmal jemand wagen! Vor drei Jahren brannte Goldcreek total ab, vierhundert Männer und Frauen und Kinder waren obdachlos, vor den Hungertod gestellt – und es ist eine Aktiengesellschaft, für welche die Leute arbeiten, und die tat nichts – da hat Mrs. Bowell gleich zehntausend Dollar gegeben. Sie kann's ja ... aber immerhin, hier dürfte nichts passieren. Und dann sind ja auch die Mädels da, und drüben auf der anderen Seite sind die Arrapahos, mit denen sind die Damen auch gut Freund. Nee, die sind hier sicher wie in Abrahams Schoß.«

Nobody erkundigte sich weiter nach dem Weg.

»Nur immer geradeaus, es gibt gar keinen anderen Weg. In zehn Minuten seht Ihr schon das Schlößchen auf einem Hügel liegen.«

Nobody ließ sein Pferd zurück und ging auf die ungeheure Kanone zu, welche das Tor des Paradieses verteidigte. Es war ein schwarzangemalter Baumstamm, der auf zwei Wagenrädern ruhte, jedenfalls ein Werk des Wirtes, ganz hübsch gemacht – zumal von weitem gesehen.

Der hohe Eichenwald nahm ihn auf, durch den ein festgestampfter Weg führte. Gleich hinter der Felswand stand ein Häuschen, an dem zwei in lederne Männerkostüme gekleidete Mädchen frische Hirschfelle zum Trocknen anpflöckten. Dolly war nicht dabei, aber sicher waren es Schwestern von ihr, und zwar solche von der schon gereiften Sorte.

Sie bemerkten den Fremden nicht, und Nobody war Zeuge des Gesprächs. Oder doch zwei Sätze hörte er, und es genügte, um den Inhalt ihres Gesprächs zu charakterisieren.

»Ich nehme einmal nur einen mit einem schwarzen Schnurrbart.«

»Nein, meiner muß blond sein.«

O, du ewig Weibliches!! Hier allerdings in einem anderen Sinne gemeint. In jedem Mädchenkopf steckt doch immer dasselbe: der Zukünftige! Also auch hier in dieser Wildnis des Koloradotales, wo sich Mädchen und Frauen zusammengetan hatten, um der Welt zu beweisen, daß sie keiner Männer bedürfen!

Da sahen sie den Fremden, und die beiden wurden rot wie die Klatschrosen. Doch sie flohen nicht. Die Begegnung ward überhaupt ganz anders, als Nobody nach seinem ersten Gespräch mit Fräulein Dolly erwartet hätte.

»zzziyyy Good morning, Ladies.zzz/iyyy«

»zzziyyy Good morning, Sir,zzz/iyyy« klang es freundlich zurück.

Die Verlegenheit hatte nicht lange angehalten, und noch ehe Nobody nach dem Wege fragen konnte, ergriff schon die eine das Wort.

»Bist du der Mann, der vorn im Wirtshaus gesessen hat?«

Sie sprach Englisch, und der Engländer gebraucht das ›du‹ niemals, nur im Gebet und in der Poesie, sonst redet er auch jedes Tier mit ›Sie‹ an, und das Mädchen hatte es nicht anders getan. Aber im Deutschen muß hier das ›du‹ gebraucht werden, um die Vertraulichkeit zu bezeichnen, mit der ihn das Mädchen anredete. Nobody war ganz überrascht.

»Ja. Woher wissen Sie das?«

»Dolly erzählte es uns. Sie hat dich dort gesehen.«

»Miß Dolly ist wohl recht böse auf mich?«

»Weshalb denn?« erklang es gleichzeitig ganz erschrocken.

»Nun, ich bot ihr ein Glas Bier an und ...«

»Ach, das hat sie nicht so gemeint, und sie hat sich furchtbar über sich selbst geärgert, daß sie gleich so gewesen ist. Gehen Sie nur, die Ladies im Schlosse werden sich freuen, Sie zu sehen.«

Auch das hatte zwar äußerst freundlich geklungen, aber Nobody war doch entlassen.

Er war noch keine fünf Minuten weitergegangen, als er wiederum ein Gespräch hörte. Auch das mußten zwei Frauenspersonen sein. Jedenfalls saßen sie auf einer Bank, deren eines Ende noch hinter einer dicken Eiche hervorsah. Die eine Stimme war schnarrend und konnte in Nobodys Phantasie kein sympathisches Bild von ihrer Besitzerin hervorbringen, die andere war sehr hoch und dabei doch volltönend, und wenn die keiner sehr dicken Person angehörte, dann war Nobody ebenfalls bereit, sich den Hals durchschneiden zu lassen.

Und sie sprachen Deutsch!

» ... wie ick nu komm zu das Merrr, da sackt mein Frend zu mi: sickann, sickann ...«

»Was hat er gesagt?« wurde die schnarrende Stimme von der hellen unterbrochen.

»Sickann hat er gesackt, sickann.«

»Sickann?«

»zzziyyy Yeszzz/iyyy, sickann. Err meinte, ick soll mir sehn an das beautiful Merrr.«

»Ach so! Sich emal ahn. Das heißt auf deutsch: sich – emal – aahhn. Wie heißt es?«

»Sich emal oahn,« wiederholte die Engländerin.

»So war'sch gut,« lobte die Lehrerin, die der anderen Deutsch beibringen wollte. »Ihre Aussprache wird immer besser, Miß Field. Nun, weiter?«

Deutsch konnte die Engländerin schon ganz gut, die andere brachte ihr nur noch die andere Aussprache bei. Und sie fuhr fort:

»Da sackt mein Freundbusen zu mir – zu mich – zu mir: sich emal oahn ...!«

»Halt, halt! Es heißt nicht Freundbusen, sondern Busenfreund.«

»Ahso. Da sackt mein Busenfreund zu mir: sich emal oahn, was ist das für ein schönes Busenmerrr ...«

»Nicht Busenmeer, sondern Meerbusen.«

»Busenmerrr.«

»Nein, Meerbusen.«

»Aberrr es heißt dock Busenfreund.«

»Ja, es heißt Busenfreund, aber es heißt Meerbusen.«

Eine kleine Pause trat ein, und dann schnarrte die Stimme, wozu Nobody das Kopfschütteln sah:

»Wuas seid ihrrr Deutschen dock für merkwürdige Leut. Einmal habt ihr den Busen vorn und einmal habt ihr den Busen hinten.«

Nobody konnte seine Lachlust beherrschen, und es war gut, daß er auch sein Gesicht so in der Gewalt hatte; denn die beiden waren unterdessen aufgestanden, in diesem Augenblicke traten sie hinter dem Baume hervor und ... vor Nobody stand das seltsamste Paar, das er je in seinem Leben gesehen hatte.

Vorausgeschickt sei, daß beide als Herren gekleidet waren, beide trugen genau dieselben Kostüme aus gelbem Stoff, sehr kurze Jacke, Pumphosen und Schnürstiefel – aber nun welcher Unterschied zwischen den beiden!

Die eine mochte ziemlich zwei Meter lang sein, dürr wie eine Hopfenstange, eckig nur das Gesicht, auf dessen spitzer Nase eine Brille saß, sonst nichts von Eckigkeit, hier herrschte die schlanke Linie vor, besonders auch bei den Schultern, die so jäh herabfielen, wie es Nobody noch bei keinem Menschen gesehen hatte, am wenigsten bei einem Weibe, und zu dieser unmenschlich langen Hagerkeit paßten Hals und Arme und Hände und Beine und Füße und alles.

Ganz das Gegenteil war die andere. Was bei jener in die Länge, das ging bei der in die Breite. Dem mittelgroßen Nobody reichte sie nur bis zur Schulter, jener kaum bis an die Brust, und nun ein Obergestell und ein Untergestell und ein paar Beine und Waden – Barnum hätte die beiden sofort ausgestellt. Schon in Frauenkleidern wäre es an Dicke und Dürre ein unvergleichliches Paar gewesen, aber nun in den Männersachen, dazu auch noch die Jäckchen so kurz, und dabei hochfrisiert und mit Simpelfransen – – es war eben ein unbeschreiblicher Anblick.

Sonst sei nur noch bemerkt, daß die Hopfenstange vielleicht noch nicht so sehr alt war, wie es durch ihr eckiges Gesicht, wozu noch die Brille kam, erschien, während der aus dem Leime gegangene Hefenkloß die vierzig wohl schon hinter sich hatte, aber ein frisches, rosiges Gesichtchen besaß.

Nobody wollte seinen Sombrero ziehen, kam nicht dazu.

»Sich emal ahn!«

»So'n hübscher junger Mann!«

»Wirklich ein netter Junge!«

»Wie schüchtern!«

»Er fürchtet sich!«

»Er geniert sich nur!«

»I, das braucht er ja nicht!«

Auf der einen Seite drei kleine, getrippelte Schritte, auf der anderen mit den langen Spazierhölzern nur einen einzigen, und die beiden standen dicht vor Nobody, der noch immer die Hand am Hute hatte.

Da reckte sich auch noch die Kleine und griff dem völlig Verblüfften unters Kinn.

»Wie heißt du denn, mein schönes Kind?«

»Ich – ich – ich ...«

»Na, fürchte dich nur nicht, wir tun dir nichts,« schnarrte beruhigend die Lange.

»Bernard ist mein Name.«

»Bernard – Bernhardchen – ach, wie reizend!!« erklang es zweistimmig.

Nobody hatte sich bei der Vorstellung aufraffen wollen – es gelang ihm nicht. Gegen so etwas war auch er machtlos.

»Wie alt bist du denn, mein liebes Bernhardchen?«

»Ich – ich ...«

»Na, du brauchst nicht deine Jugend zu verraten. Wir wissen schon, daß sich die Männer immer älter machen, als sie sind.«

»Wirklich ein reizender junger Mann!«

»zzziyyy Parole d'honneurzzz/iyyy – ein netter Käfer,« schnarrte die andere, an ihrer Brille rückend.

»Wo willst du denn hin, mein kleiner Liebling?«

»Ich – ich – wollte – wollte ... na, Donnerwetter noch einmal, meine Damen!« probierte Nobody es jetzt auf diese Weise, sich aus der Klemme zu befreien. Aber es gelang ihm nicht.

»Ach, wie reizend das klingt! Fluche doch noch einmal so, du kleiner Schelm.«

»Du wolltest zu uns, nicht wahr?«

»Komm, ziere dich nicht – komm auf mein Schloß mit mir.«

»Erlaube, daß ich dein Gewehr trage.«

»Und ich dir deinen Hut.«

»Gegen Herren muß man immer höflich sein.«

Nobody konnte es nicht hindern, die Kleine nahm ihm das Gewehr ab und hing es sich selbst um, die Lange stülpte sich seinen Sombrero auf, und dann nahmen sie ihn links und rechts untern Arm, was nun erst recht ein komisches Bild abgeben mußte.

Nun wußte Nobody aber auch, wie er sich zu verhalten hatte. Er drängte nach rückwärts und steckte den kleinen Finger in den Mund.

»Ach nein – ach nein – Sie wollen mir etwas tun.«

Es war ganz der Situation gemäß hervorgebracht, und die beiden brachen denn auch in ein schallendes Gelächter aus. Aber lange hielt das nicht an.

»Sie denken wohl, wir treiben nur einmal etwas Harlekinade? Nein, o nein, so müssen doch die Herren der Schöpfung behandelt werden.«

»Komm nur, kleines Püppchen, ziere dich nicht, wir tun dir nichts.«

»Du, Therese, was der für Muskeln hat!«

»Himmelbombenelement ja!«

»Der muß der Clarence Modell stehen, ob er will oder nicht.«

»Und folgst du nicht willig, so brauch' ich Gewalt!«

Nobody wurde unter den Armen fortgeschleppt. Links räkelte es sich zu ihm empor, rechts neigte es sich zu ihm herab. Auf dieser Seite wurde er mehr getragen.

Es ging um eine Biegung, und da tauchte auch schon das Jagdschloß auf, recht stattlich, in demselben bizarren Stile gebaut, in welchem die Amerikaner die deutschen Jagdschlösser immer nachzuahmen versuchen, ohne es zu können. Besonders das Alleghanygebirge, von New-York aus das nächste größere Gebirge, wo es noch etwas zu schießen gibt, wimmelt von solchen Jagdschlössern.

»Mein süßes Kind, so liebenswert du auch bist – dich könnt' ich nicht das ganze Leben lang auf meinen Händen tragen,« schnarrte die Lange und ließ Nobodys rechten Fuß wieder den Boden gewinnen. »Wieviel wiegst du denn, mein Schatz?«

»Aber, Maud, darf man denn einen Herrn nach seinem Gewichte fragen?«

»Ach, da können wir ja gleich die Streitfrage erledigen, die wir vorhin hatten.«

»Richtig! Paris soll der Schönsten den Apfel geben. Wer von uns beiden ist die schönste?«

Sie hatten sich wieder beide vor ihn hingestellt.

»Bin ich es nicht?« fragte die Lange, reckte sich noch höher empor und legte den Kopf zurück, daß die lange Gurgel aus dem Halse quoll.

»Bin ich es nicht?« echote das Monstrum von Dicke und zog die weiten Pumphosen noch weiter auseinander.

Na, wenn die beiden menschlichen Abnormitäten über sich selbst spotteten, dann war es ja gut. Das zeigte auch, daß alle beide echten Witz besaßen – nämlich Geist.

»Meine Damen, ich ziehe vor, meinen Apfel selber zu essen.«

»Bravo, bravo!!« wurde gejubelt und Nobody wieder ins Schlepptau genommen.

Nun eine kleine Anhöhe und die Stufen einer Veranda hinauf.

»Weiber, Weiber, was macht ihr denn da schon wieder?« erklang eine vorwurfsvolle Frauenstimme.

Auf der Veranda stand eine junge Frau, welche die Arme bis an die Ellbogen in einem großen Backtroge voll weichen Teige hatte.

»Wir bringen einen schüchternen Jüngling, der uns besuchen will!« wurde wieder gejubelt.

Die junge Dame – denn wenn sie auch am Backtrog arbeitete, Nobody erkannte doch immer in ihr die geborene Dame – trug jedenfalls auch ein Herrenkostüm, das nur von einer großen Schürze verdeckt war. Es waren auch noch zwei Chinesinnen und eine Negerin zugegen – sämtlich in Männersachen.

Auf den Gefangenen, den die beiden noch immer nicht losließen, wurde nur ein flüchtiger Blick geworfen, dann walkten die Arme weiter in der Schmiere.

»Ich stehe gleich zur Verfügung. Nun her mit der Düte da, dann ist der Glockenguß fertig.«

Eine Chinesin nahm vom Nebentisch einen mächtigen Papiersack und ließ seinen weißen Inhalt auf das Geheiß der Bäckerin langsam auf den Teig laufen, der dabei immer tüchtig geknetet wurde.

»Darf ich fragen, was das werden soll?« brach Nobody das feierliche Schweigen, welches diese Handlung begleitete.

Wie in komischem Entsetzen hielt die Bäckerin die ausgestreckten Arme vor sich hin, daß an den Fingerspitzen lange Nudeln hingen.

»Weiß der Mensch nicht einmal, was das werden soll. Und das will nun ein Herr der Schöpfung sein! Pudding wird das, Pudding!!«

»Das war aber Salz, was Sie da hineinschütten ließen.«

»Zucker war's. Ich habe den Papiersack doch selbst aus dem Zuckerfasse gefüllt.«

»Nein, das war Salz.«

Die Hand fuhr noch einmal hinein, schmierte sich von dem Kleister eine Portion in den Mund, und nun eine Grimasse ...

»Pfui Deiwel, ja, 's war Salz. Das kann kein Mensch mehr genießen. Na, dann kriegen's die Schweine. Einen anderen Backtrog her! Einen anderen Sack mit Mehl her!«

Die Dienerinnen sprangen, und die beiden konnten ihren Gefangenen nicht mehr halten, sie wollten sich vor Lachen wälzen, und Nobody lachte aus vollem Halse mit. Besonders ihre letzten Worte waren es gewesen, die urkomisch gewirkt hatten.

Unterdessen stand die Dame mit der großen Schürze, mit ausgestreckten Armen da, an den Fingern lange Nudeln, und ihr hübsches Gesicht sah recht böse aus.

»Na, was lachen Sie denn?!« herrschte sie Nobody an.

Dessen Lachen verstummte sofort.

»Verzeihung, ich ...«

»Hier wird gar nichts verziehen. Wer sind Sie denn eigentlich? Was wollen Sie denn hier?«

Nobody sah sofort, daß dieser Unmut nur erkünstelt war. Sie hätte lieber selbst mitgelacht.

»Sind Sie ein Zeitungsschreiber?«

»Nein, ich will ...«

»Wollen Sie jemanden von uns heiraten? Keine Hoffnung, gibt's nicht!«

»Ich bin nur auf der Durchreise ...«

»Also ein armer Reisender?«

»Ich will den Indianerstamm der Arrapahos besuchen, möchte diese Indianer kennen lernen, der Weg führt mich durch Ihren Besitz.«

»Das ist etwas anderes. Da können Sie Ihre ersten Studien gleich hier machen. Drinnen sitzt ein Häuptling der Arrapahos Modell. Therese, Maud, führt den Herrn ins Atelier. Und seid vernünftig mit ihm.«

Die beiden Weiber, die das Backfischalter schon seit dreißig Jahren hinter sich hatten, packten ihr Opfer wieder unter den Armen und schleppten es weiter.

Hinter sich hörte Nobody noch etwas anderes.

»Na, wo ist denn der Backtrog?«

»Es ist kein anderer da, Missis.«

»Natürlich ist noch ein anderer da! Der große!«

»Da schläft Fanny drin.«

»Was?«

»Da schläft Fanny schon seit acht Tagen drin, und sie will ihn nicht hergeben, sie sagt, sie paßte grad so gut hinein.«

»Den Backtrog, meinen Backtrog will ich haben!! – Oder halt, bringt die kleine Badewanne her, die ist noch besser.«

Hier schien ja eine nette Zigeunerwirtschaft zu herrschen! Aber sonst sah es in dem reichmöblierten Hause sehr sauber aus.

Die beiden Weiber, die immer noch wie toll lachten, schoben ihr Opfer in ein Gemach hinein, dessen Wände fast nur aus Fenstern bestanden – in diesem Augenblicke schrillte eine Klingel, und sofort ließen sie Nobody los und schlossen hinter ihm die Tür.

Nobody sah sich in einem geräumigen Atelier. Viele Gipsfiguren, Gelenkpuppen, auch viele Staffeleien und wohl auch Bilder an der Wand und sonstwo postiert, aber diese Bilder sämtlich mit Tüchern und Portieren verhangen.

In der Mitte des Raumes hockte auf einem Kissen mit untergeschlagenen Beinen ein Indianer, ein federgeschmücktes Kalumet rauchend, während nahe dem Fenster an einer Staffelei die Malerin saß, die ihn konterfeite.

Der an der Tür stehende Nobody hatte Zeit genug, alles mit Muße zu betrachten. Denn obwohl sein Eintritt doch lärmend genug vor sich gegangen war, würdigte ihn der Indianer keines Blickes – das war ja für einen Indianer begreiflich – aber auch die Dame tat es nicht, und sie hätte doch nur den Kopf ein klein wenig zu drehen brauchen.

Die Frau am Backtrog war offenbar Mrs. Bowell gewesen. Denn bei der hatte Nobody sofort den ausgeprägt russischen Typus erkannt.

Dann konnte diese hier nur die Mademoiselle Clarence Laboche sein. Eine Französin? Der Typus der Französinnen ist ein ganz anderer, als diese hier zeigte. Doch Ausnahmen gibt es überall.

Sie ist einer näheren Beschreibung wert. Es ist auch unbedingt notwendig, sie wenigstens eine Viertelstunde zu beobachten, ehe man sich von diesem Weibe ein Bild machen kann. Nobody widmete dieser Beschreibung in seinem Tagebuch neun enggeschriebene Seiten. Etwas kürzer müssen wir es doch machen.

Auch sie trug ein Herrenkostüm. Doch welcher Unterschied zu den beiden Karrikaturen, die Nobody bisher gesehen hatte!

Der Hauptunterschied bestand darin, daß es aus feinem, hellblauem Tuche war, statt der Pumphosen schlichte Beinkleider, kurz unter den Knien zugeknöpft, und statt der kurzen Jacke einen langen Schoßrock mit schwarzen Knöpfen. Weiter schwarze Strümpfe und Schnallenschuhe, um den Hals eine weiße Krause mit sehr gebauschter Busenschleife, aus den Aermeln lugten anstatt Manschetten herabfallende Spitzen heraus.

Sie saß. Aber Nobody konnte sie sich lebhaft stehend, gehend denken, und nun brauchte sie nur noch einen zierlichen Galanteriedegen an der Seite zu tragen, so war der Kavalier aus der Mitte des 18. Jahrhunderts fertig.

Noch einen anderen Gedanken hatte Nobody im ersten Augenblick:

»Goethe! Goethe in seinen jungen Jahren! Ein Goethe in weiblicher Ausgabe!«

Ja, so war es. Es war ein Goethekopf. Das nußbraune, kurzgelockte Haar, die hohe Stirn, die edlen, sinnenden Züge, die braunen, tiefernsten Augen – ob schön, ob häßlich, davon konnte man hier gar nicht sprechen. Man sah nur diese ernsten Augen, und man war gefesselt – so wie auch von dem jungen Goethe erzählt wird. Viel mochte zu dieser Aehnlichkeit ja auch die bauschige Halskrause, wie überhaupt das ganze Kostüm beitragen – aber immerhin, es war ein weiblicher Goethekopf.

Olympische Ruhe! Wer hat diesen Ausdruck für Goethe zuerst gebraucht? Treffender ließ sich der Charakter des unnahbaren Goethe gar nicht kennzeichnen.

Sie saß hinter der Staffelei, dessen Leinwand Nobody nicht sehen konnte, auf einem einfachen Rohrstuhl, das rechte Bein über das linke gelegt, handhabte Pinsel und Palette.

Handhabte sie? Ja, sie bewegte die rechte Hand, welche den Pinsel führte, sie bewegte die Palette, sie lehnte sich manchmal zurück, um ihr Bild, um den Indianer zu betrachten – und doch glaubte Nobody, auch sie wäre eine regungslose Statue. Es waren ihre so überaus langsamen Bewegungen, diese Ruhe, die über ihre ganze Erscheinung ausgegossen war, die diesen Eindruck erzeugten – gar nicht zu beschreiben.

Fast ganz dasselbe galt für den auf dem Kissen lauernden Indianer. Sicher war es ein noch junger Mann. Doch um das zu erkennen, dazu gehörte Nobodys Erfahrung. Sonst war sein Gesicht das eines alten Weibes. Das ist überhaupt die Physiognomie aller nordamerikanischen Indianer. Illustrierte Zeitungen bringen oft genug Bilder von ihnen, Photographien, man sieht sie auf Schaustellungen, man sehe sie sich daraufhin an – ob die nördlichsten Krähenindianer, oder Sioux aus dem Territorium, oder die südlichen Apachen – trotz des Adlerblickes, den alle nordamerikanischen Indianer besitzen, sind es lauter Altweibergesichter.

Bei diesem jungen Krieger hier kam noch hinzu, daß er außerordentlich mager war. Kein Fleisch, alles nur Knochen und Sehnen. Und dennoch war er wohl wert, einem Künstler als Modell zu sitzen! Der Oberkörper war völlig nackt, und wenn auch die Rippen hervortraten, so war es doch ein idealer Knochenbau, der sich dem Auge zeigte.

Sonst sei über sein Aeußeres nur noch bemerkt, daß seine Hautfarbe außerordentlich dunkel, fast schwarz war, weder Gesicht noch Körper tätowiert, den Kopf zierte die übliche Skalplocke. Bekleidet war er nur mit ledernen Leggins und Mokassins, die aber nicht mit den sonst so beliebten Fransen und Stickereien besetzt waren. Das also war ein Arrapaho, ein Beduine der amerikanischen Wüste.

Wer noch nicht selbst ›gesessen‹ und auch noch niemals zugesehen hat, glaubt gewöhnlich, man muß da stundenlang stillsitzen, immer auf einen Punkt oder nach einer Richtung blicken. Ganz im Gegenteil. Der Maler spricht mit einem, und so fix geht das auch nicht, ein Künstler, der kein Pfuschwerk abliefern will, braucht zu einem Oelporträt mindestens eine Woche, und da beobachtet er einen bei den verschiedensten Gelegenheiten, ohne daß man es weiß, er studiert jeden einzelnen Gesichtsausdruck, und danach korrigiert er ständig an seinem Bilde, und mit einem Kleckschen am Augenwinkel weiß er immer noch etwas mehr von der Seele des Menschen hineinzulegen. Das eben ist ja der Unterschied zwischen Photographie und Malerei, und der Oelfarben bedient man sich nur deshalb, weil sie den höchsten Grad der Verbesserung zulassen – abgesehen von einigen anderen Gründen, wie Haltbarkeit und dergleichen.

Nun, gesprochen wurde hier nicht. Dieser Krieger hier stierte wirklich mit seinem glänzenden Auge unentwegt nach ein und demselben Punkte des Teppichmusters, nur in regelmäßigen Zwischenpausen die federgeschmückte Steinpfeife mit langem Rohre zum Munde führend, deren bitterlich riechender Rauch, erzeugt von der Weidenrinde, mit welcher alle Indianer ihren Tabak mischen, das Zimmer erfüllte – und da dieses Verhalten eben das eines ruhenden Indianers war, so durfte er sich auch gar nicht anders benehmen.

Nobody befand sich in einer äußerst fatalen Situation. Wie er so stürmisch hereingeschoben worden war, hatte er gar keine Gelegenheit gehabt, einen Gruß zu sagen. Es war doch selbstverständlich, daß die Dame wußte, wie er so an der Tür stand. Wenn sie nach dem Indianer blickte, mußte sie doch auch ihn sehen, ihr Blick ging doch dicht an ihm vorüber.

Ja, aber Nobody konnte sich auch nicht durch ein Räuspern bemerkbar machen! Er durfte es nicht! Es war genau dasselbe, als wenn ein Fremder in eine betende Gemeinde tritt. So war ihm zumute. Er mußte geduldig warten, bis man ihm einen Platz anwies.

Wie lange stand er nun schon so da? Er glaubte, es sei eine Viertelstunde. Es mochte weniger sein, vielleicht nur fünf Minuten, aber das ist bei solch einer Situation schon eine kleine Ewigkeit.

»Bitte, mein Herr, nehmen Sie doch Platz!« kam da endlich von der Staffelei her das Wort der Erlösung.

Es war eine melodische Altstimme gewesen. Ganz auffallend war, wie langsam sie sprach. Dabei keinen Blick für den, dem die Aufforderung galt.

Nobody machte zwei Schritte in das Zimmer hinein und ließ sich auf einem Polsterstuhl nieder. Erst hinterher fiel es ihm ein, daß er doch wenigstens ein ›Danke‹ hätte sagen sollen. Dann war es aber schon zu spät. Er kam sich plötzlich wie in eine ganz andere Welt versetzt vor.

»Ihr Name?«

»Bernard.«

»Laboche – Miß.«

Wieder eine lange Pause. Es wurde weitergemalt. Nobody imponierte es schon mächtig, daß diese hier einmal gleich bei der Vorstellung gesagt hatte, ob sie Frau oder Fräulein sei, so daß man sich wegen der Anrede nicht immer den Kopf zu zerbrechen brauchte.

Endlich nahm sie wieder das Wort, aber immer, ohne dabei den Blick von der Staffelei zu wenden, immer in der seltsamen, so überaus langsamen Sprechweise, wobei sie auch noch manchmal lange Pausen eintreten ließ.

»Die beiden Damen haben Ihnen arg zugesetzt ... verzeihen Sie ihnen.«

»Was soll ich ihnen denn verzeihen?« wollte Nobody abwehren.

»Doch. Ihr Betragen muß einem Fremden auffallen, unschicklich erscheinen. Aber die beiden haben ...«

Sie wendete den Kopf, doch nicht dem Besuch, sondern dem Fenster zu, und erst nach einer langen, langen Pause kam der Schluß des Satzes:

» ... sehr viel durchgemacht.«

Daß sie so plötzlich mitten im Satze abbrach, zum Fenster hinausschaute und dann erst, wenn sich ihr Blick wieder der Staffelei oder dem Modell zuwandte, beim letzten Worte fortfuhr, kam sehr häufig vor. Und gerade das machte auf Nobody einen ganz, ganz seltsamen Eindruck. Es kam ihm vor, als ob die junge Malerin noch in einer anderen Welt lebe, in der sie sich dann während dieser Pause mit sich selber unterhalte. Jedenfalls war ihm so etwas in seinem Leben, das ihn mit so unzählig vielen Menschen zusammenbrachte, noch gar nicht vorgekommen. Hier konnte er einmal einen gänzlich neuen Charakter studieren.

»Es sind aber doch zwei so überaus heitere Naturen,« versuchte er nochmals die beiden zu verteidigen, obgleich er es gar nicht nötig hatte.

»Heiter? Es sind ...« wieder der lange, sinnende Blick zum Fenster hinaus, » ... Abnormitäten der Menschheit. Stellen Sie sich die beiden ... auf der Straße vor ... unter anderen Menschen ... in Frauenkleidern ... die eine so unförmlich dick wie sie lang ist ... die andere menschliches Maß weit überschreitend ... die ganze Figur ein Zerrbild, das sich durch keine Toilettenkünste mildern läßt ... Glauben Sie nicht, daß die beiden viel Spott und Hohn über sich haben ergehen lassen müssen?«

»O, wer wird über so etwas spotten!«

Zum ersten Male wandte die Malerin ihm das Gesicht zu, und da nahmen die tiefernsten Augen, die so forschend auf ihn gerichtet waren, plötzlich einen Ausdruck der Ueberraschung an.

»Sind Sie nicht ... der Detektiv Nobody?«

Im Gegensatz zu den überraschten Augen hatte es ganz gleichgültig geklungen – Nobody aber fühlte sich plötzlich wie aus den Wolken gefallen.

Er hatte ja sein Gesicht durch keinen falschen Bart, durch keine Perücke verstellt; aber trotzdem, wie er hier im Koloradogebirge von einer dieser Damen erkannt werden konnte, die von seiner Herreise unmöglich etwas wußten, etwas ahnten – es war ihm ein unfaßbares Rätsel!

»Woher wissen Sie ...«

»Ich habe Ihr Bild wiederholt in ›Worlds Magazine‹ gesehen.«

Trotzdem, für Nobody war es immer noch ein Rätsel. Man weiß ja, wie weit die Aehnlichkeit solcher Holzschnitte gewöhnlich geht. Ein Gesicht mit einer Nase und einem Lippenpaar, links und rechts ein Auge und ein Ohr – weiter geht die Aehnlichkeit gewöhnlich nicht. Oder aber hier war das Auge einer Malerin, einer genialen Künstlerin, das sich durch nichts täuschen läßt.

»Sind Sie nicht der Detektiv Nobody?«

»Ich bin es.«

Sie wandte ihren Blick wieder der Staffelei zu, und hiermit schien diese Angelegenheit für sie ein für allemal erledigt zu sein. Was nun der Detektiv Nobody eigentlich hier wolle, was der Zweck seines Besuches sei – nicht das geringste Interesse dafür!

»Wenn Sie der Detektiv Nobody sind, dann müssen Sie doch auch die Menschen zu gut kennen, als daß Sie zweifeln, zwei so gestaltete Frauen würden von ihren Mitmenschen nicht ...« wieder der lange Blick zum Fenster hinaus, » ... mit Spott und Hohn überschüttet.«

»Sie haben recht – so sind die Menschen,« entgegnete Nobody leise.

»Nun, und da haben sich die beiden zu uns in die Einsamkeit geflüchtet.«

Als Nobody keine Antwort gab, die sie auch nicht zu erwarten schien, fuhr sie nach einer längeren Pause von selbst fort:

»Um sich für später vorzubereiten – um zu lernen, wie sie sich später unter den Menschen benehmen werden.«

Nobody verstand sofort, was sie hiermit meinte. Es war eben Nobody. Wir selbst werden später aus Beispielen ersehen, was die beiden vorhatten.

»Sie werden diese Einsamkeit wieder verlassen?«

»Sogar sehr bald.«

»Auch Mrs. Bowell?«

»Wir alle. Kennen Sie Mrs. Bowell von früher her?«

»Ich habe von ihr viel erzählen hören.«

Diese Antwort genügte ihr vollkommen. Keine einzige neugierige Frage mehr. Sie kam immer gleich auf die Hauptsache zu sprechen.

»Auch Mrs. Bowell hat viel durchgemacht.«

»Davon ist mir allerdings nichts bekannt. Oder Sie meinen, weil sie nach so kurzer Ehe ihren Gatten verlor?«

»Ganz das Gegenteil meine ich. Das war gerade ...« dem Fenster wurde ein sehr langer Blick gewidmet, » ... ihr Glück. Denken Sie sich doch ein junges, lebenslustiges Mädchen, das einen alten Mann heiraten muß, der schon mit einem Fuß im Grabe steht. Kann das Glück sein?«

»So war ihre Ehe mit Mr. Bowell eine erzwungene?«

Langsam hob sie die Schultern.

»Nein. Das nicht. Aber ... sie war noch ein vollständiges Kind. Sie wußte noch gar nicht, was die Ehe bedeutet, was die Ehe vom Weibe verlangt ... und vom Manne. So gehorchte sie freudig den Eltern. Und dann war es ein Greis, an den man meine Freundin ... verkauft hatte.«

»Ich verstehe Sie,« sagte Nobody leise.

Ihre ganze Sprechweise machte einen immer größeren Eindruck auf ihn. Es war so wunderbar, wie sie ihn, den ihr gänzlich Fremden, in dies alles einzuweihen wußte.

»Auch ich habe viel durchgemacht,« fuhr sie fort, immer mit ihrem Pinsel beschäftigt.

»Das glaube ich Ihnen,« kam es aus Nobodys tiefster Brust hervor.

»Und doch nicht so, wie Sie wohl denken. Wohl ist der Ernst des Lebens an mich herangetreten, aber die rauhe Hand des Schicksals selbst habe ich nie zu fühlen bekommen. Ich habe immer nur mit anderen Herzen gefühlt.«

So undeutlich das auch sein mochte – Nobody hatte sie doch sofort verstanden.

»Dafür sind Sie Künstlerin.«

»Ja. Ich sehe die Welt mit ganz anderen Augen an. Ich habe gesehen, was meine Freundin durchgemacht, was andere Menschen, besonders andere Frauen durchgemacht haben, und ... für mich hat das genügt. Eine praktische Lehre des Schicksals, eigene Erfahrung brauche ich nicht. Auch ich war einst ein heiteres, naives Kind – war es noch als erwachsenes Mädchen – noch vor fünf Jahren ... hier in dieser Einsamkeit habe ich mich verwandelt. Unser Entschluß ist gefaßt. Nur einige Wochen noch, dann treten wir in die Welt hinaus, um ... unseren Mitschwestern, welche noch in Sklavenketten liegen, welche inmitten aller Zivilisation noch wie die Sklavinnen verkauft werden, helfend beizustehen.«

Nach allem Vorangegangenen hatte Nobody nichts anderes mehr zu hören erwartet. Und er wußte solch ein Vorhaben zu schätzen. War doch seine eigene Devise, die er in dem ihm verliehenen Ritterschilde führte: ›Ich helfe den Schwachen‹. Und gerade er wußte am allerbesten, was für eine Sklaverei in unseren modernen Verhältnissen noch unter dem weiblichen Geschlecht herrschte, und diese Damen hielt er recht wohl für befähigt dazu, hier tatkräftig einzugreifen. Denn das war hier kein phantastischer Entschluß, der einem emanzipierten, exzentrischen Weibe so einmal in der Laune plötzlich einfällt – fünf ganze Jahre hatten sie sich dazu in der Einsamkeit vorbereitet!

»Sie wollen die Arrapahos kennen lernen?« sprang sie auf ein anderes Thema über.

Nobody bejahte. Den eigentlichen Grund seines Hierseins anzugeben, dazu hatte er noch immer Zeit.

»Das ist einer der ersten Häuptlinge der vielen Stämme der Arrapahos. Unser nächster Nachbar und unser bester Freund. Die Sandeidechse. Ispanje klingt besser.«

Der Indianer, der in der englischen Unterhaltung wenigstens seinen Namen gehört haben mußte, zuckte mit keiner Wimper. Wie ein Automat führte er das Kalumet zum Munde.

»Er ist mein Mann.«

Jetzt war es Nobody, der große Augen machte. Doch er hatte natürlich mißverstanden. Sie hatte gemeint, wie man so zu sagen pflegt: ›Das ist mein Mann – das ist ein Kerl, den ich bewundere‹.

»Verheiratet sind wir natürlich nicht. Ich werde mich nie binden. Er ist mein Freund, mein Liebhaber.«

Jetzt aber hatte Nobody doch recht gehört! Himmeldonnerwetter!

»Ihr ... Ihr ... Liebhaber? Ihr Geliebter?«

»Ja,« erklang es ganz gleichmütig zurück.

Und der sprachlos gewordene Nobody betrachtete sich den halbnackten, schwarzen, so überaus mageren Kerl, und sein Blick kehrte zurück zu der vornehmen, eleganten Gestalt der jungen Malerin, über deren ganzes Wesen die Unnahbarkeit gebreitet war.

War es denn nur menschenmöglich?!

»Es wäre lächerlich von uns,« fuhr sie da fort, »wollten wir etwa behaupten, das ganze männliche Geschlecht sei überflüssig auf der Erde. Sofort, wenn wir so etwas behaupten, es uns auch nur einbilden wollten, wäre unserem ganzen Vorhaben von vornherein der Todesstoß gegeben. Denn das wäre unnatürlich, und etwas Unnatürliches gibt es auf der Erde nicht. Weshalb ich gerade diesen Indianer zu meinem Geliebten gewählt habe? Mit einem einzigen Wort: weil er mir am besten gefällt. Uebrigens müssen Sie ihn erst näher kennen lernen, ehe Sie über ihn ein Urteil fällen können. – Sehen Sie hier, wie ich ihn getroffen habe.«

Noch ganz kopfscheu, erhob sich Nobody, trat hinter die Staffelei und ... erstarrte vor Schreck zur Statue!

Beschreiben wir das Bild, welches in Oelfarbe gemalt, schon ziemlich fertig war, etwas näher.

Es stellte diesen Indianer nicht etwa so hier im Zimmer auf einem Kissen sitzend dar, sondern auf einem Pferde, umgeben von der Szenerie einer Wildnis, in der die Wüste vorherrschte.

Nun vor allen Dingen dieses Pferd. Schön sind die Indianerpferde überhaupt nicht, das stimmt; mit unseren edlen, aus langer Zucht hervorgegangenen Rennern lassen sich auch die Mustangs bei weitem nicht vergleichen, von den indianischen Ponys gar nicht zu sprechen ... aber solch ein Luder von einem Gaul, auf dem der magere Indianerhäuptling da paradierte, hatte Nobody auch in Wirklichkeit überhaupt noch nie gesehen!

So mager wie sein Reiter, die Rippen und alle anderen Knochen aus dem Leibe stehend, den Kopf mit den Eselsohren trübselig gesenkt, der Schwanz nur noch aus wenigen Haaren bestehend, die unförmlichen Beine mit den dickangeschwollenen Fesseln geknickt ... ein auf dem letzten Loche pfeifender Droschkengaul, der sich nach der Ruhe des Wurstkessels sehnt, war noch Gold gegen dieses Streitroß eines Indianerhäuptlings!

Aber noch etwas anderes war dabei, was Nobody wirklich vor Schreck erstarren ließ.

Sie korrigierte offenbar nur noch an dem Gesichtsausdruck des Indianerhäuptlings. Und dessen fast pechschwarzes Gesicht hatte sie mit grasgrüner Farbe gemalt; eine Farbe, die bei ihm weiß hervortrat, hatte sie rot gemacht, die rote Feder in der Skalplocke in Blau wiedergegeben – und so war es bei allem und jedem auf dem Bilde! Der Himmel olivgrün, Gras und Bäume azurblau, eine Tanne hatte zur Abwechslung orangerote Nadeln, und rot wie eine Klatschrose war auch das edle Roß, übersät mit blauen und grünen Flecken!

»Mein Gott, farbenblind!« stöhnte Nobody innerlich. »Nein, bei einer Malerin, die ihre Kunst ernst nimmt, grenzt das schon mehr an Wahnsinn!«

»Wie finden Sie die Aehnlichkeit?«

Wir wissen, wie empfindsam unser Held bei gewissen Gelegenheiten sein konnte. Er mußte erst die ihm plötzlich aufsteigenden Tränen hinterschlucken, ehe er eine Antwort zu geben vermochte.

Ja, und was sollte er dann sagen? Mit den Farbentönen hat die Aehnlichkeit doch eigentlich nichts zu tun! Und dieser Indianer war sonst sprechend getroffen! Und auch im übrigen – so viel verstand Nobody auch davon – der Schatten, die Perspektive – das war das Gemälde eines gottbegnadeten Künstlers, eines Akademikers, aufs sorgfältigste in allen Details ausgeführt! Nur daß er sich eben bei jeder Farbe vergriffen hatte! Farbenblind – oder wohl richtig wahnsinnig!!

Langsam stand sie auf, zum ersten Male sah Nobody sie stehen und gehen, und trotz des wehmutsvollen Gefühls, unter dessen Banne er sich befand, mußte er diese edle Nonchalance, die sich in jeder Bewegung mit einer unnachahmlichen Grazie verband, bewundern, womit nun auch das ganze Kostüm so geradezu bezaubernd harmonierte.

Sie zog von einer anderen Staffelei das verhüllende Tuch weg, ein Oelgemälde zeigte sich, eine Gebirgslandschaft darstellend – und wieder ganz genau dasselbe, wieder mit einer wunderbaren Fertigkeit gemalt, mit der Perspektive kolossale Wirkung erzielt – aber die Felspartien in Farben gehalten, wie die Natur sie niemals zeigt, ein Bach rosarot, grünes Gebüsch blau – und die Sonne nun gar am grasgrünen Himmel dunkelblau!

»Es ist die schönste Felsenlandschaft, die ich im Koloradogebirge gefunden habe – und ich selbst halte es für mein bestes Bild.«

Mit Gewalt mußte sich Nobody zusammenraffen, um einer Antwort fähig zu sein.

»Herrlich!« sagte er, so natürlich es ihm möglich war, und dabei dachte er, förmlich zerknirscht: »Armes, armes Weib!«

»Ein Amerikaner, ein New-Yorker, der uns hier einmal besuchte, bot mir für dieses Bild hunderttausend Dollar.«

Na ja, so ein Yankee, dem ist alles zuzutrauen, für den war das vielleicht gerade so etwas.

»Aber es ist mir unverkäuflich.«

Nobody murmelte etwas vor sich hin.

»Ich verkaufe kein Bild von mir, ich stelle auch nicht aus.«

Wohl ihr!

»Ich male für mich selbst und für die Unsterblichkeit.«

Jetzt kam auch noch der Größenwahnsinn dazu! Armes, unglückliches Weib!

»Sagen Sie mir ganz offen, wie denken Sie über meine Gemälde?«

»Herrlich!« murmelte Nobody.

»Wie finden Sie meine Farbeneffekte?«

»Großartig!«

Da wandte sie sich ihm in ihrer langsamen Weise zu, wie drohend rückten ihre geschwungenen Augenbrauen zusammen.

»Warum sind Sie nicht offen?«

»Ich bin ganz offen, und ich versichere Ihnen, daß ...«

»Warum sagen Sie mir lieber nicht gleich, daß Sie mich für wahnsinnig halten?«

Wieder kam eine so furchtbar fatale Situation. Sie wußte also selbst, daß sie wahnsinnig sei – das findet man bei Irrsinnigen ja so häufig – aber was sollte Nobody dazu sagen?

»O, Mademoiselle, wie können Sie ...«

»Nein, ich nehme es Ihnen nicht übel, daß Sie mir nicht die ungeschminkte Wahrheit sagen,« wurde er abermals unterbrochen. »Ich will Ihnen eine Erklärung geben. Ich sagte, ich male für die Unsterblichkeit. Das dürfte auch stimmen, bei aller Bescheidenheit. Nach hundert Jahren nämlich wird kein Oelbild eines unserer heutigen Meister mehr existieren – oder es ist doch nicht mehr des Ansehens wert – die Farben sind verblaßt – das Bild ist überhaupt hin! Das macht, weil wir verlernt haben, uns die Oelfarben selbst anzureiben. Und unsere modernen Farbefabriken kennen nicht mehr die Rezepte zu jenen Farben, mit denen die alten holländischen und italienischen Meister gemalt haben und deren Farbenpracht wir heute noch anstaunen. Ich aber habe so ein Rezept dazu – selbst gefunden. Ich quetsche die Nußkerne selbst, destilliere das Oel selbst an der Sonne, reibe die trockenen Farben selbst an – die richtige Tönung der Farben freilich wird erst nach hundert und mehr Jahren zum Vorschein kommen, dafür aber auch Jahrhunderte lang anhalten. Durch ein eigentümliches Brennverfahren kann ich die Umwandlung der Farben beschleunigen, in einem Tage erzeugen – aber den richtigen Effekt kann nur die Länge der Zeit hervorbringen.«

Sie hatte von einer anderen Staffelei das Tuch fortgezogen. Da freilich bekam Nobody etwas ganz anderes zu sehen, aber er brauchte gar nicht hinzublicken, er hatte schon genug zu hören bekommen, und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte er, wie weiland Mister Cerberus Mojan, den Mund so weit wie möglich aufgesperrt.

Erst vor kurzem hatte Nobody einen Artikel über dieses Thema gelesen, wie schade es doch ist, daß die Oelgemälde unserer heutigen Künstler so vergänglich sind. Es gibt berühmte Gemälde von noch lebenden Malern, welche schon jetzt nichts mehr taugen. Die Farben verblassen, sie verändern sich, und da hilft kein Nachpinseln, dagegen gibt es kein Mittel. Das ist wieder einmal so ein Beweis, daß es Gebiete gibt, auf denen wir trotz aller unserer sonst so großartigen Erfindungen, trotz aller Chemie und Technik nicht vorwärtsschreiten, sondern zurückgehen. Früher war die ganze Malerei eine Zunft! Wer für würdig zur Aufnahme befunden wurde, der mußte erst die Schürze vorbinden und lernen, die Farben mit Oel anzurühren – reiben, immer reiben! Damals gab's noch keine Farbenfabriken! Außerdem ist schon oft darauf hingewiesen worden, daß die alten Meister, Raphael, Rubens und wie sie alle heißen, ganz andere Farbtöne angewendet haben, als sie der Natur entsprachen, die Umwandlung brachte erst die Zeit mit sich, und dann erst wurden die Farben unveränderlich, und daher jene Bilder, deren Farbenpracht wir noch nach Jahrhunderten bewundern.

Ganz offenbar sind uns hier Kenntnisse, Zunftgeheimnisse verloren gegangen, und schon oft ist unseren heutigen Künstlern geraten worden, lieber die ganze Oelmalerei an den Nagel zu hängen und zum Pastellstift zu greifen.

Einen Augenblick war Nobody außer sich.

»Verzeihen Sie, daß ich Sie im Verdachte hatte ...«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich Ihnen deswegen nichts zu verzeihen habe.«

»Sie werden Ihr Geheimnis für sich behalten?«

»Vorläufig, ja,« entgegnete sie kurz und zog die Portieren wieder zu.

Ein Glockenton hallte durch das Haus.

»Es ist das erste Zeichen zum Mittagessen. Sie sind natürlich unser Gast. Ich habe Sie zufällig als den Detektiv Nobody erkannt, und ich habe keinen Grund ... wollen Sie inkognito bleiben?«

»O Mademoiselle, ich habe mich so furchtbar in Ihnen getäuscht – wenn Sie mir noch vor der gemeinsamen Tafel eine Unterredung unter vier Augen gewähren könnten!«

»Gewiß! Wir haben noch eine Viertelstunde Zeit, das war erst das Zeichen, daß die Mädchen geholt werden sollen.«

»Sind wir hier ungestört, unbelauscht?«

Sie sagte einige Worte zu dem Indianer in dessen Dialekt, dieser erhob sich sofort und verließ schweigend das Atelier.

»Nirgends sind wir ungestörter als hier. Nun, was verschafft uns einsamen Frauen den Besuch des Detektivs Nobody?«

»Kennen Mademoiselle die Großfürstin Margot?« fragte Nobody ohne weitere Umschweife.

Die junge Französin war doch nicht so für alles abgestorben, wie es zuerst den Eindruck machte. Sie zeigte ein freudig erstauntes Gesicht.

»Auch Sie kennen meine Freundin?! Also sie hat doch unsere vielen Briefe empfangen? Und sie hat Ihnen von uns erzählt, und nun kommen Sie hierher, um die Wahrheit zu prüfen?«

»Ich habe Ihnen bei weitem mehr mitzuteilen. Die Großfürstin liegt krank in Denver City.«

Diesmal ein freudiger Schreck, und dann eine Bewegung, als wolle sie nach der Türe zueilen. Mit warnend erhobener Hand vertrat Nobody ihr den Weg.

»Wüßte ich nicht, daß Sie eine durchaus besonnene Dame sind, so hätte ich es Ihnen gar nicht mitgeteilt – wenigstens jetzt noch nicht. Ich hätte erst einige Tage vergehen lassen. Nun machen Sie meinen guten Glauben an Ihre Besonnenheit nicht zuschanden. Die Großfürstin hat sich auf der Reise ein Fieber zugezogen. Sie liegt in guter Pflege im Hospital. Es ist ein siebentägiges Wechselfieber daraus geworden, an sich ganz unbedeutend – aber die kleinste Aufregung könnte den Zustand lebensgefährlich machen.«

Sofort hatte sich die Französin völlig wieder gefaßt.

»Sie haben recht, und Sie taten gut, nur mir davon mitzuteilen. Irma – ich meine Mrs. Bowell – würde sich um keinen Preis zurückhalten lassen, sofort an das Krankenlager der Freundin zu eilen. Also sprechen Sie nicht darüber. Ich habe gelernt, mich in Geduld zu fassen. Und die Kranke?«

»Sie weiß, daß, sobald ihr Zustand es erlaubt, die Freundinnen bei ihr sein werden, und auch sie wird geduldig warten. Wenn es so weit ist, reitet ein schneller Bote hierher.«

»Und wie kommt sie überhaupt hierher?«

»Das möchte sie den Freundinnen persönlich erzählen.«

»Sie ist ihrem Gatten entflohen.«

»Sie möchte das Ihnen selbst erzählen,« wich Nobody nochmals aus.

»Gut. Daß Großfürst Karamsin sie schlecht behandeln wird, habe ich im voraus gewußt. Gut, ich warte. Und sonst noch ein Grund, daß der Detektiv Nobody uns mit seinem Besuche beehrt?«

»Ja. Ich muß mich kurz fassen, denn ich möchte diese Angelegenheit noch erledigen, ehe ich wieder mit den anderen Damen zusammenkomme. Mademoiselle Laboche, sind Ihnen alle Verhältnisse über dieses Besitztum des verstorbenen Mr. Bowell bekannt?«

»Alle.«

»Ist mit diesem Koloradotale ein Geheimnis verbunden?«

»Nicht daß ich wüßte.«

Sie sagte es ganz gleichgültig, so unbefangen schaute sie den Frager dabei an, über jede Neugier erhaben, und nur um desto glaubwürdiger klang es.

»Liegt in diesem Tale etwas vergraben, was man vergeblich gesucht hat oder noch sucht?«

»Habe niemals etwas davon gehört.«

»Könnte Mrs. Bowell etwas davon wissen?«

»Was Mrs. Bowell weiß, weiß auch ich. Zwischen uns gibt es nicht das geringste Geheimnis. Wir sind auch gleichzeitig hierhergekommen.«

»Aber die Familie Brisby ist schon viel länger hier.«

»Für diese sieben Mädchen gilt genau dasselbe. Zwischen uns gibt es kein Geheimnis.«

»Oder ist Ihnen ein Situationsplan, eine Zeichnung bekannt, auf dem eine Kirche, eine Fichte, ein Weib und ein Stiefel wiedergegeben sind, kreuzweise miteinander durch Striche verbunden?«

Die Französin machte ein verwundertes Gesicht.

»Das paßte recht gut auf unsere Gegend hier. Wir haben einen Stiefelberg, einen Ladyfelsen, dort der Hügel, auf dem Sie die drei einzelnen Fichten sehen, das ist der Fichtenfelsen – und die Kirche? Nun, das alte Wirtshaus hat früher ›Zur Kapelle‹ geheißen.«

»Ganz richtig. Können Sie solch einem Situationsplan mit diesen Figuren eine Bedeutung beimessen?«

Sinnend schüttelte sie den Kopf.

»Nein, ich wüßte nicht im geringsten, was ...«

»Still!« unterbrach Nobody sie flüsternd, auch schnell vom Fenster zurücktretend. »Dort kommen sie!«

Es waren der Schwarzrock und die Dame im Reitkleid, welche um das Haus herumkamen, und wenn sie auch zu Fuß waren, so erkannte das Auge des Detektivs doch sofort, daß sie zu Pferde gekommen waren, sie mußten soeben erst abgestiegen sein, er erkannte es gleich am Gange.

»Wieder ein fremder Besuch. Was ist mit den beiden?«

»Bitte, nicht jetzt! Das sind die beiden, welche ebenfalls etwas von dem Situationsplane wissen, wenn auch nicht so viel wie ich.«

Wieder schrillte ein Klingelton durch das Haus.

»Das ist das Zeichen, daß wir uns alle im Speisesaal versammeln sollen.«

»Aber Mrs. Bowell wird die beiden doch erst empfangen, und da möchte ich auf alle Fälle zugegen sein.«

»Auch die fremden Gäste werden im Speisesaal empfangen. Wir haben zwar ebenfalls unsere Zeremonien, doch ganz andere als draußen in der Gesellschaftswelt. Wenn Sie dabeisein wollen, so kommen Sie schnell.«

Sie verließen das Atelier. Nobody wurde von seiner Begleiterin in einen sogenannten angelsächsischen Speisesaal geführt, wie ihn die alten Angelsachsen früher in ihren Schlössern gehabt haben, und wie ihn die Engländer noch heute auf ihren Landsitzen nachahmen.

Ein langgestreckter Saal, in der Mitte eine Erhöhung, auf welcher die Herrschaften mit ihren Gästen sitzen, während die eine untere Hälfte für die männlichen, die andere für die weiblichen Dienstboten bestimmt ist.

Fehlten hier die Herolde und dergleichen, womit der Engländer seinen Speisesaal noch stilgemäßer zu machen sucht, so ging es hier desto mehr wirklich patriarchalisch zu, nur daß es hier ausschließlich weibliche Dienstboten gab.

Links unten saßen die farbigen Dienerinnen, soweit sie nicht bei der Tafel bedienen mußten oder in der Küche zu tun hatten, rechts fünf als Cowboys gekleidete Mädchen, also fehlten zwei von den Brisbys, und in der erhöhten Mitte hatten an einer langen Tafel bereits die Hausherrin, die beiden weiblichen Karrikaturengestalten und auch schon der Indianerhäuptling Platz genommen, letzterer ebenfalls ganz zivilisiert auf einem Stuhle sitzend, der Suppe harrend, die in einer großen Schüssel dampfte.

So sah es aus, als Nobody mit seiner Begleiterin eintrat, und nicht nur für diese beiden waren noch Teller und Bestecke vorhanden, sondern die sehr lange Tafel war ganz gedeckt, als erwarte man noch zwei Dutzend Gäste.

Vergebens erwartete Nobody eine förmliche Vorstellung. Er brauchte sich aber nur an die angelsächsischen Sitten zu erinnern, wie sie z. B. Walter Scott beschreibt, er konnte auch an die arabische Gastfreundschaft denken, um das begreiflich zu finden, und nicht anders geht es ja auf den amerikanischen Farmen zu. Erst wird der fremde Gast gespeist, ehe man etwas von ihm wissen will, und stellt es sich dabei heraus, daß es der Todfeind ist, so hat man doch die Gastfreundschaft nicht verletzt, die dann auch noch weitergeht.

»Es kommen noch zwei Gäste, ein Herr und eine Dame,« sagte die Französin, als sie durch eine Handbewegung ihrem Begleiter den Stuhl neben sich anwies.

»Ich weiß es,« entgegnete Mrs. Bowell. »Lizzy nahm sie in Empfang, sie wollten sich durchaus anmelden lassen, wollten mich allein sprechen, aber es wurde ihnen bedeutet, daß jetzt Mittagszeit ist, und daß ich sie nur im Speisesaal an der Tafel empfangen werde. Schließlich waren sie damit einverstanden, sie müssen gleich kommen; so lange können wir ja noch warten.«

Da traten sie schon durch die große Tür, der Schwarzrock und die Dame mit den grünen Augen. Während die anderen sitzen blieben, stand Mrs. Bowell noch einmal auf und ging ihnen bis zu den auf die Plattform hinaufführenden Stufen entgegen.

»Seien Sie mir als meine Gäste herzlich willkommen. Wollen Sie an meinem Tische Platz nehmen und fürlieb nehmen mit dem, was ich Ihnen bieten kann.«

Zögernd war der Bischof auf der ersten Stufe stehen geblieben.

»Madam, ich muß Sie wirklich bitten, uns erst ...«

Eine höflich einladende, aber auch sehr bestimmte Handbewegung schnitt ihm das Wort ab. Die beiden folgten, nur Winke wiesen ihnen die Plätze an.

»Bischof Lindol,« stellte sich der Schwarzrock vor, ehe er sich niederließ.

Aber er mußte, dem Beispiele der anderen folgend, gleich wieder aufstehen.

Unterdessen war der Tisch, wie es in Amerika allgemein üblich ist, gleich mit sämtlichen Speisen besetzt worden, von denen sich jeder ohne Reihenfolge nach Belieben zulangt. Die Hauptrolle spielten zwei mächtige Stapel von gekochtem und gebratenem Rindfleisch, andere Schüsseln enthielten meist Wild. Nur eines fehlte noch, um mit dem Essen beginnen zu können.

»Mrs. Hackerle, heute ist an Ihnen die Reihe.«

Es mutete Nobody seltsam an, aus diesem Munde, der vorhin ganz anders zu ihm gesprochen hatte, den Mittagssegen zu hören. Es war ein altenglisches Tischgebet, so derb und kernig, wie man es damals mit der Frömmigkeit nahm, als der Christenglaube noch mit Feuer und Schwert verbreitet wurde, und welches in den Worten ausklang:

» ... und wenn es nicht mein rechtmäßiges Brot ist, das ich mit Ehren verzehren darf, so soll es sich in meinem Munde zu hartem Stein verwandeln. Amen.«

»Amen!« erklang es schallend im Chor, und augenblicklich begann links und rechts und oben in der Mitte ein Klappern von Löffeln und Messern und Gabeln.

Nur der Schwarzrock hatte sich nicht wieder gesetzt.

»In dieses Amen kann ich leider nicht mit einstimmen.«

Seine volle Bruststimme hatte es laut genug gesprochen, um das ganze Lärmen zu übertönen, und eine Totenstille entstand plötzlich, aller Augen waren auf den Frevler gerichtet.

Besonders Mrs. Bowell war plötzlich ganz bleich geworden.

»Was – was sagten Sie da?«

»Ich bedauere, in dieses Amen nicht mit einstimmen zu können.«

»Sie – ein – doch offenbar ein Geistlicher? Und weshalb nicht?«

»Weil dieses Amen bedeutet: es soll also geschehen – und ich möchte nicht, daß sich diese Speisen in Ihrem Munde zu hartem Stein verwandeln.«

Mrs. Bowell wurde noch blasser.

»Das heißt – das heißt – mit anderen Worten – daß ich hier unrechtmäßiges Brot äße?«

»Ich bedauere, das Ihnen hier öffentlich sagen zu müssen. Ich habe Sie ja genug bitten lassen, mich unter vier Augen zu empfangen – oder unter sechs, denn auch diese meine Begleiterin muß dabeisein. Da es aber nun einmal so weit gekommen ist, schenken Sie vielleicht jetzt meiner Bitte Gehör. Kommen Sie, Missis, die Dame dieses Hauses wird für uns ein anderes Zimmer haben, und dann werden wir noch immer in Frieden essen können.«

Auch seine Begleiterin hatte sich erhoben, beide wollten die Tafel verlassen.

»Halt, Sie bleiben!!!« erklang es da aus Mrs. Bowells Munde in einem Tone, dem niemand Widerstand zu leisten gewagt hätte. »Was Sie mir mitzuteilen haben, werden Sie hier an diesem Tische in Gegenwart aller sagen!!«

Sie klatschte in die Hände.

»Räumt die Speisen wieder ab!«

Und es geschah. Alles wurde wieder abgeräumt. Es war eine hochdramatische Szene, wie sich die Speisetafel, auf der schon die Teller gefüllt gewesen waren, so schnell in einen Gerichtstisch verwandelte.

Die beiden hatten denn auch wieder Platz genommen, und wenn an diesem erhöhten Tische die Richter saßen, mit Mrs. Bowell als Oberhaupt, so konnte man sich links und rechts unten, wo ebenfalls sofort abgeräumt worden war, die Geschworenen und die Zeugen denken.

»Sie werden mir eine Erklärung geben,« begann Mrs. Bowell, »hier so gut wie öffentlich zu behaupten, daß es gestohlenes Brot sei, welches ich hier esse und meinen Dienern und Gästen gebe.«

»Von gestohlenem Brote habe ich nichts gesagt,« entgegnete der Schwarzrock, »nur von unrechtmäßigem. Sie wissen doch natürlich, daß Ihr seliger Gatte, Mr. Donald Bowell, noch einen Sohn gehabt hat.«

»Wie – Charly – lebt noch?!!«

Mrs. Bowell war es gewesen, die es abgebrochen gerufen hatte. Und nun, wie sie es gerufen hatte! Plötzlich ganz rot werdend, wie von Seligkeit verklärt!

Nobody brauchte sie nicht so scharf zu beobachten, um sofort zu wissen, wie glücklich sie gewesen wäre, wenn der Verschollene jetzt zurückgekehrt wäre, auch wenn sie ihm dann ihr Erbe abtreten mußte.

Der Schwarzrock aber machte ein recht höhnisches Gesicht, und ebenso klang seine Entgegnung:

»Nein, gnädige Frau brauchen nichts zu fürchten, Mister Charles Bowell ist wirklich tot.«

In diesem Augenblick hatte Nobody das starke Verlangen, sich über den Tisch zu beugen und dem Schwarzrock eine herunterzuknallen. Denn der mußte doch auch bemerkt haben, daß seine Worte in der Brust der Hausherrin eine ganz andere Hoffnung geweckt hatte. Auch jetzt war es wieder zu sehen.

»Wirklich tot!« hauchte sie, und die Seligkeit aus ihrem rosigen Gesicht verschwand.

»Weiß man denn endlich, wie und wo er sein Ende gefunden hat?«

»Diese Dame,« der Bischof machte eine Handbewegung nach seiner Begleiterin, »kann es Ihnen ausführlich erzählen.«

»Diese – Dame?«

»Mrs. Harriet Bowell, die Gattin von Mr. Charles Bowell.«

Das Schweigen des Todes herrschte in der weiten Halle. Aller Augen waren auf die Dame mit den schwarzen Haaren und den grünen Augen gerichtet, die jetzt einen Fächer zum Vorschein gebracht hatte und sich damit Kühlung zufächelte, dabei nicht nur ruhig, sondern sogar lächelnd die Blicke aller erwidernd, auch den stieren der Hausherrin, die mit todblassem Antlitz in ihren Stuhl zurückgesunken war.

»Das – ist – nicht – möglich!« kam es hauchend von ihren bebenden Lippen.

»Was ist nicht möglich?«

»Charles war gar nicht verheiratet.«

»Ich selbst, der Bischof von Philadelphia, habe in der Petrikirche die Trauung Charles Bowells mit Miß Harriet Short vollzogen.«

»Es – ist – nicht – möglich!« hauchte es wiederum.

»Bitte, Madam, ich bin der Bischof von Philadelphia, und das könnte Ihnen genügen,« erklang es würdevoll. »Aber ich kann ja auch Zeugen bringen, das Kirchenbuch steht Ihnen offen. Warum die Dame nicht erst geschrieben hat? Warum ich selbst gleich komme? Um eben die Sache in aller Einfachheit und ohne Aufsehen zu erledigen. Lassen Sie mich einen Ueberblick geben. Es ist jetzt fünf Jahre und einige Monate her, als Mr. Charles Bowell auf Reisen ging und dann auch gleich verschwand. Wie wir jetzt wissen, hat er das nördliche und mittlere Afrika bereist und sich dann nach Asien gewandt, wo er vor einem halben Jahre in Tibet seinen Tod gefunden hat ...«

»Woher wissen Sie denn das alles?« fiel ihm Mademoiselle Laboche ins Wort.

»Eben durch diese Dame hier, welche nämlich ihren Gatten auf seinen Reisen immer mit heroischem Mute begleitet hat ...«

»Schon als seine Gattin?«

»Gewiß doch. Schon vor fünf Jahren, eben als Mr. Bowell seine Auslandsreisen antrat, fand die Trauung in Philadelphia statt ...«

»Wissen Sie nicht, wo sich Charles Bowell damals zuletzt aufgehalten hat?« wurde er abermals von der Französin unterbrochen, die überhaupt jetzt für die Freundin das Wort führte. Diese schien auch keines Wortes mehr fähig zu sein.

»Eben hier war er zuletzt gewesen, in diesem Tale, wo er gejagt hatte.«

»Allein gejagt?«

»Ob in Gesellschaft, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß damals gerade sein Vater, Mr. Donald Bowell, mit seiner jungen Gattin aus Rußland zurückgekehrt war.«

»Hierher?«

»Jawohl, eben hierher, um dieses Jagdschloß zu beziehen.«

»Da war ich auch mit dabei. Und da ist Charles Bowell sofort von hier nach Philadelphia gefahren und hat sich mit dieser Dame da trauen lassen?«

»Gewiß, das stimmt alles der Zeit nach, wenn wir die Daten vergleichen werden. Ich vermute, hier hat es zwischen Vater und Sohn eine Szene gegeben, darauf ist Charles sofort nach Philadelphia gefahren und hat, dem Vater zum Trotz, seine Heimlichgeliebte geheiratet.«

Da fuhr Mrs. Bowell in einer furchtbaren Erregung empor.

»Das ist nicht wahr – das ist eine infame Lüge!!« rief sie außer sich. »Charles hat niemals eine andere Jugendliebe gehabt als – als – als ...«

Sie vollendete den Satz nicht, sie brach wieder auf ihrem Stuhl zusammen.

Was Nobody schon längst geahnt, merkte nun aber auch der Schwarzrock. Dieser Charles Bowell war jedenfalls ein amerikanischer Hamlet gewesen. Vater und Sohn sehen sich wieder, da hat der Vater des Sohnes Jugendgeliebte geheiratet, deshalb auch sofort die Abreise ins Ausland ... mögen diese Andeutungen genügen.

Dies wußte denn auch der Bischof sofort zugunsten seiner Klientin auszunützen.

»Dann hat Mr. Charles eben, um jemandem einen Hieb zu versetzen, einen Trumpf ausgespielt, hat ohne weiteres eine andere geheiratet, und diese andere war hier die ehemalige Miß Harriet Short.«

»O nein,« lächelte die Genannte malitiös, »wir haben uns schon vordem gut gekannt, sehr, sehr gut gekannt.«

»Und es ist eine infame Lüge!!!« fuhr abermals die Hausherrin jäh empor.

Diesmal brach sie nicht wieder vor eigener Erschöpfung zusammen, sondern die Französin legte in ihrer ruhigen Weise ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie mit kräftigem Arm nieder.

»Laß mich für dich sprechen, Irma, du bist zu aufgeregt. – Nein, Herr Bischof, Sie sind im Irrtum. Doch das ist ja jetzt ganz gleichgültig. Jedenfalls aber haben wir einen triftigen Grund, zu bezweifeln, daß Mr. Charles Bowell verheiratet gewesen ist.«

»Das werden wir beweisen!« lächelte die Dame.

»Ja, das erwarten wir eben. In Amerika ist es doch nicht nötig, bei der Trauung Papiere vorzulegen. Oder hat er das getan, Herr Bischof?«

»Wie mir vorgeschrieben ist, darf ich überhaupt niemals Papiere verlangen.«

»Na also. Nun könnten Sie, Madam, also doch vor fünf Jahren einen ganz anderen Mann geheiratet haben, welcher ebenfalls den Namen Charles Bowell führte ...«

»Ich werde doch meinen Freund gekannt haben! Es war der Sohn von Mr. Donald Bowell, welcher dann als Gesandtschaftsattaché nach Petersburg ging, dem hier das Koloradotal gehörte ...«

»Hat er Ihnen das gesagt?«

»Unzählige Male hat er mir das gesagt!«

»Und wenn er es noch einige Male mehr gesagt hätte, so kann er Ihnen immer noch etwas vorgeflunkert haben ...«

»Er hat mir doch seine Papiere gezeigt!« wurde die Grünäugige jetzt gereizt.

»Die können auch gefälscht gewesen sein!«

»Ja, freilich, wenn Sie so anfangen, dann ist es besser, wenn wir die Sache gleich den Gerichten übergeben.«

»O nein, wir wollen uns in aller Güte einigen, d. h., die ganze Sache gleich hier regeln, und wenn Sie im Rechte sind – gut, meine Freundin ist die allererste, welche sofort dieses Terrain räumt. Denn nach amerikanischem Gesetz gehört ja alles unbewegliche Erbe dem Sohne, selbst die Gattin des Verstorbenen hat nicht den geringsten Anspruch darauf. Erlauben Sie also einige Fragen. Wie alt war Charles, als er Sie ehelichte?«

Die Gefragte nannte gleich den Geburtstag, und Nobody erkannte aus aller Mienen, daß es stimmte.

»Wie pflegte er gewöhnlich seinen schwarzen Bart zu tragen?«

»Solche verfängliche Fragen verbitte ich mir!« fuhr die andere heftig auf. »Charles war blond, und solange ich ihn kannte, hat er überhaupt niemals einen Bart getragen!«

»Stimmt,« entgegnete die junge Französin ungerührt, ihre schlanken Hände in die Rocktaschen versenkend. »Nun weiter. Es hat jeder Mensch aus seiner Jugendzeit irgend etwas Besonderes zu erzählen. Hat Ihnen da Mr. Charles nichts mitgeteilt?«

»O ja, verschiedenes.«

»Nennen Sie uns ein Beispiel.«

»Nun, zum Beispiel ist er einmal als zwölfjähriger Knabe in New-York zwei Stock hoch aus dem Fenster gestürzt und hat sich dabei doch nur den linken Arm gebrochen.«

»Hm. Können Sie uns sonst etwas sein Aeußeres beschreiben?«

»Auffallend waren seine schönen Zähne. Und doch, wenn man genauer hinsah, so bemerkte man, daß sie gar nicht gut gewachsen waren, die Vorderzähne standen ziemlich weit auseinander.«

Diesmal erfolgte keine Gegenrede, auch keine Frage wollte mehr kommen.

»Von Intimitäten will ich nur anführen,« fuhr die Dame von selbst fort, »daß sein linker dritter Backzahn plombiert war.«

Wieder eine stumme Pause.

Und Nobody wurde plötzlich tiefsinnig. Auf dem Tisch war vorhin ein Stückchen Brot zurückgeblieben, schon immer hatte er damit herumgeknetet, und jetzt begann er, aus der Brotkrume mit wunderbarer Fertigkeit ein Menschlein zu formen, mit Kopf und mit Armen und Beinen, und als seine Schöpfung fertig war, riß er dem Männchen Kopf und Arme und Beine wieder ab.

»Und hier sind sämtliche Papiere, welche mein Gatte immer bei sich trug. Es sind überzeugende Dokumente darunter. Bitte zu prüfen.«

Sie hatte eine Anzahl vergilbter Papiere aus dem Busen gezogen und auf den Tisch gelegt. Keiner griff danach. Nur verstörte Augen hafteten darauf.

»Und hier mein Trauschein.«

Ein besser erhaltenes Papier, nicht so die Spuren des Alters zeigend, folgte nach.

»Jawohl, das ist der von mir vor fünf Jahren ausgestellte Trauschein,« bestätigte der Bischof, »ich habe ihn bereits geprüft!«

»Und hier ein Ring, den mein Gatte nie ablegte. Er nannte ihn oft ein Familienkleinod.«

Auch diesen Ring hatte sie aus einer Tasche hervorgezogen, und schon von weitem erkannte Nobody an dem Goldreif die eigentümliche Gruppierung von Rubinen um einen Smaragden.

Nach diesem Ringe aber griff diesmal eine Hand, eine zitternde, und sie gehörte Mrs. Bowell an.

»Gestatten Sie ...«

Es mußte innen etwas graviert sein, und das wußte sie sofort, sie las es.

»Mein Ring!« ächzte sie und fiel schwer in ihren Stuhl zurück.

Doch nicht lange dauerte es, so raffte sie sich wieder empor. In ihrer Ruhe lag etwas Unnatürliches.

»Sie sind im Recht. Ich befinde mich auf Ihrem Grund und Boden. Wenn ich von hier etwas mitnehmen darf, so bitte ich nur um diesen Ring ...«

»Er ist zwar ein teures Andenken von meinem Gatten, aber ich überlasse ihn Ihnen,« unterbrach sie die Rivalin hochmütig.

»So sind wir fertig – hier wenigstens. Ueber die andere Erbschaft wird ja das Gericht entscheiden. Nur über diesen Besitz hier habe ich nicht mehr zu verfügen. Dann aber werden auch die Brisbys nicht mehr hierbleiben wollen. Kommt,« fuhr sie mit erhobener Stimme fort, und jetzt war diese wirklich fest, »wir haben hier eine Heimat verloren – wir wollen uns eine andere suchen!«

Gleichzeitig standen die vier Damen auf, und auch alle die Weiber und Mädchen links und rechts, die den ganzen Vorgang mit gespanntester Aufmerksamkeit verfolgt hatten, standen auf.

Sah das nicht fast gerade so aus, als solle der Auszug augenblicklich stattfinden? Aber wenn man einen Prozeß verloren hat, oder wenn man freiwillig nachgibt, geht man denn so Knall und Fall von hinnen?

O ja, Frauen sieht das ganz ähnlich! Besonders wenn zwei Rivalinnen zusammengeraten. Wenn die eine auch nur merkt, daß sie unterliegen wird, dann ... nimmt sie ihr Bett und geht heim.

Ganz sicher, die Kinder Israels rüsteten sich zum Auszug! Und das ging fix bei denen. In fünf Minuten wahrscheinlich würde die ganze Gesellschaft schon jenseits der Grenzen sein, ohne daß auch nur ein einziges der Papiere geprüft worden war. Das konnte ja schließlich noch später vor Gericht geschehen, aber ...

Kurz und gut, mit der Frauenrepublik war es vorbei, und der Auszug sollte augenblicklich erfolgen. Danach sah alles aus. Höflicherweise rückte man noch die Stühle, die man verlassen, an den Tisch zurück.

Nur der magere Indianerhäuptling saß noch da, als ob er mit seinem Stuhle verwachsen wäre, und auch Nobody stand erst jetzt langsam auf.

»Gestatten Sie mir, daß ich erst noch ein Wort an diese Dame richte!«

In die Bewegung des Fortgehens kam ein allgemeines Stocken.

»An mich?« fragte Mrs. Charles Bowell gleich herausfordernd, aber doch sichtlich unangenehm überrascht, vielleicht noch einmal Widerstand zu finden.

»Ja, an Sie.«

»Was wollen Sie noch? Ich kenne Sie nicht.«

»Vielleicht doch – wenigstens dem Namen nach.«

»Wer sind Sie denn?«

»Vielleicht haben Sie doch schon von dem Detektiven Nobody gehört?« stellte sich der ›Unbekannte‹ mit seinem verbindlichsten Lächeln vor.

Unter Umständen nannte Nobody sehr gern seinen Namen. Dann beobachtete er stets die Wirkung. So tat er auch hier – und siehe da, die Dame riß ihre grünen Augen weit auf und stierte den Lächelnden wie ein Gespenst an.

Aber auch der Herr Bischof hatte kein gutes Gewissen, und mochte er sich auch noch so in der Gewalt haben, der plötzliche Schrecken war dem scharfsichtigen Detektiven nicht entgangen.

Doch am meisten entsetzt war Mr. Charles Bowells Gattin.

»No – No – No ...«

» ... body,« ergänzte der noch immer Lächelnde. »Also ich scheine Ihnen doch bekannt zu sein.«

Mit aller Macht wurde die Grünäugige wieder Herrin über sich selbst.

»Herr, was habe ich mit Ihnen zu schaffen?!« stieß sie schroff hervor.

»Gestatten Sie mir nur noch einige Fragen.«

»Mit welchem Rechte haben Sie hier Fragen an mich zu stellen?«

»O, es ist nur von allgemeinem Interesse – wir möchten doch gern erfahren, wie und wo und wann Ihr Herr Gemahl eigentlich seinen Tod gefunden hat.«

Wirklich, das hatte man ganz vergessen. Einige setzten sich schon wieder, zuerst die phlegmatische Französin.

Mrs. Harriet, wie wir sie zum Unterschied von der anderen Mrs. Bowell, die also ihre Stiefschwiegermutter war, nennen wollen, war auch bereit dazu. Doch es sollte zu keiner langen Erzählung kommen. Ein Wort gab schnell das andere.

»Vier Jahre waren wir in Afrika gewesen. Es ist ein Jahr her, als wir von dort nach Indien gingen, wir überstiegen den Himalaja, um ins Hochland von Tibet vorzudringen. Eines Nachts wurde unsere kleine Karawane von einer Bande Tibetaner überfallen und auseinandergesprengt. Auch ich suchte mein Heil in der Flucht, in der festen Gewißheit, mein Gatte befände sich dicht neben mir. Als ich merkte, daß dem nicht so war, sammelte ich schnell die sonst getreuen und tapferen Sikhs, wir kehrten zurück, wir vertrieben die Räuber – zu spät! Ich fand meinen Mann schon als Leiche. Als der Morgen anbrach, konnte ich ihm nur noch ein Grab schaufeln. Das ist in Kürze die ganze Geschichte. Wünschen Sie nähere Einzelheiten zu hören?«

»An was für einer Wunde ist Ihr Gatte gestorben?«

»An einem Lanzenstich ins Herz.«

»Die Tibetaner haben ja gar keine Lanzen!«

»Herr, wollen Sie das besser wissen als ich, die ich in Tibet gewesen bin?«

»I keine Spur, in ganz Tibet ist keine Lanze zu finden und wenn ...«

»Es kann auch ein Messerstich gewesen sein.«

»Oder auch ein Axthieb übern Kopf, nicht wahr?«

Wieder wurden die grünen Augen mit einem Male ganz groß.

»Mr. Charles Bowell ist ja überhaupt gar nicht in Tibet gewesen.«

»Wenn ich Ihnen ...«

»Was brauchten Sie überhaupt zu schaufeln?« fuhr der unerbittliche Nobody fort, der jetzt seiner Sache sicher war. »In der Libyschen Wüste gibt's nichts zu schaufeln, da kann man im lockeren Sande ein Grab gleich mit den Händen machen. Jaja, nicht in Tibet, sondern in der Libyschen Wüste, im Tale der Verwirrung, zwischen Edfu und den Ruinen von Berenice hat Ihr Herr Gemahl sein Grab gefunden.«

Jetzt war die Dame selbst zu einem Gespenst geworden. Ihr Mund hatte sich ganz verzerrt.

»Was – was ...«

»Alles haben Sie bei dem Ermordeten gefunden und ihm abgenommen, seine Papiere, diesen Ring hier und was er sonst bei sich trug, nur eins ist Ihnen entgangen, gerade das, worauf es Ihnen hauptsächlich ankam – nur diese hölzerne Büchse hier haben Sie im Sande nicht finden können.«

Mit einer schnellen Bewegung hatte Nobody das hölzerne Pennal, welches jene Skizze barg, aus der Brusttasche gezogen.

Ein gellender Schrei, und das Weib wandte sich zur Flucht, es wäre in seiner Sinnlosigkeit die ziemlich hohe Treppe hinabgestürzt, wäre es nicht von gewandten Armen aufgefangen worden.

Mit gleichen Füßen war Nobody über den Tisch, der ihn von ihr trennte, gesprungen, er war schneller wie sie die Stufen hinab und fing sie unten auf.

Nur leicht hatte er dabei ihre Handgelenke gefaßt, sie riß sich noch einmal los, ein Dolch funkelte in ihrer Hand, der blaue Stahl berührte schon Nobodys Brust, da klirrte er auf die Steinfliesen nieder, noch rechtzeitig hatte Nobody ihn ihr aus der Hand gerungen, und dann ein zweiter Griff, ihre Hände lagen auf dem Rücken, es knackte, sie waren mit blanken Handschellen zusammengekettet.

»Im Namen des Gesetzes der Vereinigten Staaten, ich verhafte Sie wegen Mordes!«


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