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2. Die Mysterien des Nordpols.

Ganz New-York sprach vom neuesten Tagesereignis – von der ›gepfändeten Nordpolexpedition‹.

Die Nordpolexpeditionen schienen Mode werden zu wollen. So etwa, wie ein neuer Sport eingeführt wird, wie zum Beispiel das Schneeschuhlaufen und das Schlittenrennen, wovon vor zwanzig Jahren in Deutschland noch niemand etwas gewußt hat, nur daß zum Nordpolsport noch andere Geldmittel gehören.

Wer nun damals zuerst die Behauptung aufgestellt hat, die Nordpolexpeditionen würden noch eine noble Passion werden, der hat auch ganz recht behalten. Heutzutage findet man unter den Nordpolfahrern Leute, denen dieser Beruf eigentlich ganz fern liegen sollte, so fern, wie einem Eskimo die Ananaskultur, ist doch zum Beispiel auch ein italienischer Fürst unter die Nordpolentdecker gegangen – nicht der Fürst von Monaco ist hier gemeint, der es allerdings auch einmal auf den Nordpol abgesehen hatte, aber es war so eklig kalt dort oben, und da ist er bald wieder umgekehrt – sondern der Herzog der Abruzzen.

In Amerika, im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten, war die Veranlassung zu dieser jetzt vielbesprochenen Nordpolexpedition folgende gewesen:

Mr. Odysseus Ganymed Olyfax, Mitglied des Athletic-Clubs, in den keiner aufgenommen wird, der nicht mindestens drei Millionen besitzt, ein Sportsman vom Scheitel bis zur Sohle, welcher allein für diesen Scheitel jährlich rund für tausend Dollar Pomade verausgabte – von den Sohlen ganz zu schweigen – dieser hatte dem exzentrischen Töchterchen eines Multimillionärs den Hof gemacht. Er warb um ihre Hand.

»Jawohl, gewiß, warum nicht,« sagte das exzentrische Töchterchen, »aber ich verlange von meinem zukünftigen Gatten, daß er den Nordpol entdeckt hat.«

»Nu allemal, wenn's weiter nischt ist,« entgegnete Mr. Odysseus Ganymed Olyfax, machte eine Verbeugung und verließ das Zimmer, um den Nordpol zu entdecken.

Es ging fix, wie alles in Amerika. Ein Schiff gekauft, die ganze Ausrüstung gekauft, Schlitten gekauft, Eskimohunde gekauft, Matrosen gekauft, einen schon als Nordpolfahrer erprobten Kapitän gekauft – so, nun brauchte bloß noch der Nordpol zu kommen.

Aber der Nordpol kam nicht. Statt seiner kam der Gerichtsvollzieher und klatschte überall seine Siegel drauf. Böse Zungen behaupteten, daß sogar die Eskimohunde hintendrauf ein Siegel bekommen hätten.

Mr. Odysseus Ganymed Olyfax war nämlich in der Nacht vor dem Tage, an welchem die Anker gelichtet werden sollten, ein ruinierter Mann geworden, was in Amerika manchmal auch recht fix geht, und seine Gläubiger hatten sich vorgesehen.

Daß eine ganze Nordpolexpedition gepfändet wird, ist heute nicht einmal mehr originell. Dem Herzog der Abruzzen ist in einem norwegischen Hafen genau dasselbe passiert. Weil er die Forderung einer englischen Versicherungsgesellschaft zu hoch fand und nicht bezahlen wollte, wurde gerichtlich seine ganze Expedition bis zum letzten Eskimohundeschwanz mit Beschlag belegt, bis er bezahlt hatte.

Damals aber war die Pfändung einer ganzen Nordpolexpedition noch etwas Neues. Die Sache wurde viel belacht, denn wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, und diesmal hatte der Verspottete auch noch extra den Schaden dazu; denn mit der Braut war es nun natürlich ebenfalls vorbei, die fühlte sich doch selbst unsterblich blamiert, und Mr. Odysseus Ganymed Olyfax saß arg in der Klemme.

Da geschah wieder etwas, was ganz New-York beschäftigen sollte.

Am Morgen war der ›Polarstern‹ mit Beschlag belegt worden, am Mittag erschien ein fremder Herr, sprach mit dem Kapitän, ließ sich die Listen vorlegen, kroch durch alle Räume, und am Nachmittage schrieb er einen Scheck über viermalhunderttausend Dollar aus, womit die ganze Nordpolexpedition mit Ausschluß des Nordpols in seinen Besitz überging.

Das machte Aufsehen. Wer war es? Niemand kannte ihn. Er unterschrieb sich W. T. Wheeler, ein noch junger Mann; ohne Freund, ohne Begleiter, ohne Diener. Sein Scheck war von einem der größten Bankiers anstandslos angenommen und in bares Geld verwandelt worden; aber dieser Bankier war auch der größte Sonderling von New-York, von dem erfuhr man nichts.

Man sollte auch nicht viel Zeit dazu haben. Noch in derselben Nacht fuhr der ›Polarstern‹ mit der einsetzenden Ebbe zum Hafen von New-York hinaus.

Wir begleiten ihn. Der ›Polarstern‹ war ein Vollschiff, das heißt ein Dreimaster mit voller Takelage, mit einer Hilfsmaschine ausgerüstet, für drei Jahre mit Proviant versehen, durch Bau, Kapitän und Mannschaft zu solch einer Polarfahrt und einer zweimaligen Ueberwinterung im Eise durchaus befähigt. Mehr brauchen wir vorläufig nicht zu wissen.

Mit günstigem Winde ging es nordwärts. Die Schraube ließ man nur einmal probeweise arbeiten, alles funktionierte tadellos. Die Nacht des neunten Tages, auf der Höhe von Neufundland, brachte einen Sturm. Um die Wirksamkeit der Schraube auch in einem solchen und bei aufgewühlter See zu prüfen, wurde die Maschine in Gang gesetzt.

Die Sachverständigen äußerten ihre Zufriedenheit. Da plötzlich begann die Maschine zu würgen, immer mehr, sie wollte sich von der Schraubenwelle befreien, und wäre sie nicht schnell abgestellt worden, so wäre etwas gebrochen.

Das Hindernis mußte die Schraube selbst sein. Zu sehen war in der finsteren Nacht nichts, man mußte bis zum Morgen warten, konnte ja unterdessen nach wie vor segeln. Aber auch das Segeln war außerordentlich beschwerlich, man kam nicht vorwärts, der ›Polarstern‹ schleppte etwas hinter sich, ohne Zweifel.

Als die Morgendämmerung anbrach, sah man in einiger Entfernung hinter sich ein Wrack, jedenfalls ein Schoner, und da die Schraube bei dem hohen Seegang immer aus dem Wasser schlug, erkannte man, daß sich die Schraubenflügel total in ein Drahttau verwickelt hatten, welches das Wrack hinter sich hergeschleppt.

Die Schraube von den zahllosen Drahtumschlingungen von Bord aus zu befreien, war ganz unmöglich, auch von einem Boot aus, vorausgesetzt, daß man ein solches bei so hoher See überhaupt hätte ins Wasser lassen können. Es wäre sofort an den Schiffsplanken zersplittert. Wenn der Segler nicht ein für allemal auf die Hilfe der Schraube verzichten wollte, so mußte er einen Hafen anlaufen. In das Trockendock zu gehen, war wohl nicht nötig, jedenfalls konnte auch ein Taucher im ruhigen Hafenwasser das Drahttau durchsägen, freilich Stück für Stück, jede Umwindung einzeln.

Soeben hatte der Steuermann nach der aufgehenden Sonne die geographische Lage berechnet, er meldete das Resultat.

»Dann befinden wir uns nur 80 Seemeilen östlich von St. Johns entfernt, dem größten Hafen von Neufundland,« erklärte Kapitän Colman, ohne erst die Karte befragt zu haben.

So ohne weiteres konnte man aber nicht den Kurs nach dort nehmen, wenn auch der Wind günstig war. Dem Schiffe drohte sogar eine Gefahr.

Grimmig blickten die Matrosen nach dem Wrack, mit dem sie durch ein Drahtseil verbunden waren. Wie nett wäre das gewesen, das Wrack ins Schlepptau zu nehmen, wenn es auch die Fahrt hinderte, man wollte es schon nach dem Hafen bringen; vor der Erfindung der Dampfmaschine sind die Schiffe doch auch nicht anders geschleppt worden, und wenn der Schoner auch nur mit Ballast beladen war, schon als Brennholz steckte ein ansehnlicher Wert darin, und das verlassene Schiff war Freigut, der Erlös wurde geteilt – nur schade, daß gar keine Aussicht vorhanden war, das Wrack noch nach dem Hafen zu bringen, das hielt keine zehn Stunden mehr aus, keine drei mehr, keine einzige, das pfiff jetzt gerade aus dem letzten Loche. Bei längerem Hinsehen konnte man bemerken, wie es sank.

Und dann? Dann war der ›Polarstern‹ immer noch mit dem gesunkenen Wrack durch das Drahtseil verbunden! In den Grund ziehen konnte es den großen Dreimaster freilich nicht; aber hatte es eine schwere Ladung an Bord, etwa Kohlen, so brach das ziehende Seil die Schraube ganz sicher ab, die Stopfbüchse wurde undicht, der ›Polarstern‹ wurde leck, kam selbst in die Gefahr des Sinkens.

Mr. Wheeler stand hinten am Heck. Die Mannschaft hatte ihn während der neun Tage so wenig kennen gelernt, wie das New-Yorker Publikum von ihm erfahren hatte. Der junge Mann war ein stiller, verschlossener Charakter. Gerade deswegen aber hatte man vor ihm Respekt bekommen, obgleich er sich noch durch nichts hervorgetan.

Wie wäre es wohl an Bord zugegangen, wenn Mr. Odysseus Ganymed Olyfax die Nordlandfahrt angetreten hätte! Dieser Fatzke hätte sich doch natürlich als Kommandant aufgespielt, wäre in einem phantastischen Kostüm herumspaziert, oder aber in Seestiefeln mit Südwester, so recht verwogen, und hätte ins Matrosenlogis und in alle Töpfe geguckt – freilich wohl nur so lange, wie die Sonne schien.

Dieser hier trug seinen bequemen Anzug und kümmerte sich um gar nichts. Wozu auch? Dazu hatte er doch seinen Kapitän. Er ging an Deck spazieren und speiste allein in der kleinen Kabine, die er sich hatte einrichten lassen. Hatte er mit dem Kapitän etwas zu besprechen und er traf ihn nicht an Deck oder in der Kajüte, so ließ er ihn in seine Kabine zitieren. Noch an keinen Matrosen hatte er auch nur ein Wort gerichtet. Und das war für die Seeleute kein Stolz, sondern das imponierte ihnen vielmehr. Der wußte, was sich an Bord schickt. Ich bin ich, ich bin der Eigentümer dieses Schiffes. Ihr seid mein Kapitän, und du bist der Matrose, der nicht mir, sondern dem Kapitän zu gehorchen hat – basta!

Jetzt stand er also am Heck, ganz teilnahmlos, als ginge ihn das alles gar nichts an, mit auf der Brust verschränkten Armen beobachtete er eine von dem Wrack losgerissene Schiffsplanke, wie sie von den Wellen hin und her geschleudert wurde.

»Was macht Ihr da?« fragte er plötzlich, sich seitwärts wendend.

Der Kapitän und der Schiffszimmermann waren damit beschäftigt, an das Ende einer langen Stange eine Eisensäge zu befestigen, sie hatten schon zahllose Umwindungen mit Schnüren und Draht gemacht.

»Wir müssen das Drahttau zersägen.«

»Von hier oben aus? Mit der Stange? Wie lange soll denn das dauern?«

»Ja, aber es gibt doch kein anderes Mittel.«

Wheeler hatte sich die umflochtene Schraube schon vorhin genau betrachtet, er beugte sich noch einmal über die Bordwand. Dort unten sah es fürchterlich aus! Wie das zischte und kochte, und nun die große Schraube mit den Flügeln, wie eine eingesponnene Spinne anzusehen, wie sie immer in dem Gischt verschwand und dann wieder drei Meter hoch über demselben schwebte, um dann mit neuer Wucht hineinzuhauen – ein schauerliches Bild!

Mr. Wheeler wandte sich an die Matrosen, welche, da sie nichts zu tun hatten, sich alle am Heck versammelt hatten, falls sie gebraucht würden.

»Wer von euch will dort hinuntergehen, an einem Tau befestigt, um das Drahtseil unterhalb der Schraube durchzusägen?«

Keine Antwort. Die meisten verstanden gar nicht, was der wollte, sie hatten nur ein dummes Lächeln, und die ihn verstanden, blickten auf das sturmdurchwühlte Meer hinaus und konnten ihn ob seiner Unerfahrenheit nur bemitleiden.

»Na, wer wagt es, Rittersmann oder Knapp?«

Die Gesichter und das Lächeln wurden nur noch dümmer oder mitleidiger.

»Nee, Mr. Wheeler, nee,« meinte der Kapitän gutmütig, »so, wie Sie sich das denken, geht das nicht. Das muß mit der Stange von hier oben aus durchgesägt werden.«

»Geht nicht? Macht die Säge wieder los oder bringt eine andere her!«

Ohne weiter ein Wort zu verlieren, begab sich der junge Mann nach dem Kajüteneingange und verschwand in der Luke.

Man ahnte noch immer nicht, was er beabsichtigte, diese erfahrenen Seeleute kamen eben gar nicht auf solch einen verrückten Gedanken, sie fuhren fort, die lange Säge vorzubereiten.

Da stieß ein Matrose einen Laut der Ueberraschung aus, die anderen folgten seinen Blicken, und auch sie glaubten ihren Augen nicht recht trauen zu dürfen.

Er kam wieder, nur noch mit einer Badehose bekleidet, und in diesem ersten Augenblicke staunten sie alle vielleicht am allermeisten die Muskulatur an, die sie bei dem so schlank aussehenden Manne nimmermehr vermutet hatten.

»Ist die Säge denn noch nicht wieder los?« fragte Wheeler, den wir aber nun lieber Nobody nennen wollen.

Man versuchte, ihm Widerstand zu leisten, ihm die Unmöglichkeit seines Vorhabens klarzumachen, er sei doch auch nur ein Mensch, er wisse ja gar nicht, welcher Gefahr er sich aussetze – doch als der Schiffseigentümer als Befehlshaber auftrat, mußte man, da er ja nicht wahnsinnig war und auch keines anderen Menschen Leben aufs Spiel setzte, ihm gehorchen.

Eine andere Eisensäge ward gebracht, die Nobody auch für besser hielt als jene, er ließ sich ein Tau unter die Arme binden und wurde hinabgelassen.

Das Weitere kann man nicht beschreiben. Man kann wohl schildern, wie der nackte Mann rittlings auf der bockenden Schraubenwelle saß, mit dieser aller Sekunden in dem Gischt verschwindend, wie er dann über die Schraubenflügel hinwegkletterte und sich noch tiefer hinabließ, sich an das Drahttau klammernd, welches er zersägte; aber das sagt nicht, warum denen oben dabei die Haare zu Berge standen.

Nach nur zehn Minuten war es geschehen, der nackte Mann war im Kampfe gegen die Wut der Wogen, gegen die sich bäumende Schraube und gegen das halsstarrige Drahtseil Sieger geblieben, er wurde wieder emporgezogen, er stand wieder an Deck, und die wortkargen Seeleute waren noch stiller geworden, sie sahen ihn nur an.

Sofort hatte Nobody seine Augen auf das nun freigewordene Wrack gerichtet. Das Seil war am Steven befestigt, dadurch mußte das Fahrzeug diesen auch dem ›Polarstern‹ zudrehen, so konnte man den Namen am Heck nicht sehen, und wer weiß, ob es sich überhaupt so drehen würde.

»Ihr haltet es nicht für möglich, jetzt ein Boot auszusetzen?« wandte sich Nobody an den Kapitän.

Dieser verneinte. Natürlich kann man bei jedem Seegange, wenn das Meer nicht gerade kurz vorher von einem Orkan aufgewühlt worden ist, ein Boot ins Wasser bekommen, wenn nicht das erste und zweite, dann das dritte, sonst könnten sich Schiffbrüchige auf hoher See ja überhaupt niemals retten; aber einige zerquetschte Gliedmaßen gibt es dabei immer, und was sollte man denn bei dem Wrack da drüben? Denn an einer Uebernahme der Ladung war nun wirklich gar nicht zu denken.

»Und doch muß ich hinüber, ich muß wissen, was für ein Schoner das ist, der mir so beharrlich seinen Namen verschweigen will,« murmelte Nobody gedankenvoll.

»Kapitän,« fuhr er dann fort, »ist hier eine Strömung?«

»Keine Strömung, gerade jetzt hat auch die Flut den höchsten Stand erreicht, jetzt ist Stauwasser.«

»Und das hält eine Stunde lang an, nicht wahr?«

Da plötzlich ging dem alten Kapitän die Ahnung auf, was jener beabsichtigte.

»Um Gott, Mr. Wheeler, begehen Sie keinen Frevel,« bat er mit erhobenen Händen.

»Mein lieber Kapitän,« entgegnete Nobody ruhig, »Sie sagten vorhin, ich sei doch auch nur ein Mensch – nein, das bin ich gar nicht, ich war es einmal, vor sieben Jahren bin ich einmal ertrunken, und da hat mich das Meer wiederum geboren, das Meer ist also meine Mutter und ...«

... und schon stand er auf der Bordwand und war mit einem mächtigen, ganz flachen Kopfsprung in einer sich hochauftürmenden Woge verschwunden, und als er wieder auftauchte, befand er sich bereits weit ab von dem hüpfenden Schiffe.

Wieder war es ein Schauspiel, das sich gar nicht beschreiben läßt, der weiße Leib des Hand über Hand greifenden Schwimmers, wie er über die weißen Berge hinwegglitt und in die schwarzen Wogentäler hinabstürzte – wer hat schon einmal einen Menschen auf der sturmgepeitschten See schwimmen sehen? Es gibt Menschen, welche es fertig bringen, es gibt besondere Lehrer dafür; denn die hauptsächliche Kunst besteht darin, unter den Wogen, welche, wenn sie sich über stürzen, den Schwimmer mit ihrer Wasserlast einfach erschlagen würden, hinwegzutauchen, sich in sie rechtzeitig hineinzubohren, und dann ist dieser Kampf des schwachen Menschleins mit dem allgewaltigen Element ein grandioses Schauspiel.

Schnell kam er vorwärts. Doch die Entfernung auf hoher See täuscht sehr, er brauchte eine halbe Stunde, und dann mußte er auf der Hut sein, daß er nicht noch zu guter Letzt an den hölzernen Planken zerschmettert wurde, denn jetzt verwandelte sich der Wogengang in die noch gefährlichere Brandung. Er wurde denn auch gegen die Planken geschleudert, wußte aber die furchtbare Wucht mit den vorgestreckten Füßen abzuschwächen, und dann hatte er das am Steven herabhängende Drahtseil gepackt, er schwang sich empor und stand an Deck.

Zwei Maststümpfe, sonst alles glattgewaschen, auch die Bordwand vielfach zerschmettert. Es ist die Pflicht des Kapitäns oder seines Stellvertreters, das hoffnungslose Wrack, das er verläßt, möglichst schnell zum Sinken zu bringen. Tut er es nicht, und es wird ihm nachgewiesen, wird er streng bestraft. Denn was für Schaden so ein treibendes Wrack anrichten kann, davon hatte Nobody an seinem Schiffe nur eine kleine Probe bekommen.

Das Oeffnen einer Luke, in die sich das immer das Deck überspülende Wasser ergießt, genügt bei hohem Seegange vollkommen. In einer Viertelstunde ist jedes Schiff weggesackt. Hier war die Pflicht erfüllt worden. Die große Luke war offen. Aber ein mächtiger Ballen klemmte darin, und man erkannte sofort, daß er nur von unten her hineingezwängt sein konnte. Wer wußte, wie es möglich war, daß der Ballen Segeltuch von unten nach oben geschleudert worden? Die Elemente bringen noch ganz andere Kunststückchen fertig. Vielleicht hatte das Wrack schon einmal kieloberst getrieben, hatte sich aber wieder aufgerichtet.

Um das Heck war der Schwimmer nicht gekommen, noch also hatte er keinen Namen gesehen. Er brauchte nicht nach hinten zu gehen. Dort war ein eiserner Böller, Nobody sah eingegrabene Buchstaben ...

»Recovery, New-York!«

Sie war es, die Brigg des amerikanischen Nordpolfahrers, des Kapitäns William Temple! Hier mußte er ihr begegnen als Wrack!

Doch Nobody hatte in letzter Zeit schon so viel erlebt, was er früher nicht für möglich gehalten, daß er sich über nichts mehr wunderte.

Es war nicht etwa eine Ahnung gewesen, die ihn nach dem Wrack getrieben hatte. Durchaus nicht! Er hatte es für seine Pflicht gehalten, zu konstatieren, was für ein verlassenes Schiff das sei. Denn wer wußte, ob sich die Mannschaft hatte retten können? Und wie dankbar würde ihm die Reederei und manch anderer sein, wenn man nicht mehr auf das überfällig gewordene Schiff zu warten brauchte, wenn man nun dessen Schicksal bestimmt wußte, und sei dies auch noch so traurig – und Nobody fühlte die Pflicht deshalb in sich entstehen, weil er befähigt war, das Wrack auch ohne Boot zu erreichen, und je mehr ein Mensch kann, desto mehr Verpflichtungen hat er – und dann vielleicht war es auch etwas von göttlichem Trotz bei ihm, den Namen des Wracks dennoch zu erfahren, gerade weil es ihm so beharrlich den Rücken zudrehte!

In die Kajüte konnte er gar nicht mehr dringen; er trat sofort den Rückweg an; nach einer weiteren halben Stunde befand er sich wieder an Bord des ›Polarstern‹, wo er mehr als Gott denn als Uebermensch mit Ehrfurcht angestaunt wurde.

»Die ›Recovery‹ aus New-York, mit der Kapitän William Temple an der Ostküste nach Norden vordringen wollte.«

»Was, die ›Recovery‹?!« rief Kapitän Colman mit einer Bewegung, als wolle er die Hände über dem Kopfe zusammenschlagen. »Ich staune nämlich nur, die ›Recovery‹ überhaupt wiederzusehen, wenn auch nur als Wrack! Habe nie geglaubt, daß es aus dem Treibeise wieder herauskommen würde! Denn noch kein Schiff, welches einen Winter an der hohen Ostküste Grönlands zugebracht hat, etwa über den 75. Breitengrad hinaus, hat den Rückweg wiedergefunden. Die Zeiten sind schon vorbei, da man solch wahnsinnige Versuche machte. Man hat die Unmöglichkeit eingesehen.«

Nobody warf dem Sprecher einen prüfenden Blick zu, ohne etwas dazu zu sagen. Wenn der gute Mann wüßte, daß er selbst, Nobody, diesen wahnsinnigen Versuch unternehmen wollte – sogar bis zum 82. Breitengrade vorzudringen!

Denn Mr. Wheeler hatte mit dem schon erprobten Nordpolfahrer nur die Reiseroute an Grönlands Westküste entlang besprochen. Weshalb Nobody seinen eigentlichen Plan verheimlichte, werden wir bald erfahren, wenn der Leser es noch nicht ahnt.

Erst in der Nähe von Grönlands Südspitze wollte Nobody seinen Plan plötzlich ändern, er wollte also auf der Ostseite nach Norden vordringen. Daß er auf einigen Widerstand stoßen würde, damit hatte er sowieso gerechnet; jetzt aber mußte er erkennen, wie groß dieser Widerstand des Kapitäns und der ganzen Mannschaft sein würde.

Nun, da würde es sich einmal zeigen, wie machtvoll Nobodys persönlicher Einfluß auf den Menschen sein konnte. Er freute sich sogar schon auf diesen Kampf.

Jetzt entzog er sich den Vermutungen, ob sich die Besatzung der ›Recovery‹ gerettet habe oder nicht, indem er sich in seine Kabine begab und nicht so bald wieder zum Vorschein kam.

Gegen Mittag kam die Küste von Neufundland in Sicht, dann tauchte St. Johns auf, ein ganz bedeutender Hafen, über den auch das transatlantische Kabel geht.

Immer belebter wurde das Meer, besonders von Fischerbooten. Die Fischbänke von Neufundland sind ja die reichsten der Welt, die Lotsenflagge wurde gehißt, bald hatte ein Kutter den kundigen Führer zur Einfahrt an Bord gebracht, der Kapitän gab an ihn das Kommando ab.

»Die Besatzung der ›Recovery‹ ist gestern schiffbrüchig hier angekommen,« war die erste Neuigkeit, welche der Mann mitzuteilen hatte.

Er erzählte ausführlicher. Vor zwei Tagen hatte hier ein strichweise gehender Orkan gewütet. Ihm fiel auch die ›Recovery‹ zum Opfer, nachdem sie allen Schrecken der Polarregion getrotzt hatte! Glücklicherweise konnten alle Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungsreise gerettet werden, als ein englischer Dampfer die Sinkenden aufnahm.

»Wie weit ist die ›Recovery‹ nach Norden vorgedrungen?« fragte Nobody.

»Bis zum 72. Breitengrade. Dort fror sie im September ein und blieb bis Ende Mai liegen. Es soll mordsmäßig zugegangen sein. Trotzdem haben sie nur für einen einzigen dort oben ein Grab ins Eis gehackt, für einen Matrosen, der am Skorbut starb.«

»Und der Kapitän?«

»William Temple? Der war wohlauf, als ich ihn sah. Nur die Ohren hat er sich erfroren.«

Was würde nun Mr. Scott gesagt haben, wenn er so seiner Lügen überführt wurde?

Edward Scott!! Wir werden bald sehen, was sich Nobody unterdessen über diesen rätselhaften Menschen für ein Urteil gebildet hatte, muß doch auch noch erklärt werden, wie Nobody überhaupt darauf kam, auf die fingierte Flaschenpost hin, deren Lüge er erkannt hatte, die Reise nach dem Norden wirklich anzutreten, mit der Absicht, jene angegebene Stelle an der Ostküste Grönlands wirklich aufzusuchen.

»Von denen geht keiner wieder nach der Ostküste von Grönland, nicht für alles Geld der Welt,« fuhr der Lotse fort, und er erzählte weiter, was die alles durchgemacht hatten.

Nobody sorgte dafür, daß es keiner der Matrosen, auch nicht der Steuermann, zu hören bekam. Den Kapitän konnte er nicht entfernen. Lieb war es ihm, daß die ganze Mannschaft der ›Recovery‹ bereits nach New-York weitergereist war, so kamen seine Leute nicht mit jener in Berührung, so gern er selbst auch mit Kapitän Temple gesprochen hätte.

Angesichts der Hafenmauern flaute der Wind immer mehr ab. Der ›Polarstern‹, der schon seinen Namen signalisiert hatte, mußte um einen Schleppdampfer bitten. Ein solcher kam aus dem Hafen. Ehe er sich vorspannte, legte er längsseit, da waren zwischen den Kapitänen erst Förmlichkeiten zu erledigen, hauptsächlich auch wegen des Bezahlens.

»Ist hier ein Mister W. T. Wheeler an Bord?« fragte der Kapitän des Schleppers.

»Bin ich,« sagte Nobody.

»Gerade als ich abfahren wollte, wurde von der Post aus gefragt, ob der New-Yorker ›Polarstern‹ schon in den Hafen gelaufen sei oder auf Reede liege. Ein Telegramm ist für Sie angekommen. Ich habe es gleich mitgebracht. Hier!«

Der Kapitän hielt ihm die Depesche in der ausgestreckten Hand hin, doch Nobody nahm sie nicht. Freilich war dieses Detektivs schnelle Auffassungsgabe dazu nötig, um sofort zu wissen, daß er ja gar keine Depesche hierher erhalten konnte.

»Das Telegramm kann nicht für mich sein.«

»Nicht? Na, ist denn das nicht der ›Polarstern‹ von New-York?«

»Das ist er!«

»Und sind Sie denn nicht Mister W. T. Wheeler?«

»Der bin ich.«

»Na, hier – ganz ausführlich – W. T. Wheeler, an Bord New-Yorker ›Polarstern‹, St. Johns, Neufundland. Der Absender wußte doch, daß der ›Polarstern‹ hier anläuft.«

Nobody bemeisterte alle Empfindungen, die in ihm aufsteigen wollten. Er nahm das Telegramm, öffnete es und las:

»78, 16, 47 nördlich; 2, 99, 15 östlich (östlich!) finden Sie freie Durchfahrt. Vertrauen Sie mir! Erklärung folgt noch. Edward Scott.«

Vier Stunden lang arbeiteten zwei Taucher daran, die von dem Drahtseil eingesponnene Schraube wieder zu befreien, und vier Stunden lang saß Nobody in seiner kleinen Kabine, den Kopf in die Hände gestemmt, und stierte auf das vor ihm liegende Telegramm, und er hatte während dieser Reise schon noch länger so dagesessen und vor sich hingegrübelt.

In was für eine ihm bisher unbekannte Welt war er denn nur plötzlich versetzt worden?

Zufall über Zufall, Wunder über Wunder, Rätsel über Rätsel!

Das Telegramm war in St. Louis aufgegeben worden. Wann? Heute früh um drei Uhr. Und heute früh um drei Uhr hatte Nobody noch nicht gewußt, daß die Schiffsschraube sich so in das nachschleppende Tau eines Wracks verwickeln würde. Er hatte noch mit keinem Gedanken daran gedacht, daß er deswegen St. Johns anlaufen würde!

Ganz abgesehen nun davon, daß Scott gar nicht wissen konnte, wie sich hinter Mr. Wheeler, dem Eigentümer des ›Polarstern‹, Nobody versteckte – denn dieser hatte sein neues Pseudonym ganz, ganz geheim gehalten – wie kam dieser rätselhafte Mann dazu, heute früh um drei Uhr dieses Telegramm hier direkt nach St. Johns aufzugeben, um es Nobody an Bord des ganz unerwartet ankommenden ›Polarstern‹ einhändigen zu lassen?!

»Mir bleibt der Verstand stehen,« flüsterte Nobody, während seine Finger in dem lockigen Haar wühlten, und es hatte wie ein Aechzen geklungen.

Ja, er wußte eine Lösung dieses Rätsels. Dann aber ging auch seine ganze bisherige Weltanschauung in die Brüche, und das war es eben, was den eisernen Mann so aus der Fassung brachte. – –

Der ›Polarstern‹ hatte den Hafen wieder verlassen.

»Herr Kapitän, ich möchte Sie sprechen!«

Und Nobody setzte ihm auseinander, wie es seine Absicht sei, nicht an der Westküste, sondern an der Ostküste Grönlands so weit wie möglich nach Norden vorzudringen.

Es kam alles so, wie Nobody vorausgesehen. Kapitän Colman erklärte ganz energisch, er habe die Führung dieses Schiffes für eine Reise an der Westküste übernommen, und wenn dies auch nicht kontraktlich ausgemacht worden, das sei für ihn ganz selbstverständlich, auf Grund mündlicher Besprechungen habe er dies mit Bestimmtheit angenommen, das entscheide – und da der nächste Hafen St. Johns sei, so verlange er, wenn der Schiffsreeder auf seiner Absicht bestehe, daß der ›Polarstern‹ sofort wende und nach St. Johns zurückgehe, der Kapitän wolle sofort sein Kommando abgeben.

Aber es kam auch weiter so, wie Nobody vorausgesehen. Eine Viertelstunde später konnte der unübertreffliche Hexenmeister, der nicht nur mit toten Dingen, sondern sogar mit lebendigen Menschenherzen Taschenspielerei trieb, den sonst so energischen Mann um den Finger wickeln.

Der Kapitän merkte selber, daß dies gar nicht mit rechten Dingen zugegangen sein konnte.

»Teufel, Mister Wheeler, Sie wissen einen aber herumzubringen, Sie sollten ins Parlament!« lachte er ärgerlich, als er den bindenden Handschlag gab.

Und was würden die Matrosen sagen? Die hatten überhaupt gar nichts zu sagen! Der Matrose, besonders der vom Segelschiff, erfährt überhaupt nur durch Zufall das Ziel des Schiffes, er wird im Hafen einfach ›für hohe See‹ oder ›für Küstenfahrt‹ angemustert, speziell in Deutschland auch ›für Ost- und Nordsee‹, so wird's in seinem Buche eingetragen, das ist Usus, und erst nach Beendigung der Reise, wenn der Matrose sein Zeugnis ausgestellt bekommt – Seemannschaft, Gehorsam, Nüchternheit – werden die angelaufenen Häfen eingetragen. Genau dasselbe gilt für Steuerleute und Unteroffiziere.

Die Mannschaft hatte bei der Anmusterung gewußt, daß es eine Nordpolfahrt galt – das allerdings mußte ihnen in diesem Falle gesagt werden – und damit basta! Und im übrigen würde der Hexenmeister bei der Mannschaft ganz genau dasselbe Kunststückchen fertig bringen wie bei dem Kapitän, falls es bei einer ausbrechenden Unzufriedenheit nötig war. –

Das gute Wetter hielt nicht an, es gab viel Sturm, der ›Polarstern‹ mußte gegen den Wind kreuzen.

Es war am elften Tage, nachdem man St. Johns verlassen hatte, der ›Polarstern‹ war schon östlich von Kap Farewell, der Südspitze von Grönland, ohne daß dies dem Steuermann, der ja immer die geographische Lage berechnete, auffiel, da man ja sowieso ständig von Westen nach Osten kreuzen mußte, als das Steuerrad plötzlich so leicht ging und das Schiff dem Ruder nicht mehr recht oder doch zu langsam gehorchte. Die Untersuchung ergab, daß der unter Wasser befindliche Teil der Ruderpinne gebrochen war.

Es war kein neues Schiff mehr. Man hatte alles in tadelloser Beschaffenheit gefunden, aber unter Wasser hatte man nicht blicken können. Eine selbständige Reparatur war ausgeschlossen.

»Gut, daß sich die Schwäche des Steuerruders noch hier bemerkbar gemacht hat,« sagte Nobody. »Welches ist der nächste Hafen, in dem eine Reparatur ausgeführt werden kann?«

»Fiskernäs.«

So war Nobody doch noch gezwungen, erst ein gutes Stück an der Westküste Grönlands hinaufzusegeln, wodurch ihm, die Rückfahrt eingerechnet, mindestens eine Woche verloren ging. Doch war es noch Zeit genug, man befand sich erst im Anfang des Juli.

Während es an der Ostküste keinen einzigen bewohnten Platz gibt, zählt man an der Westküste bis hinauf zum 74. Breitengrade 130 Ansiedlungen, freilich keine mit mehr als fünf Hütten und mit mehr als dreißig Menschen, zusammen wurden zuletzt gezählt rund 6000 Eskimos und 126 Europäer.

Fischfang und Robbenschlag ist ihr einziger Beruf, aber auch so ergiebig, daß an der Küste ein ganz bedeutender Schiffahrtsverkehr stattfindet. Segler und kleine Dampfer tauschen die getrockneten Fische und Seehundfelle ein und bringen sie nach Fiskernäs fast dem einzigen Flecke, der Anspruch auf den Namen Stadt machen kann, zumal, da hier auch Walfischfahrer anlegen und Tran auskochen. Im Winter freilich ist auch hier alles tot.

So sah Nobody ein bewegtes Bild, wie er es an der Küste von Grönland nicht vermutet hätte. Als der ›Polarstern‹ in den Hafen einlief, der sogar ein Trockendock besitzt, wurde er von einem stattlichen Dampfer überholt, der aus New-York kam, um die aufgespeicherte Jagdbeute abzuholen. –

Es war Nacht. Die Reparatur war schon vollendet, aber der ›Polarstern‹ lag noch im Hafen, um erst bei Tagesanbruch die Rückfahrt um Kap Farewell herum anzutreten.

Nobody lag schlafend in der Koje.

Plötzlich erwachte er, da an die Tür seiner kleinen Kabine geklopft wurde.

»Was gibt's?«

»Mister Wheeler, ein Herr ist gekommen, er möchte Sie sprechen,« meldete der wachehabende Matrose.

»Wie heißt er? Hat er seinen Namen genannt?«

»Ich habe hier seine Karte – Edward Scott.«

Als Nobody die in Kugellagern schwebende Petroleumlampe anzündete, wußte er nicht, wie er so plötzlich aus der Koje und in seine Kleider gekommen war.

Und er trat ein, der Mann mit den schwermütigen Augen. Aber die Kühnheit war jetzt aus seinen Zügen verschwunden. Er sah sehr niedergeschlagen aus.

Die Tür war hinter ihm geschlossen worden, an dieser blieb er stehen, den Hut in der Hand, und schweigend sahen sich die beiden eine Zeitlang an, und es war dieser Wiederbegegnung entsprechend.

»Mister Wheeler, was haben Sie von mir gedacht?« begann er endlich mit leiser Stimme.

Mit Macht mußte Nobody gegen seine furchtbare Aufregung ringen. Jetzt endlich sah er die Lösung aller dieser Rätsel kommen.

»Mister Scott, erst erklären Sie mir, wie Sie hierherkommen!«

»Mit einem New-Yorker Dampfer, der vorhin in den Hafen gelaufen ist.«

»Das sagt mir gar nichts! Sie sind nicht zufällig hierher nach Fiskernäs gekommen! Ich glaube nicht an solch einen Zufall! Und wenn Sie ein irdischer Mensch sind, wie können Sie wissen, daß meinem Schiffe unterwegs das Ruder bricht, so daß ich gegen meinen Willen gezwungen bin, nach der Westküste von Grönland zurückzukehren und hier das einsame Fiskernäs aufzusuchen? Mann, geben Sie mir eine natürliche Erklärung, auf daß ich nicht an Wunder glauben muß, die gegen meinen gesunden Menschenverstand gehen!«

»Sie sollen die Erklärung haben. Erst aber muß ich wissen, was Sie von mir denken, für wen Sie mich halten.«

»Gut, und ich werde mich kurz fassen. Bitte, setzen Sie sich.«

»Nicht eher, als bis ich mein Urteil aus Ihrem Munde vernommen habe.«

»Nun denn: Ich halte Sie für den Mitwisser eines verbrecherischen Geheimnisses.«

Diese Worte wirkten wie Blitz und Donnerschlag, so brach der starke Mann unter ihnen zusammen, jetzt mußte er sich setzen, er fiel auf das kleine Sofa nieder.

»Sie halten – mich – also – für – einen – Schurken?« kam es ächzend hervor.

»Nicht doch, nicht doch!!« rief Nobody, plötzlich ganz außer sich. »Um Gottes willen, mißverstehen Sie mich nicht! Mister Scott, selten hat mir eine Person so viel Sympathie eingeflößt wie Sie, Sie sind ein Ehrenmann, Sie sind der bravste, zuverlässigste Mensch, den es gibt, ich weiß es, ich fühle es, und darin kann ich durch nichts irregemacht werden, was auch passiert sein mag. Sie wollen meine Ansicht hören? Mit jener präparierten Leiche ist irgend ein verbrecherisches Geheimnis verbunden. Das ist doch ganz klar. Und Sie sind Mitwisser dieses Geheimnisses, aber ein unfreiwilliger. Auf Sie wird von gewisser Seite aus ein Druck ausgeübt. Sie wollen sich davon befreien, zugleich Ihr Gewissen entlasten. Sie selbst können gegen den Schuldigen nicht vorgehen. Ihnen sind irgendwie die Hände gebunden. Da haben Sie einen anderen Mann gesucht, der es für Sie tut, und Sie fanden zufällig mich, einen professionellen Detektiven, wenn Sie es nicht von vornherein auf mich abgesehen hatten, obgleich mir nicht recht begreiflich erscheint, woher Sie hätten wissen können, daß ich mich an Bord der ›Persepolis‹ befand. Kurz, ich war der Mann, den Sie brauchten. Nun wollten Sie mich langsam, nach und nach, auf die Spur bringen, es gilt wahrscheinlich, die Menschheit von einem Verbrecher zu befreien. Sie selbst haben eben irgendeinen Grund, sich dabei ganz passiv zu verhalten. Ist es nicht so, Mister Scott?«

Jener hatte sich wieder erhoben, er streckte Nobody die Hand entgegen.

»Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen!« sagte er mit überströmender Herzlichkeit, und jetzt war auch einmal sein Auge von Freude verklärt.

Nobody hatte die Hand gedrückt.

»Also meine Vermutung ist richtig?«

»Nein, Sie irren vollständig.«

Diese Verneinung hatte Nobody nun freilich nicht erwartet. Er war ganz verdutzt. Dann blieb nur noch eine Möglichkeit, an die er aber doch so gern nicht geglaubt hätte.

Trotz der Aufregung, in der er sich befand, merkte er, daß die Petroleumlampe zu verlöschen drohte.

»Einen Augenblick, ich muß erst Petroleum nachfüllen lassen.«

»Bitte, löschen Sie die Lampe lieber ganz aus,« sagte Scott leise, und Nobody tat es, ohne sich über dieses Verlangen zu wundern. In der Finsternis sind Geständnisse leichter zu machen.

Schweigen herrschte in dem kleinen, stockfinsteren Raume. Nobody wußte, daß sich jener wieder gesetzt hatte, auch er nahm Platz. Aber vergebens wartete er auf eine Eröffnung.

»Nun?« brach er endlich das Schweigen. »Mister Scott, offenbaren Sie mir, was Sie wollen – in keinem Busen ist es besser verwahrt als in dem meinen.«

Immer noch eine lange Pause, bis es schließlich leise erklang.

»Sollten Sie es – denn nicht schon – ahnen?«

»Vielleicht. Sind Sie etwa ... krankhaft ... somnambul veranlagt?«

Die Antwort ließ lange, lange auf sich warten, und dann zitterte durch die Finsternis ein gehauchtes ›Ja‹.

Wir wollen Nobodys Ansicht über den Somnambulismus mit wenigen Worten erledigen.

Nobody glaubte nicht an Gespenster, der Bearbeiter seines Tagebuches tut es auch nicht. Somnambulismus ist etwas anderes, hierzu gehört auch die Mondsüchtigkeit, und wer nicht an Mondsüchtige glaubt, wer darüber spottet, dem sei trotz alledem gewünscht, daß ihm solch ein Fall nicht einmal in seiner eigenen Familie passiert.

In seinem Tagebuche sagt Nobody wörtlich:

»Das Urteil eines Kant, eines Schopenhauer und eines Karl du Prel über den Somnambulismus ist mir maßgebender als das Urteil der anderen in Europa lebenden hundert Millionen Menschen, welche überhaupt wissen, was Somnambulismus ist, und welche dieses Geheimnis des menschlichen Seelenlebens nicht anerkennen und es am Biertisch mit einigen billigen Witzen abgetan zu haben glauben. Derselbe Immanuel Kant, welcher, ohne jemals aus den Mauern Königsbergs herausgekommen zu sein, die Ursache des Lissaboner Erdbebens ergründete und eine Theorie der Passatwinde aufstellte, nach der sich in den südlichen Breiten noch heute jeder Segelschiffskapitän richtet – derselbe Immanuel Kant hat auch die somnambulischen Eigenschaften, die fernsehende und prophetische Gabe des Schweden Swedenborg, seines berühmten Zeitgenossen, als Tatsache anerkannt, und das ist für mich ausschlaggebend!«

Nobody hatte aber auch selbst wiederholt somnambule Personen studiert und war von selbst zu der Ueberzeugung gekommen, daß es einen Zustand des Menschen gibt, da er mit den geistigen Augen in die Ferne schauen und künftige Dinge und Geschehnisse voraussehen kann.

Freilich ist das nicht so einfach, da müssen gar viele Einschränkungen gemacht werden und der Experimentator kann gar nicht vorsichtig genug sein.

Den stärksten Beweis, daß es ein Hellsehen gibt, hatte Nobody von einem halbwüchsigen Kinde erhalten. Es war mondsüchtig gewesen; Nobody nahm es in seine Behandlung, die Kur gelang, aber jetzt fiel das hysterisch veranlagte Kind oft in somnambulen Schlaf, in dem es ferne und zukünftige Dinge sah.

Für manch anderen Menschen wäre das Resultat der Prüfung ein negatives gewesen, er hätte das Kind vielleicht des Betruges bezichtigt, im besten Falle des unbewußten.

Denn bei hundert Fällen waren fünfzig Aussagen so undeutlich, daß ihre Richtigkeit gar nicht kontrolliert werden konnte. Vierzig Prozent ergaben sich als direkt falsche Angaben. Nur zehn Prozent stimmten, waren aber auch ganz belanglos, nichts von Wichtigkeit, betrafen nur Sachen und Geschehnisse aus dem Alltagsleben des Kindes.

Trotzdem genügten diese zehn Prozent, um Nobody zu überzeugen, daß dieses Kind tatsächlich hellsehende Eigenschaften besaß.

Daß aber nun dieser junge Mann hier im voraus gewußt haben konnte, wie der ›Polarstern‹ wegen seiner unbrauchbaren Schraube St. Johns anlaufen würde, daß er gewußt haben konnte, daß er Nobody in Fiskernäs an der Westküste Grönlands treffen würde, wo dies alles doch absolut nicht in Nobodys Absicht gelegen hatte – das war etwas, was nicht in dessen Kopf wollte, so gläubig er auch sonst dem Somnambulismus gegenüberstehen mochte.

Nun, er würde es ja gleich erfahren.

»Sie sind von Kindheit an somnambul veranlagt?«

»Nein. Lassen Sie mich erzählen. Bis vor vier Jahren war ich ein Mann, der für nichts weiter Interesse hatte, als fürs Geschäft und für Sport, und in körperlichen Uebungen jeglicher Art suchte ich meinesgleichen, besonders wenn ich dabei mein Leben aufs Spiel setzen konnte. Die Liebe zu einem Mädchen änderte daran nichts. Ich war und blieb die heiterste Natur mit übersprudelnder Lebenskraft. Das Mädchen betrog mich. Ersparen Sie mir die Einzelheiten. In jenem Hause, schon zur Hochzeit vorbereitet, erfuhr ich, daß Agathe mich verraten, mich verlassen hatte, um mit einem anderen zu gehen. Als ich die Botschaft vernahm – Bruno brachte sie mir – als ich den überzeugenden Beweis in Händen hatte, da plötzlich stieg es mir siedendheiß zum Kopfe empor, alles drehte sich vor meinen Augen, ich stürzte zu Boden nieder. Bruno hielt mich für tot, er rannte davon, um einen Arzt zu holen. Aber ich war nicht tot, nicht einmal besinnungslos. Doch was nun mit mir geschah, das kann ich Ihnen mit bloßen Worten unmöglich erklären, es wird für Sie ganz unverständlich sein. ›Das ist ein Schlaganfall, ein Nervenschlag, du bist gelähmt für immer!‹ So sagte ich mir, und ich sah mich schon mit entsetzlicher Deutlichkeit als Krüppel. Und nun ging etwas Seltsames mit mir vor sich. Ich war mir ganz deutlich bewußt, daß ich auf dem Teppich lag, unfähig, ein Glied zu rühren, und da plötzlich war es mir, als ob meine Glieder zu schwellen begännen, immer dicker und dicker wurden sie, als ob sie zerplatzen wollten, es war schmerzlos, aber ich fühlte den kalten Todesschweiß aus allen Poren brechen, und dann schälte sich etwas aus meinem Fleische heraus, aus meinem Innern, aus meiner Seele, und das war ich selbst, und ich sah mich selbst ganz deutlich vor mir, nicht etwa als eine weiße Gestalt, sondern ... sondern ... ich sah es ja überhaupt nur mit meinen geistigen Augen ... und dennoch sah ich es mit handgreiflicher Deutlichkeit ... aber wie, das kann ich Ihnen eben gar nicht schildern ...«

»Ich verstehe schon,« kam Nobody dem Stockenden zu Hilfe. »Es war Ihr Doppelgänger, Ihr seelisches Ich, Ihr Astralleib, den Sie aus sich heraustreten fühlten.«

»Ah, Sie glauben daran, daß der Mensch einen solchen unsichtbaren Astralleib besitzt, der bei besonderer Gelegenheit aus dem Menschen heraustreten und für den betreffenden sichtbar werden kann?« erklang es mit freudigem Staunen.

»Jawohl, ich glaube daran,« versicherte Nobody der Einfachheit halber, und nun fuhr der Erzähler denn auch gleich fort:

»Mein Doppelgänger ging zu einem Tischchen, und ich ging mit ihm, das heißt, ich war in ihm, in seinem Bewußtsein, obgleich ich doch regungslos am Boden lag; er schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank es aus, hierauf begab er sich an den Schreibtisch, setzte sich, nahm einen Briefbogen und Feder und schrieb mit geläufiger Hand ein längeres Rezept, mit meiner Handschrift; denn eigentlich schrieb ich es ja selbst. Ich verstehe nichts von Medizin, von Arzneikunde, kann kein Rezept ausschreiben, damals nicht und heute nicht. Und ich schrieb die mir unbekannten chemischen Formeln und lateinischen Ausdrücke so geläufig hin, als sei ich ein professioneller Arzt, und darunter setzte ich noch die Bemerkung: Aller zwei Stunden einen Teelöffel voll einzunehmen. Mein Doppelgänger legte die Feder hin, stand auf, kam auf mich zu, er verschmolz wieder mit mir. Wie dies geschah, kann ich Ihnen nicht schildern. Aber es war mir sehr wohltuend, die Bewegungsfähigkeit kehrte zurück, scheinbar auch das Bewußtsein, obgleich es mich doch gar nicht verlassen hatte, ich konnte wieder aufstehen.«

Der Erzähler machte eine Pause.

»Und da lag das geschriebene Rezept auf dem Tische?« fragte Nobody.

»O nein. Das eigentliche Rätsel sollte erst beginnen. Ich ging zu dem Tischchen, füllte ein Glas mit Wasser und trank es aus. Eine unsichtbare Gewalt zwang mich, es zu tun. Hierauf begab ich mich an den Schreibtisch, setzte mich, nahm einen Briefbogen und Feder und schrieb mit geläufiger Hand ein langes Rezept, darunter die Bemerkung setzend: Aller zwei Stunden einen Teelöffel voll einzunehmen. – Das schrieb ich, der ich nichts von Arzneikunde wußte!«

Nobody schwieg. Ganz genau denselben Fall hatte er schon einmal erlebt. Auch jenes mondsüchtige Kind hatte sich im somnambulen Zustande selbst Rezepte verschrieben, wenigstens die Formeln dazu angegeben, man solle solch eine Medizin in der Apotheke anfertigen lassen, die würde es von seinen Krämpfen befreien – und es war gemacht worden und hatte tatsächlich sofort geholfen!

»Schrieben Sie das Rezept aus dem Gedächtnis nach, wie Sie die Formeln schon im Traume hatten schreiben sehen?« fragte er dann.

»Ja und nein. Ich kann es nicht erklären. Ich tat es unter einer fremden Willensbeeinflussung. Es war, als ob die Buchstaben von selbst aus meiner Feder kämen, als ob eine fremde Hand die meine führte. Jedenfalls war ich gezwungen, es zu tun. Bruno kam mit einem Arzt zurück. Ich fühlte mich wieder ganz wohl. Aber wiederum zwang mich ein geheimnisvolles Etwas, dieses Rezept nun auch ausführen zu lassen. Doch was sollte ich sagen? Hier kam mir kein fremder Einfluß zu Hilfe, und eine unbestimmte Scheu, ein Gefühl von Scham hielt mich zurück, die Wahrheit zu bekennen. So griff ich zu einer Notlüge. Ich sagte dem Herrn, ich litte öfters an solchen Ohnmachtsanfällen, schon seit vielen Jahren, ein mir bekannter Arzt habe mir dagegen einmal dort jene Medizin verschrieben, die sich stets bewährt habe. Sie sei mir ausgegangen. Das ursprüngliche Rezept besäße ich nicht mehr, dort sei eine Abschrift von meiner Hand. Bruno, mein langjähriger, treuer Diener, der mich schon als Kind behütet hat, sah mich mit erstaunten Blicken an. Was, ich, der kerngesunde Mensch, hätte schon an Ohnmachtsanfällen gelitten?! Doch er schwieg. Und der Arzt las das Rezept und setzte seinen Namen mit Beglaubigung darunter, Bruno trug es nach der nächsten Apotheke, die Medizin wurde hergestellt, ich nahm aller zwei Stunden einen Teelöffel voll ein, bis die Flasche leer war.«

»Was war es?«

»Ich weiß es nicht. Jene Scheu, jenes Entsetzen, das ich immer vor meinem Doppelgänger gehabt habe, auch jetzt noch, hielt mich ab, weitere Erkundigungen einzuziehen.«

»Besitzen Sie das Rezept noch?«

»Nein, es ging mir mit einem Koffer verloren.«

»Wie schmeckte die Medizin?«

»Der vorherrschende Geschmack war Kampfer.«

»Und sie hat geholfen?«

»Geholfen? Ich weiß es nicht. Ich kann nur sagen, daß jener Ohnmachtsanfall keine schädlichen Folgen für mich gehabt und sich nie wiederholt hat.«

»Aber Sie sind der Ueberzeugung, daß der Ohnmachtsanfall schädliche Folgen gehabt hätte, daß Sie vielleicht noch nachträglich einen Nervenschlag bekommen, der Sie für immer gelähmt, wenn Sie jene Medizin nicht genommen hätten?«

»Nach allem, was ich sonst noch erlebte, muß ich es annehmen. Denn mein mit prophetischem Blick begabter Doppelgänger, oder wie man dieses geheimnisvolle Etwas, das manchmal aus meinem Körper tritt, nun nennen mag, ist mein Schutzpatron, der mich noch immer vor bösen Zufällen, die mich gar oft schon mit dem Tode bedrohten, gewarnt hat.«

Und er erzählte weiter solche Beispiele. Denn von da ab passierte es ihm häufig, daß er seinen Doppelgänger, sein zweites Ich, aus seinem Körper heraustreten und Handlungen ausführen sah, die er selbst ihm dann unwillkürlich nachmachen mußte, wie unter einem fremden Willen stehend. Doch niemals wieder ging dem ein Ohnmachtsanfall voraus. Scott versicherte, sonst kerngesund zu sein. Es geschah sowohl im Traume, aber scheinbar bei vollem Bewußtsein, oder aber, wenn er ruhig auf dem Stuhle saß, oder aber auch mitten in einer Gesellschaft, selbst mitten auf der belebten Straße, ohne daß es irgend jemandem auffiel, und Scott hatte durch Beobachtung schon längst herausgebracht, daß es nur momentane Visionen waren, und wenn die Handlungen seines Doppelgängers scheinbar auch viele Tage währten, so wie man ja auch Träume hat, die ein ganzes Lebensalter umfassen, und man hat Gelegenheit, zu konstatieren, daß sie nur wenige Minuten gedauert haben: Viele Gelehrte, die sich mit dem Traumleben beschäftigen, behaupten auch, daß überhaupt jeder Traum nur den Bruchteil einer Sekunde währt.

Von den vielen Beispielen, welche Scott noch anführte, um zu zeigen, wie sein Doppelgänger ihn immer vor drohenden Gefahren behütete, wollen wir nur noch ein einziges wiedergeben, und zwar lassen wir ihn mit seinen eigenen Worten erzählen, wie es auch in Nobodys Tagebuch geschehen ist.

»Auf meinen Reisen, die mich in ganz abgelegene Distrikte führen, habe ich immer eine kleine Petroleumlampe im Koffer. Denn Petroleum ist heutzutage fast überall zu haben, wenn man sich nicht gerade in der Wildnis befindet, und ich liebe es, in der Nacht zu lesen oder zu schreiben. Das kleine Bassin faßt für drei Stunden Petroleum. Es war in einem arabischen Dorfe in der Nähe von Algier; ein französischer Ingenieur, der dort gerade sein Holzhaus aufgeschlagen, hatte mich gastfreundlich aufgenommen. Eines Nachts saß ich lesend bei meiner Lampe. Schon seit einiger Zeit war der Docht zu kurz geworden, er saugte das Petroleum nicht mehr völlig auf, ich hatte es zu spät bemerkt, einen für meine Lampe passenden Docht konnte ich hier nicht bekommen, und natürlich wurde er immer kürzer. So mußte ich aller Stunden Petroleum nachfüllen. Das war auch jetzt wieder nötig, ich merkte, wie die Flamme immer kleiner wurde. Bei dem Nachfüllen des Petroleums blies ich die einmal brennende Lampe nie aus. Das Bassin hat einen Stöpsel, den man losschrauben kann, in die Oeffnung wird das Petroleum gegossen, eine Explosionsgefahr ist dabei ganz ausgeschlossen. Viele Hunderte Male hatte ich das so gehandhabt, und so wollte ich das auch diesmal tun.

»Da, als ich diesen Entschluß eben gefaßt hatte, eben aufstehen wollte, schon nach der Lampe griff, fühlte ich plötzlich jenen seltsamen Zustand über mich kommen, meine Glieder schwollen scheinbar an, mein Doppelgänger trat aus mir heraus. Jetzt war er es, der aufstand, die Lampe, also noch brennend, ergriff, sie an die Ecke des Tisches setzte, alles genau so, wie auch ich getan haben würde, dann nach der Ecke des Zimmers ging und von dort die Petroleumkanne holte. Nun aber geschah etwas, was ich sonst nimmermehr getan hätte. Er setzte die Kanne nochmals an den Boden, zündete das auf dem Tische stehende Stearinlicht an, blies die Lampe aus, schraubte jetzt erst den Messingstöpsel ab, füllte das Petroleum nach, nahm, seine Hand mit dem Taschentuch umwickelt, den heißen Zylinder ab, zündete die Lampe wieder an, blies das Stearinlicht wieder aus, trug die Petroleumkanne wieder in die Ecke und ... und er kehrte in meinen Körper zurück.

»Ich erwachte. Was ich nun tat, geschah, wie ich Ihnen schon wiederholt zu schildern versucht habe, unter jener fremden Willensbeeinflussung. Also auch ich zündete erst das Stearinlicht an, auch ich blies die Lampe aus – etwas, was ich sonst nie, nie getan hatte, und ich habe diese Lampe viele hundertmal nachgefüllt, immer brennend.

»Wie ich mich bücke, um die einstweilen niedergesetzte Petroleumkanne aufzunehmen, mache ich eine ungeschickte Handbewegung, werfe die auf der Ecke stehende Lampe vom Tisch, im Stürzen übergießt der Inhalt des Bassins, wegen der Kürze des Dochtes also noch zweidrittel gefüllt, meine Beinkleider, ich bin bis zu den Strümpfen mit Petroleum durchtränkt, der Zylinder zerschmettert am Boden. Verstehen Sie? Hätte ich die Lampe vorher nicht ausgeblasen, würde ich jetzt rettungslos in Flammen gestanden haben. Jenes geheimnisvolle Etwas hatte es vorausgewußt, hatte mich veranlaßt, diesmal die Lampe vorher auszublasen.«

Der Erzähler schwieg. Eine Pause des Gesprächs trat ein in dem kleinen, finsteren Raume, und dann war es ein merkwürdiges Wort – nämlich des Merkens würdig – das Nobody aussprach:

»Mr. Scott, das Schicksal hat Sie noch zu etwas Großem bestimmt!«

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und auch sie war merkwürdig.

»Zu etwas Großem? Ach, Herr, wenn Sie wüßten, wie tief, tief unglücklich ich bin!!«

Stöhnend hatte es geklungen. Nobody wußte ganz bestimmt, daß der junge Mann dabei seine Hände vor das Gesicht geschlagen hatte, und einen tieferen Seelenschmerz hätte er in diese Worte gar nicht legen können.

Unglücklich? Wieso? Etwa deshalb, weil er einen Doppelgänger besaß, der ihn immer noch rechtzeitig vor jeder Gefahr warnte und behütete? Ist das nicht vielmehr ein großes Glück?

O nein! Nobody, dieser unübertreffliche Menschenkenner, Seelenbeobachter und Gedankenleser, dachte anders hierüber, und wenn er es auch nicht so leicht mit Worten ausdrücken konnte, so wußte er doch ganz genau, was jenen so unglücklich machte, und er fühlte mit ihm.

Das Köstlichste vielleicht, was der Mensch besitzt, ist seine Willensfreiheit! Das ist der Kernpunkt der ganzen Sache!

Denen, die sich mit so etwas beschäftigen, ist überhaupt bekannt, daß sich alle jene Personen, welche somnambule Eigenschaften besitzen, sich so tief unglücklich fühlen, ohne selbst den Grund hierfür zu wissen. Ja, es gibt wahrscheinlich viel, viel mehr Menschen, welche somnambul veranlagt sind, als man ahnt, aber sie hüten sich, davon zu sprechen, es ist ihr Geheimnis, vor dem sie sich selbst entsetzen, während man alle jene Medien, die daraus ein Geschäft machen und dabei dick und fett werden, von vornherein mit Sicherheit als Schwindler bezeichnen kann.

Entsetzen! Auch Scott hatte dieses Wort gebraucht, als er die Scheu näher bezeichnen wollte, die er vor seinem Doppelgänger hatte.

Dieses Entsetzen hatte eine doppelte Bedeutung. Gewöhnlich gebraucht man es doch als einen Ausdruck für den höchsten Schreck, wenn man sich im nächsten Augenblick umdreht und davonrennt, oder man ist vor Entsetzen wie gelähmt.

Man kann diesem ›Entsetzen‹ aber auch noch eine andere Bedeutung geben. So gebraucht es auch Luther wiederholt.

» ... und das Volk entsetzte sich vor ihm« ... nämlich vor Jesus, denn – »er predigte gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten.«

Da ist doch kein tödlicher Schrecken gemeint, sondern eben jene geheimnisvolle Scheu vor etwas Unbegreiflichem – es geht über die Vernunft des gesunden Menschenverstandes – deshalb will man lieber gar nichts damit zu tun haben.

Und wo in der Bibel steht einmal, daß Christus gelacht oder gelächelt hat? Aber geklagt und geweint hat er desto mehr!

So war auch der Geisterseher Swedenborg tiefunglücklich ob seiner somnambulen Fähigkeiten – bis er sie zu seinem Studium machte und seine Beobachtungen an sich selbst in jenem Werke niederlegte, das noch heute einer großen, weitverbreiteten Sekte, den Swedenborgianern, als Glaubensbekenntnis dient.

Auch sonst konnte der junge Kanadier mit dem schwedischen Gelehrten verglichen werden. War es denn glaubhaft, daß dieser junge, von Gesundheit strotzende Mann mit dem athletischen Körperbau und den energischen Zügen somnambul veranlagt sei?

Nun, Emanuel Swedenborg hätte kein Geisterseher zu sein brauchen, um sich einen unsterblichen Namen zu machen. Seine Schriften über Algebra, Planetenlauf, über Ebbe und Flut sind klassisch, ebenso wie seine geologischen Abhandlungen, und was für ein energischer Praktikus dieser Geisterseher war, das zeigte er bei der Belagerung von Friedrichshall, wo er fünf große Kriegsschiffe mittelst von ihm konstruierter Rollapparate meilenweit über Berg und Tal schaffte.

»Es ist nicht allein,« nahm Scott ohne Aufforderung wieder das Wort, »daß so mein zweites Ich aus meinem Körper heraustritt, sondern ich werde des Nachts auch von seltsamen Träumen heimgesucht. Ihren Inhalt kann ich mir nie zusammenreimen; erst wenn sich alles erfüllt, verstehe ich ihren prophetischen Inhalt, und stets packt mich neues Entsetzen. Und nun, Mister Nobody, kommen auch Sie mit ins Spiel.

»Schon vor mehreren Jahren hatte ich von Ihnen gehört, von dem berühmten Detektiv Nobody. Aber – Sie verübeln es mir wohl nicht – ich hielt Sie nur für eine stereotype Romanfigur. Trotzdem las ich immer mit Vergnügen Ihre Reiseberichte in ›Worlds Magazine‹.

»Da eines Nachts erschien mir im Traume Ihr Bild, und eine Stimme sprach zu mir: ›Das ist der Mann, der dich von deinem Leiden befreien wird, der dir auch dein verlorenes Glück zurückgeben wird.‹

»Wiederholt hatte ich denselben Traum, eine innere Stimme flüsterte mir auch im Wachen dasselbe zu, sobald ich Ihr Bild sah, wenn ich nur ›Worlds Magazine‹ in die Hand nahm.

»Zunächst hatte dies bei mir den Erfolg, daß ich mich näher über Sie erkundigte, wodurch die Ansicht schwinden mußte, Ihre Person sei nur eine erfundene Figur, und außerdem wurden Sie bald danach zum Ehrendoktor der Universität Oxford ernannt.

»Da mußte jedes Bedenken schwinden. Und die innere Stimme flüsterte mir ständig und ständig dasselbe zu, im Traume wie im wachen Zustande. Und dennoch ging ich nicht, um Sie aufzusuchen. Das ist aber nicht etwa ein Zeichen von Stärke gewesen, daß ich an solche visionäre Träume nicht glauben wollte, sondern vielmehr ein Zeichen von Schwäche, ich gestehe es ganz offen ein. Einmal hält mich eine unüberwindliche Scheu davon ab, zu irgend jemandem von meinem somnambulen Zustande zu sprechen; Bruno ist der einzige Mensch, der darum weiß. Hätte ich früher einem Fremden solche Offenbarungen machen müssen, wie ich es jetzt tue, ich hätte eher Selbstmord begangen. Der Grund zu dieser unüberwindlichen Abneigung ist mir selbst nicht ganz klar. Mit einem Wort: Dieses mein Leiden kommt mir selbst wie eine unauslöschliche Schmach vor – ganz mit Unrecht, das weiß ich wohl, aber es ist nun einmal so.

»Außerdem besteht meine Schwäche darin, daß ich mich schon auf den Rat meines Doppelgängers verlasse, daß ich ihn schon erwarte. ›Wenn es so weit ist,‹ sagte ich mir, ›dann wird mein Doppelgänger schon kommen und mich zu jenem führen. – Sagen Sie nichts, beschönigen Sie nichts, das ist eine furchtbare Schwäche von mir, ich selbst habe mich schon zum Sklaven eines fremden Willens gemacht.

»Ja, und doch kam es so! Vor sechs Wochen hielt ich mich in London auf. Zufällig hörte ich, daß der amerikanische Kapitän Brown aus Geldverlegenheit sein berühmt gewordenes Segelboot, mit dem er den Atlantic durchquert, versteigern wolle. Ich will nun nicht immer wiederholen, wie mein Doppelgänger aus mir heraustritt und das ausführt, was ich ihm dann willenlos nachmachen muß, sondern ich sage kurz: Mein Doppelgänger bestimmte mich, dieses Boot in der Auktion zu erstehen, es seetüchtig zu machen, mit allem auszurüsten, was man für eine längere Seereise braucht, und dann dieses Boot mit mir an Bord der nach New-York gehenden ›Persepolis‹ zu nehmen.

»Was ich an Bord der ›Persepolis‹ erleben würde? Keine Ahnung! Ich kam eben erst von New-York. Und da hatte mich mein Doppelgänger auf jene eigentümliche Weise veranlaßt, mir den großen Hausschlüssel wieder zu besorgen, den ich bei meinem Rechtsanwalt niedergelegt hatte, und ihn immer bei mir zu tragen. Aber wozu, das hatte mir mein Doppelgänger nicht gesagt, und man trägt doch eigentlich solch ein mächtiges Ding nicht umsonst mit sich herum, zumal zu einem Hause, an dessen Betreten man gar nicht mehr denkt.«

»Seltsam, ganz seltsam!« murmelte Nobody. »Nun, bitte, erzählen Sie weiter.«

»Menschenscheu, wie ich geworden bin, hielt ich mich immer in meiner Kabine auf. Es würde schon noch kommen, weswegen mich mein Doppelgänger gerade auf diesen Dampfer geführt hatte. Und es kam. Am fünften Tage blieb die Maschine plötzlich stehen. Auch ich eilte an Deck. Da sah ich gerade noch seitwärts vom Dampfer das führerlose Motorboot, und da hörte ich, wie Sie den Kapitän um ein Boot baten. Nun freilich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich offerierte Ihnen mein Boot ...«

»Verzeihen Sie – wußten Sie schon, daß ich der Detektiv Nobody sei?«

»Nein. Mit keinem Gedanken dachte ich daran. Aber als Sie sich mir dann zu erkennen gaben, war ich auch nicht im mindesten überrascht. Gut, nun hatte mich mein Doppelgänger eben doch noch zu Ihnen geführt.«

»Wußten Sie schon im voraus, daß Sie mich auch in dem Segelboote bei der Verfolgung des Motorfahrzeuges begleiten würden?«

»Im voraus wußte ich überhaupt gar nichts. Allerdings trieb mich ein unbestimmtes Gefühl dazu, Sie auf dieser abenteuerlichen Fahrt zu begleiten, doch braucht man daraus auf nichts Uebernatürliches zu schließen. Solch eine abenteuerliche Fahrt ist überhaupt nach meinem Geschmack.«

»Hatten Sie in einer Vision schon gesehen, daß der schwarze Kasten jene Leiche enthielt?«

»Das noch weniger. Auch von der Begegnung hatte ich mir nichts träumenlassen.«

»Sie zeigten sich so wenig überrascht, als sich der Inhalt der Kiste offenbarte.«

»O, Mister Nobody, wenn Sie wüßten, wie teilnahmlos ich durch meine schreckliche Gabe gegen alles geworden bin, was um mich herum passiert, und sei es auch das Wunderbarste!« erklang es niedergeschlagen in der Finsternis.

»Aber Sie schienen doch zu erschrecken, als ich Ihnen die Skizze jenes Gesichtes zeigte, welches uns nachgeblickt hatte.«

»Ja, das war auch etwas ganz anderes. Da erhielt ich wieder einmal den Beweis, daß ich ein Geisterseher bin, der nicht unter die normalen Menschen paßt. Nun muß ich wieder von meinen Träumen beginnen, die nichts mit meinem Doppelgänger zu tun haben. Seit jenem Tage, da mir die Botschaft zuteil ward, die mein Lebensglück vernichtete und diesen Nervenzustand in mir hervorrief, erschien mir fast jede Nacht ein Bild im Traume – ein menschliches Gesicht, wie eingerahmt, verzerrt von Haß und Hohn – mit einem Wort: Genau dasselbe, welches Sie mir da zeigten! Nun können Sie sich wohl vorstellen, weshalb ich so zusammenzuckte und mich erschrocken umdrehte.«

»Seltsam!« murmelte Nobody. »Und Sie wissen nicht, wer das sein mag?«

»Nicht die geringste Ahnung. Für mich eine stereotype Traumfigur, ein Schreckgespenst, vor dem ich mich jede Nacht entsetzte, bis ich es in Ihrer Hand durch Ihren Bleistift zur Wirklichkeit werden sah. Merkwürdig ist es auch, daß es mir seitdem nicht wieder erschienen ist.«

»Sie haben keine Vermutung, daß dieser Mann, der sich doch wirklich an Bord des ›Persepolis‹ befunden hat, zu Ihnen in irgendwelcher Beziehung stehen könnte?«

»Durchaus nicht.«

»Nicht vielleicht zu ... Ihrer Braut?«

»Nein!« erklang es bestimmt.

Doch Nobody hatte diese Frage nun einmal angebrochen.

»Kennen Sie den Mann, dessentwillen jenes Mädchen Sie verlassen hat?«

»Ja. Dieser ist es nicht.«

Dann hatte Nobody diesbezüglich auch nichts mehr zu fragen.

»Nun weiter. Wie war das mit der Flaschenpost?«

»Immer dasselbe. Als Sie überlegten, wohin Sie unauffällig die Leiche bringen sollten, da erkannte ich, weshalb ich aufgefordert worden war, mir wieder den Schlüssel zu jenem einsamen Hause zu besorgen. Dann begegneten sich bei dem höflichen Gutenachtgruß zufällig unsere Hände, es griff mich furchtbar an; denn da erkannte ich mit Macht, daß ich wirklich in Ihnen den Mann gefunden hatte, der mein Retter werden soll. Und in derselben Nacht veranlaßte mich mein Doppelgänger, jenen Zettel zu schreiben und in eine Weinflasche zu stecken, das Ganze als eine Flaschenpost zu präparieren.«

»Mit der Angabe, daß die Mitteilung von dem Kapitän der ›Recovery‹ stamme?«

Die Antwort ließ etwas auf sich warten.

»Ja,« erklang es dann zögernd, niedergeschlagen. »Und nicht etwa,« wurde dann um so hastiger hinzugesetzt, »daß ich mich dadurch reinwaschen will, als hätte diese Lüge etwa mein Doppelgänger begangen, für den ich nicht verantwortlich zu machen wäre, und ich bin nur sein gewissenloser Nachbeter gewesen ...«

»Ich verstehe, ich verstehe vollkommen,« unterbrach Nobody den Sprecher, der sich selbst anklagte, was aber nur seinen edlen, offenen Charakter verriet. »zzziyyy Nevermindzzz/iyyy, lassen wir uns darauf gar nicht ein. Und am sechsten Tage wurden Sie veranlaßt, mir die vorgebliche Flaschenpost zu übergeben.«

»So ist es. Da sagten Sie mir die Wahrheit ins Gesicht. O, was ich in diesem Augenblicke durchgemacht habe! Ein Lügner und Betrüger, ein Namensfälscher, ich gebrauchte den Namen eines ...«

»zzziyyy Nevermindzzz/iyyy,« unterbrach Nobody ihn abermals, »Sie sind trotz alledem für nichts verantwortlich zu machen. Sie flohen also davon.«

»Bis ans Ende der Welt wollte ich vor meiner Schande fliehen. Als ob man dadurch seiner Schande entgehen könnte! Ich kam nur bis St. Louis. Mein Herz war zerrissen. Da las ich in einer Zeitung von der gepfändeten Nordpolexpedition, wie ein W. T. Wheeler sie ausgelöst habe, selbst die Expedition antreten wolle, und in diesem Augenblicke löste sich von mir mein Doppelgänger aus und diktierte mir jene Depesche, die ich nach St. Johns in Neufundland richten mußte.«

»Wunderbar! Wußten Sie denn, daß ich selbst dieser Wheeler war?«

»Nicht die geringste Ahnung. Dann freilich, als ich von jener unsichtbaren Macht gezwungen wurde, die Depesche zu schreiben, ging sie mir als Gewißheit auf.«

»Und wie kommen Sie nun hierher?«

»Auf Veranlassung meines Doppelgängers. Er zeigte mir den ›Polarstern‹ und Sie selbst hier in Fiskernäs an der Westküste von Grönland, und befahl mir, hierherzugehen und mich Ihnen rückhaltlos anzuvertrauen. Ich drücke mich jetzt so aus, eigentlich geschah diese Aufforderung ganz anders ...«

»zzziyyy Nevermindzzz/iyyy, und ich muß Ihrem Doppelgänger das Kompliment machen, daß er ein recht vernünftiger Mensch ist.«

War es nicht etwas wie Heiterkeit, welche nach dieser trockenen Aeußerung in die sonst immer so niedergeschlagen klingende Stimme gezaubert wurde?

»Ja, da haben Sie recht, viel vernünftiger als ich; denn ich hätte beinahe die größte Dummheit begangen. Zum ersten Male bäumte ich mich dagegen auf, meinem Doppelgänger zu gehorchen, und wäre Bruno nicht gewesen, diesmal hätte ich gesiegt – zu meinem Nachteil. Aber Bruno, dem ich mich stets anvertraue, ließ nicht locker, und so fuhren wir nach New-York, bestiegen den ersten Dampfer, der nach Fiskernäs ging, und ... nun bin ich hier, nun wissen Sie alles.«

Eine lange Pause trat ein. Nobody hing seinen grübelnden Gedanken nach.

»Sie sagten vorhin,« hob er dann wieder an, »als wir uns damals so zufällig die Hand gaben, als hätte das so sein müssen, da sei in Ihnen die Gewißheit entstanden, daß ich Ihr Retter sei. Inwiefern Ihr Retter? Wie stellen Sie sich das vor, daß ich Sie von diesen somnambulen Zuständen befreien soll? Sie sprachen auch von der Rückgabe des verlorenen Lebensglückes. Wie meinen Sie das?«

Anstatt eine Antwort zu hören, fühlte Nobody plötzlich eine Hand an seinem Knie, sie krabbelte an seinem Bein hinauf, und da Nobody wußte, daß sie jedenfalls die seine suchte, nahm er die Hand.

Und da kam es, was er nicht erwartet hätte.

»Ich weiß es ja selbst nicht,« erklang es in schluchzendem Tone, »mir ist ja selbst alles ein unfaßbares Rätsel – ich weiß nur das eine, daß Sie allein mir helfen können – ich weiß es, ich fühle es – verlassen Sie mich doch nicht ...«

Die Stimme konnte vor Weinen nicht weitersprechen, und auf die Hand, die von Nobody etwas weggezogen wurde, tropften heiße Tränen.

Selten war Nobody so furchtbar erschüttert gewesen als in diesem Moment! Er konnte ihn in der Finsternis nicht sehen – und er hatte ihn doch deutlich vor Augen, diesen starken Mann mit den stolzen, kühnen Zügen, wie er sich weinend über seine Hand bog, und nun diese rührenden Bitten eines hilflosen Kindes – im Augenblicke glaubte Nobody, sein eigenes Herz müsse vor Jammer brechen.

Doch er beherrschte sich. Er fühlte, daß er hier die Rolle eines Arztes zu spielen habe, eines Seelenarztes, und ein solcher darf nichts von Rührung wissen.

»Ich Sie verlassen? Ich hoffe vielmehr, daß Sie mich jetzt nicht mehr verlassen. Mein Entschluß war doch sowieso gefaßt, mich nach der von Ihrem Doppelgänger in der Flaschenpost bezeichneten Stelle zu begeben, nur daß ich aus einem ganz anderen Grunde glaubte, dort oben wirklich etwas zu finden. Ich hielt Sie eben für den Mitwisser eines Geheimnisses. Diesen Glauben muß ich nun fallen lassen. Trotzdem setze ich meine Reise nach dem 83. Breitengrade natürlich fort, Ihrem Doppelgänger vertrauend, der ja schon glänzende Proben für seine Glaubwürdigkeit geliefert hat. Hat er Ihnen denn gar nicht angedeutet, was wir dort oben im höchsten Norden finden werden?«

Nein, nichts, absolut nichts! Das Medium hatte die geographische Angabe ganz mechanisch niedergeschrieben.

»Es ist zu meinem, wie auch zu Ihrem Vorteil.«

»Auch zu meinem Vorteil?«

»Ja. Inwiefern, das kann ich Ihnen mit Worten nicht sagen. Ich ahne es, ich fühle es, ich weiß es. Mein Doppelgänger veranlaßte mich, mich mit einem vollständig ausgerüsteten Segelboote an Bord der ›Persepolis‹ zu begeben, und wäre ich nicht gewesen, so hätten Sie doch schwerlich dem Motorboote folgen können. Ist das nicht so?«

»Hm, da haben Sie allerdings recht. Und nun weiter?«

»Dann hätten Sie auch nicht die präparierte Leiche gefunden, und dieser Fund muß Ihnen, als Detektiv, doch hochwillkommen sein.«

»Hm, da haben Sie wiederum recht. Da hat mich Ihr Doppelgänger tatsächlich auf die Fährte eines Verbrechens gesetzt, wie sie sich ein tatenlustiger Detektiv gar nicht besser wünschen kann. Leider nur muß ich gestehen, daß ich hierbei ein Fiasko gemacht habe, so ziemlich das erste in meinem Detektiv leben.«

»Ein Fiasko? Inwiefern? Ja, sprechen wir jetzt doch einmal darüber. Wie weit sind Sie unterdessen mit den Recherchen über die Leiche des jungen Mädchens gekommen?«

»Die Leiche? Die ist weg. Die ist mir wieder entführt worden aus Ihrem Hause, in derselben Stunde, da Sie das Haus verließen.«

In dem finsteren Raume ward eine heftige Bewegung gemacht, jedenfalls war Scott aufgesprungen.

»Die Leiche – ist weg?!« erklang es im Tom der höchsten Ueberraschung, verbunden mit Schreck.

Nobody erzählte. Er konnte nur die Resultatlosigkeit aller seiner Bemühungen berichten.

Ja, der Champion-Detektiv hatte am Anfange der Periode, die er als eine neue Aera seines Lebens bezeichnet, ein Fiasko gemacht, aber auch ein vollständiges!!

Scott war furchtbar erregt.

»Haben Sie das Porträt des Mädchens schon in den Zeitungen mit jenem Aufruf veröffentlicht?«

»Noch nicht. Ich halte die Zeit dazu noch nicht für gekommen. Aber natürlich tue ich es, und ich werde schon einen Anhaltepunkt finden, von wo aus ich die Spur aufnehme.«

Also etwa nun die Flinte gleich ins Korn zu werfen, daran dachte unser Nobody nicht. Vielleicht vermehrte dieser erste Mißerfolg nur seine Spannkraft.

»Und haben Sie Erkundigungen eingezogen über jenen Mann, der sich an Bord der ›Persepolis‹ Monsieur Viktor Sinclaire nannte?«

»Erkundigungen habe ich wohl eingezogen, aber sie haben keinen Zweck gehabt. Die Teufelsfratze ist aus der Welt, die ich mit meinem Apparat beherrsche, wie verschwunden.«

Wieder legte sich ihm eine Hand aufs Knie, diesmal aber mit festem Griffe.

»Mister Nobody, ich versichere Ihnen – ich kann für diese meine Behauptung absolut keinen Beweis der Wahrscheinlichkeit erbringen, und dennoch versichere ich auf das bestimmteste: Dieser Mann kannte den Inhalt der schwarzen Kiste in dem namen- und führerlosen Motorboote! Dieser Mann hat die Leiche auch wieder entführt! Und mit diesem Manne werden wir auch dort oben im Norden zu tun haben!!«

 

Am 16. August passierte der ›Polarstern‹ wohlbehalten den 72. Breitengrad, auf welchem die ›Recovery‹ also im Anfang September vorigen Jahres eingefroren war.

Der ›Polarstern‹ hatte diese Höhe, obgleich er New-York viel später verlassen, eben eher erreicht.

Vierzehn Tage können in der Temperatur schon einen großen Unterschied ausmachen, und außerdem schmachtete die nördliche Halbkugel der Erde dieses Jahr unter einer fürchterlichen Sonnenhitze, die auch noch hier oben bemerkbar war. So hatte der ›Polarstern‹ noch immer offenes Fahrwasser vor sich, freilich schon erfüllt mit Eisschollen und Eisbergen, welche niemals wegtauten.

Die geographische Bestimmung dieses 72. Breitengrades sollte für lange Zeit die letzte gewesen sein. Während dieses Jahr in den südlichen und gemäßigten Zonen den ganzen Spätsommer hindurch eine Trockenheit herrschte, wie sie fast noch gar nicht dagewesen, begann jetzt hier oben der graue Himmel gewaltige Schneemengen herabzuschütten. Vier Tage und Nächte schneite es ununterbrochen, das war kein Schneien mehr, sondern das war ein Schneewolkenbruch. Der von der Hilfsmaschine getriebene Dreimaster fuhr nicht mehr im Wasser, sondern er würgte sich durch eine breiige Masse von Schneeschlamm.

Dennoch kam man gut vorwärts. Treibende Eisschollen konnten dem festgebauten Schiffe nicht gefährlich werden, Eisberge machen sich schon von weitem durch die ausströmende Kälte bemerkbar. Man wich ihnen aus. Die Helligkeit war in dem schleierartigen Schneegestöber in der Nacht dieselbe wie bei Tage. Denn in diesen Breitengraden ging zu dieser Jahreszeit die Sonne auch bei Nacht nicht unter den Horizont.

Die Fahrt konnte nicht direkt nördlich eingehalten werden, ging vielmehr stark nach Westen. Wohl hat die Ostküste von Grönland eine direkt nördliche Richtung – so weit man das bis jetzt bestimmt hat – aber ihr ist eine Bank von hoch sich auftürmenden Eisschollen vorgelagert, gleich von Kap Farewell an, und je höher nach Norden, desto mehr verbreitert sich diese Eisbank, also in östlicher Richtung, und ihrem Saume entlang mußte der ›Polarstern‹ fahren, natürlich noch immer in respektvoller Entfernung.

Und wenn sich diese Eisbank nun hinter das Schiff schob, wenn die treibenden Schollen festen Zusammenhalt fanden? Dann war der ›Polarstern‹ eingeschlossen. Kommen mußte das ja sowieso einmal, darauf war man gefaßt. Aber man mußte bedenken, daß dieses Jahr eben ein sehr heißer Sommer war, und es war sehr die Frage, ob nächstes Jahr sich die Eisbank auch wieder öffnete!

Doch Nobody hatte alle Bedenken der Mannschaft zu zerstreuen gewußt. Glück muß der Mensch haben, und an dieses Mannes Fersen heftete sich das Glück. Sie würden den Ausweg durch das Eis schon wiederfinden, davon waren sie alle fest überzeugt, ohne die geringste Gewähr dafür zu haben. Die Suggestion ging eben von Nobodys ganzer Persönlichkeit aus.

Scott studierte während der ganzen Fahrt in der mitgenommenen Bibliothek, hauptsächlich Polarreisen behandelnd, während Bruno, der gegen Menschen so verschlossen war wie sein Herr, sich ausschließlich mit dem Dutzend Eskimohunden beschäftigte. Auch erwähnte Scott nichts davon, daß er wieder eine seiner Visionen gehabt, und Nobody fragte nicht deswegen.

In der Nacht vom 20. zum 21. August wurde Nobody dadurch geweckt, weil er im Schlafe merkte, daß die Schraube stand. Er eilte an Deck. Es war heller, klarer Tag. Aber der Anblick der Mitternachtssonne, welche auf den Eisbergen ein wundersames Farbenspiel erzeugte, entzückte ihn nicht, denn sonst zeigte sie ihm ein böses Bild. Alles überdeckt mit einem weißen Leichentuche. Auch hinter dem ›Polarstern‹ hatte sich das Fahrwasser sofort wieder geschlossen.

Bis hierher und nicht weiter! Hier an dieser Stelle würde das Schiff den Polarwinter verbringen! Der Winter hatte sogar bereits begonnen, der bitterkalte Nordwind machte für die arbeitenden Matrosen schon das Pelzkostüm nötig, das kaum noch vom Gesicht etwas sehen ließ.

»Achtundsiebzig Grad, sechzehn Minuten, siebenundvierzig Sekunden Breite; zwei Grad, neununddreißig Minuten, fünfzehn Sekunden östliche Länge,« meldete der Steuermann, der soeben die Sonne aufgenommen hatte, also nach vier Tagen wieder zum ersten Male.

»Oestliche Länge!« betonte er nochmals. »Wir haben den Greenwicher Nullgrad überschritten.«

Nobody machte eine Bewegung der Ueberraschung, auch Scott befand sich an Deck, und die Blicke der beiden begegneten sich.

Da war es! Dieselbe Ortsbestimmung hatte die Depesche angegeben, und gerade hier war der ›Polarstern‹ eingefroren!

»Das sieht aber gar nicht danach aus, als ob sich hier noch eine freie Durchfahrt eröffnen würde,« meinte Nobody, sein Auge über die weite Fläche schweifen lassend, aus der sich nur hier und da ein kleinerer oder größerer Eisberg erhob.

»Doch – im Hundeschlitten,« entgegnete der Kanadier ruhig.

Allerdings, für eine Fahrt im Schlitten oder auf Schneeschuhen war das Gefilde jetzt wie geschaffen, selbst Schlittschuhe hätte man verwenden können, so glashart war über Nacht die Schneedecke gefroren, welche in sanften Wölbungen alle die aufgetürmten Eisschollen und Spalten überzog.

In Nobodys Kabine bei einer Polarkarte wurde das Gespräch fortgesetzt, mit Ausschluß des Kapitäns.

»War denn mit jener ›freien Durchfahrt‹ in Ihrer Depesche eine Fahrt im Schlitten gemeint?«

»Ich weiß es nicht. Aber heute nacht sah ich mich auf Schneeschuhen einen mit Eskimohunden bespannten Schlitten begleiten.«

Was sollte Nobody darauf entgegnen? Er hatte solche Visionen nie ernst genommen, er hätte sich bisher geschämt, einen Wahrsager zu befragen – und doch ... daß der ›Polarstern‹ gerade hier einfrieren mußte, das hatte wiederum einen kolossalen Eindruck auf ihn gemacht.

»Und wenn nun die plötzliche Kälte wieder nachläßt, wenn das Meer wieder auftaut? Denn wir befinden uns noch auf offenem Meere.«

»Ich weiß nur eines: wir werden die Expedition per Schlitten antreten, unser Ziel erreichen und glücklich wieder zurückkehren.«

Das war so zuversichtlich gesprochen, die träumerischen Augen blickten so ernst – Nobody gab jedes Zögern auf. Ueber der Karte wurde beraten.

Von jenem Punkte auf dem 83. Breitengrad war man von hier aus noch 5 Grade oder 75 geographische Meilen entfernt. Die Differenz der Längengrade kam hier oben nahe dem Pol, wo die Längengrade doch zusammenlaufen, gar nicht mehr in Betracht.

Sechs Eskimohunde ziehen auf mittelmäßiger Schlittenbahn 640 Pfund – das ist eine feste Norm, die der Eskimo genau innehält, wenn er seinen Schlitten bepackt, er wiegt dabei die einzelnen Stücke in den Händen ab und irrt sich um kein Pfund. Mit dieser Last legen die sechs Hunde täglich mindestens 15 Meilen (deutsche) zurück; am vierten Tage müssen sie ruhen.

Am Morgen bekommt der Hund nur einen halben getrockneten Fisch, abends muß er sich, wenn er seine ganze Kraft entwickeln soll, sattfressen können.

Wenn kein unvorhergesehenes Ereignis eintrat, brauchte man also zu den 75 Meilen sechs Tage – mit Zugabe gerechnet sieben Tage. In diesen sieben Tagen verbrauchten die sechs Hunde 200 Pfund getrocknetes Fleisch, als das kondensierteste Nahrungsmittel, die drei Menschen – Bruno sollte mitgehen – 70 Pfund. Einer der echten Eskimoschlitten, wie sich mehrere an Bord befanden, aus Knochen gebaut, nur mit Riemen unverwüstlicher Haltbarkeit, wog 40 Pfund. Wenn man ihn nun mit 400 Pfund Nahrungsmitteln belastete, so blieben noch 200 Pfund für Schlafsäcke, Waffen und andere Gegenstände.

So war die Hinfahrt vollkommen gedeckt. Aber nun die Rückfahrt? Sollte man einen zweiten Schlitten mit sechs Hunden mitnehmen? Es konnte ausgerechnet werden, daß alles stimmte, daß es auch für die Rückfahrt gelangt hätte, aber da mußte man schon geizen.

Hierüber entstand zwischen den beiden gar keine Streitfrage. Nein, es wurde kein zweiter Schlitten mitgenommen. An dem Punkte, wo man umkehrte, wurden die Hunde geschlachtet, ihr getrocknetes Fleisch nahmen die Schneeschuhläufer unter Zurücklassung des Schlittens als Proviant auf dem Rücken mit! Wenn nur jeder Polarforscher immer getrocknetes Hundefleisch hätte!

Vielleicht auch brauchten die Hunde nicht geopfert zu werden. Fortwährend hörte man die Schneefüchse heulen, man würde sie als Hundefutter zu erlegen wissen, und auch auf Eisbären konnte man rechnen. Dort saß schon einer, der den Dreimaster bewunderte.

»Wann brechen wir auf?«

»Sofort!«

Und eine Stunde später jagten die sechs vor Freude laut kläffenden Hunde wie toll über die harte Schneedecke dem Norden zu, neben dem hochgepackten Schlitten Bruno auf Schneeschuhen, die nach der langen, faulen Zeit ausgelassenen Tiere mit Leitseil und endloser Peitsche im Zaume haltend, hinter dem Schlitten Scott, gleichfalls auf Schneeschuhen, und weit, weit voraus, mehr fliegend denn laufend, Nobody auf Schlittschuhen, und die Schneefläche glich wirklich mehr einer feingekörnten Eisdecke, und Nobody machte mit den tobenden Hunden um die Wette Spektakel, nur daß er nicht bellte, sondern jauchzte.

Er war noch nicht bis zum Polarkreis gekommen. Zum ersten Male befand er sich in der Region des ewigen Eises. Und ach, war das herrlich hier!!

In großem Bogen kam Nobody zu dem Schlitten zurückgeflogen.

»Ich begreife gar nicht, warum die Kerls den Nordpol nicht erreichen können! Für mich eine Kinderspielerei! In drei Tagen will ich dortsein. Nehme nur in einer Botanisiertrommel ein paar belegte Buttersemmeln mit.«

Wohl hatte sich auch Scotts Antlitz unter der kalten Luft bei dem schnellen Lauf gerötet, aber seine Augen blitzten nicht wie die Nobodys in fröhlichster Lebenslust, es waren noch immer die traurigen, und auch für diesen Scherz hatte er nur ein trübes Lächeln.

Denn Nobody scherzte natürlich nur. Er kannte einige Männer persönlich, welche vergebens ständig und ständig rangen, das Geheimnis des Nordpols zu lösen – und was für Männer waren das! – und Nobody war doch zu wenig Optimist, um glauben zu können, daß dies immer so weiterginge!

Wenn jetzt nun Schneeschmelze eintrat? Durchbrechen konnte man nicht, aber vielleicht knietief oder auch bis zum Halse in dem Wasser waten, das auf dem nie schmelzenden Eise stand; dann war es mit den 15 Meilen pro Tag vorbei, etwa 2 Meilen pro Tag, und vom Nordpol war man von hier aus noch 150 Meilen entfernt, und dann später Gebirge mit Gletschern, Eisspalten, zu deren Umgehung man Tage, Wochen brauchte ...

Doch wozu jetzt an so etwas denken? Nobody wollte ja gar nicht den Nordpol entdecken. Jetzt war hier famose Eisbahn, und der Nordwind hatte sich gelegt, nur acht Grad Kälte – Nobody entledigte sich seiner Pelzjacke und sauste wieder voraus.

Was trabte dort über die Schneefläche? Ein Eisbär! Er hatte einen Eisberg verlassen und suchte einen anderen zu gewinnen, manchmal den Blick nach dem Hundeschlitten wendend.

Nobody dachte jetzt an keine Jagd.

»Luder, willst du weg!!«

Mit diesen Worten, mit der Faust drohend, schoß Nobody auf ihn zu.

Der Bär, ein riesiges Tier, sah ihn kommen, er setzte sich in einen kurzen Galopp, die glatte Fläche war ihm aber sehr hinderlich, und er wollte dem Menschen nur aus dem Wege gehen, die Flucht ergriff er nicht, und als er sah, daß es der Mensch direkt auf ihn abgesehen hatte, drehte er sich herum, hob sich auf den Hinterfüßen empor, die Vordertatzen zum Schlage erhoben, und stieß aus dem weitgeöffneten, mit furchtbaren Zähnen bewaffneten Rachen ein donnerndes Brüllen aus.

Im Nu war der Schlittschuhläufer dicht vor ihm, es sah aus, als würde er im nächsten Augenblick dem Ungeheuer in den Armen liegen.

»zzziyyy Morningzzz/iyyy,« sagte Nobody, tief seine Pelzkappe ziehend.

Weiter trieb er die Begrüßung natürlich nicht, der Bär wollte ihm auch keine Hand geben, sondern er hatte schon mit der Pranke einen wuchtigen Hieb nach dem kecken Menschlein geführt, sicher in der Meinung, dasselbe nun vor sich liegen zu haben, um es verspeisen zu können.

Aber der Hieb war zehn Meter daneben gegangen, das kecke Menschlein befand sich schon hinter seinem Rücken.

Und so ging es weiter. Der gewandte Schlittschuhläufer spielte mit der Bestie, und falls diese es noch nicht wußte, sang er es ihr auch noch vor:

»Komm doch, komm doch, kleiner Schäker,
komm doch, komm doch, spiel mit mir.«

Zuletzt wußte der Eisbär weder aus noch ein. Das kecke Menschlein fuhr ihm immer dicht an der Nase vorbei; schlug er nach ihm, schlug er immer daneben, dann war das Menschlein ihm schon hinter dem Rücken, und von dem fortwährenden Herumdrehen mußte er ja die Schöpsdrehe bekommen, und zuletzt fuchtelte der auf dem Hinterteil sitzende Bär mit den Vordertatzen nur noch planlos in der Luft herum.

Aber für den Zuschauer sah es höchst gefährlich aus, dieses Spiel, welches der Schlittschuhläufer da mit dem mächtigen Herrn der Eisregion trieb.

»Das kann ihm übel bekommen,« sagte Bruno zu seinem Herrn. »Mag er auch noch so gewandt und besonnen sein, wenn er jetzt einen Schlittschuh ver ...«

In diesem Augenblick hob Nobody den einen Fuß, löste mit einem Druck den Halifax-Schlittschuh ab, schwenkte ihn, tanzte auf einem Beine um die Bestie herum und schlenkerte das andere in der Luft.

»Der macht schon ein ganz verlegenes Gesicht!« schrie er seinen Begleitern zu.

Ja, jetzt bekam auch Meister Petz die Geschichte satt. Er ließ das Herumfuchteln, setzte sich, unbekümmert um das dreiste Menschlein, wieder in einen Trab, dem als Ziel gewählten Eisberge zu – doch gleich war Nobody, der den anderen Schlittschuh wieder befestigt hatte, hinter ihm her und hatte ihn beim kurzen Schwanze gepackt.

Eine blitzschnelle Wendung, die man dem so plump aussehenden Tiere gar nicht zugetraut hätte, ein furchtbarer Hieb mit der Pranke – Nobody war aber noch schneller gewesen, der Hieb ging wiederum zehn Meter daneben.

Auch dies wiederholte sich noch mehrmals, bis auch dies der Bär satt bekam, er trollte weiter, wobei es bei der eigenartigen Gangart des Eisbären aussah, als ob er den Kopf schüttele.

Nobody, den Schwanz gepackt, ließ sich eine Weile unter »hüh« und »hott« fortziehen, dann zog er sein Taschenmesser, ließ eine kleine Schere herausschnappen und schnitt aus dem weißen Felle eine gute Portion Haare, und damit noch nicht zufrieden, brachte er aus der Brusttasche einen Stempel mit Farbkissen zum Vorschein und klatschte seine Firma dem Eisbären mehrmals auf den Pelz – Sir Alfred Willcox, Baronet von Kent, Doctor honoris causa.

Der Bär sagte und machte gar nichts mehr, er schüttelte nur den Kopf, und jetzt ließ Nobody das arme Tier endlich in Ruhe. Er kehrte zurück zum Schlitten, triumphierend die Haare zeigend und von seinem Stempel erzählend, dann weiter ausmalend, was der Jäger wohl sagen würde, welcher diesen Bären erlegte, mit der unverwischbaren Farbe abgestempelt.

Hierauf stöberte Nobody einen Eisfuchs auf, welcher ebenfalls einen Eisberg zu gewinnen suchte, der wohl allein noch Schlupfwinkel barg. Eine wilde Jagd entspann sich; Nobody wollte das Tier beim Schwanze fangen, womit der Fuchs nicht einverstanden war. An Schnelligkeit war ihm der Schlittschuhläufer bei weitem überlegen, er schnitt ihm stets den Weg ab; aber der Fuchs fühlte sich auf der glatten Fläche sicherer als der Eisbär, er schlug die schärfsten Haken, die der Schlittschuhläufer nicht einhalten konnte.

Schon gab Nobody die Jagd als vergeblich auf, er wollte zum Revolver greifen, als wie ein Pfeil ein anderer Mensch einhergeschossen kam, Scott auf Schneeschuhen. Der Fuchs kam gar nicht mehr zum Hakenschlagen, ein Griff, Scott hatte ihn beim Schwanze gepackt, und ehe der Fuchs beißen konnte, sauste er durch die Luft, und an der steinharten Schneekruste ward der Schädel zerschmettert.

Er kam auf den Schlitten, ein Futter für die Hunde am Abend.

Bei dieser Gelegenheit hatte Nobody einmal gesehen, was der junge Kanadier im Schneeschuhlaufen leistete, und sein Diener schien ihm darin nicht nachzustehen, denn auch ihm kam es nicht darauf an, wenn er auf die andere Seite wollte, gleich über den hochgepackten Schlitten hinwegzuspringen.

Und wir überspringen, wozu weniger Kunst gehört, drei Tage. Wir dürfen es, da sich nichts Besonderes ereignete, so wenig wie in den Nächten, die in den warmen Schlafsäcken verbracht wurden, umlagert und bewacht von den Hunden.

Am Abend des dritten Tages setzte ein warmer Südwind ein, der die Schneedecke erweichte, sie nach und nach in Wasser verwandelte, und das war um so schlimmer, als der nächste Tag der Ruhe gewidmet sein sollte. Die Hunde bedurften auch solcher, hatte man doch nicht nur 45, sondern schon 55 Meilen zurückgelegt, und auch die Beinmuskeln der menschlichen Läufer konnten etwas erzählen.

Das untere Plateau eines mächtigen Eisberges wurde zum Ruheplatz erkoren. Die von dem Koloß ausströmende Kälte war eine so große, daß noch in weiterem Umkreise der Schnee ungeschmolzen blieb.

Hier auch erlegte Nobody seinen ersten Eisbären, der dieses kalte, aber trockene Plätzchen nicht mit Menschen teilen wollte. Es ist hierüber nichts weiter zu sagen, als daß Nobody das abgestreifte Fell auf den Schlitten, der durch Abnahme des Proviantes nun schon sehr erleichtert, packte, in der Hoffnung, es auch per Schlitten wieder nach dem Schiff befördern zu können.

Doch würde sich diese Hoffnung erfüllen? Während des ganzen folgenden Tages hing Nobody sehr trüben Gedanken nach. Es taute mächtig, alles hatte sich in einen See verwandelt. Doch die unteren Eisschollen hielten noch zusammen, stiegen also noch nicht empor. Aber wenn dies nun geschah? Dann wurde der Eisberg zur Arche Noah und ... das andere kann sich jeder ausmalen. Dem Hungertode preisgegeben, wenn der zusammenbrechende Eisberg nicht schon vorher ein gnädiges Ende machte!

»Diese Nacht friert es wieder, um vor dem nächsten Sommer nicht mehr aufzutauen,« sagte Scott am Nachmittage.

Hatte er seinen Doppelgänger oder seine Erfahrung befragt? Der Kanadier mußte allerdings solche haben – und richtig, als Nobody auf diesem Eisberge zum zweiten Male aus seinem Schlafsack kroch, pfiff ihm ein kalter Ostwind entgegen, der über Nacht den geschmolzenen Schnee in spiegelglattes Eis verwandelt hatte.

Es war dies nicht besonders günstig. Die gekörnte Schneedecke war besser gewesen. Die Hunde konnten auf der spiegelglatten Fläche schlecht laufen. Man wußte Rat, jetzt vertauschten auch Scott und Bruno ihre Skis mit Schlittschuhen, alle drei schoben den Schlitten, und mit unverminderter Schnelligkeit ging es weiter.

Wir überspringen diesen fünften Tag der Reise. Am sechsten änderte sich die Landschaft. Die Hügel waren nicht mehr zugeschneite Eisschollenhaufen, das waren vereiste Erdhügel. Daß man unter sich festen Boden hatte, verriet auch das Fehlen der Eisberge. Und immer höher wurden die Hügel, schon mußte man Pässe suchen, und dort hinten in der Ferne stieg ein mächtiges Gebirge zum Himmel empor.

»Dort ist's vorbei mit Schlittschuh und Botanisiertrommel,« sagte Nobody gemütlich. »Nun wollen wir erst einmal sehen, wo wir eigentlich sind. Ich wittere eine recht verdächtige Nähe unseres Zieles.«

Sie machten Halt. Nobody nahm mit dem Sextanten die Sonne auf, wie er es seit heute morgen aller Stunden tat. Das letztemal waren sie noch zwei geographische Meilen von ihrem Ziele entfernt gewesen.

Das Resultat der Berechnung war gezogen.

»Nur noch fünf Sekunden fehlen daran!« flüsterte Nobody, als fürchte er, daß es ein fremdes Ohr hören könne, und so vorsichtig schaute er sich auch um.

Eine Breitengrad-Sekunde beträgt 31 Meter, so mußte 155 Meter vor ihnen der Punkt liegen, den die von Scott unbewußt geschriebene geographische Ortsbestimmung angab, wegen welcher diese ganze Expedition unternommen worden war.

»Dann werden wir es dort hinter jenem größeren Hügel finden,« sagte Scott gelassen.

»Finden – was?«

»Das weiß ich nicht, aber irgend etwas müssen wir wohl dort finden.«

Und Scott war bereits auf dem Wege, um den Hügel herumzufahren.

Hatte der eine Vertrauensseligkeit zu seinem Doppelgänger! Doch Nobody ließ ihn nicht allein gehen, er fuhr ihm nach, überholte ihn, bog zuerst um den Hügel, welcher auf der Nordseite steil abfiel und ...

Nobody bremste, daß unter seinen Füßen das Eis spritzte, und unwillkürlich riß er zu seiner Verteidigung den Revolver aus dem am Gürtel hängenden Futteral, während Mister Cerberus Mojan, wenn er dabeigewesen, jedenfalls sein Maul so weit aufgerissen hätte, daß er es niemals wieder zubekam.

Dicht vor Nobody stand eine Indianerin, mit dem auf dem Bogen liegenden Pfeile nach ihm zielend; aber nicht etwa eine Eskimofrau im Pelzkostüm – wenn man den Eskimo zu den Indianern zählen dürfte – sondern eine halbnackte Indianerin im kurzen, bunten, federgeschmückten Röckchen, auf dem Kopfe eine bunte Federkrone, Papageienfedern, und überhaupt gar keine Indianerin, sondern eine Südsee-Insulanerin in ihrem heimatlichen Putz, dem heißesten Süden entnommen, für den heißesten Süden berechnet!

Das hatte Nobody auf den ersten Blick erkannt, und auf den zweiten erkannte er etwas anderes, was ihn in vielleicht nur noch größeres Staunen versetzte, das schon mehr an Furcht und Schreck grenzte.

Er hatte kein lebendes Wesen vor sich. Diese Tochter des Südens war in einen Eisblock eingefroren, der aber durchsichtig wie Wasser war, und zwar hatte der Eisblock scharf abgesägte Seiten, also ein Würfel mit scharfen Kanten, und in diesem stand das junge Weib aufrecht, den linken Fuß etwas vorgesetzt, in der linken Hand den Bogen, mit der rechten den gefiederten Schaft des Pfeiles gefaßt und mit ihm zugleich die Sehne zurückziehend, das linke Auge etwas zugedrückt, mit dem rechten zielend, dementsprechend auch das Haupt etwas nach rechts übergelegt – eine vollkommen natürliche Stellung.

Nobody warf einen Blick um sich, kein fremder Mensch war zu sehen, keine Spur von einem solchen, und dann wandte er sich an seinen Begleiter, welcher mit über der Brust verschränkten Armen dastand und das eingefrorene Weib so gelassen betrachtete, als befände er sich in einem Wachsfigurenkabinett.

»Scott! Edward Scott!!« rief Nobody außer sich, jenen am Arm packend. »Ich beschwöre Sie – was wissen Sie von diesem künstlich eingefrorenen Mädchen – was wissen Sie davon, wie diese Wilde von einer Insel der Südsee hierhergekommen ist?!«

Der junge Kanadier hatte kein Staunen, keine unwillige oder vorwurfsvolle Gegenfrage, ruhig löste er die verschränkten Arme von der Brust, er hob die rechte Hand mit zwei ausgestreckten Fingern empor, und feierlich erklang es:

»Bei Gott dem Allmächtigen, an den ich glaube – ich weiß nichts von alledem – ich habe auch nicht geahnt, daß ich hier so etwas oder etwas Aehnliches finden würde!«

Mit einem gemurmelten ›Verzeihen Sie mir‹ wandte sich Nobody von ihm ab, nochmals musterte er die Umgebung, ging hinter die nächsten Hügel, erklomm den höchsten, hielt Umschau, und dann kehrte er zurück, um mit ruhigem Blute das Wunder näher zu untersuchen.

Es war nicht etwa eine Puppe, sondern ein Wesen aus Fleisch und Blut. Nach der schwarzbraunen Haut, der Kopfbildung und den Gesichtszügen, nach der Kostümierung und vor allen Dingen nach den vorhandenen Tätowierungen hielt Nobody sie für eine Eingeborene von den Salomons-Inseln, welche fast auf dem Aequator liegen und von einigen Geographen zum australischen, von anderen noch zum malaiischen Archipel gerechnet werden.

In Anbetracht, daß die Kinder des heißen Südens schnell reifen, schätzte Nobody das vollentwickelte Weib oder Mädchen auf höchstens sechzehn Jahre; und zeichnen sich alle diese Südsee-Insulanerinnen durch schöne Körperformen und angenehme, sanfte Gesichtszüge aus, so war dies ein ganz bevorzugtes Exemplar der Rasse.

Ihre Bekleidung bestand aus überhaupt nichts weiter als aus dem kurzen, nicht einmal bis zu den Knien reichenden Röckchen aus bunten Federn – oder die Federn von Papageien und Paradiesvögeln waren auf einen festen Stoff aufgenäht – und dann als Kopfbedeckung auf dem langen, schwarzen Haar eine bunte Federkrone. Es war die Festtracht jener Insulanerinnen, und dazu gehörte auch, daß die Haare mit Korallenschnüren durchflochten waren, gehörten die goldenen Arm-, Hand- und Fußspangen, nicht minder die großen Ohrringe.

Nun allerdings tragen diese Wilden nur messingnen Schmuck, den ihnen europäische Schiffe bringen, englisches Fabrikat, den sie blankputzen. In dem Eise hätte er sich keine Stunde so blank gehalten. Also mußten die Spangen wohl von Gold oder doch vergoldet sein. Oder man konnte ja auch eine Häuptlingstochter vor sich haben, die sich einen echten Schmuck wohl leisten kann.

Aber es war überhaupt etwas Theatralisches daran, etwas Herausstaffiertes, etwas, was wirklich an das Wachsfigurenkabinett erinnerte.

So z. B. sind die Frauen dieser Insulaner in der Führung der Waffen ganz unbewandert, und diese hier sollte sich eben als Bogenschützin produzieren. Doch sonst war alles echt an ihr, bis auf Bogen und Pfeil, die unverkennbar von den Salomons-Inseln stammten, einheimische Arbeit.

Keine Spur von Verfall! Warum atmete die Brust nicht? Warum ließ sie den befiederten Pfeil nicht entschwirren? Sie befand sich eben in einem Eisblock eingeschlossen! Und der hatte sie so gut konserviert! Selbst die kleine Narbe oberhalb des linken, runden Knies war noch ganz frisch, noch ganz frisch die leichte Verletzung an dem kleinen, nackten Fuß. Am wunderbarsten aber war das rechte, zielende Auge, wie hell das noch blickte, und nicht minder das linke, wie natürlich das blinzelte, wie die Pupille unter dem halbgesenkten Lid noch leuchtete!

»Mr. Scott, Ihr Urteil!«

»Die ist nicht zufällig eingefroren.«

»Natürlich nicht. Auch diese Leiche ist vorher künstlich präpariert worden, dann hat man sie einfrieren lassen, und zwar muß dabei eine ganz geniale Methode angewendet worden sein, um ihr diese Stellung zu geben.«

»Auch? Also ein Pendant zu jener Europäerin, die sich in dem Motorboote befand.«

»Sicher. Wir haben es mit einer Person zu tun, welche Leichen präpariert, welche mit menschlichen Körpern Experimente anstellt.«

»Und diese Person ist der Mann, welchem jenes Mephistogesicht voll Haß und Hohn angehört.«

»Sagt Ihnen das Ihr Doppelgänger?«

»Nein. Darüber äußerte ich mich schon. Nur eine Ahnung, die ich nicht loswerden kann.«

»Und mir kommt jetzt dieselbe Ahnung. Ja, aber ... wie kommt nun die Südsee-Insulanerin in dem Eiswürfel hierher auf den 83. Polarkreis? Wie ist sie hierhergebracht worden? Von wem?«

Das braune Mädchen in dem Eisblock gab keine Antwort, so wenig wie der Himmel.

Der herbeigekommene Bruno war es, welcher auf etwas aufmerksam machte, was Nobody allerdings auch sehr bald erkannt hätte.

Auch hier war der Boden mit spiegelglattem Eis bedeckt. Aber von dem Blocke aus liefen in der Eisfläche nach Norden Striche und Streifen, die man mit den Augen eine ziemliche Strecke weit verfolgen konnte, und diese glatte Ebene senkte sich etwas, der Eisblock war offenbar auf ihr gerutscht, bis eine kleine Bodenunebenheit ihn noch vor dem Hügel aufgehalten hatte.

Sie verfolgten die Spur etwa 200 Meter weit, wo sie aufhörte. Hier schien der Eisblock ursprünglich gestanden zu haben. Warum gerade hier? Wie er hierherbefördert worden war, das war aus nichts zu erkennen.

Plötzlich heulten die Hunde wütend oder auch furchtsam auf, und hätte Bruno nicht das Leitseil um die Hand geschlungen gehabt, sie wären ihm durchgegangen.

»Ein Eisbär! Er greift uns an!« rief Scott, sprang nach dem Schlitten und nahm seine handbereitliegende Doppelbüchse, während sich Nobody begnügte, seinen Revolver zu ziehen, dessen zöllige Kugel, von todsicherer Hand abgeschickt, auch für einen Eisbären genügte.

Das riesige Tier war hinter einem Hügel hervorgekommen, und es mußte von grimmigem Hunger geplagt sein, daß es so ohne weiteres sofort zum Angriff überging, zumal man annehmen mußte, daß es den Menschen noch gar nicht kannte, und der aufrecht gehende Herr der Schöpfung flößt jedem Raubtiere beim ersten Anblick Schrecken ein.

In einem kurzen Galopp eilte die Bestie auf die Menschen zu, doch sah es sehr unbehilflich, fast komisch aus, denn der Bär rutschte auf dem spiegelglatten Eis beständig aus, fiel mit der Nase auf den Boden, als wolle er einen Purzelbaum schlagen.

Scott stand mit angeschlagenem Gewehr neben Nobody. Doch da ließ er es wieder sinken, und während er mit starren Augen das ankommende Tier betrachtete, legte er seine Hand auf Nobodys bewaffneten Arm.

»So benimmt sich kein Eisbär, wenn er auf einen Menschen losgeht!« flüsterte er.

»Was sagen Sie da?« stieß Nobody erregt hervor.

Auch ihm war das Benehmen schon höchst merkwürdig vorgekommen. Er hatte ja noch keine Erfahrung mit Eisbären; aber gewiß, so tölpisch rennt wohl keiner auf Menschen zu, die er angreifen will, auf keine andere Beute. Und dieses Brummen, das klang ja eher gutmütig denn drohend!

»Dieser Eisbär ist ... gezähmt!«

Man mußte sich schnell entscheiden, ob man das furchtbare Raubtier als Freund oder Feind empfangen wollte; keine fünfzig Schritt war es mehr von ihnen entfernt, und nun stelle man sich vor, um was es sich hier handelte.

»Ich riskiere,« sagte Scott, die Büchse auf den Boden legend. »Nobody, bleiben Sie mit dem Revolver hinter mir, oder nehmen Sie lieber mein Gewehr, es ist schon entsichert, zuletzt muß sich der Bär unbedingt doch noch auf den Hinterfüßen aufrichten, oder es ist kein Bär, und dann ...«

»Halt! Das überlassen Sie mir, ich werde das Tier empfangen!«

Und schon war Nobody einige Schritte vorausgeeilt, dort blieb er stehen, in der rechten Hand den schußbereiten Revolver, die linke gebieterisch ausgestreckt.

»zzziyyy Where is your master?zzz/iyyy Wo ist dein Herr!«

Dabei hatte er sein Auge fest auf die des Tieres gerichtet, er konzentrierte seine Willenskraft, und Nobody hatte schon oft genug bewiesen, daß seinem machtvollen Blicke auch der bissigste Hund, jedes ihm in der Wildnis begegnende Raubtier erlag.

Aber diesmal mißglückte das Experiment. Im nächsten Moment hatte der Bär ihn erreicht, und er kümmerte sich nicht um den machtvollen Blick, im Nu hatte er sich aufgerichtet, um den Menschen mit seinen Pranken zu umarmen ... und da lag Nobody auch schon am Boden!

Doch nichts weiter als ein rauher Zungenschlag ins Gesicht, dann hatte das riesige Tier unter einem lauten Grunzen, das aber eher wie ein Jauchzen klang, auch Mr. Scott zur Strecke gebracht, und als Nobody, im Liegen seinen Revolver sichernd, sich wieder aufrichten wollte, wurde er abermals mit einem kosenden Tatzenhieb zu Boden geschleudert, und dann war das vor Freude ausgelassene Ungeheuer wieder über Scott, und dann wußte er Nobodys Aufstehversuch abermals zu vereiteln, und es genügte noch nicht, daß sich nur diese beiden Menschen auf dem glatten Eise herumkugelten, die sechs Hunde gebärdeten sich wie wahnsinnig, sie wollten auf den Bären los; aber der hundekundige Bruno erkannte sofort, daß das keine Kampfeswut war, sondern die hatten mit ihrem Tierinstinkt nun auch schon den Charakter des Bären erkannt, die wollten mitspielen, und sie ließen sich nicht mehr halten, und Bruno fürchtete für den Schlitten, so gab er durch den Ruck einer einzigen Leine sämtliche sechs Hunde einzeln frei. Und nun die sechs Hunde los auf den Bären, Bruno wurde zu Boden gerissen, und es bildete sich ein balgender Haufen von sechs Hunden, drei Menschen und einem Eisbär, und alles bellte, heulte, lachte und grunzte vor Vergnügen.

»Gott's Wetter!« lachte Nobody, als es ihm gelungen war, sich zu retirieren. »Also auf diese Weise wird man am Nordpol empfangen!«

Jetzt hatte es der auf dem Rücken liegende Bär nur noch mit den ihn am Pelze zausenden Hunden zu tun, er wehrte sich, warf sie mit den Pranken hin und her, spielte Fangeball mit ihnen. So konnten sich auch die beiden anderen aufrichten, und als Scott es tat, sah und hörte Nobody diesen Mann zum ersten Male aus vollem Halse lachen.

Bruno hatte die Peitsche genommen und bearbeitete die Hunde, auch der Bär bekam einige Hiebe ab, und siehe da – allerdings nahm er sie nicht geduldig hin, schnell sprang er auf, aber nur, um zu einem anderen Menschen zu fliehen, der keine Peitsche in der Hand hatte, zu Nobody, kroch zu seinen Füßen, benahm sich ganz wie ein Hund, so halb ängstlich, halb freudig.

Die Hunde waren wieder eingespannt, und das Lachen war verstummt. Mit bedeutsamen Blicken, welche mehr sagten als Worte, sahen sich die beiden Männer an.

Dann streichelte Nobody den Kopf des gewaltigen Tieres.

»Wo ist dein Herr?«

Sofort erhob sich der Eisbär, trabte nördlich davon, schaute sich um, kam auch die Hälfte des Weges wieder zurück – benahm sich ganz wie ein kluger Hund, der zum Mitgehen auffordert.

»Wir sollen ihm folgen.«

Und sie folgten ihm.

»Sein Herr ist ein Engländer oder spricht doch zu dem Bären auf englisch,« sagte Nobody nur noch, dann nichts weiter. Aber es läßt sich wohl denken, was in den drei Männern vorging, als sie dem vierbeinigen Führer folgten.

Zu wem würde er sie führen? Was würden sie zu schauen bekommen? Was für ein Mensch konnte es sein, der hier oben auf dem dreiundachtzigsten Breitengrade im ewigen Schnee und Eis hauste? Ein Eskimo ganz sicher nicht, der hätte zu dem dressierten Eisbären nicht Englisch gesprochen, und schon dessen Abrichtung war ein Wunder zu nennen.

Das Ziel sollte nicht so bald erreicht werden. Eine gute halbe Stunde trabte der Bär voraus, der sich also sehr weit von dem Orte, wo er sich für gewöhnlich aufhielt, entfernt haben mußte. Vielleicht auch war er zur Bewachung des eingefrorenen Weibes dort postiert gewesen, allerdings wohl nicht zur Abwehr von Menschen, bei deren Anblick er ja ganz außer sich vor Freude gewesen war.

Doch durfte man aus dem Benehmen dieses gezähmten Raubtieres auf den Charakter seines Herrn schließen? Das war sehr die Frage!

Immer wilder wurde die Gegend, die erst einzelnen Hügel vereinten sich zu einem zerklüfteten Gebirge. Aber der Bär wußte immer Wege und Pässe zu finden, bei deren Ueberwindung der Hundeschlitten nur wenig Schwierigkeiten hatte.

Und dann, als sie hinter einer Bergwand hervorbogen, zeigte sich ihnen ein Naturphänomen, dessen Erklärung sie nicht sogleich fanden.

Ganz sicher hatten sie festes Land unter ihren Füßen. Daß der Boden aber irgendwo zum Vorschein kam, davon konnte natürlich keine Rede sein. Man muß bedenken, daß, seitdem die Erde vor ungezählten Jahrtausenden an ihren Polen erkaltete und schließlich vereiste, hier oben sich unaufhörlich die Schneemassen ansammeln, ohne jemals wieder zu verschwinden. Wohl tauen sie einmal oberflächlich etwas ab, es mag auch etwas bei trockener Witterung verdunsten, sonst aber müssen noch die gesamten Schneemassen hier liegen, welche seit jenen ungezählten Jahrtausenden, vielleicht Jahrmillionen, vom Himmel herabgekommen sind. Dieser Ursache schreiben Geologen und Astronomen auch die sich nach und nach bemerkbar machende Veränderung der Jahreszeiten für die ganze übrige Erde zu, denn diese einseitige Anhäufung von gewaltigen Gewichtsmassen muß unbedingt das Gleichgewicht verschieben, die Achsenlage und Rotation der Erde muß nach und nach eine andere werden, die Regenmenge in den anderen Zonen spärlicher, usw. (Doch brauchen die Regenschirmfabrikanten noch keine Sorge zu haben, so schnell geht das nicht!)

Der laue Südwind, der vor einigen Tagen wehte, hatte die obere Schneekruste zum Schmelzen gebracht, auch hier im Gebirge, so war jetzt alles mit einer Eiskruste bedeckt, überall hingen mächtige Eiszapfen. Nur in geschützten Spalten und auch auf den Nordseiten der Berge war noch richtiger Schnee zu finden. Hieraus erklärte sich auch die Beschaffenheit des wasserhellen Eisblocks. Auch er mußte – vorausgesetzt, daß er zur Zeit des starken Schneefalls schon dort gestanden hatte – sich mit Schnee bedeckt haben, der war durch den Südwind weggeschmolzen, aber das Eis bot viel mehr Widerstand, nur die Kanten waren ein klein wenig abgerundet worden, dann trat wieder Kälte ein, ohne neuen Schnee zu bringen.

Und nun plötzlich, nach Umgehung einer Eismauer, zeigte sich den erstaunten Augen in der weißen Eiswüste ein hoher Berg, dessen dunkle Farbe von der zutage tretenden Erde und von Felsmassen herrührte.

Dieser Anblick wirkte so überraschend, so bestürzend, daß alle drei gleich Halt machten, ihre Füße wollten nicht weiter, sprachlos vor Staunen standen alle drei da.

Dann freilich hatten die beiden gebildeten Männer schnell ein Urteil gefunden.

»Ein Vulkan!!« riefen Nobody und Scott wie aus einem Munde.

»Ein Vulkan? Der raucht ja nicht einmal,« meinte Bruno.

»Das ist auch nicht nötig,« wurde ihm erklärt, »es gibt genug Vulkane, welche nicht als erloschene zu bezeichnen sind, welche noch glühende Lavamassen bergen, die sie aber nur zuzeiten oder überhaupt niemals auswerfen.«

So einen hatte man unbedingt vor sich. Allzu groß konnte die ausstrahlende Wärme des inneren Feuers nicht sein; denn beim Näherkommen erkannte man, daß auf dem Berge noch genug Schneemassen lagerten, nur auf den geneigten Flächen war der getaute Schnee abgeflossen, hier und da hatten sich auch kleine Gletscher gebildet. Doch sonst traten überall nackte Felsen und Erde zutage. An eine Vegetation ist in dieser Region nicht zu denken, und sei der Boden unterirdisch auch noch so gut geheizt, und die ausstrahlende Wärme des Berges konnte nur eine ganz geringe sein, denn schon in der nächsten Nähe war der Boden wieder mit festem Eis bedeckt.

Dieser Berg war ganz sicher das Ziel, dort konnte man sich die Behausung eines Menschen vorstellen, hier mußte er auch vor der grimmigsten Kälte des Polarwinters geschützt sein, man brauchte nur an eine tiefe Höhle zu denken.

Richtig, der führende Bär, von Nobody dicht gefolgt, bog um eine vorspringende Ecke und verschwand in dem Eingänge einer finsteren Höhle.

Auch in seinem Pelzkostüm hatte Nobody seine kleine Benzinlaterne mit magnetoelektrischer Zündung bei sich, er ließ sie aufflammen, im Scheine des breiten Blendstrahles erkannte er, daß es ursprünglich wohl eine natürliche Höhle war, die Wände von Basalt, aber auch der Meißel eines Menschen hatte viel mitgeholfen. Der ebene Boden stieg nach hinten etwas an, infolgedessen war er vollkommen trocken, nur der Bär hatte eine nasse Spur hinterlassen; der an seinen Sohlen haftende Schnee war augenblicklich geschmolzen, ein Zeichen, daß der Boden sehr warm war, wenn auch nicht die Höhle selbst, zu der ja die bitterkalte Außenluft ungehinderten Zutritt hatte.

Im Hintergrund stand der Bär an der Wand aufgerichtet, Nobody sah noch, wie er die Klinke einer eisenbeschlagenen Tür aufdrückte, was ja jeder große Hund ohne Dressur lernt, das riesige Tier lehnte sich dagegen, die Tür ging auf, und Nobody wurde von einer wahren Backofenhitze getroffen, die ihm aus der Finsternis entgegenschlug.

Doch diese übermäßige Hitze war nur eine Täuschung, wie es sich später erwies. Das Thermometer zeigte nirgends mehr als eine Temperatur von 18 Grad Celsius – eine ganz angenehme Wärme.

Die schwere Tür war auf schrägen Fall gebaut, sie hätte sich von selbst wieder geschlossen, wenn Nobody sie nicht aufgehalten hätte. Innen war wieder eine Klinke, außerdem steckte im Schloß ein großer Schlüssel, den sich Nobody gleich aneignete. Falls der Bär nicht imstande war, die Tür auch von innen zu öffnen, wobei er sie also zurückziehen mußte, was für die Pfote eines Tieres doch Schwierigkeiten bietet, so mußte er von einem Menschen herausgelassen werden. Und welchen Menschen würde man finden? Nun, das mußte sich ja gleich zeigen.

Wenige Worte der Verständigung, und auch Scott trat ein, während Bruno draußen am Schlitten blieb, unauffällig den geladenen Revolver in Bereitschaft.

Die Lampe erleuchtete die Fortsetzung der Höhle, die also nur eine Scheidetür erhalten hatte. Dann war nur noch an der Seite eine zweite Tür vorhanden, kleiner und aus Holz. An dieser kratzte winselnd der Bär, drückte auch an der Klinke, doch im Schlosse steckte ein Schlüssel, den Nobody erst herumdrehen mußte, was der Bär nicht fertig brachte.

Was sich nun zeigte, konnte die staunende Bestürzung der Eindringlinge nur vermehren.

Es war ein geräumiges Gemach, als Arbeitszimmer und Laboratorium eines Chemikers und wohl auch experimentierenden Physikers eingerichtet.

Wir können hier die Ausstattung eines Laboratoriums nicht näher beschreiben. Bemerkt sei nur, daß es nicht etwa so ein altertümliches Studierzimmer eines Dr. Faust oder Alchimisten war, angefüllt mit in Spiritus gesetzten Mißgeburten, mit unheimlichen Maschinerien und anderem Teufelszeug, sondern ein modernes Laboratorium, in dem eine musterhafte Ordnung und Sauberkeit herrschen muß.

Nun aber auch ein erstklassiges Laboratorium, das sich dem staunenden Auge hier oben im ewigen Eis zeigte! In Glasschränken wohlgeordnet alle Chemikalien, die man zur qualitativen und quantitativen Analyse braucht, dazu die sämtlichen notwendigen Apparate, vor allen Dingen eine Wage, die durch eine sogenannte Reitervorrichtung das Ablesen eines tausendstel Milligrammes gestattete – wenn, wie bei dieser hier, alle Achsen auf Diamanten gelagert sind, so repräsentiert eine solche chemische Wage ein großes Vermögen – Retorten, Phiolen, Kochflaschen, Porzellanschalen, und alles in sauberster Ordnung gehalten, am Experimentiertisch Gebläse und Luftpumpe, eine Abdampfvorrichtung, Säureausguß, Giftraum – es fehlte überhaupt absolut nichts!

Nur Gas war nicht vorhanden. Aber das kann vollständig durch Spiritus in der Berzeliuslampe ersetzt werden, alte Praktiker der Chemie ziehen es sogar dem Gas noch immer vor, besonders im Gebläse, um die höchsten Temperaturen zu erzielen.

Dafür aber waren in dem fensterlosen Raume, der nur verschiedene Ventilationsröhren aufwies, zahlreiche elektrische Glühlampen angebracht, was Nobody nun vollends kopfscheu machte

Woher kam die Elektrizität? Die grünumsponnenen Drähte verliefen in einem hölzernen Kasten. Nobody nahm den Deckel ab, er sah einen kleinen Elektromotor. Doch dieser, welcher das Gebläse, die Luftpumpe und andere physikalische Apparate trieb, erzeugte die Kraft nicht selbst. Er erhielt die Elektrizität aus einem zweiten Kasten, in dem Nobody eine Batterie von Akkumulatoren sah, und auch diese Batterie mußte doch erst gespeist werden. Gegenwärtig war sie ungeladen, die Birnen wollten nicht erglühen.

Ein starkes Kabel ging durch die Felsenwand, in die auch eine zweite Tür eingelassen war. Sie führte in das theoretische Arbeitszimmer des Gelehrten, ausgestattet mit großem Schreibtisch, die Wände mit Büchern besetzt, deren Titel meist chemische Werke anzeigten, sowohl in englischer, französischer, deutscher als auch in lateinischer Sprache.

Auf dem Studiertisch lag nichts Geschriebenes, die Fächer waren verschlossen. Nobody schob die nähere Untersuchung für später auf, jetzt wollte er erst das Kabel verfolgen, welches nochmals die Wand durchbrach.

Der nächste Raum war nur eine nackte Kammer, in der Ecke befand sich am Boden ein Loch von etwa zwei Meter Durchmesser, in dieses lief das an der Wand befestigte Kabel, hier aber mit einer Kautschukhülle umkleidet.

»Ein Brunnen!«

Der Blendstrahl der Laterne zeigte kein Wasser, keinen Boden. Aber da hing ein Seil, daran ein kupfernes Gefäß befestigt. Nobody ließ es hinab, bei etwa zehn Meter Tiefe fand es Widerstand, senkte sich nicht weiter. Nobody ließ das Seil auf und nieder spielen, zog es wieder herauf, das Gefäß hatte sich mit Wasser gefüllt. Nobody kostete es.

»Salzwasser! Bitteres Seewasser!«

So stand dieser Berg trotz seiner inneren Wärme, die nur vulkanischen Ursprunges sein konnte, durch einen unterirdischen Tunnel mit dem Meere in Verbindung, das Wasser drang bis hierherein!

Wohin aber führte das Kabel? Woher holte es die Elektrizität? Wo und wie wurde diese erzeugt?

Sprossen und dergleichen gab es nicht. Nobody würde auf andere Weise hinabzudringen wissen, er würde schon ein starkes Seil auftreiben.

Zunächst aber wollte man sich noch einmal der Führung des Eisbären überlassen, der sich doch nicht umsonst so auffällig benahm. Er hatte immer nur darauf gewartet, daß man ihm die Türen öffnete, jetzt war er durch eine unverschlossene Oeffnung verschwunden, kehrte zurück, schien die beiden Männer aufzufordern, ihm zu folgen, lief wieder davon, kehrte abermals zurück, packte Nobody sogar beim Pelzrock und zog ihn fort.

Man folgte dem klugen Tiere. Ein langer Gang kam, in dem die Wärme fast bei jedem Schritte merklich abnahm. Noch eine Tür, die der Bär selbst öffnen konnte, und man befand sich in einem weiten Raume, angefüllt mit Kisten und Kästen und Fässern aller Art, jedenfalls Proviant, der bei der herrschenden Temperatur von nur 4 Grad Wärme, wie ein an der Wand hängendes Thermometer angab, zu seiner Erhaltung die günstigsten Bedingungen hatte.

Auf Simsen standen eine Unmenge von gefüllten Einmachegläsern – genau dieselben, wie man sie in jenem Motorboote gefunden hatte!

Die beiden Männer sahen sich an, aber sie sagten nichts. Und der Bär hatte noch keine Ruhe, er wollte den beiden fremden Menschen noch etwas anderes zeigen.

Wiederum ein langer, langer Gang, und immer kälter wurde es, von der Decke hingen lange Eiszapfen herab. Nobodys kleines Thermometer zeigte schon 6 Grad Kälte; wieder eine Tür, die der Bär vergebens zu öffnen suchte, Menschenhand brachte es fertig. Eiskälte drang ihnen entgegen, und ...

Die weite Halle war ein Völkermuseum, das alle Menschentypen der ganzen Erde präsentierte, lauter solche gesägte Eisblöcke, darin stets ein oder auch mehrere Menschen eingefroren!

Des Detektivs Falkenauge zählte im Augenblick siebzehn solcher Eisblöcke, an den Wänden oder auch in der Mitte des Saales aufgebaut.

Hier ein Spanier in phantastischem Kostüm, wohl ein Bandit, der sich eine Zigarette drehte, und selbst das dünne Zigarettenpapier war in dem Eise wohlerhalten; dort ein nackter Papuaneger mit künstlicher Frisur, die Kriegskeule schwingend; in der Mitte eine ganze Gruppe, fünf indische Gaukler, mehrere Brillenschlangen nach der Pfeife tanzen lassend; daneben ein einzeln eingefrorener Europäer, sicher ein Engländer im Tropenkostüm, das Opernglas vorm Auge, den Schlangenbändigern interessiert zusehend; dahinter eine junge Dame in eleganter Toilette, den Fuß auf einen Stein gestellt, sich niederbeugend, um die Schnuren des Lackstiefelchens zu binden; dort links ein alter Indianer mit Skalplocke, einen Hirsch ausweidend; daneben ein blondlockiger Knabe, mit dem Netze einem Schmetterlinge nachjagend ...

Wir können nicht jede einzelne der siebzehn Figuren und Gruppen beschreiben. Auch Nobody hätte es nicht in seinem Tagebuche tun können; denn gleich nach dem ersten, allgemeinen Ueberblick wurde seine Aufmerksamkeit durch etwas anderes gefesselt, und dann später sollte er keine Zeit mehr zu einer genaueren Besichtigung haben.

Der Bär war gleich auf einen großen Haufen von Eisbruchstücken losgestürzt und begann unter Winseln die einzelnen Stücke mit der Pranke zur Seite zu schleudern.

Unter diesem Trümmerhaufen lag etwas verborgen, was der Bär heraus haben wollte, und Nobody erkannte gleich die Ursache dieses Trümmerhaufens. Ueber demselben hing an der Decke ein dicker Strick, der offenbar gerissen war. Auch das war ursprünglich solch ein großer Eisblock gewesen, er hatte dort oben an der Decke gehangen, war herabgestürzt und am Boden zerschmettert.

Vor allen Dingen mußte man untersuchen, was der Bär unter diesen Trümmern witterte oder schon wußte. Man war ihm behilflich, die Eisstücke zur Seite zu räumen; bald kam ein Stiefel zum Vorschein, das Bein eines Mannes, jetzt konnte man den ganzen Mann mit leichter Mühe hervorziehen – einen Arbeiter in dicker Wolljacke, ein blondhaariger Europäer mittleren Alters, durch das Eis völlig gut erhalten, aber der Brustkasten eingedrückt.

Daß der Mann sich schon als präparierte Leiche in dem Eisblock befunden hatte, das hielt Nobody für ausgeschlossen. Eine Eissäge erzählte ihm auch noch mehr. Dieser Mann mit den schwieligen Händen hatte eben an dem an der Decke hängenden Eisblock gearbeitet, dieser war herabgestürzt und hatte ihn zerschmettert. Wohl also war er hier zu Hause, aber den Gelehrten, der dort im Laboratorium experimentierte, hatte man sicher nicht vor sich, sondern eben nur einen Hilfsarbeiter, vielleicht den ...

Nobody brach erschrocken in seinen Kalkulationen ab. Sein Blick war zufällig auf seinen Begleiter gefallen ... und da stand dieser unter den wie lebendig erscheinenden Toten, als lebendiger Mensch mehr wie ein Toter erscheinend, das sonst so gesunde Gesicht plötzlich leichenfarben, die stieren Augen weit hervorgequollen, überhaupt einen wahrhaft entsetzlichen Eindruck machend, den man gar nicht beschreiben kann. Eben ein aufrecht stehender, schon in Verwesung begriffener Leichnam.

»Um Gottes willen, Scott, was ist Ihnen?« Doch der zur Leiche erstarrte Mann regte sich nicht, gab keine Antwort. Nobody folgte der Richtung der fürchterlich stieren Augen – sie waren auf den toten Arbeiter geheftet, das konnte der Grund nicht sein – da fiel es Nobody ein, daß Scott jetzt eine seiner Visionen haben könnte – und als er das dachte, da kehrte auch schon mit der gesunden Gesichtsfarbe das Leben wieder zurück, aber nur, um einem Ausdruck von Furcht und Schreck Platz zu machen.

»Fort, fort von hier!« stieß Scott in wahrhaft wahnsinniger Furcht hervor, und schon wandte er sich zur Flucht.

Noch einmal gelang es Nobody, ihn aufzuhalten.

»Was haben Sie gesehen? Was hat Ihr Doppelgänger gesagt?«

Aber Scott wollte sich nicht halten lassen.

»Fort von hier!! Oder es ist unser Tod! Ich sah Sie und auch mich selbst in solch einem Eisblock eingefroren! Mehr kann ich jetzt nicht sagen! Fort, nur fort von hier, oder wir sind verloren!!«

Und da plötzlich fühlte auch der sonst so eiserne Detektiv, der für gewöhnlich sicher nichts von Furcht wußte, wie sich ihm das Haar unter der Pelzkappe sträubte; und man vergegenwärtige sich nur die Situation und die ganze Umgebung, um das begreiflich zu finden, und Nobody, den Kopf gewendet haltend, blickte gerade in das Antlitz der jungen Dame, jedenfalls eine pikante Französin, welche ihre Augen nicht auf den Fuß gerichtet hatte, dessen Schnuren sie band, sondern so kokett, wie sie dabei das Spitzenkleid raffte, um den durchbrochenen Strumpf zu zeigen, unter dem es verführerisch weiß leuchtete, so kokett lächelte sie dabei auch den Beobachter an, und das konnte doch überhaupt keine Leiche sein ...

»Das junge Mädchen, welches übrigens gar nicht tot ist,« hörte Nobody eine schreckliche Stimme sagen, jene Worte, die mit Maschinenschrift statt der entführten Leiche zurückgelassen worden waren, und ... kurz und gut, Nobody fühlte es plötzlich eiskalt über seinen Rücken hinablaufen, er selbst fühlte sich schon in solch einem Eisblock sitzen, und er schloß sich dem fluchtähnlichen Rückzüge seines Begleiters an, nur dafür sorgend, daß die Türen immer so geschlossen wurden, wie er sie gefunden hatte.

»Dortheraus würde unser Verderben kommen, wenn wir noch länger hier verweilten!« flüsterte Scott, beim Passieren jener kleinen Kammer mit furchtsamer Scheu auf das Wasserloch deutend, und Nobody glaubte ihm.

Draußen stand noch Bruno mit dem Schlitten; dieser wurde gewendet, und zurück ging es nach dem Süden, immer noch fluchtähnlich, und auch bei der eingefrorenen Südsee-Insulanerin ward kein Aufenthalt gemacht.

Nobody sagt in seinem Tagebuche, er habe es nie bereut, der Warnung seines Freundes so ohne weiteres Gehör geschenkt zu haben, ganz abgesehen von seinem eigenen Gefühle. Er nennt es keine Schwäche, gar nicht versucht zu haben, das Rätsel zu lösen, obgleich ihm doch der Schlüssel fast so gut wie in die Hand gegeben worden war.

Einmal hatte er von der Glaubwürdigkeit der Prophetengabe seines Freundes schon zu überzeugende Beweise bekommen, und dann mußte man auch die ganze Situation erwägen. Der Gelehrte, der dort oben im ewigen Eis und Schnee sich ein Laboratorium eingerichtet hatte, das war doch kein gewöhnlicher Mensch; wer wußte, was der für Hilfsmittel besaß, um fremde Eindringlinge in sein geheimnisvolles Reich zu vernichten oder doch festzuhalten, unschädlich zu machen – nein, Nobody hatte ganz richtig gehandelt, als er der Warnung seines Begleiters Gehör geschenkt!

 

Wir wollen dieses Kapitel, welches Nobodys erste Polarexpedition erzählt, so kurz wie möglich beenden.

Eine Zeit der furchtbarsten Strapazen folgte; Nobody sollte noch auskosten, was solch eine Polarreise zu bedeuten hat, er hatte das Schicksal mit seiner ›Botanisiertrommel und belegten Brötchen‹ spottend herausgefordert.

Anstatt sieben Tage brauchte man zur Rückfahrt auf Schneeschuhen nach dem Orte, wo der ›Polarstern‹ eingefroren war, drei Wochen. Ununterbrochener Schneefall trug schuld an dieser Verzögerung. Die drei Männer kamen richtig ohne Schlitten an, ohne einen einzigen Hund: man hatte alle geschlachtet und gefroren auf dem Rücken getragen, das letzte Pfund Fleisch war aufgegessen, und ... vom ›Polarstern‹ war keine Spur mehr zu sehen!

Zwei Tage lang eilten sie kreuz und quer über die Schneeflächen, ohne den Dreimaster zu finden, und hätten sie nicht zufällig das Winterlager einer Eisbärin mit ihren Jungen entdeckt, die sie erlegten, so wären sie des Hungers gestorben.

Mit gefrorenen Fleischstücken schwer bepackt, auch noch mit den Schlafsäcken belastet, traten die Schneeschuhläufer den Landweg an. Erst hinüber nach der Ostküste von Grönland, an dieser gegen zweihundert deutsche Meilen entlang, dann quer durch Grönland nach der Westküste.

Am zweiunddreißigsten Tage der Wanderung, von dort aus, wo der ›Polarstern‹ eingefroren gewesen, erreichten sie Fiskernäs, vor Hunger und Erschöpfung halbtot, und hätten sie nicht ab und zu eine Möwe geschossen, deren zähes, traniges Fleisch sie mit den Zähnen zerrissen, sie wären überhaupt nicht nach Fiskernäs gekommen. Nicht einmal mehr einen Polarfuchs hatten sie gesehen, viel weniger einen Bären. In Fiskernäs wollte man gar nicht glauben, daß die drei Männer auf Schneeschuhen zu dieser Zeit nur von der Ostküste herübergekommen seien, geschweige denn vom 83. Breitengrad, wovon auch gar niemandem etwas erzählt wurde.

So war es also Ende Oktober, hier schon vollständiger Winter, der aber doch noch eine Aenderung zulassen konnte. Diese trat denn auch ein. Allerdings nicht Wärme, sondern eine von heftigem Sturme begleitete Springflut brach noch einmal die Eisdecke im Hafen, dies benutzte ein sich verspätet habender New-Yorker Fischdampfer, der schon eingefroren war, zum Versuch, noch das freie Meer zu gewinnen. Nobody und seine Begleiter begaben sich noch rechtzeitig an Bord, der Versuch gelang, acht Tage später trafen sie wohlbehalten in New-York ein.

Von dem ›Polarstern‹ war nichts bekannt, was auch gar nicht der Fall sein konnte. Wollen wir das Schicksal des Schiffes und seiner Mannschaft, für welche Nobody natürlich eine große Verantwortung fühlte, gleich hier erledigen.

Jener laue Wind, der drei Tage nach der Abfahrt des Schlittens geweht, hatte den ›Polarstern‹ zwar nicht befreit, wohl aber das Eis an vielen Stellen gebrochen, es herrschte eine starke Strömung nach Süden, das machtlos in einer Eisscholle sitzende Schiff wurde mitgetrieben, viele Tage lang, bis es auf dem 71. Breitengrade zum Stillstand kam, freilich für den ganzen Winter.

Dieser wurde gut überstanden, im Mai des nächsten Jahres kam der ›Polarstern‹ frei, Ende desselben Monats traf er wieder in New-York ein, zu einer Zeit, als Nobody von London aus eine Hilfsexpedition abzuschicken beschloß.

Er war glücklich, es nicht tun zu brauchen, und Kapitän und Mannschaft freuten sich nicht minder, daß der Mr. Wheeler noch am Leben war; denn nun wurde das Verhältnis unter dem Klänge von goldenen Münzen zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst.

 

Doch so weit sind wir noch nicht in der Zeit. Dieses halbe Jahr sollte für Nobody vielmehr ein sehr taten- und abenteuerreiches werden.

Wir versetzen uns in die kleine Kajüte, welche der Kapitän des Fischdampfers seinen drei Passagieren zur Verfügung gestellt hatte.

Für Nobody hatten einige reichliche Mahlzeiten genügt, um ihn völlig wiederherzustellen, auch der stählerne Körper des jungen Kanadiers hatte allen Strapazen getrotzt, nur Bruno mußte ein erfrorenes Ohr und zwei Finger mit dem probaten Katzenfett einsalben.

Die beiden, welche sich jetzt Freunde nannten, wenn sie nach englischer Sitte auch noch immer eine gewisse Förmlichkeit zwischen sich aufrecht erhielten, befanden sich allein in der Kajüte, in der es bei der Lampe recht traulich war, während der Dampfer von einer wilden See geschleudert ward.

Nobody vertraute seine Erinnerungen dem Tagebuche an, Scott las wie gewöhnlich, und als der Schreiber einmal aufsah und überlegend mit gerunzelter Stirn den Rauchwölkchen seiner Zigarre nachblickte, legte auch der Leser sofort, als hätte er auf diese Gelegenheit nur gewartet, sein Buch hin.

»Sie sind wohl recht unzufrieden mit mir?« fragte er leise.

Ueberrascht wandte sich Nobody ihm zu.

»Inwiefern, Edward? Ich wüßte nicht den geringsten Grund dazu.«

»Weil ich Sie in dem Augenblicke, da Sie glauben mußten, den Schlüssel zu dem Rätsel in der Hand zu haben, wieder fortzog, fast mit Gewalt.«

Es war das allererstemal, daß die beiden wieder davon sprachen. Während der fürchterlichen Schneeschuhpartie hatten sie entweder zwischen den Zähnen den Fuchsschwanz gehabt, durch den sie atmeten, oder sie hatten im zugezogenen Schlafsack gesteckt, da hatten sie an so etwas überhaupt gar nicht gedacht, dann waren sie sofort an Bord dieses Dampfers gegangen: jetzt waren sie hier zum ersten Male allein, und außerdem hätte Nobody von selbst gar nicht davon begonnen, und der junge Kanadier schien der stille, verschlossene Charakter bleiben zu wollen, auch seinem Freunde gegenüber.

»Ich hatte mich schon längst von Ihrer Sehergabe überzeugt,« entgegnete Nobody einfach, »und so glaube ich auch, daß es tatsächlich unser Verderben gewesen wäre, wenn wir dort auch nur einen Augenblick gewartet hätten.«

»Ich danke Ihnen,« murmelte Scott und beugte sich wieder über sein Buch.

Wie gedrückt das geklungen hatte! Und weshalb nur diese verzagte Gedrücktheit? Wenn dieser junge, starke Mann mit den kühnen Gesichtszügen doch nur einmal aus sich herausgegangen wäre! Und Nobody sollte später noch Proben davon bekommen, was dieser Mann an Energie und Tatkraft leisten konnte.

»Ja,« hob er da wieder an, auch wieder so seufzend, »was für einen Zweck hatte es da eigentlich, daß ich Sie erst dort obenhinaus in den eisigen Norden locke, das Leben von zwei Dutzend braven Menschen aufs Spiel setze, wenn wir am Ziele ganz resultatlos gleich wieder umkehren?«

Das klang wiederum sehr merkwürdig aus dem Munde gerade dieses Mannes, der die ganze Fahrt doch erst veranlaßt hatte. Der peinigte sich eben mit ewigen Selbstvorwürfen, ganz grundlos. Nun, Nobody wußte solch einen Charakter zu behandeln.

»O, diese Nordpolfahrt hat sogar sehr viel Zweck gehabt! Jetzt weiß ich doch, daß ich es nicht nur mit einem Gelehrten zu tun habe, der nicht nur ein einziges Mal die Leiche eines jungen Mädchen präpariert hat, sondern jetzt bin ich zur festen Ueberzeugung gekommen, daß auf der Erde ein gelehrtes Ungeheuer in Menschengestalt existiert, welches professionsmäßig mit Menschen, und jedenfalls auch mit lebenden, Experimente anstellt – allerdings wohl der Wissenschaft zuliebe – aber immerhin, hier liegt ein Verbrechen vor, welches unbedingt aufgeklärt werden muß – hier handelt es sich um ein teuflisches Ungeheuer, von dem die Welt befreit werden muß, oder es muß doch wenigstens alles ans Licht der Sonne! – Und daß ich zu dieser Erkenntnis gekommen bin, das habe ich nur Ihnen zu verdanken. Nein, Edward, diese Polarfahrt hat vielmehr ein außerordentliches Resultat gezeitigt.«

Die Wangen des Zuhörers dieser Erklärung hatten sich etwas wie vor Freude gerötet.

»So würden Sie abermals meinem Rate Gehör schenken?«

»Ob ich es tun werde? Ganz sicher!!« rief Nobody.

Scott zog seine Briefmappe, nahm einen mit Zahlen beschriebenen Zettel heraus und gab ihn Nobody.

»Das ist die letzte Ortsbestimmung – dort werden Sie das Weitere erfahren, wie Sie dem Ziele, der Lösung des Rätsels, näherkommen – vielleicht nur einen Schritt, vielleicht, um es sofort gelöst zu haben. Das weiß ich selbst nicht.«

Nobody fragte nicht mehr, auf welche Weise ihm das der Doppelgänger diktiert oder wie er sonst die abermalige geographische Ortsbestimmung erhalten hatte, er las sie – und mit grenzenloser Ueberraschung blickte er wieder auf.

»Das ist ...«

»Es dürfte sich wohl um London handeln. Die Karte habe ich noch nicht befragt, habe es nur ungefähr im Kopf.«

»Nein! Die Weichgrenze von London ist nördlicher! Edward, wissen Sie, wo ich wohne?!«

»In Kent. In Maidstone.«

»Nein!« rief Nobody immer lebhafter. »Zwischen Maidstone und London! Ich bin durch meinen Beruf so halb und halb zum Geographen geworden, der immer bis zur Sekunde wissen muß, auf welchem Breiten- und Längengrad er weilt! Und diese Sekundenangabe hier bezeichnete in England einen Platz von 31 mal 22 Metern! Und genau auf diesem Punkt der Erde steht mein Wohnhaus, meine Familienwohnung!!«

 

In New-York stattete Nobody nur einen Besuch in der Redaktion von ›Worlds Magazine‹ ab, für welche von ihm gegründete Zeitung er ja nach wie vor schrieb, übergab den Bericht über seine Polarreise, strotzend von haarsträubenden Abenteuern, nur nichts davon erzählend, was er seinem verschwiegenen Tagebuche anvertraut hatte; dann überzeugte er sich, daß das Motorboot, welches der Entführer der Leiche damals nicht etwa mitgenommen hatte, noch unversehrt in dem verschlossenen Wassertunnel des verlassenen Hauses lag, und trat die Rückreise nach London an, begleitet von Edward Scott und dessen Diener als seinen Gästen.

Sechs Tage später lag der Nordpolfahrer in den Armen seiner Frau und küßte seine Kinder – und nun konnte er warten, bis ihm das Schicksal die Lösung des Rätsels direkt ins Haus bringen würde.


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