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4. Im Teufelsbrunnen.

Die Passagiere des von Genua kommenden Dampfers drängten sich nach vorn, um das erreichte Ziel oder bei einer weiteren Reise doch die erste Zwischenstation zu betrachten: das im Glanze der Morgensonne auftauchende Alexandrien.

Der Anblick von Alexandrien, wenn man in den Hafen einläuft, ist nicht besonders reizvoll. Mit dem des herrlich gelegenen, von Bergen umsäumten, terrassenförmigen Algier ist er gar nicht zu vergleichen.

Ein großer Haufen kastenähnlicher Häuser, aus dem hier und da eine Spitze aufsteigt, inmitten einer baumlosen Ebene gelegen, das Auge von keinem Grün erfreut, eine sandige Küste, an der eintönig das Meer rollt, zwei langgestreckte Molen – das ist der Eindruck, den der objektive Beschauer empfängt, wenn er sich dem großen Handelshafen Aegyptens von der Seeseite her nähert.

Freilich, wenn man eine Seereise hinter sich hat, und währte sie auch nur wenige Tage, dann wirkt eben auch die trostloseste Küste herzerquickend, und dort in dem Häuserhaufen winkt einem ja alles, was man auf dem Dampfer, wenn dieser noch so komfortabel eingerichtet, entbehrt hat, und sei es auch nur der feste Boden unter den Füßen.

Dazu kommt nun noch das orientalische, sogar direkt afrikanische Gepräge, welches einen beim Einlaufen in den Hafen sofort umgibt. Denn wenn dieses orientalische Gepräge dem heutigen Alexandrien auch fast ganz fehlt, draußen auf dem Wasser drückt es sich um so mehr aus. Das sind die ständig aus- und einfahrenden und auf dem Meere fischenden Sambuks, die großen Boote mit den beiden dreieckigen Segeln, die sich im Laufe der Jahrhunderte durchaus nicht geändert haben; mit solchen Sambuks sind die Araber schon vor tausend Jahren nach Indien und dann erobernd nach Europa gefahren, und noch heute bilden die Mannschaft dieser Sambuks dieselben Araber im Kaftan oder im weißen Kittel mit mächtigem Turban und dieselben schwarzen Neger mit Lendenschurz, welche gestikulierend unter einem Heidenlärm die Segel bedienen, die Fischnetze auswerfen oder sich schon mit den Passagieren der ankommenden Schiffe wegen des Gepäcks zu verständigen suchen, während andere nur deshalb hinausfahren, um ihre Taucherkünste zum besten zu geben oder überhaupt um zu betteln.

Das ist ja nun für den Reisenden, wenn er Afrika zum ersten Male auch an seiner poesielosesten Stelle erreicht, ein unvergeßliches Bild!

Nobody stand an der Bordwand, als Scott zu ihm trat. Sie wechselten den ersten Morgengruß, und Nobody sagte sich, daß sein Freund heute ganz außergewöhnlich niedergeschlagen aussah. Und da kam auch gleich der Grund dafür, Scott begann von selbst davon.

»Wir sind am Ziel – am Anfange der Landroute – und ich ... ich ... möchte mich trennen von Ihnen.«

»Trennen? Von mir? Weshalb denn?!« stieß Nobody überrascht hervor.

Tief ließ der junge Kanadier das Haupt sinken, seine traurigen Augen irrten auf den Deckplanken umher.

»Ja, ich möchte Sie in Alexandrien verlassen – es muß sein – aber ... das Warum weiß ich selbst nicht.«

Wie sehr bereute Nobody seine voreilige Frage! Denn er hatte ja seinen unglücklichen Freund nun schon zur Genüge kennen gelernt.

In der letzten Zeit, besonders im Hause Nobodys, war der junge Mann viel heiterer geworden, konnte manchmal auch recht herzlich lachen. Aber verschlossen blieb er deswegen immer, vor allen Dingen hatte er noch nie auch nur mit einem Worte sein unglückliches Liebesverhältnis berührt.

Auch in jenen Zustand, in welchem, wie er sagte, sein Doppelgänger aus ihm heraustrat, wobei er solch ein starres, leichenähnliches Aussehen annahm, war er noch nicht wieder gefallen, wenigstens hatten die Hausbewohner nichts davon bemerkt.

Trotzdem hatte Scott in Nobodys Hause seine somnambulen Eigenschaften zweimal bewiesen, nur in ganz anderer Weise, und besonders der erste Fall, der hier ausführlich wiedergegeben werden soll, hatte Nobody plötzlich den Somnambulismus seines Freundes in ganz anderem Lichte erscheinen lassen.

Eines Morgens beim Frühstück hatte sich Lady Willcox sehr aufgeregt gezeigt. Nobody fragte sie nach dem Grunde, sie hatte nur darauf gewartet, sonst würde sie bei der ersten Gelegenheit wohl allein davon begonnen haben. Sie erzählte. Die Vorgeschichte kannte Nobody, wegen des anwesenden Gastes war sie ausführlicher.

Vor einem Jahre hatte Lizzy, eine ihrer Küchenmägde, vom benachbarten Gute einen Stallknecht geheiratet. Lady Willcox gehörte zu jenen seltenen Frauen, welche ihrem gesamten Hauswesen als Patriarchin vorstehen; trotz all ihrer künstlerischen und anderen Beschäftigungen hatte sie noch immer Zeit, sich um die Angelegenheiten ihrer geringsten Dienstmagd zu kümmern. So hatte sie dieses Verhältnis nie gebilligt, um so weniger, weil sie mit Lizzy sonst zufrieden war, und jener Bursche war ein Taugenichts. Aber die Liebe ist nicht nur blind, sondern auch taub, und ... nun gerade erst recht! Die ließ doch nicht von ihrem schneidigen Bereiter.

»Dann kann ich ja gehen.«

»Ja, wenn Sie nicht bleiben wollen, dann können Sie gehen.«

Und die beiden waren gegangen, als Mann und Frau, gleich bis nach Amerika, nach New-York, wo der Bereiter eine Stelle in Aussicht hatte.

»Heute früh bekomme ich von Lizzy einen Brief – aus London – denke dir, Alfred, die ist schon seit einem Vierteljahre wieder hier, ihr Mann ist drüben in New-York verunglückt und gestorben – und es geht ihr herzlich schlecht – dabei krank – und ein kleines Kind – und anstatt daß das dumme Ding nun gleich wieder zu mir kommt, wo sie wissen muß, daß ich sie gleich wieder annehme, weil ich doch sonst mit ihr zufrieden war, hat sie sich bis jetzt so durchgeschleppt – nun ist es aber zu Ende – sie schuldet seit zwei Wochen die Zimmermiete, und wenn sie bis heute mittag nicht die acht Schilling bezahlt hat, wird sie auf die Straße gesetzt – und nun steht die arme Frau mit dem kleinen Kinde hungernd da – und in ihrer Verzweiflung denkt sie nun endlich an mich – ich möchte ihr doch verzeihen – ich möchte ihr doch bis heute mittag zehn Schilling schicken – nächste Woche bekäme sie wieder Arbeit ...«

»Na, da schicke ihr doch das Geld und laß sie herkommen!« unterbrach sie der Gatte.

»Ja, ich weiß ihre Adresse nicht! Ich habe den Brief verlegt! Wie ich ihn heute früh las, wurde ich einmal unterbrochen, ich legte ihn weg, nur für einen Augenblick – und dann konnte ich ihn nicht wiederfinden – drei Stunden lang habe ich alle Zimmer umkehren lassen – alles hat mitgesucht – er ist nicht wiederzufinden – und jetzt ist es schon um elf – und was die arme Frau, die sich in ihrer letzten Verzweiflung an mich gewendet hat, nun von mir denken wird, daß ich sie so im Stiche lasse ...«

Gabriele zog ihr Taschentuch und wandte sich, um heimlich zwei Tränen zu trocknen.

Sie wußte wohl selbst nicht, die einstige Wüstenräuberin und jetzige Lady und gefeierte Künstlerin, was für ein herrliches Zeugnis sie sich mit diesen von Tränen begleiteten Worten ausgestellt hatte!

»Alfred, kannst du denn nicht helfen? Telegraphisch ist ja noch Zeit – aber nur erst den Brief wiederfinden – ich glaube, er kam aus dem Ostend.«

Nein, da konnte auch Nobody nicht helfen, zumal nicht in so kurzer Zeit. Eine polizeiliche Anmeldung gibt es in England nicht, das Ostend Londons ist groß. Gabriele ›glaubte‹ ja auch nur, und mit dem Wiederfinden des Briefes hatte es jetzt, wenn schon alles durchwühlt war, auch seine schwierige Bewandtnis, ganz abgesehen davon, daß er vielleicht schon verbrannt worden war.

»O Gott, o Gott, die kranke Frau mit dem kleinen Kinde auf der Straße, ohne einen Penny Geld, was die nur von mir denken wird ...«

Da plötzlich legte Scott Messer und Gabel hin.

»Wenn Mylady gestatten, daß ich aufstehe und das Zimmer verlasse, kann ich Ihnen gleich sagen, wohin Sie den Brief gelegt haben.«

Und ohne die Erlaubnis abzuwarten, erhob er sich, verließ das Zimmer, die staunenden Zurückbleibenden hörten ihn die Treppe hinaufgehen, sein über diesem liegendes Zimmer betreten, dort oben war es ganz still, schon nach fünf Minuten kehrte er zurück.

»Haben Mylady einen braunen Nähkorb mit grünem Deckel?«

»Ja, den habe ich, aber der ist gar nicht in dem Zimmer gewesen, in dem ich den Brief ...«

»In diesem Nähkörbchen liegt der vermißte Brief.«

Mit starren Augen blickte sie den Sprecher an.

»Ach – – ja – – ja!! – – Jetzt entsinne ich mich ...«

Sie schnellte vom Stuhle auf und eilte ins Nebenzimmer, und gleich darauf erklang es drüben jubelnd:

»Richtig, hier im Nähkörbchen liegt er!«

Gabriele hatte jetzt keine Zeit, eine Erklärung zu fordern, dachte im Augenblick vielleicht gar nicht daran, daß hier ein Wunder geschehen war, sie eilte in das Telegraphenbureau ihres Mannes.

Die beiden Männer waren allein.

»Nun sagen Sie, Sie wunderbarer Mann,« begann Nobody, »darf ich jetzt einmal um eine Erklärung bitten?«

Doch augenblicklich wunderte sich Nobody noch mehr darüber, daß sein Freund jetzt so heiter lächelte, während er sonst doch seine somnambulen Eigenschaften als ein Unglück betrachtete, das ihn schwermütig machte.

»Eine richtige Erklärung kann ich Ihnen gar nicht geben, da fehlen mir immer die Worte.«

»Das verstehe ich schon. So können Sie Ihren Doppelgänger also auch willkürlich heraustreten lassen? Das ist mir ganz neu.«

»Mit meinem Doppelgänger hatte dies gar nichts zu tun.«

»Nicht?!«

»Nein. Ich ... ich kann mich nicht ausdrücken. Mein Doppelgänger macht sich mir nur bemerkbar, wenn mir eine Gefahr droht, nur mir allein, und dieses Heraustreten ist mir stets fürchterlich, der Angstschweiß bricht aus allen meinen Poren hervor, ich fühle mich schon als – als – – eine Leiche. Dieses Hellsehen ist etwas ganz anderes, das kann ich jederzeit, ich muß nur allein sein und Ruhe um mich haben, und das bereitet mir weder körperliche noch seelische Schmerzen, im Gegenteil, es beglückt mich. Wie sich dieses Hellsehen vollzieht, das kann ich nicht beschreiben, so wenig, wie – wie – wie ich mich an meine eigene Geburt erinnern kann. Nun ja, ich setze mich ruhig auf einen Stuhl hin, schließe die Augen, konzentriere meine Gedanken auf das, was ich sehen oder wissen will, und plötzlich hebt es sich vor meinen geistigen Augen wie ein Schleier, ein Nebel lichtet sich, ich sehe.«

»Das ist ja wunderbar!« staunte Nobody, außerdem froh, daß er seinen Freund einmal zum Sprechen brachte. »Edward, Sie sind ja beneidenswert, da kann Ihnen gar nichts verloren gehen!«

O weh! Nobody hatte mit Absicht einen humoristischen Ton angeschlagen, und als wenn diese Worte Stiche gewesen wären, die bis ins Herz trafen, so schmerzhaft verzog sich das Gesicht des jungen Mannes.

»Pardon. Diese Gabe kann ich nur für andere benutzen, für mich selbst bleibt nur mein schrecklicher Doppelgänger.«

Nun, auch dann wußte Nobody seinen Fehler wieder gutzumachen.

»Dann können Sie doch Ihren Mitmenschen unersetzliche Dienste erweisen.«

»Doch nicht immer, es hat seine Grenzen, sogar sehr enge. Allerdings kann ich mich zu jeder Zeit willkürlich in diesen Zustand versetzen, doch es muß ein hinreichender Grund dazu vorhanden sein. Hätte jemand seine Tabakspfeife verlegt, so würde ich vergeblich darauf warten, daß sich der Schleier vor meinen Augen lüftet. Anders schon wäre es, wenn die Tabakspfeife ein teures Andenken ist, an dem das ganze Herz des Betreffenden hängt, und dann ist es noch immer davon abhängig, ob mir der Mann sympathisch ist. Sympathie, Zuneigung, das ist dabei überhaupt die Hauptsache. Sehen Sie, bei Ihrer Frau Gemahlin ...«

Er brach ab, ein feines Rot überzog sein edles Gesicht.

»Mißverstehen Sie mich ja nicht,« wollte er hastig fortfahren.

»Gott bewahre!« lachte Nobody. »Ich hoffe doch, daß Sie für meine Frau ebensoviel Sympathie empfinden, wie meine Frau und ich für Sie, und hier handelte es sich doch nicht um eine verlegte Tabakspfeife, sondern von dem Auffinden des Briefes hing vielleicht das Wohl und Wehe zweier Menschenleben ab.«

»Das ist es! Sehen Sie, ich will Ihnen zwei korrespondierende Fälle erzählen. Sie wissen, ich bin ein großer Kinderfreund. In Philadelphia war es, eine Frau, erst fremd zugereist, jammerte auf der Straße, sie hatte im Menschengedränge ihr Kind verloren. Ihr Jammer ging mir ans Herz, und ich sah nun im Geiste das kleine Kind hilflos umherirren, oder von fremden Menschen umringt, deren Sprache es nicht verstand – ja, daß es mir ans Herz geht, so wie vorhin bei Ihrer Gattin, das ist die Hauptsache. Ich nahm mich der Frau an, suchte einen stillen Ort auf, wo ich mich in meine Gedanken versenken konnte – zehn Minuten später hatte sie ihr Kind wieder. Ich wußte genau, wo es zu finden war. Dasselbe passierte mir in Paris. Eine Frau schrie auf der Straße mörderlich nach ihrem verlorengegangenen Kinde. Aber – ich weiß nicht – die Frau gefiel mir nicht recht. Trotzdem, ich versuchte das Kind im Geiste zu finden. Es gelang mir nicht. Und richtig, die Frau beruhigte sich sehr schnell und sagte in herzlosestem Tone: ›Na, die Polizei wird ihn mir schon wiederbringen, und sonst habe ich ja noch sieben zu Hause!‹ – Sehen Sie! Und der Junge war mit Absicht weggelaufen, der amüsierte sich unterdessen auf eigene Faust. Nein, ich muß für den, für den ich hellsehen will, Sympathie haben, und meint er es nicht durchaus ehrlich, so schwindet auch sofort meine Sympathie, mir selbst ganz unbewußt, und dann wirkt es nicht.«

»Nun, ich hoffe, Ihre Sympathie zu besitzen, und werde sie mir zu erhalten wissen,« sagte Nobody, »auf daß ich immer solch einen Schutzengel zur Seite habe, den ich manchmal um Rat fragen kann.«

Schon wieder nicht recht gesprochen? Ein furchtsam erschrockener Blick hatte den Sprecher getroffen.

»Dann will ich Ihnen noch einen dritten Fall erzählen,« fuhr Scott fort, »ebenfalls ein verlorenes Kind betreffend. Es war in einer deutschen Stadt – auf einem Volksfest – ein ungeheuerer Menschentrubel – ein Vater suchte sein – Kind – und ich – sah es denn – auch ...«

Er hatte von Anfang mit zitternder Stimme gesprochen, er wurde immer stockender, zuletzt konnte er nicht weiter, er legte plötzlich beide Hände vor die Augen, ein unterdrücktes Schluchzen erklang.

Daß dieser starke Mann ein überaus weiches Herz besaß, das hatte Nobody ja schon längst bemerkt. Nun war das aber bei Nobody auch der Fall, wenigstens manchmal brach es bei ihm hervor. Einmal konnte er einen Menschen langsam erdrosseln, ein andermal weinte er über einen toten Sperling. (Ueber solch einen toten Sperling oder doch eine tote Schwalbe werden wir später noch einmal eine ganze Geschichte erzählen, indem nämlich kleine Ursachen manchmal große Wirkungen haben.)

»Tot?« flüsterte Nobody also selbst schon mit zitternder Stimme.

»Zermalmt – von einem Wagen – und ich sah das kleine Mädchen – so deutlich – in dem Augenblicke – und ich – konnte nicht beispringen – ich war ja – weit entfernt – o, das ist schrecklich ...«

Der Kanadier richtete sich wieder auf und hielt jenem die Hand hin.

»Alfred, eine Bitte! Betrachten Sie mich nie als ein Orakel, das man nach Belieben um Rat fragen kann. Nicht umsonst ist den Menschen die Zukunft verhüllt, und nicht umsonst sind alle die, welche den Schleier hin und wieder lüften können, so unglücklich. Es kommt ganz allein über mich, wenn denen, die ich liebe, eine Gefahr droht oder wenn ich ihnen sonst helfen kann. Und schweige ich auch dann noch, dann ... hat das einen gewissen Grund. Bitte, Alfred!«

»Selbstverständlich, abgemacht!« sagte Nobody, in die dargebotene Hand einschlagend.

Dies war der erste Fall in Nobodys Hause gewesen. Der zweite spielte sich kurz nach jenem Ereignis ab, als sich der rätselhafte Mann, der Mephistopheles, in seinem Käfig erhängt hatte. Hierbei ist auch zu beachten, daß Nobody damals seinen Freund nicht um Rat gefragt hatte, ob ihm von irgendwoher eine Gefahr drohe, obgleich er doch so sehr besorgt gewesen war; Scott selbst hatte nichts davon gesagt, und diese Angelegenheit hatte sich ja auch schnell genug erledigt.

Nobody packte seinen Koffer für die Reise nach Aegypten, als Scott zu ihm eintrat. Eine Weile sah er schweigend zu.

»Damals, bei der Untersuchung der Magnetinsel,« begann er dann, »worüber ich Ihre Beschreibung gelesen habe, bedienten Sie sich doch eines besonderen Tauchapparates.«

»Des Skaphanders, ja.«

»Skaphander?« wiederholte Scott sinnend. »Heißt dieser neue Apparat so? Wie ist mir denn – diesen Namen muß ich doch schon als Kind gelesen haben.«

»Das kann wohl sein. Der Romanschriftsteller Jules Verne hatte schon vor einem Vierteljahrhundert solch einen selbsttätigen Tauchapparat in seiner Phantasie konstruiert, als noch kein Mensch an so ein wunderbares Ding dachte – wie es überhaupt mit manchen phantastischen Erfindungen von Jules Verne gegangen ist; das ist eben das prophetische Genie des Dichters – er nannte ihn Skaphander, und diesen Namen habe ich beibehalten.«

»Haben Sie solch einen Skaphander hier?«

»Gewiß, eine ganze Menge, alle in tadelloser Ordnung.«

»Nehmen Sie einen mit,« erklang es in bittendem Tone.

»Mit nach Aegypten?« fragte Nobody überrascht. »Glauben Sie etwa, daß ich nur im Taucheranzug in jenen Brunnen dringen kann? Dieser Mann sagte, der Teufelsbrunnen sei trocken, und das ist auch ganz sicher der Fall, dort gibt es absolut kein Wasser, eben deshalb ist ja die einst frequentierte Karawanenstraße durch das Tal der Verwirrung schon längst ...«

»Bitte, fragen Sie mich doch nicht nach dem Warum meines Rates, ich weiß es ja selbst niemals!« wurde er unterbrochen, diesmal in fast flehendem Tone. »Und Sie glauben gar nicht, wie mich solch eine zweifelnde Frage ... verletzt ... oder doch kränkt.«

Nobody fühlte, weshalb die Frage nach dem Warum kränken und sogar verletzen mußte, er packte den Tauchapparat mit zwei Luftbomben ein und nahm sich vor, niemals wieder solch eine Frage zu stellen.

 

Und nun, angesichts des Hafens von Alexandrien, hatte Nobody es doch getan! Allerdings kam dazu, daß die Niedergeschlagenheit seines Freundes diesmal ganz auffallend war, noch überraschender kam das von einer plötzlichen Trennung, und dann war ja auch gar nicht gesagt, daß dieser Entschluß mit des jungen Mannes Somnambulismus zusammenhing.

Scott hatte ihn etwas zur Seite geführt.

»Wir müssen uns trennen,« flüsterte er mit bleichen Lippen, »es muß sein – ich darf Sie auf dieser Expedition nicht begleiten. – O, wenn Sie wüßten, wie gern ich es täte – wenn Sie wüßten, was mich davon abhält!«

»Das ist Ihnen soeben erst klar geworden?«

»Soeben – in meiner Kabine – es ist ja stets zu meinem Besten, aber ...«

»Verzeihen Sie, Edward, ich glaubte, Ihr Entschluß entspränge einem ganz anderen Grunde. Nun gut, so trennen wir uns eben. Hoffentlich nicht für immer. Und wissen Sie schon, wohin Sie sich wenden?«

»Ja, wir sprechen an Land darüber.«

Der Dampfer lief in den Hafen ein, das Hasten der Passagiere nach dem Gepäck begann, Kämpfe mit den Kofferträgern und um die Boote, und dann waren die beiden in einem Hotelzimmer allein und fertig zur Aussprache.

»Zuerst, Alfred,« begann Scott, »möchte ich Ihnen Rat erteilen.«

»Ich werde ihn bedingungslos befolgen.«

»Wir hatten ausgemacht, das Niltal in Edfu zu verlassen.«

»Jawohl, dort fängt auch die Karawanenstraße an, welche durch das sogenannte Tal der Verwirrung führt, in dem der Brunnen liegen soll.«

»Ich möchte Sie bitten, noch etwas südlicher zu gehen und das Niltal erst in Assuan zu verlassen von hier aus das Tal der Verwirrung zu erreichen.«

Ohne vorläufig ein Wort zu sagen, zog Nobody eine Spezialkarte von Aegypten hervor und breitete sie auf dem Tische aus.

»Assuan liegt von Edfu noch 80 englische Meilen südlich, ist den Ruinen von Berenice eigentlich näher, weil es ihnen direkt gegenüberliegt, aber eine Straße führt nicht hin, hier wenigstens ist keine angegeben. Nun, ob flache Wüste oder Wüstengebirge, ich komme überall durch, und die Hauptsache ist wohl, daß ich ja doch noch das Tal der Verwirrung passieren muß, um nach Berenice zu gelangen.«

»Ich möchte Sie bitten, diesen Weg von Assuan an zu benutzen. Weshalb, das freilich kann ich nicht sagen, es ist mir ja selbst ...«

»Herrgott, Mensch, so laß doch dein ewiges Bitten!« unterbrach Nobody ihn scherzhaft. »Kommandieren Sie einfach: Stillgestanden, marsch! – und ich marschiere ab.«

»Dann ist es ja gut,« mußte Scott denn doch lachen. »Also Sie gehen von Assuan ab. Sie werden unterwegs etwas erleben. Was das ist, davon habe ich selbst noch keine Ahnung.«

»Ich auch nicht. Ich werde Ihnen später erzählen, was ich erlebt habe.«

»Auf dem Wege von Edfu ab würde es Ihnen entgehen.«

»Na ja, darum gehe ich ja von Assuan ab.«

»Es ist für Sie von größter Wichtigkeit.«

»Das freut mich!«

»Wo Sie diesem Etwas begegnen werden, weiß ich nicht.«

»Mir auch ganz egal! Wo der Feind gefunden wird, wird er gepackt und gekloppt.«

»Allerdings werden Sie etwas finden.«

»O, seien Sie versichert, ich werde es schon aufheben. Na, Edward, sonst noch etwas? Sonst könnten wir dieses Thema ja schließen.«

»Jetzt habe ich eine Frage zu stellen,« sagte Scott mit einem Lächeln, dadurch seinen eigentlich heiteren Charakter offenbarend.

»Immer los!«

»Ist Ihnen zufällig ein Schiff, ein Dampfer bekannt, welches wie ein Torpedojäger gebaut, aber kein Kriegsschiff, sondern eher eine Lustjacht ist, und den Namen ›Wetterhexe‹ führt? Der Kapitän und Eigentümer ist in Seemannskreisen und weit darüber unter dem Namen Flederwisch bekannt. Kennen Sie das Schiff?«

Ueberrascht blickte Nobody auf. Aber auch der Leser dürfte sich wundern, warum denn Nobody über diese Frage überrascht war.

Das Torpedoschiff hatte sich Nobody ursprünglich gewissermaßen als seine schwimmende Garderobe geschaffen, in der er, während sie jeden anderen Dampfer überholte, seine Masken wechselte.

Da liegt aber auch ganz klar auf der Hand, daß der Detektiv von diesem Geheimnis niemals gesprochen, am wenigsten davon etwas in ›Worlds Magazine‹ erzählt hatte. Die Namen Nobody und Wetterhexe sind im Zusammenhange niemals von einem Publikum ausgesprochen worden, und auch Scott hatte er bisher noch nichts davon berichtet, da war immer anderes zu besprechen gewesen, wenn er diesem gegenüber auch kein Geheimnis zu haben brauchte.

»Woher kennen Sie denn die Wetterhexe?«

»Ich habe sie einmal in Montevideo liegen sehen und mich sehr über die lange Zigarre gewundert. Der Kapitän war nicht da, aber ich habe viel von ihm erzählen hören. Sie stehen doch nicht gar in engerer Beziehung zu der ›Wetterhexe‹ und Kapitän Flederwisch?«

»Ich? Na und ob und wie!!!« schrie Nobody förmlich auf.

Und er offenbarte ihm mit möglichst kurzen Worten das Verhältnis.

»Wunderbar, wunderbar!« flüsterte Scott, dabei zum Himmel blickend. »Aber jetzt haben Sie nicht mehr über die ›Wetterhexe‹ zu gebieten?« fuhr er dann im Fragen fort.

»Gebieten?« lachte Nobody. »Wie man das so nimmt! Es ist ja richtig, ich habe mit Kapitän Flederwisch wenig mehr zu tun, er ist der Herr von den Schwefelinseln und von der ›Wetterhexe‹ und von noch manch anderem, aber im Grunde genommen gehört ihm gar nichts, oder aber ... na, kurz und gut, zwischen uns beiden herrscht ein ideales Freundschaftsverhältnis, da kann es niemals zu Streitigkeiten kommen. Wir haben niemals einen Kontrakt gemacht, also gibt es auch niemals einen aufzulösen.«

»Er würde mit der ›Wetterhexe‹ also überall hindampfen, wohin Sie wollen?«

»Flederwisch? Ich brauche nur zu winken, sofort Volldampf voraus, und wenn's in die Hölle geht, das ist dem Flederwisch nur um so lieber.«

»Nein, Alfred, ich bitte um genaue Angabe. Haben Sie über die ›Wetterhexe‹ noch zu befehlen?«

»Ja.«

»Gehorchen Kapitän Flederwisch und die Mannschaft Ihrem Kommando?«

»Ja.«

»Können Sie dies Kommando auf jemanden anders übertragen?«

»Wollen Sie es haben?«

»Ja.«

»Sofort! Nur ein Fetzchen Papier her!«

Nobody machte Ernst. Er nahm Feder und Tinte, schrieb mehrere Zahlenreihen auf seinen Notizblock.

»Das ist unsere Geheimschrift, bei Vorzeigung dieser Vollmacht übernehmen Sie zwar nicht das nautische Kommando der ›Wetterhexe‹, können aber sonst Ziel und alles bestimmen, und darauf kommt es Ihnen doch wohl an?«

»So ist es.«

»Nun müssen Sie sich bloß noch legitimieren, daß Sie auch wirklich der Richtige sind. Wollen Sie mir Ihren rechten Daumen geben?«

Nobody nahm ein Stempelkissen aus der Tasche und rieb die untere Seite von Scotts rechtem Daumen mit Farbe ein.

»Nun drücken Sie Ihren Daumen hier unten, auf das Papier!«

Scott tat es, der Daumenabdruck zeigte in blauer Farbe die feinsten Rillen der Haut, kreisförmige, ovale und abgehende Striche.

»So,« sagte Nobody, als er das Blatt vom Block abriß und seinem Freunde einhändigte, »hierdurch sind Sie legitimiert. Sie haben nur auch vor Kapitän Flederwischs Augen solch einen Daumenabdruck zu machen, und Sie können über die ›Wetterhexe‹ befehlen.«

Verwundert betrachtete der junge Kanadier den Fingerabdruck.

»Sind denn die Daumenabdrücke der einzelnen Menschen so verschieden?«

»So wenig wie das Schicksal eines Menschen dem eines anderen gleicht, so wenig gleicht ein Fingerabdruck dem anderen. Ich habe die Fingerabdrücke von Tausenden von Menschen daraufhin geprüft, nicht einer ist dem anderen auch nur ähnlich. Durch irgend etwas unterscheidet sich die Struktur der Linien und Rillen in der Haut immer. Es dürfte die Zeit kommen, da im Kriminalwesen der Fingerabdruck eine wichtigere Rolle spielt als das heutige Verbrecheralbum, da der Fingerabdruck so gut gefordert wird wie eine Namensunterschrift, wodurch eine Urkundenfälschung zur Unmöglichkeit gemacht wird – ja, es dürfte die Zeit kommen, da das so vielverspottete Wahrsagen der Zigeuner aus der Hand als wissenschaftlich betriebene Chiromantie wieder zu Ehren gelangt. – Ja, nun kann ich Ihnen aber nicht sagen, wo sich die ›Wetterhexe‹ zur Zeit befindet, und ob sie gerade bei den Schwefelinseln sich aufhält ...«

»Sie liegt in Smyrna, dort werde ich sie treffen.«

Mit grenzenloser Ueberraschung sah Nobody auf, und Scott erkannte den fragenden Blick. Aber er zuckte die Schultern, es war immer dasselbe.

»Ich weiß selbst nicht, woher ich es weiß, so wenig mir vorläufig noch bekannt ist, was ich auf der ›Wetterhexe‹ eigentlich will, wohin ich mit ihr segeln will. Ich werde es erfahren – und Sie auch.«

Scott studierte den Fahrplan der Dampferlinie, Nobody hatte Vorbereitungen für die Weiterreise zu treffen, Einkäufe zu machen.

Als er in das Hotel zurückkam, hörte er, daß sein Begleiter ausgegangen sei. In dem Zimmer, das die beiden genommen – Bruno begleitete seinen Herrn – lag auf dem Tische ein abgegriffenes Buch aufgeschlagen, das Nobody schon oft in der Hand seines viellesenden Freundes gesehen hatte. Was war es? Ein Band Schopenhauer in englischer Ausgabe. Und dieser deutsche Philosoph wird in England vielleicht mehr gelesen und ... mehr verstanden, als in seiner Heimat. Ist es doch schon seltsam – allerdings nicht für den, welcher die Ursache ergründet hat – daß der sonst so nüchterne, praktische Engländer wie der Yankee stark zum Uebersinnlichen neigt, während der sonst so ideal und romantisch veranlagte Deutsche noch immer nichts davon wissen will, und Arthur Schopenhauer war ein Verfechter des Uebersinnlichen, der wissenschaftliche Begründer, trotz der schärfsten und nüchternsten Logik dieses Mannes, dessen Keulenhieben noch niemand widerstanden hat.

Es war der erste Teil seiner ›Parerga und Paralipomena‹, und aufgeschlagen war das Kapitel ›Ueber die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen‹.

Auf Nobody machte es einen gewaltigen Eindruck, daß gerade dieses Kapitel aufgeschlagen war. Er las darin, bis Scott mit seinem Diener zurückkam.

»In einer Stunde fährt ein Dampfer nach Smyrna, ich habe schon zwei Plätze belegt, wir müssen sofort an Bord.«

»Halt! Erst habe ich noch etwas Wichtiges mit Ihnen zu sprechen. Bruno kann es hören, er zählt mit zu den Eingeweihten, auch er hat mir sein Ehrenwort gegeben. Es handelt sich um die beiden Tarnkleider, die ich natürlich mitgenommen habe. Eins genügt für mich ja vollkommen und ...«

Scotts abwehrende Handbewegung unterbrach ihn.

»Ich will keins davon haben. Es ist nicht für mich bestimmt gewesen, sondern für Sie. Genug! Fragen Sie nicht, weshalb nicht.«

Es waren fast die letzten Worte gewesen, welche die beiden wechselten. Ein Händedruck sagte mehr, und dann schritt Scott mit seinem Diener nach dem Hafen und Nobody nach der Bahnstation.

Wir begleiten ihn, halten uns aber nur beim Wichtigsten auf.

Nobody hatte sich einen Paß auf den Namen Brian Aston ausstellen lassen, und jetzt brauchte er keine wirklich lebende Persönlichkeit unterzuschieben, deren Rolle er nur spielte, der Champion-Detektiv der Königin konnte doch nach Belieben schalten und walten, er stellte sich einen Paß einfach selbst aus, und alle Stempel waren echt.

In Kairo suchte er den englischen Generalkonsul auf, dem gab er sich zu erkennen, und innerhalb zweier Tage, während welcher Nobody seine Erinnerungen an Kairo auffrischte, hatte ihm dieser einen Paß in arabischer und türkischer Sprache verschafft, welcher, da er die Unterschrift des Vizekönigs von Aegypten trug, einem Ferman glich, was im türkischen Orient dasselbe ist wie in Rußland ein Ukas des Zaren.

Sir Alfred Willcox, Champion der Königin, Waffenmeister des höchsten Ritterordens, wäre am Hofe des Vizekönigs mit fürstlichen Ehren empfangen worden, aber Nobody trieb es, das Geheimnis des Teufelsbrunnens zu lösen.

Bis nach Siut ging es mit der Eisenbahn, von dort aus benutzte er einen Nildampfer, zunächst bis nach Edfu.

Schon immer hatte er sich bei jeder Gelegenheit über die alte Karawanenstraße erkundigt, welche von Edfu südöstlich durch das Tal der Verwirrung nach den Ruinen von Berenice führt.

Es war ein sehr negatives Resultat, welches er bekam, sowohl von gebildeten Europäern, als von eingeborenen Fellahs und Beduinen.

Die Ruinen des alten Berenice liegen am Arabischen Meerbusen im innersten Winkel der Foul-Bay. Von Ptolemäus gegründet, war es einst ein großer Handelshafen, die Waren gingen und kamen von Arabien und Indien nach dem Nil, wozu durch das Gebirge, welches den Nil östlich begrenzt, eine Straße gebrochen wurde, zahlreiche Brunnen wurden angelegt.

Damals muß es dort unten ganz anders ausgesehen haben. Jedenfalls ist durch irgendeine Erdkatastrophe im Gebirge die Hauptwasserader gebrochen, die Brunnen versiegten, und damit war den Bewohnern der Stadt der Lebensfaden abgeschnitten, die Stadt wurde verlassen, jetzt sind nur noch Ruinen vorhanden.

Der vollständige Wassermangel machte sich auf der ganzen Seite östlich des Nils bemerkbar. Zwischen Meer und Nil hauste der mächtige Stamm der Beni Schammar, welcher gegen Tribut die Karawanen führte und gegen Wüstenräuber schützte. Sie sind ausgewandert, und das will bei Beduinen gewiß etwas heißen, da muß die Wassernot schon sehr groß sein.

Aber es muß doch noch Wasser geben! Ein kleiner Stamm der Beni Schammar vermag doch noch dort unten zu existieren, die Pferde und Kamele zu füttern und zu tränken. Aber wo sie ihre Weideplätze und Quellen haben, das ist ihr Geheimnis, oder vielmehr, es fragt niemand darum.

Denn von dort ist nichts zu holen, und die Ruinen von Berenice sind schon zur Genüge untersucht. Das ist ja auch ganz leicht mit dem Schiff zu erreichen; alljährlich kommt denn auch ganz regelmäßig ein Segler dorthin, wo sich einige Beduinen einfinden, welche gegen selbstgesponnene Kamelhaardecken Tabak und andere Bedürfnisse eintauschen.

Nobody hätte keinen bequemeren Weg gehabt, wenn er den Landweg von Berenice angetreten hätte, abgesehen davon, daß er sich dann erst ein Fahrzeug hätte mieten müssen. Das Tal der Verwirrung, welches das Gebirge durchbricht, liegt in der Mitte der Strecke.

»Einen Führer haben Sie nicht nötig,« wurde ihm überall erklärt, wo er anfragte, »den Weg können Sie nicht verfehlen, der ist mit Knochen von Menschen und Tieren gekennzeichnet. Weshalb jenes Tal das der Verwirrung heißt, weiß ich nicht. Arabische Begleiter werden Sie schwerlich bekommen; denn den Beni Schammar ist nicht zu trauen. Ja, wohl werden sich Leute engagieren lassen, aber sobald sie ihren Lohn oder wenn sie Sie bestohlen haben, laufen sie Ihnen davon.«

So lautete die Auskunft in Edfu, von wo die ehemalige Karawanenstraße ausgeht, also an erster Quelle. Doch Nobody dachte gar nicht daran, einen Begleiter mitzunehmen, sein Sextant war ihm der beste Führer durch die Wüste, und dann wollte er ja auch von Assuan aufbrechen, wo er nun freilich noch viel weniger einen Führer gefunden hätte.

So fuhr er mit dem Dampfer noch eine Tag- und Nachtreise stromaufwärts bis nach Assuan, besichtigte hier einmal in Gemütsruhe die hochinteressanten Bauten aus den Zeiten der älteren Pharaonen, welche sich hauptsächlich auf den beiden Nilinseln Philä und Elephantine vorfinden, dann traf er Vorbereitungen zu seiner Wüstenreise.

Die Hauptsache war das Reittier, und nur das Kamel konnte hier in Betracht kommen. Ein schlankgebautes, speziell zum Reiten geeignetes Kamel, Hedjihn genannt, legt in vier Tagen achtzig deutsche Meilen trabend zurück, ohne gefüttert und getränkt zu werden. Allerdings ist das die Höchstleistung, die verlangt man aber auch von jedem Reitkamel, welches nach unserem Gelde 400 Mark kostet. Es gibt Hedjihns, welche viele tausend Mark kosten, die dem Besitzer überhaupt unverkäuflich sind, sie haben Stammbäume, und solche wertvolle Tiere leisten auch noch etwas ganz anderes.

An Durchschnittstieren ist in Aegypten nirgends Mangel, Nobody hatte die Auswahl, er erstand das beste für fünfundzwanzig Pfund Sterling.

Die Entfernung von hier bis nach Berenice betrug vierzig deutsche Meilen, den großen Bogen eingerechnet, den er beschreiben mußte, um nach dem Tale der Verwirrung zu gelangen. In direkter Linie hätte er Berenice wohl auch nicht erreichen können, umsonst war die Straße durch das Gebirge doch nicht gehauen worden, sonst hätten doch auch schon die früheren Karawanen diese direkte Linie gewählt. Dieses Gebirge war für Kamele jedenfalls unübersteigbar, und dann auch für Pferde.

Am ersten Tage konnte er das Tal der Verwirrung erreichen und vielleicht auch noch den Teufelsbrunnen. Einen Tag rechnete er für dessen Untersuchung; ob er dann zurückritt oder weiter östlich bis Berenice, das blieb der Zukunft überlassen, jedenfalls hatte er noch immer einen Tag Ueberschuß; das Hedjihn brauchte während dieser vier Tage kein Futter und kein Wasser, daß aber sein Reiter für diese Zeit mit genügend Wasser und Proviant ausgerüstet ist, daß dieses Gewicht also mit eingerechnet wird, das ist doch ganz selbstverständlich.

Eines Nachts um zwei Uhr bestieg Nobody sein Hedjihn, welches gehorsam niedergekniet war, im weißen Burnus eines Beduinen, auf dem Rücken sein sechzehnschüssiges Henrygewehr, hinter sich zwei gefüllte Wasserschläuche, vor sich den Proviant und etwas Gepäck, dessen Hauptbestandteil das Taucherkostüm, dessen Gewicht aber auch gar nicht in Frage kam, und als die Morgensonne des Novembertages den Horizont rötete, befand er sich schon acht geographische Meilen vom Nil entfernt, und das Rennkamel, dessen Leib von Hafer und Wasser mächtig angeschwollen war, trabte noch, als wäre es nach langer Ruhe soeben erst aus dem Stalle gekommen.

Selten findet man in der Wüste eine völlig ebene Fläche. Jeder Dornenbusch, jeder größere Stein bietet dem vom Winde einhergetriebenen Flugsande ein Hindernis, hier setzt er sich an, das Häufchen wird zum Hügel, der jedoch nicht gleichmäßig ist, sondern er hängt nach der Windrichtung etwas über, wodurch die ganze Wüste einem aufgewühlten Meere mit sich überstürzenden Wogen gleicht. Doch diese Hügel sind nicht beständig; dreht sich der Wind, so bekommt er neue Angriffsflächen, er trägt die Hügel nach und nach ab und läßt neue entstehen, wodurch die Sandwüste noch mehr mit dem Meere zu vergleichen ist.

Zwischen solchen Hügeln hindurch trabte das Hedjihn mit langgestrecktem Halse, bei jedem Schritt den Sand wie mit einer Schaufel hinter sich werfend, dem Osten zu, nur mit einer kleinen Abweichung nach Norden. Die Sonne stieg, es wurde heißer und heißer, und wenn man sich auch im November und noch etwas nördlich vom Wendekreis des Krebses befand, so wurde die Hitze des von Arabien herüberkommenden Windes doch fast unerträglich, wenigstens für den Reiter; denn das Hedjihn wollte nichts von einer Mittagsruhe wissen, hier war das Schiff der Wüste eben in seinem heimatlichen Element, und es wußte durch seinen Instinkt, daß es nicht eher wieder gefüttert und getränkt wurde, als bis es diese Wüste durchquert hatte, und deshalb äußerte es seinen Unwillen durch ein mißtönendes Brüllen, wenn es aller zwei Stunden gezwungen wurde, anzuhalten und niederzuknien, weil sein Reiter abstieg, um mit Hilfe des Sextanten die Sonne aufzunehmen und die geographische Lage zu berechnen, welche Zwischenpause Nobody auch stets benutzte, eine Erfrischung zu sich zu nehmen.

Es wurde Mittag, die Sonne trat die zweite Hälfte ihrer Wanderung an.

Kein Halm, kein Dornenbusch, kein gebleichter Knochen. Weswegen war diese direkte Richtung nie von einer Karawane benutzt worden?

Noch am Nachmittage sollte Nobody es erfahren. Vor ihm stieg ein hohes Gebirge auf, er übernachtete neben seinem Kamel in einer Felsenwildnis. Am Morgen des nächsten Tages mußte Nobody schon Pässe suchen, die für den Fuß des Kamels geeignet waren, und beim Abstieg einer abschüssigen Stelle tat es einen Sturz, legte sich, ein Bein in unnatürlicher Stellung, auf die Seite und stand nicht wieder auf.

Nobody zögerte nicht lange, er gab dem klagenden Tiere einen Gnadenschuß hinters Ohr. So war er jetzt auf seine Füße angewiesen, er selbst konnte sein Gepäck schleppen, und das fatalste war ihm, daß das Kamel beim Sturz einen der beiden Wassersäcke zerdrückt hatte, und zwar gerade den vollen, während der andere kaum noch bis zur Hälfte gefüllt war.

Als er sich außer mit dem Proviant und mit dem schlaffgewordenen Wassersack auch mit dem zusammengepackten Taucherkostüm belud, konnte er sich nicht helfen, er mußte aus vollem Halse lachen. Hier in dem wasserlosen Wüstengebirge einen Tauchapparat mit sich herumschleppen, es lag wirklich Witz darin!

Er keuchte weiter, bergauf und bergab, hatte halsbrecherische Klettertouren zu überwinden, die Sonne brannte wie Feuer, und dabei eine Last von mehr als einem Zentner auf dem Rücken! Fürwahr, es gehörte Nobodys Leibeskonstitution und Seelencharakter dazu, um das fertig zu bringen!

Soeben machte er wieder eine Rutschpartie einen zackigen Felsgrat hinunter, als er es plötzlich so angenehm kühl und feucht seinen Rücken hinabrieseln fühlte. Ueber die Ursache grübelte er nicht lange nach – und richtig, auch sein letzter Wassersack aus Ziegenleder hatte einen Riß bekommen, das Wasser floß in Strömen heraus.

Was Nobody noch retten konnte, waren vielleicht drei Liter. Einen Augenblick Ueberlegung, dann beugte er sich und schlürfte drei Liter Wasser, ohne einmal abzusetzen.

Hierauf berechnete er die geographische Lage des Ortes, wo er stand. Danach war er von der alten Karawanenstraße, die also auf seiner Karte genau bezeichnet war, noch zwei Meilen entfernt, und von dort aus, wo er sie erreichen würde, bis nach Edfu noch vierzehn geographische Meilen, bis nach Berenice aber noch einundzwanzig.

Für Nobody gab es nun kein Zögern mehr. Die Expedition war durch den Verlust seines Reittiers gescheitert! Also ohne Säumen zurück! Natürlich nach Edfu, das war nicht nur die kürzere Strecke, sondern jetzt auch der geradeste Weg, der ihn an den Nil zurückbrachte.

Diese vierzehn, respektive sechzehn Meilen ohne Wasser zurückzulegen, das brachte Nobody schon fertig.

Er mußte es überhaupt fertig bringen, er mußte es!!

Oder er konnte sich schon als toten Mann betrachten.

Den Tauchapparat mit dem gewichtigen Helm, den beiden Bleisohlen und den zwei Luftbomben nahm er nun natürlich nicht mehr mit. In dieser Beziehung hatte es bei Nobody jetzt ... dreizehn geschlagen.

Ja, an seines Freundes Unfehlbarkeit waren nun starke Zweifel in ihm aufgestiegen.

Es waren überhaupt sehr bittere Empfindungen, die ihn beherrschten, als Nobody, nur mit Sextant und was dazu gehört, mit Gewehr und zwei Dosen präservierten Fleisches seine Klettertour fortsetzte.

Wäre er doch nur von Edfu aufgebrochen! Dann hätte er den Teufelsbrunnen jetzt schon erreicht, hätte ihn schon untersucht! Die Angabe jenes rätselhaften Mannes war ja sehr ungenau gewesen – der achte Brunnen auf der rechten Seite – aber die Angabe war eben speziell für Nobody bestimmt gewesen, der hätte ihn schon gefunden, schließlich hätte er ja die einzelnen Brunnen auch nur zu zählen brauchen.

Und jetzt? Wie sollte er denn wissen, wenn er die Straße erreichte, ob der Teufelsbrunnen sich westlich oder östlich von ihm befand? Und die Brunnen waren schon seit Jahrhunderten ausgetrocknet! Und nun gar noch mit dem Taucheranzug, hahaha!!

Nobody lachte nochmals, daß die Felswände dröhnten.

Und wo blieb denn eigentlich das, was er auf dieser anderen Tour finden sollte, weswegen er in die Gefahr des Verschmachtens kam?

Nein, nun hatte Nobody genug, jetzt handelte er nach seiner eigenen Vernunft, und da wollte er doch lieber ...

Sein Fuß wurzelte am Boden, seine Augen starrten seitwärts.

Auch hier in diesem Felsengebirge gab es noch genug Sand. Jede Stelle, die vor dem Wind geschützt lag, war mit feinem Flugsand angefüllt, solch eine Spalte hatte Nobody vor sich, und ... aus dem Sande erhob sich wie warnend eine menschliche Knochenhand!

»Da – da ist es!« flüsterte er betroffen.

Doch er schüttelte den Gedanken von sich, daß es gerade diese Totenhand sein könnte, die er hatte finden sollen. Aber er hätte sowieso nachgegraben, und er tat es auch jetzt, was ohne Schwierigkeiten mit den Händen zu bewerkstelligen war.

Es war das Gerippe eines Mannes, welches Nobody nach und nach zutage förderte, die einzelnen Knochen natürlich nicht mehr zusammenhängend. Das scharfe Auge des Detektivs erkannte sofort, daß der linke Oberarm einmal gebrochen gewesen war, die Bruchstelle war wieder zusammengewachsen, und der Schädel, den Nobody zu unterst fand, war gespalten. Daraus war noch nicht zu schließen, daß hier ein Mord vorlag, der Mann konnte auch abgestürzt sein, und hier gehörten die Erfahrung und das Auge des Detektivs dazu, um konstatieren zu können, daß der Schädelbruch tatsächlich nur von einem schweren, schneidenden Instrumente, wahrscheinlich von einer Axt herrühren konnte.

»Soll ich der Entdecker und Rächer dieses Mordes werden?«

Noch einmal untersuchte er die einzelnen Knochen. Sie waren normal bis auf den gebrochenen Oberarm; die sonst wohlerhaltenen Schneidezähne standen vorn etwas weit voneinander ab, der linke dritte Backzahn schien plombiert gewesen zu sein. Für Nobody konnten das sehr wichtige Argumente werden.

Aus dem Fehlen aller Kleidungsstücke konnte man schließen, daß der Tod schon sehr, sehr lange erfolgt war, sie waren eben vermodert oder vielmehr dem Zahne der Zeit zum Opfer gefallen, wobei aber zu bedenken ist, daß in dem trockenen Aegypten alles sehr gut konserviert wird, besonders in dem alle Feuchtigkeit anziehenden Sande, und an ein gar zu hohes Alter dieser Knochen konnte Nobody nicht glauben, danach sahen sie gar nicht aus, und ebenso fehlten ja auch alle anderen Gegenstände, welche länger als Kleidungsstücke ausgehalten hätten.

Sollte Nobody wenigstens den Kopf mitnehmen? Nach einiger Ueberlegung verneinte er es.

Schon war er dabei, die Knochen, mehr zusammengelegt, wieder zu verscharren, als er, wie er so mit den Händen den Sand schaufelte, ein längliches, rundes Stück Holz bloßlegte.

Es war eine jener Holzbüchsen, wie sie damals zum Beispiel in Deutschland allgemein bekannt waren. Aeltere Leser werden sich noch des Pennals erinnern, in dem das Schulkind seine Schiefer- und Bleistifte und Federhalter aufbewahrte. Jetzt sind diese Pennals meist durch die viereckigen Federkästen verdrängt worden.

Solch ein Pennal hatte Nobody in der Hand. Er schraubte den oberen Teil ab, ein zusammengerolltes Pergamentpapier war darin; er rollte es auseinander und sah eine mit Tinte oder Tusche ausgeführte Zeichnung oder einen Plan, wozu vier kleine Figuren gehörten.

Die erste stellte eine Kirche dar, nur mit Umrissen gezeichnet. Rechts daneben ein Nadelbaum, deutlich als Fichte erkennbar. Unter der Kirche die Figur einer Frau, und rechts davon, also unter der Fichte, ein Stiefel, an dem hinten die Strippe heraussah. Nun waren noch die Kirchturmspitze und die Strippe des Stiefels, sowie die Spitze der Fichte mit dem Kopfe der Frau durch Striche verbunden, so daß sich also die beiden Linien kreuzten.

Nichts weiter, kein Wort, keine Zahl! Das war alles – und doch genug!

Nobody machte eine Handbewegung, als wolle er seinen Hut vom Kopfe nehmen, er hatte wohl vergessen, daß er als Beduine gekleidet war, und da er einen solchen nicht fand, erklang es um so feierlicher aus seinem Munde:

»Edward, verzeihe mir noch einmal, daß ich wiederum an deiner Sehergabe zweifelte! Hier ist der Beweis in meiner Hand, daß du wirklich ein Seher bist!«

Was die Zeichnung zu bedeuten hatte, das wußte Nobody freilich auch nicht. Aber irgend etwas bedeuten mußte es doch. Das war offenbar ein schematischer Plan, und der Kreuzungspunkt der beiden Linien war die Hauptsache dabei.

Wo lag diese Kirche? Wo stand die Fichte? Was hatte das Weib zu bedeuten, was der triviale Stiefel?

»Edward ließ mich dieses Rätsel finden, er wird mir auch den Schlüssel dazu geben, wenn nicht jetzt, dann später, wenn die Zeit dazu gekommen ist.«

Hatte der Mörder es etwa auf diesen Plan abgesehen gehabt? Denn wie leicht im Sande solch ein gar nicht so kleiner Gegenstand wie die Holzbüchse dem Auge und auch der suchenden Hand entgehen kann, das hatte Nobody soeben aus eigener Erfahrung bemerkt.

So durchwühlte er noch einmal den Sand der Umgebung, er fand außer Knochen nicht das geringste mehr, und gar zu lange durfte er sich nicht aufhalten, seinen ganzen Wasservorrat hatte er jetzt nur noch im Magen.

Er schaufelte die Knochen mit den Händen wieder zu, bestimmte die geographische Lage der Ruhestätte des unbekannten Toten, und was er dabei dachte, erkennen wir am besten aus dem, was er dann tat: er ging den Weg zurück, den er gekommen war, hatte es auch nicht weit, so war er wieder an der Stelle, wo ihm vorhin der Wasserschlauch gerissen war und wo er auch alles andere zurückgelassen hatte, und er belud sich wieder mit dem Taucherkostüm und den beiden Luftbomben.

Und ohne Murren schleppte er die Last weiter. Er hatte eine Lektion bekommen, zu seinem Glück noch zeitig genug, um das Versäumte nachholen zu können.

Gegen Mittag blickte er in ein tiefes Tal hinab und sah auch gerade auf eine Pyramide von Kamelschädeln, und so schien das ganze Tal mit Knochen gepflastert zu sein – die alte Karawanenstraße, welche hier durch das Gebirge führte, das Tal der Verwirrung.

Es war ein schwieriger Abstieg, der Wüstenwanderer verwandelte sich in einen Gemsjäger, und als Nobody noch so wie eine Fliege an der Wand klebte, mit dem Gesicht gegen diese, ertönte ein lautes ›Inschallah!‹

Nobody taxierte die Tiefe unter sich, sprang die wenigen Meter hinab – es waren nur noch drei Meter! – und sah vor sich einen Beduinen, beritten auf einem edlen Roß.

Das braune Gesicht, von dem der Schleier hochgeschlagen war, drückte Staunen aus.

»Inschallah! Bist du ein Steinbock des Gebirges?« fragte er.

»Sallam aleikum!« begrüßte Nobody ihn zunächst, mit der Hand Mund, Stirn und Brust berührend.

»Aleikum!« wiederholte der Reiter, dieselben Bewegungen ausführend. »Sind deine Glieder von Stahl, daß du sie dir bei diesem Sprunge nicht gebrochen hast?«

»Du sagst es, sie sind von Stahl. Wer bist du, der meinen friedlichen Gruß eben so friedlich erwidert hat?«

»Hadschi Abu Hafu ben Imam vom Stamme der Beni Schammar,« war die stolze Antwort. Doch fast mit kriecherischer Freundlichkeit ward gleich hinzugesetzt: »Die Beni Schammar sind stets friedlich gewesen.«

Nobody hatte gerade das Gegenteil von dieser Behauptung gehört.

»Und wer bist du?« fuhr der Beduine fort.

»Ich heiße Brian Aston.«

»Du bist ein Franke?«

»Ein Anglesi.«

»Bist du ein Enginera?«

Ein Ingenieur? Wie kam der Beduine auf diese Frage?

Doch Nobody hatte überhaupt schon den gespannten Gesichtsausdruck des Beduinen studiert, und Nobody konnte ja seine Leute beobachten. Es war fast, als ob dem Beduinen diese Begegnung gar nicht so unerwartet käme.

Gut, Nobody konnte sich ja für einen Ingenieur ausgeben.

»Ja, ich bin ein Enginera.«

»Du sollst das Wasser des Bar el Dschennet untersuchen?«

Das Wasser des Paradiesbrunnens untersuchen? Doch Nobody war leicht von Begriffen, er wußte eigentlich schon alles, was hier vorlag, er hatte seine Kombination schon fertig, und so wollen wir uns nicht mit Erklärungen aufhalten, sondern nur wiedergeben, was er sprach und tat.

»Ist das Wasser gut?«

»Es ist süß wie das Zim, welches im Paradies die Huris den Gläubigen reichen, und deshalb haben wir recht getan, als wir den toten Brunnen des Deddschel jetzt, da er wieder lebendig geworden ist, den Brunnen des Paradieses genannt haben.«

Der Brunnen des Deddschel, das heißt des Teufels! Nobody fühlte plötzlich die Last seines Taucheranzugs gar nicht mehr!

»Seit wann hat der Bar el Deddschel wieder Wasser?«

»Seit vier Wochen, als uns die Fatme el Dschennet erschienen ist, welche dem Brunnen wieder süßes Wasser gegeben hat und ihn jetzt beschirmt, daß kein Deddschel wieder hinein kann.«

Die Fatme el Dschennet? Der bekannte Name Fatme bedeutet Fee, Fatme el Dschennet also Fee des Paradieses.

Hier lag etwas Mysteriöses vor, und wollte Nobody die Rolle des Mannes, der hier offenbar erwartet wurde, mit Glück spielen, so mußte er sehr vorsichtig sein.

»Hast du ein Barmet eines Wali?« forschte der Beduine weiter.

»Ich besitze sogar einen Ferman des Padischah,« entgegnete Nobody.

Der Beduine verbeugte sich im Sattel, die Hand vor die Stirn legend.

»Wo sind deine Diener, Sihdi?« fragte er weiter, jetzt aber durchaus nicht mehr im Tone des Examinierens, vielmehr mit tiefster Ehrfurcht.

»Ich komme allein.«

»Wo ist dein Hedjihn oder dein Pferd?«

»Es ist gestürzt, ich mußte es töten.«

Da fragte der Beduine nicht mehr, ob sich der Franke verirrt habe, wie er überhaupt vom Wege ab in das Gebirge gekommen sei – es genügte ihm, zu hören, daß der erwartete ›Enginera‹ kein Reittier habe, und sofort sprang er aus dem Sattel.

»Erlaube, Sihdi, daß ich dir mein Pferd anbiete; denn es schickt sich nicht, daß der Herr zu Fuß geht und der Diener reitet,« sagte er ehrerbietig.

Nobody trat denn auch als Sihdi, das heißt, als Herr auf, und der stolze Beduine nahm sogar sein Gepäck auf den Rücken.

»Wo steht das Zeltlager deines Scheichs?«

»Seit wir den Enginera des Wali erwarten, lagern wir am Bar el Dschennet.«

Ah, schon wieder eine wichtige Erklärung, aus der Nobody viel schließen konnte. Es war also nach einem Ingenieur der Regierung geschickt worden, der das Wasser untersuchen sollte, und auch den Grund hierzu konnte Nobody sich bereits denken.

»Wie weit ist der Bar el Dschennet von hier?«

»Nur eine halbe Stunde. Sieh, Klonweye, das edle Roß, wittert das frische Naß schon, das noch viele Karawanen tränken wird.«

»Haben auch die anderen Brunnen wieder Wasser bekommen?«

»O nein, Sihdi, nur der, welchen wir bisher den Bar el Deddschel nannten, bis ihm die Fee des Paradieses entstieg.«

Nobody fragte mit Vorsicht und mit jenem Geschick, das er in so etwas besaß, und er erfuhr alles, ohne daß der Beduine merkte, daß jener vorher noch gar nichts gewußt hatte.

Zunächst kam eine Sage in Betracht. Es ist begreiflich, daß bei den Wüstenbewohnern, bei denen das Wasser ein ganz besonderes Lebenselement ist, die Brunnengeister eine große Rolle spielen. Jeder Fluß, jeder Brunnen hat seinen Geist, dem das Wasser zu danken ist, und wenn aus einer Felsspalte aller Viertelstunden auch nur ein Tropfen fällt, so wohnt ein Geist drin, und je süßer das Wasser ist, desto besser ist der Geist, und je bitterer, desto böser – nein, desto weniger gut, und wenn das Wasser, wie bei den meisten Wüstenbrunnen der Fall, auch bittersalzig ist und den ärgsten Durchfall erzeugt, wenn es nur überhaupt trinkbar ist, so wird schon der erzeugende Geist, der auch weiblich sein kann, eifrig in das tägliche Gebet eingeschlossen.

Wenn nun einmal ein Brunnen versagt, so muß der gute Geist erzürnt worden sein, oder wahrscheinlicher ist er von einem bösen, welcher die Menschen haßt, vertrieben worden, und den muß man dann wieder wegbeten.

Daß in dem ganzen Gebiet hier, für diese Beduinen ihre Welt bedeutend, einmal alles Wasser gleichzeitig versiegt war, das konnte nur das Werk des Herrn der Hölle selbst gewesen sein, des el Deddschel, und da das Wasser auch niemals wiederkam, so mußte der Teufel auch noch hier wohnen, und aus irgendeinem Grunde wurde ihm gerade der eine Brunnen zur Wohnung angewiesen, der fernerhin nur der Teufelsbrunnen genannt wurde.

Vor etwa vier Wochen nun war Jussuf ben Hamok an dem Teufelsbrunnen vorübergeritten. Er kam nicht dazu, ein Gebet zu murmeln, denn einmal hatte er genug damit zu tun, sein Pferd im Zaume zu halten, welches durchaus auf den gefürchteten Brunnen zueilen wollte, und dann war es eine weibliche Gestalt, welche Jussufs höchstes Staunen und Mißtrauen erweckte.

Singend und tanzend, die Arme ausgestreckt, bewegte sie sich um den Brunnen herum, dem Reiter winkend, näherzukommen, und dann weiter singend, in einer Sprache, welche Jussuf nicht verstand.

»Und kein Mensch könnte sie verstehen: denn es ist die Sprache, welche die Gläubigen in Allahs Paradiese reden, und sie selbst ist eine delherrah Fatme aus der Dschennet. Mohammed, wenn nicht Allah selbst, hat sie geschickt, um den Deddschel aus dem Brunnen zu vertreiben, und es ist ihr gelungen, sie hat gesiegt, der Brunnen fließt über des süßesten Wassers, und nun werden wieder Karawanen ziehen von dem großen Strome nach dem salzigen Wasser, und die Beni Schammar werden glücklich sein.«

Nobody erfuhr weiter, daß der Scheich der Beni Schammar einige seiner Leute nach Edfu zum Wali, zum Vertreter der Regierung, geschickt hatte, mit der Meldung, im Tale der Verwirrung spende ein Brunnen wieder das beste Trinkwasser.

Was die Beduinen bezweckten oder erhofften, lag für den Kenner der Verhältnisse klar auf der Hand.

»Schicke einen deiner Engineras, daß er sich überzeugt, wie gut das Wasser ist, und wie aushaltend das Wasser ist, und so können wieder Karawanen durch unser Gebiet gehen.«

So hatte der Scheich dem Wali sagen lassen.

Daß hier einst eine frequentierte Handelsstraße gewesen ist, das wissen die Beduinen, die selbst Stammbäume über ihre Haustiere führen, natürlich ganz genau. Aber der Weg vom Nile bis zum Meere beträgt 40 Meilen, wozu ein vollbeladenes Lastkamel acht Tage braucht. Vier Tage kann es dursten, und so reichte dieser einzige Brunnen, auf der Mitte des Weges liegend, aus, um die ganze Straße wieder passierbar zu machen, und dann kämen die goldenen Zeiten wieder, da die Beduinen als Führer, als Beschützer und als Räuber Reichtümer erwarben.

Nun kamen diese Beduinen ja oft genug an den Nil, also in kultivierte Gegenden, und die Wasserfrage ist in Aegypten eine so wichtige, daß sie auch schon wußten, was ein Ingenieur ist, speziell ein Wasserbauingenieur.

Denn wie gesagt, die Wüstenbrunnen sind immer mehr und weniger salzig, die afrikanische Wüste ist einst Meeresboden gewesen, der noch salzhaltige Boden wird ausgelaugt, und entsteht ein neuer Brunnen, bricht eine Quelle hervor, oder liefert ein ausgetrockneter Brunnen nach langer Zeit wieder Wasser, so ist dieses während vieler Jahre gar nicht trinkbar, oder es erzeugt den schrecklichsten Durchfall – und schrecklich sieht es gewöhnlich in der Umgebung jener Oasen aus, die man sich immer so romantisch vorstellt – und ehe solch ein Brunnen dem öffentlichen Verkehr übergeben wird, ehe man gar eine Straße daran vorüberlegt, wird er von einem ›Wasseringenieur‹ untersucht, und in Aegypten sind alle staatlich angestellten Ingenieure entweder Engländer oder Deutsche. Nur langsam werden sie von geschulten Arabern und Türken verdrängt.

»Schicke einen deiner Engineras, daß er sich von der Güte unseres Wassers überzeugt.«

Daß die Beduinen meinten, die nach Arabien und Indien bestimmten Waren würden nun wieder hier diesen Weg durch die Wüste nehmen, der allerdings viel kürzer wäre als den ganzen Nil hinunter bis nach Alexandrien, das war ein verzeihlicher Irrtum. Sie hofften eben.

Nobody interessierte sich jetzt am meisten für jenes Weib.

»Ist sie eine Beduinin?«

»Sie ist eine delherrah Fatme aus dem Paradiese.«

Delherrah heißt heilig oder ... wahnsinnig!

Es ist merkwürdig, daß bei so vielen Völkern die Wahnsinnigen für heilig gelten. Bei den Indianern und bei anderen Wilden läßt man sich das noch gefallen, aber die europäischen Türken stehen doch schon etwas höher in der Kultur! Und auch in Konstantinopel laufen die Irrsinigen frei auf der Straße herum, werden gehegt und gepflegt, und nur wenn sie toben, gefährlich werden, sperrt man sie ein, aber nur, um ihnen erst recht die gebratenen Täubchen vorzusetzen. Und diese Sucht, Wahnsinnige als Heilige zu verehren, bricht auch mitten in unseren höchstentwickelten Kulturstaaten immer wieder einmal mit Macht hervor. Denn was sind denn die Gründer von jenen Sekten, wie sie an der Tagesordnung sind, die von den Mitgliedern als Propheten und Heilige angebetet werden? Sie gehören ins Irrenhaus.

»Wo befindet sie sich jetzt?«

»In unserem Lager.«

»Was tut sie da?«

»Sie tanzt und singt, und es klingt gar lieblich.«

»Was für Lieder singt sie?«

»Gesänge aus der Dschennet zur Ehre Allahs und seines Propheten.«

»Du sagtest doch vorhin, niemand könne sie verstehen.«

»Das kann auch niemand.«

»Woher weißt du da, daß sie Lieder zu Ehren Allahs singt?«

»Was für andere Lieder soll sie singen, Sihdi?« war die naive Gegenfrage.

»Sie spricht kein Arabisch?«

»Doch, Sihdi, so gut wie du und ich.«

»Was erzählt sie euch?«

»Sie ist delherrah, Sihdi.«

Diesmal hatte der Beduine ganz deutlich ausgedrückt, daß er mit dem ›delherrah‹ wahnsinnig meinte, ohne dazwischen einen Unterschied zu machen.

»Sie muß aber doch irgend etwas sprechen. Wiederhole mir irgendwelche Worte von ihr.«

»O, sie spricht gar viel, besonders zu den Kindern. Denen erzählt sie, wie schön es in el Dschennet ist, was dort die Gläubigen für eine selige Lust genießen, und wie sie mit den Huris scherzen.«

Also doch eine Beduinin, die sich wahrscheinlich hierher verirrt, in der einsamen Wüste den Verstand verloren hatte! Daß sie den Kindern so etwas erzählte, das sah einer Irrsinnigen, die selbst wieder zum Kinde geworden war, ja ganz ähnlich.

Doch sie redete noch eine andere Sprache, welche die Beduinen nicht verstanden? Das war für Nobody welcher die Beduinen-Verhältnisse durchaus kannte, sehr unverständlich. Es gibt keinen Beduinenstamm, welcher sich einer anderen Sprache bedient als der arabischen.

Da es sich um eine Heilige handelte, mußte Nobody sehr vorsichtig sein, durfte vor allen Dingen keinen Zweifel laut werden lassen.

»Sie sagte selbst, daß sie aus dem Brunnen gekommen ist?«

»Ja, das sagte sie selbst, und sie erzählte, wie sie dort unten mit dem Teufel gerungen und ihn besiegt hat, so daß der Brunnen den Beni Schammar, welche Allah liebt, jetzt wieder Wasser in Hülle und Fülle spendet.«

Nun kam für Nobody in bezug auf jenes Weib noch eine andere Mutmaßung in Betracht, mit der wir uns sogleich beschäftigen werden.

Gegenwärtig konnte er sich von seinem Begleiter auch nicht mehr die Erzählung der Wahnsinnigen wiedergeben lassen; denn als sie um eine Felsecke bogen, lag vor ihnen ein großes Zeltlager.

Nobody wurde vor den Scheich geführt, und keck gab er sich für den ›Enginera‹ aus, der nicht nur vom Stellvertreter der Regierung in Edfu, dem Wali, sondern gleich direkt von der obersten Behörde in Kairo geschickt wurde, um das Wasser des Brunnens auf seine Trinkbarkeit zu untersuchen.

Er durfte dies auch ohne Gefahr tun, er konnte nie einer Unwahrheit überführt werden. Gesetzt den Fall, jetzt wären die Abgesandten aus Edfu zurückgekommen, einen richtigen Ingenieur mitbringend, den Wali selbst, so hätten sie gegen den Fremden mit seiner Behauptung doch gar nichts machen können. Nobody war durch den Ferman des Vizekönigs allmächtig, sie hatten alle zusammen einfach den Mund zu halten, und damit basta!

Allerdings sind die Beduinen der Wüste ja ganz unabhängig; ihr Gehorsam gegen die Regierung, daß sie z. B. im Falle eines Krieges ihre Reiter stellen, ist ein freiwilliger, erzwungen könnte er nie werden. Aber sie gehorchen gern, denn die Beduinen sind strenggläubige Mohammedaner, und der Sultan oder Padischah ist als Nachfolger Mohammeds ihr Papst, und dessen Stellvertreter in Aegypten ist der Vizekönig oder Hekimel Missor, und so warf sich denn auch der Scheich, der sonst niemals seinen stolzen Nacken beugte, beim Anblick des Fermans gleich auf die Knie nieder und küßte den Boden.

Zunächst ließ sich Nobody den Brunnen zeigen, um den die Beduinen ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Er war ausgemauert und hatte auch noch eine meterhohe Umfassung. Früher, in jener ersten, glücklichen Periode, als es hier noch überall Wasser gab, erzählte der Scheich, und es ist schon gesagt worden, wie die Beduinen Ueberlieferungen erhalten, hatte das Wasserniveau des Brunnens ziemlich tief gestanden, man hatte es mit Strick und Gefäß herausbefördern müssen, die in einen langen Stein gehauene Rinne war noch vorhanden, in welche das Wasser gegossen wurde, um die Kamele und Pferde zu tränken.

Das war jetzt nicht mehr nötig, das Wasser stand bis zum Rande der Umfassungsmauer, quoll noch darüber hinaus, lief als kleiner Bach davon, der bald in einer Felsspalte verschwand.

So war es am ersten Tage vor ungefähr vier Wochen gewesen, erklärte der Scheich, da man das Wiedererwachen des Brunnens entdeckt hatte, oder, wie sich der Beduine ausdrückte, da die delherrah Fatme den Teufel besiegt hatte, und die Wasserfülle war bisher unverändert geblieben.

Das Wasser war ohne jeden Salzgeschmack, kalt und klar. Aber sehr tief konnte man in den dunklen Brunnen nicht hinabblicken.

Und was für ein Geheimnis würde nun Nobody dort unten entdecken, wenn er mit seinem Skaphander hinabtauchte?

»Der wievielte Brunnen im Tale der Verwirrung auf der rechten Seite, von Sonnenuntergang gerechnet, ist dies?«

»Der achte, Sihdi,« entgegnete der Scheich.

Der achte! Es war der Teufelsbrunnen, es war der gesuchte!

Wollen wir uns nun, während Nobody so mit starren Augen, seinen Gedanken nachhängend, in die feuchte, dunkle Tiefe hinabblickte, etwas wie von einer heiligen Scheu erfaßt, mit diesen seinen Gedanken beschäftigen.

Wer war jenes rätselhafte Wesen, der kleine, schwächliche, hinkende, mißgestaltete Mann, der über noch unbekannte Erfindungen verfügte, welche man für Zauberei hätte halten mögen, der sich nahe am Nordpol ein Laboratorium eingerichtet hatte und hier in diesem ägyptischen Wüstenbrunnen den Eingang zu einer unterirdischen Wohnung besaß?

Er konnte nicht sprechen. Seine Leiche lag in einem kühlen Keller von Nobodys Hause aufgebahrt, für alle Fälle so gut präpariert, vor Verwesung geschützt, wie Nobody es verstand. Freilich an solch eine Präparierung, wie es mit der Leiche jenes jungen Mädchens geschehen, war nicht zu denken, diese unheimliche Kunst war Nobody fremd; die Leiche würde sich mit der Zeit in eine ausgetrocknete Mumie verwandeln.

Nur etwas Schriftliches hatte der Selbstmörder hinterlassen, direkt an den gerichtet, der ihn in den freiwilligen Tod getrieben.

Viel war dabei gewesen, was Nobody zu denken gab. Jene Zeilen hatten dem scharfsinnigen Detektiven mehr erzählt, als manchem anderen Menschen.

Dieser Mann hatte also eine Sekte gegründet, die noch existierte, von der er sich als unsichtbaren Gott anbeten ließ. Das hatte ja ganz deutlich geschrieben gestanden. Für Nobody sagte das aber noch mehr. Hierdurch konnte er sich auch enträtseln, aus welchem Grunde sich der mißgestaltete Mann jener spanischen Tänzerin als schmutziger Bettler genähert hatte.

Nochmals: dieser Mann, der uns als Monsieur Sinclaire bekannt ist, hatte eine Sekte gegründet, von deren Mitgliedern er sich als unsichtbaren Gott anbeten ließ. Das konnte sich Nobody recht lebhaft vorstellen. Der Mensch, der sich ungesehen machen konnte, war überall und nirgends – geheime Zusammenkünfte, bei denen sich die unsichtbare ›Gottheit‹ manifestierte, allerhand Hokuspokus trieb usw. – da mußte ja jeder, der zur Aufnahme in die Sekte für würdig befunden wurde, daran glauben, mußte den gesunden Verstand verlieren, und Sinclaire hatte doch auch verächtlich von einer ›wahnsinnigen Gesellschaft‹ gesprochen.

Wo hatte diese Sekte, von deren Existenz Nobody noch niemals eine Spur bemerkt, ihren Sitz? In diesem Brunnenschachte sollte Nobody ja die Lösung finden, so hatte ihm Sinclaire schriftlich hinterlassen.

Nun aber etwas anderes: Es war doch ganz offenbar, daß Sinclaire noch nichts davon gewußt haben konnte, wie sich dieser Brunnen unterdessen wieder mit Wasser gefüllt hatte. War nun die Wahnsinnige vielleicht ein Mitglied dieser Sekte, hatte sie etwa in dem Brunnenschachte gehaust, stand ihr Erscheinen damit in Verbindung, daß sich der Brunnen wieder mit Wasser gefüllt hatte? War sie also daraus vertrieben worden?

Die Beantwortung dieser Fragen mußte Nobody der Zukunft überlassen, und auch der Scheich sollte ihm dann dabei behilflich sein.

»Hat damals hier vielleicht ein Erdbeben stattgefunden?« fragte er jetzt.

Der Sohn der Wüste, in der jede vulkanische Tätigkeit erloschen, für immer tot ist, wußte gar nicht, was ein Erdbeben sei. Aus diesem Grunde war aber auch mit Sicherheit anzunehmen, daß keine besondere Revolution im Erdinnern stattgefunden hatte, von einem Geräusch oder Erzittern begleitet; denn sonst hätten die Beduinen doch darüber berichtet, der leichteste Erdstoß hätte ihnen Entsetzen einflößen müssen.

So war eben doch immer noch eine Wasserader vorhanden gewesen, das Wasser hatte sich einen Zugang gerade zu diesem Brunnen durchgewaschen.

Nobody kehrte in das Zelt des Scheichs zurück, wo den beiden eine Mahlzeit aufgetragen wurde, nur bestehend aus Durramus und salziger Kamelsmilch. Der Scheich entschuldigte diese Armut, und Nobody fragte nicht, wo die Weidegründe des Stammes lägen, die doch gar nicht so arm sein könnten, denn Menschen wie Kamele und Pferde sahen recht wohlgenährt aus, sondern er zog vorsichtig weitere Erkundigungen über das wahnsinnige Weib ein.

Der Scheich erzählte ihm dasselbe, was Nobody schon von seinem Begleiter gehört hatte, und dann gab das Stammesoberhaupt noch die Erzählung wieder, wie die Delherrah von dem Propheten aus dem Paradies in den Brunnen geschickt worden sei, wie sie mit dem Teufel gerungen und ihn besiegt habe usw., so wie es die gütige Fee selbst berichtete.

Wir brauchen diese Erzählung nicht wiederzugeben, denn von allem Anfange an kam sie unserem Nobody gar nicht so recht glaubhaft vor, nämlich in bezug darauf, daß diese wohlgesetzten Worte aus dem Munde der Wahnsinnigen stammten, vorausgesetzt, daß sie wirklich wahnsinnig war. Das war ganz einfach ein arabisches Märchen, das sich jeder Beduine mit seiner lebhaften Phantasie aus dem Stegreif zusammendichten kann, wenn er des Abends vor seinem Zelte sitzt, das war alles so echt ›beduinisch‹!

Nein, das alles stammte gar nicht aus dem Munde jenes Weibes! Die Beduinen hatten ihre wirren Brocken zusammengesetzt, und eine Fee aus dem Paradiese mußte es doch unbedingt sein, und so war eben dieses Märchen entstanden, welches sie für den eigenen Bericht der Fee hielten.

Nobody hatte etwas anderes zu fragen, auch in anderer Weise, und als der Scheich eben eine Portion Durramus mit der Hand in den Mund löffeln wollte, verdrehte er plötzlich die Augen nach oben und sank gegen die Zeltstange zurück. Er war hypnotisiert.

»Ist in der Nähe dieses Brunnens schon früher einmal ein Fremder gesehen worden?« begann Nobody das Examen nach der üblichen Einleitung.

Der Scheich verneinte.

»Oder weißt du, daß der Brunnenschacht bewohnt worden ist?«

Auch in diesem willenlosen Zustande konnte der Scheich sein Staunen ob solch einer Frage nicht unterdrücken.

Und dabei blieb es. Der Scheich konnte auch in der Hypnose nichts erzählen, hier gab es kein anderes Geheimnis als das plötzliche Erscheinen des irrsinnigen Weibes am Brunnen, für das aber auch der Beduine eine Erklärung fand, indem er es eben mit gläubigem Gemüte für eine gütige Fee aus dem Paradiese hielt, von Mohammed geschickt, um den Beni Schammar wieder das langentbehrte Wasser zu geben.

Nobody ließ den Scheich erwachen, der sofort und ahnungslos sein Durramus weiter zum Munde führte.

»Ist die delherrah Fatme jung?«

»Sie ist eine Fee und schön wie eine Huri aus dem siebenten Paradiese.«

Freilich, eine Fee muß doch immer jung und schön sein, besonders wenn sie gütig ist; denn sonst wird das weibliche Wesen eine Hexe genannt.

»Hat sie schwarze Haare?«

Auch diese Frage Nobodys war eigentlich überflüssig. Eine schwarzäugige Huri mit blonden Haaren kann sich ein Araber wohl schwerlich vorstellen.

»Wo befindet sie sich jetzt?«

»Im Lager, sie wird im Zelte meines Weibes sein.«

»Kann ich sie nicht einmal sehen?«

Der Scheich wollte eine Antwort geben, kam aber nicht dazu, verstummte im ersten Wort, hob die Hand.

»Da!« flüsterte er. »Hörst du sie singen? Es ist ein Gesang aus dem Paradiese, in der Sprache, welche die Huris zu den seligen Gläubigen reden.«

Ja, Nobody hörte den Gesang, leise und süß, der draußen vor dem Zelte erscholl, und er versteinerte mitten in der Bewegung.

Allmächtiger Gott! Dieses Lied! Ein Lied seiner Heimat, seiner deutschen Muttersprache!!

»Ein Vöglein sang im Lindenbaum
In lauer Sommernacht,
Den Tönen lauschend wie im Traum
Hab' ich an sie gedacht.
Und Blütenduft und Vogelsang,
Die haben sich vereint,
Mir wurde, ach, so weh, so bang,
Ich habe leis geweint ...«

Nobody war aufgesprungen, aus dem Zelte gestürzt.

Und da sah er sie, wie eine Beduinin gekleidet. Die Arme ausgestreckt, drehte sie sich langsam im Kreise, mit leiser, süßer Stimme jenes deutsche Volkslied singend.

» ... ich habe leis' geweint,« wiederholte sie den Refrain, und tanzend war sie in einem Weiberzelte verschwunden, das als solches gekennzeichnet war, und in das ihr der Fremde nicht folgen durfte, kein anderer Mann.

Nobody hatte auch ihr Gesicht gesehen – ein blasses, schönes Mädchengesicht, so süß und traurig zugleich, wie ihr Lied geklungen hatte. Unter dem zurückgeschlagenen Schleier waren schwarze Flechten hervorgequollen.

Beduinin oder Deutsche? Nobody hätte es nicht sagen können, obgleich sich ihm dieses schöne, traurige Gesicht im ersten Augenblick unauslöschlich eingeprägt hatte.

»Delherrah Fatme, sie war es,« erklang es neben ihm flüsternd.

Nobody raffte sich empor. In jenes Zelt konnte er ihr nicht folgen. Es hatte auch noch Zeit. Sie konnte ihm ja nicht entgehen, und er würde sie schon noch auszuforschen wissen.

Jetzt zunächst in den geheimnisvollen Brunnen hinab, dorthin drängte es ihn mit aller Macht!

Er ließ sich sein Gepäck in das Zelt bringen, staunend betrachtete der Scheich den zum Vorschein kommenden Glockenhelm.

»Was ist das?«

»Ein Tauchapparat, in dem ich unter Wasser atmen kann. Denn zur Untersuchung des Brunnens muß ich in diesen hinabsteigen.«

Der Scheich verstand ihn gar nicht. Nobody übergab ihm alles das, was er nicht mit sich unter Wasser nehmen konnte, wie seine Waffen, den Sextanten, die Logarithmentafeln und anderes, dann legte er das Kostüm an.

Man kann sich denken, was für eine Aufregung die Erscheinung des Tauchers bei den Beduinen hervorrief, und dabei wußten sie noch nicht einmal, daß er wirklich in das Wasser hinabwollte.

»Ein ›Inschallah‹ und ›Allschallah‹ folgte dem andern, und als der Taucher nun gar auf den Brunnenrand trat und in das Wasser sprang, darin verschwand, da ertönte einstimmig der gellende Ruf:

»El Deddschel, el Deddschel!! Der Teufel, der Teufel!! Er will uns das Wasser wieder nehmen!!«

Nobody hatte es schon nicht mehr gehört, er sank bereits.

Hier unten im Schachte sah es ganz anders aus, als wenn man von oben hineinblickte. Das Wasser war klar, das Sonnenlicht drang in den engen Schacht als ein Strahl hinein, so herrschte hier fast Tageshelle.

Langsam, ganz langsam ließ sich Nobody hinabsinken, sich dabei immer im Kreise drehend, denn er spähte nach dem ihm bezeichneten Hebel – und richtig, sein nach der Erdoberfläche eingestelltes Manometer zeigte eine Tiefe von sieben Metern, als er unter sich aus der gemauerten Wand eine kurze Stange hervorragen sah.

Als er die Hand an den Griff legte, zuckte ihm ein Gedanke durch den Kopf: Wie nun, wenn dir jener Mann nur den Rat gegeben hat, den Hebel nach rechts zu drehen, um dich zu vernichten, um auch seinen heimlichen Bau von der Erde verschwinden zu lassen? Wenn nun das Wasser den Sprengstoff nicht verdorben hat und es erfolgt eine furchtbare Explosion?

Doch nein! Diesen Gedanken hatte Nobody ja auch nicht zum ersten Male gefaßt, das alles hatte er sich schon gar reiflich überlegt, und er traute dem Manne, der ihn zu seinem Erben eingesetzt hatte.

Also er drehte den eisernen Hebel soweit wie möglich nach rechts herum, und es ging ganz leicht zu bewerkstelligen. Dann ließ er sich tiefer sinken.

Das Manometer zeigte eine Tiefe von zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn Metern an – dann hatte Nobody weichen Boden unter den Füßen.

Wohl sah er von oben noch das Sonnenlicht hereinfallen, aber um ihn herum herrschte Dunkelheit. Er setzte mittels der magnet-elektrischen Zündung seine Taucherlaterne in Brand, welche gleichfalls aus der Luftbombe mit Sauerstoff gespeist wurde. Hier war der Brunnen nicht mehr mit Steinen ausgesetzt, ein natürlicher Schacht, und der Blendstrahl fiel in eine seitliche Spalte, breit genug, um einen Mann hindurchzulassen, auch etwas über Manneshöhe.

Nobody drang ein. Bald hörte der in den Schacht gefallene Flugsand, der den weichen Boden gebildet hatte, auf, die Bleisohlen schwebten über festen Stein dahin. Jetzt kam in dem schmalen Gange eine Biegung, und ...

Geblendet, fassungslos, sich von einem Traum befangen wähnend, so stand Nobody da!

Eine intensive Helligkeit war der erste Eindruck, den er empfing.

»Allmächtiger Gott! Elektrisches Licht! Eine Bogenlampe!« flüsterten in dem Taucherhelm bebende Lippen.

Ja, so war es. Vor ihm öffnete sich ein großer, hoher Saal, und an der Decke desselben hing eine Bogenlampe, das blendend weiße Licht, von Kohlenstiften erzeugt, von solchen Dimensionen, von solch blendender Helligkeit, wie man es damals wenigstens von Bogenlampen noch gar nicht kannte.

Wir sprachen von einer ›blendenden Beleuchtung‹. Dabei ist zu bedenken, daß der Taucher soeben durch eine Wendung aus dem völlig finsteren Gange herausgetreten war und solch ein Licht unmöglich hatte erwarten können.

Und trotzdem, wenn das Licht durch das Wasser, und wenn dieses noch so klar war, auch bedeutend geschwächt wurde, weil es die Lichtstrahlen eben mehr absorbiert als die atmosphärische Luft, so ließ es doch noch den kleinsten Gegenstand im fernsten Winkel deutlich erkennen, und so erkannte Nobody auf den ersten Blick, daß dieser Raum nicht etwa immer unter Wasser gewesen war, und daß der Mann, der diese unterirdische Höhle zur Wohnung einrichtete, auch niemals damit gerechnet hatte, hier könne noch einmal wieder Wasser eindringen.

Sehr viele der Möbel, besonders solche, welche aus einfachem Holze bestanden, wie Tische und Stühle, schwammen nämlich oben an der Decke, und hieraus also war jener Schluß doch ganz sicher zu ziehen.

Auch andere Möbel verrieten, daß sich nicht etwa ein Taucher oder sonst ein Wesen, das unter Wasser existieren konnte, hier häuslich niedergelassen hatte. Wenn ein Sofa und andere Polster nicht nach oben getrieben worden waren, so kam das einfach daher, weil sie sich zu sehr voll Wasser gesaugt hatten, und außerdem gingen solche Stoffe auch schon in Fäulnis über.

Als dies dem Detektiven zur Erkenntnis kam, ging ihm gleich eine böse Ahnung auf. Wo befand sich das Tagebuch? Wie, wenn nun dieses ...

Da sollte sich die böse Ahnung auch schon als Tatsache bestätigen.

Sein seitwärts gewendeter Blick wurde von einem brillanten Gefunkel gefesselt, das konnte nur derselbe rätselhafte Stein oder Stoff sein, der auch dem roten Ringe das überirdische Farbenspiel gab, dieses hier ging, aber in noch weit stärkerem Maße, von einem dicken Buche aus, welches zugeschlagen auf einem massiven Stehschreibtisch lag; schnell schwebte der Taucher darauf zu, jetzt achtete er nicht darauf, was für Buchstaben das waren, welche von der funkelnden Substanz gebildet wurden, seine Hand näherte sich dem Buche, schon diese leichte Bewegung genügte, um unter dem Deckel hervor eine breiige Masse aufwirbeln zu lassen, und als er den schweren Deckel aufschlug, da ... stieg eine weiße Wolke in die Höhe.

Papierbrei! Das Papier war von dem Wasser im Laufe der Wochen aufgeweicht, in die feinsten Teilchen zerlegt worden.

Hinter dem Taucherhelm erscholl ein leises Aechzen, ein Zähneknirschen und etwas wie ein unterdrückter Fluch.

Vorbei! Zu spät gekommen! Hier war die Lösung aller dieser Geheimnisse und Rätsel, und jetzt ... ja, jetzt quoll sie ihm als eine milchige Papierlösung davon!

Auch er war nur ein irdischer Mensch gewesen, der hier gehaust hatte, trotz aller seiner Erfindungen ein Mensch, der den Elementen gegenüber immer ohnmächtig gewesen ist und es immer bleiben wird. Er hatte seine Mitteilungen auf irdisches Papier niedergeschrieben, mit allen seinen Kenntnissen nicht ahnend, daß hier noch einmal das Wasser eindringen würde.

Doch lange hing Nobody solchen trüben Gedanken nicht nach. Was einmal nicht zu ändern war, darüber ärgerte sich Nobody auch nicht mehr.

»Da geht des Teufels Zauberbuch hin und singt nicht mehr,« sagte er, sich eines schon einmal erwähnten, beliebten Seemannsausdruckes bedienend, als er der sich zerteilenden weißen Wolke von Papierbrei nachblickte. »Auch gut, das sieht gerade wie Milch aus, und über vergossene Milch soll der Bauer nicht weinen – gut also, jetzt wird die Kuh frisch weitergemolken, jetzt werde ich alle diese Rätsel aus eigener Kraft lösen. Mir sogar ganz recht, daß die Geschichte nicht gleich so einfach ist.«

Mit nüchternem Auge ging Nobody an die nähere Untersuchung, die sich zunächst auf dieses Buch oder jetzt nur noch auf seine Einbanddecke erstreckte.

Er hatte noch zu Hause vor seiner Abreise durch das Mikroskop konstatiert, daß in den roten Rubinring doch ein winziges Körnchen einer Substanz eingelassen war, jedenfalls ein unbekanntes Metall, von dem jener wunderbare Glanz auch in der Finsternis ausging.

Hier nun, auf dem starken Deckel des Buches, bildete die Grundlage dieses selbstleuchtenden Stoffes, in die er eingefaßt war, starker Golddraht, der zu Buchstaben gebogen war. Sie stellten zwei Worte dar, welche lauteten: Snorre Sturluson.

Snorre Sturluson! Ein gar bekannter Name in der Geschichte Islands, damals, als Island noch eine Macht bedeutete und der skandinavischen Weltherrschaft – die damalige Welt – den Rang streitig machen konnte. Ein Mann, auf den die von Uhland auf den Troubadour Bertran de Born gedichteten Worte gepaßt hätten:

» ... der sich gerühmet in vermessener Prahlerei,
daß ihm nie mehr als die Hälfte seines Geistes nötig sei ...«

nämlich dazu, um mit einem Liede Fürstentöchter zu verführen und mit einem zweiten Liede die ihn ermorden wollenden Väter und Brüder mit sich wieder zu versöhnen, bei dem liederlichsten Lebenswandel doch zugleich ein strahlender Stern am Himmel der Gelehrsamkeit, ein Doktor Faust, im Rufe der Zauberei stehend, Bücher über Moral schreibend, seinem Vaterlande die gerechteste Verfassung gebend, und dann diese selbst hohnlachend mit Füßen tretend, indem er wegen Streites um ein kleines Landgut seinen eigenen Bruder mit eigener Hand ermordete ...

Mehr wußte Nobody auch nicht, nicht einmal, wann dieser mystische Held Islands gelebt hatte. Jedenfalls im Anfange des Mittelalters.

War Snorre Sturluson vielleicht der Mann, von dem Sinclaire gesagt, daß er seine wichtigsten Kenntnisse und Erfindungen einem anderen verdanke, den er nur beerbt habe? Das sah fast ganz so aus.

Doch jetzt zerbrach sich Nobody hierüber nicht den Kopf. Seine Gedanken galten dem kleinen, mißwachsenen Manne, der hier gehaust, den er persönlich gekannt hatte.

Ja, es war ein irdischer Mensch gewesen; aber was für ein Mensch mußte das gewesen sein! Seiner Spur weiter zu folgen, das war eines Lebens wert!

Nobody hob noch einmal den Einbanddeckel, er war sehr schwer, mußte eine Metallplatte enthalten, die mit Leder überkleidet war. Mit Leder? Was war denn das für ein eigentümliches Leder? Nobody brachte seinen Helm dicht auf den Deckel.

»Ich will dereinst gepökelt werden, wenn das nicht gegerbte Menschenhaut ist!« murmelte er.

Diese Entdeckung warf nun wieder ein ganz eigentümliches Licht auf den Charakter und die Tätigkeit jenes rätselhaften Mannes. Na ja, Nobody hatte ja schon Beweise genug, daß der niemals viel Federlesens mit seinen Mitmenschen gemacht, sie nur sozusagen als Versuchskaninchen betrachtet hatte.

Weiter wandte Nobody seine Aufmerksamkeit dem elektrischen Lichte zu. Hatten die Bogen- und Glühlampen schon immer gebrannt? Schwerlich. Jedenfalls war der Strom durch die Drehung jenes Hebels geschlossen worden. Wo war die Elektrizitätsquelle? Das Hauptkabel führte nach zwei meterhohen, kupfernen Zylindern, scheinbar nur mit gezupftem Asbest gefüllt, der eine einen Zinkstab, der andere einen Kohlenstab enthaltend.

Also wiederum dieselbe rätselhafte Batterie, und das Rätsel blieb vorläufig ungelöst, der Schlüssel dazu war vom Wasser zu Schlamm verwaschen worden.

Was den Zweck dieses unterirdischen Raumes anbetrifft, so war er wiederum zu einem chemischen Laboratorium eingerichtet. Alles war vorhanden, was der Experimentator und Analytiker braucht, alle Apparate, alle Chemikalien, die, so weit sie in Glasflaschen mit eingeschliffenen Stöpseln aufbewahrt wurden, unversehrt waren, während das meiste unter dem Wasser gelitten hatte.

Ferner aber war der Saal zu einer vollständigen mechanischen Werkstatt eingerichtet, mit Schraubstöcken, einer Drehbank, einer besonderen Schraubenschneidemaschine, Hobelmaschine, und nicht etwa nur so kleine Maschinchen für einen Mechaniker, sondern eine richtige Maschinenfabrik! Die Leitspindelbank drehte Achsen von sechs Meter Länge, der Schlitten konnte Panzerplatten hobeln!

Welche Kraft trieb diese großen Maschinen? Nobody sah an der Hobelbank einen Hebel, er drehte ihn, und mächtig holte der Schlitten aus. Elektrisch! Und nur jene beiden kleinen Zylinder dort konnten diese Kraft von mindestens vier Pferden erzeugen!

Ja, wozu aber nur in aller Welt hier in diesem Brunnenschacht einer ägyptischen Wüste dieses Laboratorium und diese Werkzeugmaschinen?!

Nobody hatte sich diese Frage schon am Nordpol stellen können. Dort hatte er zwar nur ein Laboratorium gesehen, aber er war ja gar nicht in allen Räumen gewesen, auch dort oben im hohen Norden hatte der rätselhafte Mann vielleicht eine Maschinenfabrik angelegt.

Dort oben am Nordpol war ein Telephon in einen Schacht hinabgegangen, der jedenfalls mit dem Meere in Verbindung stand; hier hing ein Telephon an einem mächtigen Panzerschrank, der halb in die Felswand eingelassen war, und die beiden Drähte verliefen in den Schrank.

Wohin führte nun wieder dieses Telephon? Mit wem konnte man sich in Verbindung setzen?

Ein elektrischer Wecker war vorhanden, ebenso eine Kurbel. Nobody hatte Lust, einmal zu drehen. Er unterließ es. Er hätte unter seinem Taucherhelm weder sprechen noch hören können. Und was für geheimnisvolle Mächte konnten vielleicht durch den Weckruf herbeigelockt werden?

Wir können es sagen, daß es Nobody etwas unheimlich zumute war. Sonst wäre er ja auch gar kein Mensch gewesen.

Und was konnte der Panzerschrank enthalten? Der Selbstmörder hatte in seinem letzten Schriftstück von einem weit bequemeren Eingang gesprochen, den Nobody sofort finden würde.

Ganz gewiß, das hier war der Eingang. Die Panzertür war über manneshoch und ebenso breit, da wurden jedenfalls auch die Maschinenteile oder jenes ›Gott weiß was‹ hereingeschafft, das hier bearbeitet wurde.

Aber wie nun die Tür öffnen? Sie enthielt ein sogenanntes Vexierschloß. In einem kreisförmigen Ausschnitt befanden sich alle 25 Buchstaben des Alphabets, die man beliebig verschieben und ordnen konnte. Nun brauchte man bloß das Stichwort einzustellen, dann mußte die Tür auf- oder wahrscheinlicher nach innen gehen.

Welches aber war das Stichwort? Das schwamm dort in einer milchigen Wolke herum, es hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst. Und das Stichwort ausprobieren? Da ist es noch viel einfacher, das große Los zu ziehen. Die fünfundzwanzig Buchstaben des Alphabets lassen einige Millionen Kombinationen zu!

Nobody probierte einmal die Federsäge seines Taschenmessers. Die Panzerplatten waren aus bestgehärtetem Stahl, da war nichts zu machen. In diesem Augenblick dachte Nobody lebhaft an seinen hellsehenden Freund. Ob der das Stichwort nicht eher herausfinden könnte? Nobody glaubte es bestimmt. Also abwarten! Der Wüstenbrunnen lief ja nicht davon.

Das nächste war, daß Nobody nach dem Wasserzufluß suchte, der den Brunnen speiste, und er hatte ihn bald gefunden. In einem Winkel des Saales dicht am Boden befand sich ein kleines Loch, durch das man eben die Hand stecken konnte. Daß es ganz frisch ausgewaschen oder durchbrochen war, konnte man an kleinen Trümmern und feinem Sande deutlich erkennen. Hier fand eine leichte Bewegung des Wassers statt, wie Nobody an einem Stückchen Holz konstatierte. Es strömte also ebensoviel Wasser ein, wie oben über den Brunnenrand hinausfloß.

Nobody untersuchte weiter die ganze Einrichtung des Saales, die Maschinen und alles. Doch wir brauchen uns nicht mehr damit zu befassen.

Die wasserdichte Uhr sagte ihm, daß er nun bald schon vier Stunden sich unter Wasser befand. Die Luftbombe versorgte ihn für mindestens zehn Stunden mit Sauerstoff, aber vier Stunden im Taucheranzug stecken, das ist schon eine ansehnliche Leistung, zumal wenn auf dem Taucher ein Wasserdruck von fünfzehn Metern lastet. Außerdem hatte Nobody hier unten eigentlich gar nichts mehr zu suchen. Was er hätte finden können, war von ihm gefunden.

Er trat den Rückweg an, hinter sich das elektrische Licht brennen lassend, in der festen Ueberzeugung, daß dieses verlöschen würde, sobald er wieder jenen Hebel drehte.

Oder sollte er diesen nicht wieder zurückdrehen? Das wollte überlegt sein. Von Sprengstoffen oder einer sonstigen Höllenmaschine hatte er nichts entdecken können. Nun, er konnte ja den Hebel genauer untersuchen, es mußte doch ein Mechanismus oder eine Leitung vorhanden sein, die er verfolgen wollte.

Als er um die Ecke bog, kam er wieder in den dunklen Gang. Seine Taucherlaterne hatte er nicht erst wieder angebrannt. Das Tageslicht mußte ja gleich von oben hereinfallen.

Er stieß gegen eine Wand, die nur die Mauer des eigentlichen Brunnenschachtes sein konnte, und ... der Schimmer des Tageslichtes war noch nicht da!

Wie war das möglich? Es war doch erst um fünf Uhr, oben noch taghell. Er setzte seine Laterne in Brand, leuchtete im Kreise – gewiß, das war der Brunnenschacht! Und nicht der geringste Lichtschimmer!

Der Taucher pumpte seinen Gummianzug voll Luft, stieg empor, kam an dem Hebel vorbei und – stieß mit dem Helm gegen etwas Festes.

Im Scheine seiner Laterne sah er, daß er sich tatsächlich am obersten Brunnenrande befand, aber über demselben lag eine große Steinplatte.

Das andere sich auszuklügeln, war keine Kunst.

Gefangen! Die Beduinen hatten den Brunnenausgang verbarrikadiert!

Wir können uns nicht dabei aufhalten, schildern zu wollen, was für Gedanken durch Nobodys Kopf gingen. Ebenso war ganz Nebensache, was die Beduinen eigentlich veranlaßt hatte, den ›Enginera‹ hier unten kaltzustellen.

Nur wieder heraus aus diesem fatalen Wasserloche! Das war jetzt die Hauptsache.

Mit den Händen konnte er nichts gegen die Steinplatte ausrichten. So ließ er sich wieder sinken, ging zurück. Freundlich strahlte ihm das elektrische Licht entgegen. Mit einer Brechstange stieg er wieder empor, donnerte gegen die Steinplatte, begann zu arbeiten, daß sich sein wasserdichtes Kautschukkostüm mit Schweiß füllte.

Kein einziger Stein gab nach! Dabei ist zu bedenken, daß der Taucher frei im Wasser schwebte, sich nur sehr wenig gegen die runde Wand stemmen konnte.

Wir wollen vier weitere Stunden überspringen. Noch zwei Stunden, dann war es aus mit der Luft.

Nobodys Empfindungen können wir nicht schildern, auch nicht, was er alles tat, um aus dem Wasserloche wieder herauszukommen, oben oder unten.

Wir lassen ihn einmal selbst sprechen in seinem Tagebuche:

»Hätte ich bestimmt gewußt, daß die ganze Bande dort oben mit in die Luft geflogen wäre, so hätte ich eine Explosion veranlaßt, vorausgesetzt, daß eine andere Drehung des Hebels eine solche auch noch herbeiführte. Ich war der Verzweiflung nahe.«

Das wäre wohl jeder andere Mensch auch gewesen. Nein, jeder andere Mensch wäre überhaupt schon verzweifelt, hätte gebetet und gewinselt und sich die Fingernägel an dem Malterwerk abgekratzt, wenn er es nicht vorgezogen hätte, lieber gleich den Taucherhelm abzuschrauben.

Nobody hingegen konnte der Verzweiflung noch gar nicht so nahe gewesen sein, denn er arbeitete unverdrossen weiter an seinem Rettungsversuch.

Es war nicht nur eine innere Stimme, die ihm zuflüsterte, daß seine Rettung nur aus dem Panzerschranke kommen konnte, sondern seine Ueberlegung sagte ihm das.

Aber dem Brecheisen und der Stahlsäge widerstand das Ungetüm.

Und nur noch eine Stunde, dann ging ihm die Luft aus.

Jetzt fing er an, in der Lotterie zu spielen, er wollte das große Los ziehen – deutlicher ausgedrückt: er begann die fünfundzwanzig Buchstaben des Alphabets zu Worten zu ordnen.

Zuerst ganz planlos, er schob die Buchstaben durcheinander, sie brauchten gar keine Worte zu bilden, was ja auch bei solch einem Vexierschloß nicht nötig ist, auf irgendein Zeichen wartend, manchmal an der Tür rüttelnd.

Vergebens! Er hielt inne. Wie lange hatte er noch Zeit? Nur noch eine halbe Stunde. Und dann ... na, dann trat eben das ein, was bei jedem Menschen doch einmal eintritt.

Aber auch in das Lotteriespiel kann man Methode bringen.

Nobody überlegte, und dann begann er zu formieren:

Sinclaire – Viktor – Brunnen – Nordpol – Tarnkappe – Nebelmantel – Motorboot – Persepolis – Nobody – Teufel ...

Wieder hielt er inne, und er atmete tief. Noch zehn Minuten, dann war es alle mit ihm.

Jener rätselhafte Mann hatte sich Mephistopheles genannt. Könnte das nicht die Nummer sein, welche das große Los zog?

Also Nobody reihte aneinander:

M – E – P – H – I – S – T – O ...

Donnernd sprang die schwere Tür nach innen auf.

Aber Nobody blieb nicht vor der Oeffnung stehen, hatte keine Zeit, sich in dem Panzerschrank umzusehen, der übrigens gar keinen Boden hatte.

Denn auf ihm ruhte eine Wassersäule von fünfzehn Meter Höhe, und diese erfaßte ihn und stürzte ihn hinab in einen strudelnden Trichter.


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